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Vorab

Dieses Buch beschreibt ungeschönt Episoden aus dem Leben einer Magersüchtigen und Pro Ana. Es behandelt auch Themen wie Depressionen, Suizid und SVV (selbstverletzendes Verhalten).

 

Dieses Buch kann Angehörigen helfen, Betroffene besser zu verstehen. 

 

Dieses Buch kann Betroffene triggern. Bitte gebt auf euch Acht. 

 

 

 Spielen Sie mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen? Oder möchten Sie sich einfach jemandem mitteilen? Bei der Telefonseelsorge finden Sie ein offenes Ohr.

Online:  www.telefonseelsorge.de

Telefon: 0800/1110111 und 0800/1110222

 

 

 

Pro Ana - Leben und Sterben für die Magersucht

Mir ist eiskalt und ich bin müde, so müde, doch ich kann nicht schlafen. Nicht, dass das etwas Besonderes oder Neues wäre. Ich habe schon lange nicht mehr gut geschlafen. Doch in einer fremden Umgebung geht es noch schlechter. Und hier, im Krankenhaus, quasi überhaupt nicht.

Vor ein paar Monaten habe ich mich bei mehreren Spezialkliniken für Magersucht vorgestellt, doch sie wollten mich nicht aufnehmen, da ihnen mein Body Mass Index zu niedrig war. Ich glaube, ich müsste einen BMI von 14 haben, damit sie mich dort akzeptieren. Darunter geht nicht, weil sie dann auch eine Intensivstation bräuchten oder wollten, für den Fall, dass eine Patientin an Ort und Stelle zusammenklappt. Therapieplätze an Spezialkliniken mit Intensivstation gibt es nur wenige. Ich habe keinen bekommen.

 

Nachdem ich beim Joggen zusammengebrochen bin, haben sie mich hierher gebracht. Sie sind nett zu mir und verständnisvoll und es tut mir beinahe weh, sie zu enttäuschen, dass es mir nicht besser geht, dass ich nicht zunehme, aber ich kann einfach nichts herunterbringen und will es auch nicht.

Bereits den Gang zur Toilette kann ich nicht mehr allein bewerkstelligen.

Ich habe jetzt einen BMI von 12. Ich sollte stolz darauf sein, doch ich fühle keinen Stolz, ich fühle überhaupt nicht mehr viel außer der Kälte und bleierner Müdigkeit.

Sie haben mir schon Zwangsernährung mit einer Sonde bei gleichzeitiger Fixierung angedroht, bisher aber zum Glück darauf verzichtet. Mich schüttelt es bei dem Gedanken daran, völlig wehrlos und ausgeliefert an das Bett gefesselt zu werden ...

Wie konnte es nur so weit kommen?

Und was wird jetzt aus mir werden?

 

Ich weiß noch, wie alles angefangen hat.

"Du musst schon auf dein Gewicht achten", hat meine Mutter mir gesagt. Da war ich vielleicht in der siebten Klasse. "Du solltest nicht so viel Schokolade essen."

Ich habe in den Spiegel geschaut und mich geschämt. Ich war nicht richtig übergewichtig, aber durchaus füllig und mein Hintern ... Furchtbar.

Bald war alles furchtbar. Nicht nur mein Gewicht, sondern generell das Gymnasium. Der Sportunterricht, zum Beispiel. Ich hatte einfach keine Kondition, keuchte nur hinter den anderen her, als die Schlechteste der Klasse. Mathe kapierte ich grundsätzlich nicht. Du bist zu dumm, sagte ich mir. Zu dumm für die Schule. Du solltest zurück auf die Realschule und eine Ausbildung machen.

"Du musst einfach noch mehr lernen", meinte meine Mutter. "Und wieso hast du eine Vier und deine Freundin Katja eine Zwei? Du warst doch immer besser als sie?"

Also lernte ich mehr, und ich aß weniger. Ich bildete mich über gesunde Ernährung, hielt meiner Mutter Vorträge darüber, begann, mich für das Kochen zu interessieren und übernahm es mehr und mehr. Bald nahm ich in der Schule nur noch wenig zu mir, nur Abends am Tisch aß ich eine kleine Portion.

Wenn ich in den Spiegel blickte, hatte ich nicht das Gefühl, abzunehmen, ganz im Gegenteil, ich kam mir immer fetter vor.

"Du bist sehr dünn", stellte meine Mutter eines Tages fest. "Du musst mehr essen."

Also aß ich abends mehr und dafür tagsüber überhaupt nichts mehr. Aber ich nahm wieder ein paar Kilo zu, die ich hasste und für die ich mich schämte.

Dafür versuchte ich es mit selbstverletzendem Verhalten. Damals grassierte es wie eine Seuche unter den jungen Mädchen in meiner Klasse. Kaum eine, die es nicht zumindest einmal ausprobiert hatte.

Also versuchte ich es auch. Meine Schnitte waren dünn und oberflächlich, aber meine Eltern fiel es trotzdem auf.

Mir wurde eine Therapie bei einer älteren Allgemeinärztin mit therapeutischer Zusatzausbildung aufgenötigt, die mir leichte depressive Verstimmungen attestierte.

In dieser Zeit freundete ich mich mit Chris an, einem Klassenkameraden. Wir waren beide Teil einer größeren Gruppe, die in der Pause zusammen herumstand und sich öfter abends in einer Bar traf oder gemeinsam ins Kino ging. Bald waren wir ein Paar, hielten Händchen, knutschten, entdeckten unsere Körper, wie Teenager das eben so machen. Er half mir sehr in dieser Zeit. In der Schule lief es wieder besser, ich blieb auf dem Gymnasium. Mathe kapierte ich nach wie vor nicht, aber ich schlug mich irgendwie durch und machte Abitur.

Zu dieser Zeit lief es bereits nicht mehr rund zwischen Chris und mir. Ich klammerte mich an ihn, versuchte, ihn weiter an mich zu binden, doch schließlich machte er Schluss mit mir.

Im Nachhinein betrachtet, hatte es auch einfach so kommen müssen. Wir hatten kaum Gemeinsamkeiten und nur wenige Themen, über die wir reden konnten, ich bleib bei ihm, weil ich emotional abhängig war, er bei mir, weil er so einfach Sex haben konnte.

Trotzdem heulte ich mehrere Wochen durch, verkroch mich depressiv in meinem Bett und nahm wieder ein paar Kilo ab. Meine armen Eltern waren wieder einmal völlig verzweifelt, redeten mir gut zu, lasen jeden Wunsch von meinen Lippen ab

Weil ich wusste, dass Chris zu Hause wohnen bleiben würde, nur ein paar Straßen von uns entfernt, beschloss ich, das Weite zu suchen und in einer hunderte Kilometer entfernten Stadt zu studieren. Meine Eltern konnten es nicht verstehen.

"Warum so weit weg?", fragten sie ein ums andere Mal. "Wieso nicht hier?"

Aber ich setzte mich dieses einem Mal tatsächlich durch und sie akzeptierten schließlich, dass ich Chris nicht mehr sehen wollte. Was sie wiederum nicht begreifen wollten, war die Wahl meines Studienfachs.

"Du musst Wirtschaft studieren", hatte meine Mutter mir immer wieder eingetrichtert. "Oder Lehramt. Mit Geisteswissenschaften wirst du nicht weit kommen."

Doch für Wirtschaft brauchte man Mathe und Stochastik, was ich einfach nicht kapierte und ich hatte panische Angst, vor der Klasse zu reden, also wusste ich, dass Lehramt nicht das Richtige für mich sein konnte. Deswegen beschloss ich, Germanistik als Bachelor zu studieren. Ich fand ein Zimmer in einem Studentenwohnheim und verabschiedete mich von meinem alten Leben.

 

Das Studium lag mir durchaus und ich fand schnell Freunde, doch immer wieder wurde ich von Zukunfts- und Versagensängsten geprägt. Was, wenn ich danach keinen Job fand? Warum hatte ich nicht Wirtschaft studiert? Oder doch Lehramt? Doch dazu war ich ja zu dumm ... Generell fühlte ich mich für alles zu dumm.

Als ich im zweiten oder dritten Semester nach einer Magen-Darm-Infekt in einer Woche fast drei Kilo abgenommen hatte, wollte ich wieder abnehmen. Und zwar richtig. Nicht nur, um unbedingt schlank zu werden, sondern um mich selbst zu schaden. Das Leben schien mir nicht mehr lebenswert zu sein. Meine Depressionen hatten mich wieder eingeholt. Ich wollte sterben.

Ich informierte mich über Selbstmordmethoden, registrierte mich in einem Selbstmordforum und irgendwann fand ich ein Pro Ana Forum, Reach for Perfection. Und ich fühlte mich zu Hause. Das war meine Welt. Eine Gemeinschaft von Frauen zwischen 15 und 50, die ihren Körper hassten wie ich und die nach Perfektion strebten, die sie in einem schlanken, ausgemergelten Körper sahen.

"Pro Ana betreibe ich zur Selbstzerstörung", so stellte ich mich nach meiner Registrierung im Forum vor. "Ich hoffe, ich bin euch nicht zu krass."

Ich war es nicht. Herzlich nahmen sie mich auf und ich hatte endlich Freunde, wenn auch zumeist quasi virtueller Natur, mit denen ich mich über Diäten austauschen konnte, über magersüchtige Stars. Und über Ana till the End. Den Tod durch Verhungern.

Ja, ich wusste ziemlich genau, was ich mir da antat, das dachte ich zumindest. Ich wusste, schlank sein um jeden Preis, das würde bedeuten, dass ich keine Periode haben würde und unfruchtbar werden könnte. Das war mir egal, ich hatte keinen Freund und konnte mir auch nicht vorstellen, je überhaupt wieder einen zu bekommen. Zwar schwärmte ich für einen Kommilitonen, ab und zu unterhielten wir uns auch, doch er hatte schon eine Freundin und war unerreichbar für mich kranken Psycho.

Ich wusste, dass der Hunger zu Schwindelattacken führen konnte, zu Knochenschwund, zu allem möglichen anderen. Doch das schreckte mich nicht.

Ich hangelte mich von einem Depressionsschub zum Nächsten und verlor bald sehr deutlich an Gewicht, was mich nicht schreckte.

Ich begann mit Joggen und Fitnessübungen in meinem Studentenzimmer. Was mir in der Schule verhasst gewesen war, bekam eine neue Bedeutung für mich, denn jetzt musste ich mich nicht mehr an den Leistungen der Anderen messen, sondern nur noch an mir selbst.

 

 

Der Song "The Day I died" von Catull's Brother in Law riss mich aus dem Schlaf. Mein Alarmton. Sechs Uhr dreißig. Zeit zum Aufstehen. Ich fühlte mich nicht fit. Bestimmt war ich erst nach vier Uhr eingeschlafen. Vorher hatten mich alle möglichen Gedanken wachgehalten. Die anstehende Prüfung zum Beispiel, um acht Uhr morgens. Ich hätte viel lieber weiterschlafen. Aber es halft nichts. Ich musste aufstehen. "Die deutsche Literatur des Mittelalters" wartete auf mich.

Noch halb im Schlaf setzte ich mich auf. Langsam. Es dauerte immer, bis mein Kreislauf in die Gänge kam. Ich streckte Arme und Beine. Das sah zwar bescheuert aus, half aber tatsächlich gegen Schwindelgefühle und Ohnmachtsanfälle am frühen Morgen. Ich wollte schließlich nicht wieder mit dem Kopf gegen den Heizkörper knallen. So etwas tat weh und konnte eine Gehirnerschütterung zur Folge haben. Schon getestet. Nein, danke. Also langsam aufstehen. Dann ins Bad. Zähneputzen. Haare bürsten. Es war wirklich erschreckend, wie viele Haare jeden Tag an meiner Bürste hängen bleiben ... Nun ja. Konnte ich nichts machen. Ein kurzer Blick auf die Waage. Zu viel. Wie immer. Was hätte ich auch anderes erwarten sollen nach dem üppigen Abendessen gestern ...

Ich schnappte meine Tasche und ging aus dem Haus. Es war ein schöner Tag. Vom Wetter her zumindest. Sonnig. Warm. Ich besorgte mir meine morgendliche Droge, einen Kaffee bei der Bäckerei an der Ecke, dann stieg ich in den Bus.

 

Zwei Stunden später saß ich in der Prüfung. Mein Kopf schmerzte wie die Hölle. Konzentration gleich null. Theoretisch konnte ich alles, schließlich hatte ich in den letzten Wochen wie eine Blöde gelernt. Nur Abrufen fiel mir immens schwer. Ich schrieb hin, was mir einfiel.

Als ich das Blatt abgab, lächelte der Professor. "War nicht schwer, oder? Wird bestimmt wieder eine Eins für Sie."

Ich lächelte automatisch zurück. Ich konnte froh sein, wenn ich bestanden hatte. Verdammt, was war nur los mit mir?

"Ich fand die Prüfung ziemlich unfair", beschwerte sich Sonja, meine Mitstudentin. "Was hast du denn bei der dritten Frage geschrieben?"

Ich zuckte die Schultern. "Ich weiß nicht mehr."

"Ach, komm. Erzähl mir nichts. Du hast doch bestimmt wieder eine Eins."

Was sollte ich dazu sagen.

"Kommst du mit, Kaffee trinken?"

Ich folgte ihr in die Cafeteria. Dort warteten schon Tom und Sara auf uns. In der Regel verbrachten wir jeden Dienstag und Donnerstag die Zeit zwischen den Vorlesungen zusammen. So auch an jenem Tag. Eine Stunde lang fachsimpelten wir und diskutierten die Antworten. Nach drei Aspirin ging es mir tatsächlich besser. Der Kaffee half auch.

"Ich habe am nächsten Freitag Geburtstag und habe vor zu feiern. Mit euch. Seid ihr dabei?" Sonja lächelte.
"Ja, klar!" Tom und Sara sagten begeistert zu.

Geburtstage. Ich musste schlucken. Ich wäre ja gerne hin. Sonja war wirklich ein liebes Mädchen. Aber ich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: @ photographee.eu - depositphotos.com
Tag der Veröffentlichung: 28.01.2018
ISBN: 978-3-7438-5294-5

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