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Vorwort

 

 Die folgenden Kurzgeschichten handeln von den Themen Magersucht, Selbstverletzung, Pro Ana sowie Depressionen und bieten einen authentischen Einblick in das Leben und die Gedankenwelt Betroffener.

 

Dementsprechend können diese Kurzgeschichten triggern.

Pro Ana Tagebuch

 

"The sun was rising the day I died“

 

Der Song "The Day I died" von Catull's Brother in Law reißt mich aus dem Schlaf. Mein Alarmton. Es ist sechs Uhr dreißig. Zeit zum Aufstehen. Ich fühle mich nicht fit. Bestimmt bin ich erst nach vier Uhr eingeschlafen. Vorher haben mich alle möglichen Gedanken wachgehalten. Die anstehende Prüfung zum Beispiel, heute morgen um acht Uhr. Ich würde viel lieber weiterschlafen. Aber es hilft nichts. Ich muss aufstehen. "Formen der Psychotherapie" wartet auf mich.

Noch halb im Schlaf setze ich mich auf. Langsam. Es dauert immer, bis mein Kreislauf in die Gänge kommt. Ich strecke Arme und Beine. Das sieht zwar bescheuert aus, hilft aber tatsächlich gegen Schwindelgefühle und Ohnmachtsanfälle am frühen Morgen. Ich will schließlich nicht wieder mit dem Kopf gegen den Heizkörper knallen. So etwas tut weh und kann eine Gehirnerschütterung als Folge haben. Schon getestet. Nein, danke. Also langsam aufstehen. Dann ins Bad. Zähneputzen. Haare bürsten. Es ist wirklich erschreckend, wie viele Haare jeden Tag an meiner Bürste hängen bleiben ... Nun ja. Ist halt so. Ein kurzer Blick auf die Waage. Zu viel. Wie immer. Was habe ich auch anderes erwartet nach dem üppigen Abendessen gestern ...

Ich schnappe meine Tasche und gehe aus dem Haus. Es wird ein schöner Tag. Vom Wetter her zumindest. Sonnig. Warm. Ich besorge mir meine morgendliche Droge. Einen Kaffee bei der Bäckerei an der Ecke. Dann steige ich in den Bus.

 

Zwei Stunden später sitze ich in der Prüfung. Mein Kopf schmerzt wie die Hölle. Konzentration gleich null. Ich weiß, dass ich in der Theorie alles kann. Schließlich habe ich in den letzten Wochen wie eine Blöde gelernt. Nur abrufen fällt mir gerade immens schwer. Ich schreibe hin, was mir einfällt.

Als ich das Blatt abgebe, lächelt der Professor. "War nicht schwer, oder? Wird bestimmt wieder eine Eins für Sie." Ich lächle automatisch zurück. Ich kann froh sein, wenn ich bestanden habe. Verdammt, was ist nur los mit mir?

"Ich fand die Prüfung ziemlich unfair", beschwert sich Sonja, meine Mitstudentin. "Was hast du denn bei der dritten Frage geschrieben?"

Ich zucke die Schultern. "Ich weiß nicht mehr."

"Ach, komm. erzähl mir nicht. Du hast doch bestimmt wieder eine Eins." Was soll ich dazu sagen.

"Kommst du mit, Kaffee trinken?"

Ich folge ihr in die Cafeteria. Dort warten schon Tom und Sara auf uns. In der Regel verbringen wir jeden Dienstag und Donnerstag die Zeit zwischen den Vorlesungen zusammen. So auch heute. Eine Stunde lang fachsimpeln wir und diskutieren die Antworten. Nach drei Aspirin geht es mir tatsächlich besser. Der Kaffee hilft auch.

"Ich habe am nächsten Freitag Geburtstag und habe vor zu feiern. Mit euch. Seid ihr dabei?" Sonja lächelt.
"Ja, klar!" Tom und Sara sind begeistert.

Geburtstage. Ich muss schlucken. Ich würde ja gerne hingehen. Sonja ist wirklich ein liebes Mädchen. Aber ich kann nicht.

"Ich fahre an dem Wochenende zu Max", erkläre ich.

"Schade." Sonja ist wirklich enttäuscht. "Wirklich schade. Ich meine, wir müssen doch feiern, dass wir den Psychoquatsch endlich hinter uns haben! Oder nicht?"

Ich zucke die Schultern. "Du weißt ja, dass Max nicht viel Zeit hat."

"Warum besucht er dich nicht an diesem Wochenende?" fragt Sara plötzlich. "Ihr könntet dann zusammen auf die Party gehen. Und dann können wir ihn endlich einmal kennenlernen. Du versteckst ihn jetzt schon ziemlich lange vor uns. Nicht einmal auf Facebook ist er!“

"Er mag eben keine sozialen Netzwerke. Wegen dem Datenschutz. Und er hat am Samstag Nachmittag schon wieder Dienst", erkläre ich rasch.

"Ja, nicht einfach als Assistenzarzt", murmelt Tom.

"Geht ihr mit in die Mensa?" Sonja wechselt das Thema.

"Ich habe mein Tutorium", erkläre ich.

Das Tutorium für die Erstsemester fällt immer genau in die Mittagspause. Es gab keinen anderen Termin. Zum Glück.

Eine halbe Stunde später diskutieren die Studenten im Tutorium eifrig über die Vorteile von ambulanten und stationären Therapien. Gott sei Dank kann ich mich dabei ausklinken. Ich fühle mich wirklich nicht gut heute.
Immerhin habe ich Donnerstag Nachmittag immer frei. Nach dem Tutorium gehe ich in den Supermarkt. Nach einer halben Stunden intensiven Abwägens in punkto Kalorien und Preis kaufe ich einen abgepackten, schon fertig zubereiteten Salat mit Hähnchenbrust. Dazu nehme ich noch einen Naturjoghurt und Erdbeer-Himbeer-Tee. Ich brauche eine schnelle Mahlzeit. Ich habe absolut keine Lust darauf, heute lange in der Küche zu stehen. Eigentlich will ich mich nur zu Hause verkriechen und hoffen, dass der Tag schnell vorübergeht. Aber mit Sicherheit wird er mir auch heute nicht diesen Gefallen tun ...

Ich fahre in meine Wohnung zurück und öffne den Kühlschrank, um meine Lebensmittelvorräte hineinzulegen. Darin befinden sich lediglich ein angerissenes Glas Senf, ein weiteres Glas mit Essiggurken und drei Flaschen Wasser. Ich verstaue Joghurt und Salat, mache mir einen Himbeer-Erdbeer-Tee mit Süßstoff und werfe mich auf das Bett. Ausgerechnet Formen der Psychotherapie habe ich versaut. Was bin ich für ein Versager.

Das Telefon klingelt. Meine Mutter. "Wie war die Prüfung, Schatz?"

"Ziemlich schwer", erkläre ich. "Vielleicht bin ich durchgefallen."

"Ach was. Es wird natürlich wieder eine Eins." Meine Mutter, eine erfolgreiche Anwältin, ist sehr stolz auf mich. Nur das Beste ist für sie gut genug. Das war schon immer so. Bei einer Zwei habe ich in der Schule stets ein bedenkliches Kopfschütteln geerntet. Dass ich mein Abi mit eins Komma eins gemacht habe und damit nur Zweitbeste des gesamten Jahrgangs geworden bin, hat sie, glaube ich noch immer nicht verwunden. Nicht auszudenken, wenn ich tatsächlich durch die Psychoprüfung gefallen bin...

"Es geht mir nicht gut. Ich glaube, ich bekomme eine Erkältung. Vielleicht auch eine Grippe", erkläre ich. Um für die größte anzunehmende Katastrophe eine passende Entschuldigung zu haben. Krankheit ist der einzige Grund, den meine Mutter akzeptiert. Ich nicht. Vor allem, da ich weiß, dass ich nicht krank bin. Sondern einfach nur versagt habe.

"Oh. Schatz. Das tut mir leid. Soll ich zu dir fahren?"

"Nein. Nein. Natürlich nicht! So schlimm ist es nicht."

"Ach, dieses Wochenende ist bei mir schlecht", fügt sie auch sofort hinzu.

Ich habe nichts anderes erwartet.

"Wir geben einen Empfang. Was Kleines. Nur zehn Leute. Du weiß schon. Ach, warum musstest du unbedingt in Erlangen studieren? Warum konntest du nicht in Düsseldorf bleiben. Die Uni genießt einen hervorragenden Ruf. Du hättest zu Hause wohnen können. Dann könnte ich dich jetzt pflegen."

Also vom Dienstmädchen Kamillentee und Hühnersuppe kochen lassen und einmal am Tag zwischen zwei Terminen kurz bei mir vorbeischauen.

"Kommst du dann wenigstens nächstes Wochenende?" Der Ton meiner Mutter ist fast flehend.

Sie mag es, wenn ich zu Hause bin. Dann kann sie mich ihren reichen, wichtigen Bekannten präsentieren. "Meine Tochter studiert Psychologie", sagt sie dann mit einem triumphierenden Lächeln.

"Nächstes Wochenende kann ich nicht", entgegne ich selbstbewusst. "Da bin ich bei Max." Gelobt sei Max.

"Du bist jetzt schon ein halbes Jahr mit ihm zusammen. Wann lerne ich ihn endlich einmal kennen?"

Gar nicht, denke ich. Laut erkläre ich: "Du weißt, er ist viel beschäftigt. Als Assistenzarzt ist es echt schwierig."

„Warum lässt er sich nicht versetzen? Frankfurt ist doch sehr weit für euch beide. Es ist nicht einfach, eine Fernbeziehung zu führen."

Deine Ehe funktioniert doch auch, denke ich und frage mich, wann ich Vater zum letzten Mal gesehen habe. Das ist sicher schon ein halbes Jahr her.

"Du weißt doch, dass Max erst einmal seine Assistenzarztzeit beenden muss. Übrigens ...", entgegne ich laut.

"Ich habe gleich einen Termin ...“, unterbricht meine Mutter. "Ich fürchte, ich muss schon auflegen. Anna, du hast nicht schon wieder abgenommen oder? Du weißt, ich muss dich das fragen."

"Natürlich nicht, Mutter", lüge ich. "Ich studiere Psychologie. Ich weiß, was ich tue. Mach's gut."

Und ich lege auf.

 

Ich habe nicht gelogen.

Ich weiß ganz

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Bildmaterialien: © staras – fotolia.com, © evgenyatamanenko – Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 08.05.2016
ISBN: 978-3-7396-5334-1

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