Cover

Adam

Adams Beschluss zu gehen, war keine spontane Entscheidung. Sie war wohl überlegt und bis ins letzte Detail geplant. Sein Gesichtsausdruck war friedlich und entspannt, als er sich langsam der Klippe näherte. Einen Meter vor dem Rand blieb er stehen. Er schaute auf seine Füße. Vor ihm ging es 80 Meter senkrecht nach unten. Dort preschten die tosenden Fluten auf scharfe Felsen, die sich wie Speerspitzen aus der Gischt erhoben.

Ein kurzes aufflackern von Widerspruch schoss durch sein Herz. Er hob den Kopf und schaute aufs Meer. Es war stockfinster und bis auf die paar Lichter, eines weit entfernten Containerschiffes, sah er nichts. Das Wetter schien sich gegen sein Wunsch entschieden zu haben, seinen letzten Abend unter einem romantischen Sternenhimmel, in süßer Melancholie zu schwelgen: Es war eiskalt und ein feuchter, beißenden Wind stach ihm ins Gesicht. Der Himmel war bedeckt von einem grauen Wolkenschleier, der selbst das sonst so helle Mondlicht fast bis aufs letzte verschlang,

Doch sein Entschluss stand fest. Nicht einmal die vereinten Mächte sämtlicher Götter und Geister, die sich die Menschliche Fantasie bis dahin erschuf, konnten seine Entschlossenheit ins Wanken bringen. Es war so lange und so pedantisch geplant, er konnte es nicht einfach abbrechen. Niemand wusste, dass er dort war. Es gab weder einen Abschiedsbrief noch irgendeinen Hinweis, der jemanden auf seine Fährte locken könnte. Meilenweit keine Straße, keine Stadt, nicht mal ein Haus in dem ein alter Einsiedler leben könnte, dessen Anekdoten über die Wunder des Lebens, der Natur und der Großherzigkeit Gottes seine Suche nach Unendlichkeit in eine andere Richtung bewegen könnte.

Es war eine sehr lange Reise und es hat auch sehr lange gedauert diesen entlegenen Ort zu finden. Seine Planung ging so weit, dass er eine Geschäftsreise vorgab, die ihn bei seiner Familie entschuldigte und er einen Todesfall in der Familie erfand, mit dem er sich bei Rückfragen seiner Vorgesetzten problemlos entschuldigen konnte. Dieser Ort war schier unerreichbar und ohne einen Hinweis konnte er einfach nicht gefunden werden.

Er zog eine Glasflasche, die zu einem Viertel mit Wasser gefüllt war, aus der Innentasche seines Mantels hervor. Sie war mit einem Korken verschlossen und ohne Etikett. Aus derselben Tasche zog er noch einen Blister, aus dem er eine Tablette löste und sie sich einwarf. Er öffnete die Flasche, trank das Wasser in einem Zug und atmete tief durch. Den, nun leeren, Blister steckte er sich wieder in den Mantel und zog in derselben Bewegung eine Rolle aus Papierseiten heraus, die er in die Leere Wasserflasche steckte. Er verschloss die Flasche und steckte sie ebenfalls wieder in den Mantel. Er knöpfte ihn bis oben zu und schob seine Hände in die Außentaschen. Seine letzten Gedanken, so war der Plan, sollten sein erfülltes und glückliches Leben reflektieren.

Langsam fing die Tablette, ein sehr starkes Schmerzmittel, an zu wirken. Adam trat ein paar Schritte zurück, holte tief Luft und starrte gebannt über den Abgrund auf die tosende See. Der Wind fegte in immer stärkeren Böen über sein Gesicht, als wolle er ihn abhalten: Vergebens. Wie in Trance lehnte Adam sich nach vorn und fing an zu rennen. So schnell, dass, selbst wenn er es wollte, er keine Chance mehr hat es zu verhindern. Sein letzter Schritt war mit dem rechten Fuß direkt an der Kannte der Klippe. Noch während er sich abstieß, hallte ihm ein schmerzverzerrter, markerschütternder Schrei um die Ohren.

Adam versetzte seinem Körper einen leichten stoß um seine Achse, sodass er sich im Flug drehte. Bruchteile von Sekunden zogen sich als wären es Stunden, als sich langsam ein trauriges, ängstliches und im tiefsten verletztes Gesicht in sein Blickfeld schob. Es war unmöglich, dass sie ihn finden konnte. Er sah noch wie Isabell eine Broschüre der Steilküsten Englands umklammerte und fest an ihr Herz drückte. Trotz aller Anstrengungen seine Vorhaben zu verbergen hat sie ihn doch noch gefunden. Er hatte wohl unterbewusst gehofft, dass sie ihn findet, damit er sie noch ein letztes Mal sehen konnte. Sie würde es auch ohne ihn schaffen, da war er sich ganz sicher.

Adam lächelte so herzlich und von Glückseligkeit erfüllt, wie an dem Tag als er sie kennenlernte. Er schlang seine Arme fest um die Brust und umklammerte die Flasche mit dem wertvollen Inhalt, indem er ausführlich erklärte warum er dies Tat und wie sehr er sie liebte. Es war kein Abschiedsbrief und auch kein Testament. Es war einfach ein Blick in seine Seele und seine innersten Gedanken. Diese Flasche musste, egal wie, den Sturz überstehen. Wie ein unsichtbares Seil riss die Schwerkraft Adams Körper unbarmherzig in die Tiefe. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein, als Adam eine Fremde Stimme um die Ohren säuselte. In dieser bedeutungsschwangeren Sekunde, die getrennt von der Realität zu sein schien, wurde Adams Welt so unendlich klein und unbedeutend, dass er alle Verbindungen trennte und ohne Rücksicht all seine Erinnerungen aufgab. Die Flasche mit dem Brief, der Adams Gefühle so wunderschön ausdrückte, wie es selbst gelehrten Poeten nur selten gelang, zerschellte auf den Spitzen Felsen und die Seiten wurden von der Gischt verschlungen.

Als die Polizei am nächsten Morgen die Stelle absuchte, fanden sie nichts weiter als ein paar Fetzen des Briefes, auf denen nichts mehr zu erkennen war.

 

 

Isabelle

Isabelle hüllte sich gerne in eine gemütlich, schummrige Atmosphäre und las entspannt ihre Lektüre über moderne Technologien aus Fachzeitschriften und Büchern. Es ist wohlig warm, das Ledersofa ausgesprochen bequem und der Geruch von altem Holz und Papier waren betörend und entspannend. Manchmal lag ihre acht Jahre alte Tochter mit dem Kopf auf ihrem Schoß und döste friedlich. Diese Momente waren für Isabelle die schönsten überhaupt und sie wären vollkommen, wenn ihr Mann Adam, wie früher, auf dem großen Sessel neben ihr säße und seine Bücher über theoretische Physik verschlang. Sie flirtete dann immer sehr ausgiebig mit ihm und lenkte ihn neckisch von seiner Beschäftigung ab.Doch seit einer Weile war Adam eher selten im Arbeitszimmer. Er verlor sich immer mehr in seiner Fantasie und ließ immer weniger von außen auf sich wirken. Isabells sorgen um ihn waren anfangs noch sehr zerstreut. Sie kannte ihn schon ihr ganzes Leben lang und wusste genau, dass es Zeiten gab, in denen er seine Gedanken weit abschweifen ließ und in einer scheinbar fernen Welt versank. Aber das legte sich auch schnell und er war wieder der Lebensfrohe, aufmerksame und liebevolle Mensch, dem sie so gerne bei seinen Geschichten über die unglaublichen Wunder unserer Galaxie zuhörte. Ob das eine psychische Störung war oder einfach nur eine Marotte, interessierte sie wenig. Sie liebte ihn mehr als irgendetwas anderes. Er war nicht nur ihr Mann sondern auch ihr bester Freund. Sie wuchsen zusammen auf, verbrachten jeden Tag ihrer Kindheit miteinander, studierten zusammen Maschinenbau. Schnell wurden sie anerkannte Ingenieure und Adam promovierte vor wenigen Monaten sogar. Isabelle ist gerade dabei ihre Dissertation fertig zu stellen. Beide gingen in ihrem Beruf auf und konnten sich schnell ein kleines Vermögen verdienen. Das große Haus, in einem idyllischem Städtchen in der Nähe von Blackmore, England, war traumhaft und eine harmonische Mischung aus moderner Funktionalität und ländlicher Gemütlichkeit. Ihre Kinder Riah und Luca, vervollkommneten ihr Glück, mehr als sie es zu träumen gewagt hätten.

Leise betrat Adam den Raum und küsste Isabell weich auf die Wange. Sie lächelten sich mit großen Augen an und mit einer subtilen Handbewegung wies sie ihn darauf hin, dass noch Essen in der Küche sei. Adam bedankte sich schweigend und verließ den Raum. Zweimal die Woche arbeitete er abends länger, um das fehlende Einkommen durch Isabelles arbeiten an ihrer Dissertation ein wenig auszugleichen.

Etwas später brachte sie Riah ins Bett und machte es sich im Wohnzimmer gemütlich. Adam setzte sich zu ihr und erzählte von einem seltsamen Traum, den er seit ein paar Wochen hin und wieder hat. Er handelt von einer Kreatur, die so groß war wie ein Stadtviertel. Ein Drache, wie er immer wieder behauptete. Seine Haut war pechschwarz, überzogen von Purpur glühenden Mustern auf dem ganzen Körper. In derselben Farbe glühten auch seine Augen genau wie die Flammen, die sich an seinen Zähnen empor schlangen. Anfangs erzählte er, mit viel Angst in der Stimme, von diesem Traum, doch je öfter er ihn hatte, desto kindlicher wurden seine Emotionen. Es schien ihn nicht mehr los zu lassen. Und ab dem Punkt fing Isabelle an sich wirklich Sorgen zu machen.

Adam war emotional eher verschlossen und zurückhaltend. Zum einen war es Teil seiner Persönlichkeit, zum anderen hatte er sich geschworen, egal wie schlecht es ihm mal gehen sollte, niemals grausam oder gemein zu jemandem zu sein, nur weil ihm danach war. Doch wenn er von diesem Drachen erzählte, war er wie geladen. Es war faszinierend und gruselig wie er beim erzählen herum tänzelte und wild mit den Armen wedelte. Was aber noch beängstigender war, war dass er ein paar Tage lang, nachdem er von dem Drachen träumte, immer sehr melancholisch und nachdenklich war. Es gab auch schon die ein oder andere Beschwerde von seinem Chef, dass er hin und wieder nicht richtig bei Sinnen sei und die Welt vor sich nicht mehr richtig wahr nehmen zu schien. Diese Zeiten kamen immer impulsweise auf. Im Abstand von Monaten bis hin zu Jahren, immer wieder für ein paar Wochen. 

Riah ist mittlerweile zwölf und Luca hat mit sechzehn gerade sein Studium begonnen. Er hat das Haus verlassen und ist zusammen mit seinem besten Freund auf den Campus gezogen. Isabelle hat sich mittlerweile an Adams träume gewöhnt und sich damit arrangiert. Sie ist nun ebenfalls promoviert und doziert Maschinenbau an der Universität, an der sie mit Adam zusammen studiert hat. Eines Abends saß Isabelle wieder auf dem Ledersofa und las einige Arbeiten ihrer Studenten. Da fiel ihr eine merkwürdige Broschüre auf dem Tisch auf. Sie griff nach ihr und las etwas über Englands Steilküsten und Naturschutzgebiete. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches aber ihr war sofort klar, dass etwas nicht stimmte. Seit Monaten hat er nicht mehr von den Träumen gesprochen und war wieder so seltsam normal. Sie untersuchte die Broschüre genauer und erkannte einen winzigen Kratzer an einer Stelle auf der Übersichtskarte, die etwas abseits und mit den Worten „Für Besucher nicht zugänglich“ beschrieben war. Eine Weile schaute sie besorgt umher und dachte nach. Adam erzählte ihr, dass er auf eine Tagung nach London müsse und diese frühestens um zehn Uhr abends vorbei wär. Sie vertraute Adam vollkommen und würde nie auf die Idee kommen, so etwas zu hinterfragen. Doch das seltsame Verhalten von ihm in letzter Zeit war für sie ein gültiger Anlass, in seiner Firma anzurufen und nachzufragen.

Wie immer wurde sie ausgesprochen freundlich begrüßt als sie Mr. Wanten, Adams Boss, anrief. Doch ihre Frage, wo Adam war, musste sie gar nicht stellen, denn das erste was Mr. Wanten zu ihr sagte war, dass er tiefes Beileid für den Verlust seiner Großmutter empfand und er sich gern noch einen Tag länger frei nehmen solle, wenn ihm danach ist. Isabelle bedankte sich freundlich dafür und beendete das Gespräch mit einer Entschuldigung. Sie wollte sich nur erkundigen ob Adam nicht vergessen hat, ihm Bescheid zu sagen und lachte aufgesetzt. Sie ließ das Telefon fallen und schlüpfte hektisch in ihre Jacke. Es dämmerte bereits und ein scharfer Wind hämmerte gegen die Fenster. Sie lief in die Garage, sprang in den Sportwagen und raste davon. Das Adrenalin in ihrem Blut riss an ihrem Herz als würde sie von einer höheren Macht angetrieben, so schnell wie möglich bei ihm zu sein. Der Wind wehte immer stärker und schien das, so schon wahnsinnig schnelle Gefährt, noch weiter anzutreiben.

Am Ende einer schlecht ausgebauten Landstraße, sah sie das SUV mit dem Adam zur Tagung gefahren ist. Sie stieg aus, sprintete in den Wald und ließ sich nur von der salzigen Meeresluft leiten, die sie, hoffentlich, bis zu dieser Klippe führen würde. Eine gefühlte Ewigkeit lief sie wie verrückt durch den Wald, stolperte immer wieder über Wurzeln und Äste. Ihre Hände und ihr Gesicht waren zerkratzt von scharfen Blättern und Dornen, die immer wieder ihren Weg kreuzten. Endlich erreichte sie den Waldrand. Keuchend und stöhnend fiel sie auf die Knie und versuchte wieder Kraft zu schöpfen. Als sie aufblickte sah sie ihn etwa hundert Meter vor sich an der Klippe stehen. Der Wind peitschte ihr ins Gesicht als sie aufstand und losrennen wollte. Doch ihr Körper versagte ihr den Dienst und sie fiel sofort wieder auf zu Boden.

Wieder schaute sie auf und sah wie Adam immer schneller auf den Rand der Klippe zu lief. Sie krallte sich mit den Händen ins Gras und stieß mit letzter Kraft seinen Namen aus. Doch Adam war schon im Sprung und sie sah nur noch kurz das funkeln des schwachen Mondlichts in seinen Augen, als er sich im letzten Moment umdrehte und sie sah. Dann wurde er vom klaffenden Abgrund verschlungen wie von einer hungrigen Bestie und mit einem schmerzvollen und unerbittlichen Schlag aus ihrem Leben gerissen. Tränen rannen wie Bäche über ihr schmerzverzerrtes Gesicht, das im kalten, nassen Gras versank, während sie ihre Arme über dem Kopf zusammenschlug und sich die Haare auszureißen versuchte. Die Wirklichkeit schien um sie herum zusammen zu brechen und sie viel ins Koma.

Der nächste Tag erwachte und das Sonnenlicht durchbrach den grauen Wolkenschleier, der ganz England seit Wochen mit einer beklemmenden Melancholie quälte. Isabelle öffnete ihre Augen und fand sich in einer Welt wieder, in der sie nicht mehr zurechtkommen würde. Sie hob ihr schmutziges Gesicht aus dem Gras und betrachtete ihre, mit tiefen Kratzern und Wunden übersäten Arme, und richtete sich langsam auf. Vor ihr klaffte noch immer der Abgrund, der über ihr gebrochenes Herz zu spotten schien und sie lockte, ihrem geliebten zu folgen.

Isabelle stand auf und lief langsam auf die Klippe zu. Sie zog ihren Pullover aus und wischte sich mit der Innenseite den Schmutz aus dem Gesicht. Sie wagte es nicht hinab zu schauen. Sie schloss ihre Augen und verlagerte ihr Gewicht langsam nach vorn. Doch ein starker, kalter Windstoß packte sie und stieß sie zurück. Sie fiel mit dem Rücken ins Gras und blieb mehrere Stunden regungslos liegen. Dann klingelte ihr Handy. Es war ihre Tochter Riah, die sich um sie sorgte weil sie die Nacht nicht wieder Heim gekommen ist. Isabelle lächelte und ihre Todessehnsucht verflog urplötzlich als sie die süße, quirlige Stimme ihrer Tochter hörte.

~Makenshi

 

Erinnerungen der Drachen

Aoen und Solaris

 

„Dieser Milchbube soll unser neuer Sucher sein?“ Der Kommandant zeigte grimmig mit dem Finger auf mich. Er schien wütend zu sein, was mir nur allzu verständlich war, denn er hatte vor kurzem viele seiner Männer bei der Drachenjagd verloren, darunter auch seinen Sucher. Ich wurde als sein Nachfolger auserwählt und musste mich als dafür geeignet beweisen. Diese Truppe war die einzig erfolgreiche und hatte schon mehr als zwölf Drachen getötet. Wieso sie so erfolgreich waren, war ein wohl gehütetes Geheimnis. Der Name des Kommandanten war Selvic und er unterhielt sich gerade mit einem hageren Kerl, der eingeschüchtert wirkte. Er war kreidebleich und starrte immer ängstlich zu dem riesigen, Muskelbepackten Veteranen auf. Ich beobachtete die Beiden eine Weile bei der Diskussion darüber, ob ich denn überhaupt eine Chance verdient hätte, in Victors Fußstapfen zu treten. Die Arbeit des Suchers ist eigentlich die einfachste. Man muss lediglich ein paar Informationen zu Aufenthaltsorten einzelner Drachen parat haben und so tun, als wär das eine Mordsarbeit.

 

„Hey Neuer! Beweg mal deinen Hintern hier rüber!“, brüllte Selvic mich an. Demütig und gehorsam folgte ich seinen Anweisungen und begrüßte die Beiden freundlich. Er musterte mich argwöhnisch und zuckte dabei immer mit seinem rechten Augenlid.

„Zeraph”, sagte er ohne den Kiefer zu bewegen und starrte dabei auf ein Klemmbrett. „Ich hoffe, ich kann mich auf dich verlassen. Victor hat sich nur einmal vertan und das war auch gleich sein Todesurteil”

„Was ist denn passiert?“, wollte ich wissen. Selvic kratzte sich nachdenklich an der Backe. „Dieser verfluchte Drache. Er hat uns aufgelauert und uns angegriffen. Dabei wurden Victor und zwei andere getötet” Er machte eine kurze Pause. „Hast du jemals einen Drachen gesehen?“, fragte er mich eindringlich. Ich nickte. „Selbstverständlich, sonst wäre ich ja wirklich der falsche für diesen Job”

„Richtige Antwort”, fuhr Selvic fort, „Aber keinen wie diesen. Die Viecher sind so schon groß genug aber der übertraf alles, was wir je gesehen haben”

„Wirklich?“, entgegnete ich ihm und heuchelte so viel Interesse wie ich konnte. „Wie groß war er denn?“

„Wir dachten erst, es wär ein Berg und der Drache wär dahinter irgendwo” Selvic schüttelte nachdenklich den Kopf. „Plötzlich sahen wir etwas rot aufleuchten und dann stand alles in Flammen. Ich, Berko und Marleene konnten irgendwie entkommen. Die Anderen …“ Er schaute mit starrer Miene auf den Boden. Es war schon ein seltsamer Anblick: Ein stämmiger, Kriegserfahrener Mann, der mit seinen Gefühlen rang und dabei war, gegen sie zu verlieren. Doch kurz bevor er in Tränen ausbrach holte er tief Luft und schaute mir fest in die Augen.

„Okay, genug gequasselt. Ich stelle dir den Rest der Truppe vor” Wir gingen ein Stück die Straße entlang, vorbei an mehrstöckigen Kompaniegebäuden, Lagerhallen mit allerhand Kriegsgerät und an einem Landeplatz für Hubschrauber, bis wir ein Übungsfeld erreichten, auf dem ein Schützenpanzer stand. Auf diesem saß ein junges Mädchen, zumindest soweit ich es zu diesem Zeitpunkt einschätzen konnte, und ließ sorgenfrei die Beine über die Kannte baumeln. Als sie uns bemerkte, lächelte sie und sprang herunter. Sie lief zu uns und begrüßte uns freundlich. Mich musterte sie erst ein wenig abweisend doch dann entspannten sich ihre Züge und sie stellte sich mir als Marleene vor. Sie war nicht älter als vierzehn und trug keine Uniform – nur einen dicken Sweater mit Kapuze, eine weite Jeans und Turnschuhe. Ihr Gesicht war jung und unverbraucht und ihre braunen Mandelaugen funkelten wissbegierig unter ihrem Pony hervor. Eigentlich ein ganz normales junges Mädchen, wenn da nicht diese schwarze Flüssigkeit wär, die ihren linken Arm herab tropfte. Als ich das entdeckte wurde mir klar, dass ich gefunden hab, wonach ich suchte: Sie war das Geheime Erfolgsrezept der Truppe und ich wusste genau wieso. Ich ließ mir meine Freude über diese Entdeckung natürlich nicht anmerken aber scheinbar hatten sich doch ein paar Gesichtszüge gegen meinen Willen geregt.

„Worüber freust du dich so?“, erkundigte sich Marleene. „Stehst du etwa auf kleine Mädchen?“ Diese Frage brannte wie ein glühender Dolch in meinem Herz und ich versuchte meine Wut darüber so gut es ging im Zaum zu halten.

„Nein, ich finde diesen Panzer nur ziemlich cool”, antwortete ich so überzeugend, wie ich es gerade so vermochte. Enttäuscht blies sie die Backen auf und schaute grimmig von mir weg.

„Lass gut sein”, sagte Selvic freundlich. „Sie ist ein bisschen … anders. Aber sie meint es nicht böse”

„Öhm. Chef” Sagte plötzlich der hagere Typ, der die ganze Zeit bei uns war, schüchtern.

„Ach du meine Fresse”, stieß Selvic lachend aus. „Hab ich dich vollkommen vergessen” Er schaute Vergebung suchend zu ihm. Dann wieder zu mir. „Das ist Berko, mein Fahrer. Er ist … naja … leicht zu übersehen”

Ich schaute wieder zu Marleene. „Was ist ihre Aufgabe?“. Fragte ich um den Anschein von Verwunderung zu heucheln, den diese Situation gerade verlangte. Denn ich kannte die Antwort bereits.

„Nun, sie ist unsere Geheimwaffe”, antwortete Selvic mit einem verstohlenen Lächeln. „Aber das wirst du noch früh genug erfahren”

Darauf folgte ein kurzes Schweigen allerseits und etwas später stellte sich etwas Smalltalk ein. Zwei Stunden vergingen in denen ich mich mit ihnen anfreundete und langsam ihr Vertrauen gewann.

Die Sucher, so erfuhr ich, verfügten über einen enormes Wissen über die Drachen und die Fähigkeit ihre Anwesenheit zu erspüren. Zu meiner Erleichterung war dieses Wissen Großteils Humbug, aber die Fähigkeit, sie zu erspüren, existierte tatsächlich. Ich gab natürlich vor diese Fähigkeit ebenfalls zu besitzen, sonst würden sie mich direkt wieder nach Hause schicken, aber ich war schon sehr beeindruckt dass sie das konnten. Die Drachen lebten schon lange vor dem Menschen auf dieser Welt und bis vor wenigen Jahren gab es kaum Auseinandersetzungen mit ihnen. Doch die Menschen breiteten sich unaufhaltsam über dem Planten aus und ihre schiere Anzahl schien die Drachen zu verärgern. Das Ökosystem fing an zu kränkeln und das beeinträchtigte alle Lebewesen. Die Drachen fingen an sich zu zeigen und das verbreitete Angst und Schrecken in der Bevölkerung. Und so flammte ein Konflikt auf, in dem die Menschen, trotz ihrer fortschrittlichen Waffen, nichts zu gewinnen hatten. Doch seit kurzem setzten sie eine Waffe ein, die mächtig genug war, selbst einen Drachen von hohem Alter und großer Macht niederzustrecken. Und diese Waffe war das junge Mädchen, das mich immer noch argwöhnisch anfunkelte und mir Grimassen schnitt, wenn die anderen nicht hinsahen.

Später fragte ich ob wir den Ort, wo sie diesen riesigen Drachen entdeckt haben, noch einmal aufsuchen könnten. Ich gab vor, dass es mir helfen würde, den Drachen zu finden und traf damit ins Schwarze: Sofort flammten Selvics Rachegelüste auf und er befahl den Anderen sich bereit zu machen, denn wir würden noch am selben Abend aufbrechen. Erfreut über die rasche Entscheidung, stieß ich ein seufzen aus, ging zurück in meinen Kompanieblock und packte meine Sachen.

Als es dämmerte traf ich die ganze Truppe wieder am Schützenpanzer. Alle hatten ihre Kampfmontur an und stopften so viel Waffen und Munition in das metallene Ungetüm, dass wir gerade noch genug Platz für uns selbst hatten. Nur Marleene trug noch immer ihre locker Freizeitkleidung, nur dass sie sich jetzt ihre Kapuze über den Kopf gezogen hat.

„Aufsitzen!“, befahl Selvic und jeder bezog seinen Posten. Auch ich bezog meinen Platz, der erstaunlicherweise der des Richtschützen war. Ich hatte kaum Erfahrung mit Kettenfahrzeugen und deren Bordgeschützen, dennoch ließ ich mich, mit der Begründung dass es gar nicht so schwer sei, darauf ein. Nach einer kurzen Unterweisung begriff ich wie das Geschütz im groben zu bedienen war. Es waren nicht mehr als zwei Faustgroße Joysticks, mit einem Knopf für die Laser-Entfernungsmessung und einen um das Geschütz abzufeuern. Berko startete den Motor und setzte den Panzer auf Selvics Befehl hin in Bewegung. Behutsam manövrierte er das schwere Gefährt auf die Ladefläche eines Sattelschleppers, der uns erst in die Nähe des Ortes bringen musste, da der Panzer gerade einmal etwas mehr als sechzig Kilometer Reichweite hatte. Es folgte eine dreistündige Fahrt über Autobahnen, Landstraßen und durch kleine Dörfer, bevor wir wieder abgesetzt wurden. Dann ging es querfeldein über Felder, durch kleine Waldstücke und unwegsame Schotterpisten. Auf dem Tieflader war die Fahrt noch relativ bequem, da der Motor des Panzers abgeschaltet war und wir größtenteils auf Asphaltstraßen unterwegs waren. Doch als sich das Gefährt aus eigener Kraft durch das Gelände wühlte, wurde es sehr unangenehm. Das straffe Kettenfahrwerk übertrug jede Unebenheit des Bodens auf die Insassen und die Hitze im Innenraum war fast unerträglich. Den Anderen schien das herzlich wenig auszumachen, doch ich machte meinem Unbehagen immer wieder durch lautes seufzen Luft, was ihnen bitter aufstieß.

„Hör mal”, fauchte Selvic vom Kommandantensitz über mir. „Das ist hier nicht die Luxuskarosse von deinem Opa also komm damit klar, dass es ein wenig holprig wird, sonst darfst du uns die restliche Strecke hinterherlaufen”

„Jawohl, Herr Feldwebel“, antwortete ich und klammerte mich fest an die senkrechten Stahlstreben rechts und links neben mir.

Nach einer gefühlten Ewigkeit brachte Berko das Gefährt zum stehen und rief: „Näher sollten wir nicht, wenn er noch da ist, würde er uns sofort bemerken”

Wenn du wüsstest. Dachte ich mir und verließ den Panzer etwas später auf Selvics Befehl hin, der schon draußen stand und die Umgebung mit einem Nachtsichtgerät sondierte.

„Spürst du schon was, Küken?“, sagte er ohne seinen Blick durch das Gerät abzuwenden. Mir war klar, dass er damit nur mich meinen konnte und ich antwortete mit einem leisen: „Er scheint noch in der Nähe zu sein” Das war natürlich eine Lüge, denn ich hatte diese Fähigkeit gar nicht. Leider wusste ich auch nichts über die Menschen, die sie hatten und somit auch nicht, wie sich das Äußert. Also handelte ich instinktiv. Selvic ließ von seinem Nachtsichtgerät ab und schaute mir musternd ins Gesicht. Ein schwacher Schein des Mondlichts wurde von seinen Augen reflektiert und ließ sie mörderisch funkeln. Erst dachte ich, ich bin aufgeflogen, denn Marleene schaute mich genauso an.

„Bist du dir sicher, Küken?“, fragte Selvic und etwas Angst schwang in seiner Stimme mit. Ich nickte und postwendend sprang er von dem Panzer und legte seine Ausrüstung an. Erleichtert stieß ich innerlich einen Seufzer aus und tat ihm gleich. Ich schnappte mir ein Sturmgewehr, ein paar Magazine und eine Kugelsichere Weste; wohlwissend dass dieses Zeug absolut nichts gegen einen Drachen ausrichten würde. Selvic schnappte sich das große Maschinengewehr und Berko nahm einen Raketenwerfer mit. Ich wäre wohl an meinem Lachen erstickt, wenn ich es mir nicht verkniffen hätte. Nur Marleene nahm nichts mit. Und genau das machte mir Angst. Sie wusste viel mehr als sie preis gab – über mich, die Drachen und die Waffe, die sie am Arm trug. Es erschauerte mich, dass sie so kalt und emotionslos hinter uns her lief, während selbst der kriegserfahren Veteran Selvic weiche Knie zu haben schien. Nach einer weiteren Stunde Gewaltmarsch durch unwegsames Gelände, Wald und über Wiesen, stoppte ich die Rotte mit einem leisen „Psst Psst!“

Mit einem Handzeichen ließ Selvic die Anderen in die Hocke gehen und schlich leise zu mir vor.

„Spürst du was?“, wollte er von mir wissen.

„Er muss direkt vor uns sein”, flüsterte ich. „Wie es aussieht schläft er”

Selvic schaute mich mit festem Blick an und wir schlichen vor zum Waldrand. Das Mondlicht tauchte die weite Lichtung vor uns in ein silbriges, weiches schimmern. Ich streckte den Arm nach vorn aus und nickte. „Wenn du über diese Baumgruppe schaust”, ich deutete mit dem Finger über die Kontur einer kleine Böschung, „Siehst du eine kleine Verzerrung des zweiten Baums von links. Dort liegt er”

„Also ist das alles nur ein Trugbild?“, fragte Selvic. Ich nickte wieder und er bedeutete Marleene zu uns zu kommen.

„Ich spüre, dass er Reisig ist. Also überlegt dir gut, ob du wirklich in der Lage bist, ihn zu töten”, gab ich ihr mit, doch sie schien es zu ignorieren. Sie ging direkt zum Waldrand und zog den Ärmel ihres linken Arms nach oben. Ein seltsames Muster aus orange schimmernden, eckigen Linien erstreckte sich von ihrem Handgelenk bis zu ihrem Ellenbogen. Ich konnte mir das Grinsen wieder nicht verkneifen, doch zu meinem Glück waren alle Blicke auf Marleene gerichtet.

„Jetzt bekommt dieses Vieh, was es verdient”, flüsterte Selvic freudig. „Das ist die Rache für Victor, Hermann und David. Sieh zu Küken, … sieh zu, wie Oscha diesem Biest den Gar ausmacht” Ich antwortete nicht. Mein Herz schlug schneller als ich sah, wie diese schwarze Flüssigkeit in Strömen aus den schimmernden Linien rann und sich auf den Waldboden ergoss. Marleene ballte die linke Hand dabei immer wieder zur Faust und verzog schmerzvoll das Gesicht. Ich wurde immer aufgeregter und konnte es gar nicht erwarten meine Pläne aufgehen zu sehen. Schon bald würde ich ihm gegenüberstehen und dieses Elend von meinem Volk befreien. Doch ich musste mich gedulden, bis die Beschwörung abgeschlossen war.

Die schwarze Flüssigkeit floss, wie von Geisterhand, zu dem vermeintlichen schlafenden Drachen und breitete sich wie ein See unter ihn aus. Plötzlich bebte die Erde und zwei rote Augen, mit der Größe von Radioteleskopen, blitzen auf und die Landschaft veränderte sich. Felder und Bäume verschwanden und das silberne Mondlicht wurde von einer tiefschwarzen Oberfläche, die so groß war wie ein kleiner Berg, geschluckt.

„Zu spät, Drache!“, brüllte Selvic jauchzend. „Oscha ist bereits unter dir”

Der Drache brüllte so laut, dass die Luft vibrierte. Er bleckte dabei die baumstammgroßen, weiß schimmernden Zähne, an denen blutrote Flammen empor stiegen. Er streckte seine Schwingen aus und machte einen gewaltigen Satz mit den Hinterbeinen. Er schoss mehr als dreißig Meter in die Höhe doch er kam nicht weit. Eine riesige, schwarze Klaue hatte nach seinen Hinterbeinen geschnappt und ihn zu Boden gerissen. Der Drache brüllte wieder und schlug mit den Vorderbeinen danach, doch immer wenn er sie zerschlug, bildete sie sich neu. Er öffnete das Maul und richtete es auf den Boden unter ihn. Doch bevor er Feuer speien konnte, kam eine weitere Klaue und packte ihn am Hals. Egal wie sehr sich der Drache wehrte, es gelang ihm nicht, Oscha zu entkommen. Immer weiter bohrten sich sie Klauen in seinen Hals und ein riesiges, längliches Maul, wie das eines Krokodils, stieg unter dem Drachen empor.

Aufgeregt sah ich zu Marleene, die regungslos auf das Geschehen vor uns starrte. Dann schaute ich zu Selvic und Berko, die hämisch grinsten und bereits ihren Erfolg zu feiern schienen.

„Das ist sein Ende”, sagte ich lachend.

„Oh ja”, bestätigte Selvic. „Der Drache hat keine Chance”

Ich lachte lauter. Als er endlich zu mir schaute, sah ich die Reflektion meiner rot glühenden Augen in seinen. Ich schüttelte den Kopf. „Heute Nacht wird kein Drache sterben”, flüsterte ich und spürte wie das Blut in seinen Adern gefror. Dann verschwand der Drache und Oschas Maul schnappte ins Leere.

„Dieses Monster terrorisiert mein Volk seit Jahrtausenden. Doch dies hat nun ein Ende”, sagte ich noch, bevor ich mich vor seinen Augen in Luft auflöste.

Nun sah ich Oscha zum ersten Mal selbst, als ich hoch oben über ihm kreiste. Er war nun auf dieser Welt gefangen, gebunden an das Versprechen seiner Beschwörung, hier so lange zu bleiben, bis er mich getötet hat. Doch ich verfüge über eine größere Macht: Solaris – Das Drachenfeuer. Ich mag nur ein junger Drache sein, aber ich werde diese Schlacht nicht verlieren.

Ein Schwall des schwarzen Suds schoss nur haarscharf an meinem rechten Flügel vorbei. Oscha war bereit gegen mich zu Kämpfen und damit die ganze Welt niederzureißen. Ich drehte nach links ab und gewann an Höhe. Ich stieß einen kurzen Feuerstahl hinab auf den See aus schwarzem Schleim unter mir, der mittlerweile so groß war wie eine ganze Stadt. Ich fühlte seinen Schmerz als die Flamme einen großen Teil seines gestaltlosen Leibes auflöste. Ich gewann weiter an Höhe bis ich das Ende der Atmosphäre erreicht hatte. Mein Herz gab mir zu verstehen, dass all unsere Brüder und Schwestern bereits auf dem Weg in eine andere Welt waren. Nun bedeckte Oscha die Oberfläche des gesamten Planeten und streckte immer wieder sein Maul, das mittlerweile so groß war wie der Mond, nach mir aus. Doch das alles endete als ich die ganze Macht von Solaris in mir beschwor und sie auf ihn herabregnen ließ.

 

Nun bin ich bei euch, Nakasch, meine Königin, und erzähle euch meine Geschichte. Und so sehr ich euch auch respektiere und liebe, ich bin nicht in der Lage meine Freude und meinen Stolz darüber zu verbergen. Ich, Zeraph Darthas habe Oscha, den Drachentöter erschlagen.

Die Aoen sind wieder in ihren kalten, leblosen Dimensionen, in denen sie so gerne umherschwirren und darauf warten, beschworen zu werden.

 

Und wir Drachen sind wieder frei. So wie es sich gehört.

Marleene

Rotes Feuer, bebende Erde, eine durchdringende Aura, die jedes fühlende Wesen in tiefe Verzweiflung stürzt. Donnern und bersten so laut, dass Ohren schmerzen. Plötzlich Stille. Die vollkommene Abwesenheit sämtlicher wahrnehmbarer Eindrücke. Unendliche Leere. Dann säuselte eine bekannte Stimme durch ihre Gedanken.

„Versprich es mir. Es ist der einzige Grund, warum du noch lebst. Du musst es mir versprechen“

Panisch riss Marleene ihre Augen auf. Vor sich sah sie einen riesigen Feuerball, umschlossen von endlos schwarzer Leere. Sie trieb bedeutungslos auf einem Felsen durch die Unendlichkeit. Ihr Atemreflex war taub. Ihre Haut, obwohl durchgehend von hochenergetischen Photonen und Gammastrahlung bombardiert, bleich und unversehrt. Die schwarzen, eckigen Linien auf ihrem rechten Unterarm, pulsierten harmonisch. Die Schwerelosigkeit löste ein euphorisches Kribbeln in ihrem Körper aus. Sie drehte ihren Kopf nach hinten und erblickte einen Planeten, der in zwei hälften zerbrochen war. Der Kern aus flüssigem Eisen, leuchtete anmutig in der linken Hälfte. Die Oberfläche war pechschwarz, als wäre sie komplett verbrannt wurden. Das war das Werk eines Drachen. Was anderes kommt gar nicht infrage, dachte sie. Wieder schaute sie auf ihren linken Arm.

„Ich verspreche es. Aber bitte lass mich nicht allein. Es ist so einsam hier“ Antwortete sie in Gedanken.

Ein heller, gleißend weißer Nebel formte sich vor ihr. Eine formlose, aber scheinbar bewusste Wesenheit beobachtete sie. Ihr linker Arm fing an zu pulsieren und das gelb-orange Licht wurde zu dem Nebel gezogen. Ein verzerrtes Kreischen zog durch ihre Gedanken, begleitet von schmerzschreien.

„Oscha! Oscha!“, brüllte Marleene in Gedanken. Seine Schreie verstummten.

„Das ist das Einzige was ich noch für dich tun kann. Vergiss dein Versprechen nicht. Und vergiss mich nicht. Leb wohl“

Wieder erklangen schmerzvolle laute in Oschas Stimme. Die schwarzen Linien auf ihrer Haut verblassten und nach nur wenigen Minuten waren sie vollkommen verschwunden. Eine zehrende Leere wuchs in Marleens Brust. Sie spürte nun die Hitze der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Ihr Atemreflex kehrte zurück und begann ihr unerträgliche Todesqualen zuzufügen, während ihre Haut anfing zu verbrennen. Sie hörte immer noch das verzerrte Kreischen, dass eine gewisse Vergnügtheit mit sich trug, während sie langsam und qualvoll dahinsiechte.

Dann war alles vorbei. Der Schmerz war weg, die Sonne war weg, einfach alles war verschwunden. Ein funkelndes, weißes Licht tanzte um sie herum.

„Das war lecker“, vernahm sie von der verzerrten Stimme in ihren Gedanken. „Wir bekommen sehr selten so reine und alte zu fressen.“ Grenzenlose Traurigkeit umschloss Marleenes Herz. „Wir wollen mehr! Wir wollen mehr!“, geiferte die Stimme weiter. Plötzlich spürte Marleene, wie eine unvorstellbare Macht durch ihren Körper floss, sofern sie sich daran erinnerte, einen zu haben. Sie war in einer Art Spektralwelt, die sie nicht kannte.

„Bring uns mehr und du wirst mächtiger“, kratzte die Stimme wieder.

Marleene begann sich ihrer selbst wieder bewusst zu werden. Sie fühlte einen sanften Wind durch ihre Haare wehen. Weicher Boden war unter ihren Füßen. Das Rauschen einer Braundung, die gegen felsige Klippen schlägt war zu hören. Salzige, feuchte Luft schlug ihr ins Gesicht. Sie öffnete die Augen und fand sich an einem Abhang wieder, an dessen Fuß ein reißender Malstrom aus Gischt und scharfen Felsen war. Das Zwielicht der Dämmerung ließ das Wasser rötlich funkeln. Sie breitete die Arme aus und lehnte sich gegen den Wind. Die Luft war lau und mild, die Wassertropfen kühl.

Dann packte sie etwas am Kragen und riss sie nach hinten. Ein lautes Gebrüll dröhnte in ihren Ohren. Es dauerte ein wenig, dann formten die unbekannten Worte in eine Sprache, die sie verstand.

„Tu das nicht!“, brüllte sie ein Mann an, der vor ihr kniete und sie an den Schultern festhielt. „Egal was für Sorgen du hast, das ist nicht die Antwort darauf. Bitte tu das nicht“ Die Stimme klang weinerlich und verzweifelt. Es war eine seltsame Sprache. Das Klangbild unterschied sich sehr stark von ihrer. Verwaschen, aber akzentreich. Sie starrte ihn konzentriert in die Augen. Darin sah sie ihre eigenes Spiegelbild und ihre weiß leuchtenden Augen. Sie spürte eine Energie, die ihn durchfloss, zwei sogar, wenn sie sich genauer darauf konzentrierte. Mit ihren Gedanken konnte sie die Ströme dieser Energie bewegen und sie verändern. Sie verstand wie diese Energien untrennbar mit dem Geflecht des Universums verbunden war. Doch unterschieden sie sich sehr stark von Oschas. Sie erinnerte sich an seine Worte. Das Versprechen, dass sie ihm gab. Unweigerlich schossen ihr Bilder des Drachen durch den Kopf. Jedes Detail dieser unmöglichen Kreatur manifestierte sich vor ihren Augen. Haut, so schwarz, dass sie das Licht verschlang. Das rote Feuer, dass in seinem Maul brannte. Die scheunentorgroßen, kirschrot glühenden Augen. Minuten lang tanzte das Antlitz des Drachens vor ihrem geistigen Auge herum; in all seiner Pracht und all seinem Schrecken.

Spät bemerkte sie, dass sie die ganze Zeit mit dem Mann verbunden war, der plötzlich ganz ruhig geworden ist und sie mit einer fast kindlichen Begeisterung und einem Lächeln auf den Lippen anstarrte. Sie trat einen Schritt zurück, die Arme des Mannes lösten sich widerstandslos von ihr und fielen schlaff zu Boden. Marleene richtete sich auf und trat einen Schritt zur Seite. Der Blick des Mannes war fest auf einen Punkt jenseits des Horizonts fixiert. Sie musterte den Mann interessiert. Er war etwas hager, mittleren Alters, kurz geschnittene Haare, die zur Seite gekämmt waren. Er trug einen schweren Stoffmantel, darunter einen lagen, breiten Schal. Er kniete da, starrte in die Ferne und lächelte.

Die Macht, die durch ihren Körper floss, war der von Oscha nicht ebenbürtig. Sie glaubte nicht, dass sie damit in der Lage ist, einen Drachen zu töten. Das war selbst mit seiner Macht nur schwer vorstellbar. Doch je länger sie diesen Mann vor ihr beobachtete, desto hoffnungsvoller wurde sie.

„Los, steh auf!“, herrschte sie den Mann an. Er drehte seinen Kopf zu ihr und richtet sich auf. Vor sich sah er ein Mädchen, vielleicht vierzehn Jahre alt. Sie trug einen weiten Kapuzenpullover, dessen linker Ärmel bis zum Ellenbogen hochgezogen war. Ihre schwarzen Haare sammelten sich im Kragen und der Kapuze des Pullovers und ihr Pony reichte bis zu den Augenbrauen. Ihre Augen hatten keine Iris, sondern mehrere weiße Vielecke, die sich gegeneinander drehten und dabei pulsierten.

„Mein Name ist Adam“, sagte er zaghaft. „Was du mir da gezeigt hast: Ist das echt? Ich konnte es spüren. Es war wirklich da. Aber wie ist das möglich?“

Marleene streckte ihm ihre Hand entgegen. In ihrer Handfläche schimmerte ein Kreis aus Symbolen grün leuchtend, in dessen Mitte sich ein größeres Symbol befand. „Nimm mein Geschenk an und du wirst alles wissen können. Dir wird unendliche Macht und Unsterblichkeit vergönnt sein. Betrete die Welt der Nyx mit mir und suche nach dem Drachen“

Adam trat einen Schritt zurück und schüttelte mit dem Kopf. „Nein! Das wäre nicht richtig. Meine Familie braucht mich. Ich werde sie nicht zurücklassen. Ich habe deine Gedanken gespürt. Du bist zerfressen von Hass und Rachsucht“ Er drehte sich um und ging hastig, mit den Händen in den Taschen, zurück auf den Trampelpfad, von dem er gekommen war und verschwand kurz darauf zwischen den Bäumen. Marleene schaute ihm noch kurz nach und zog ihre Hand wieder zurück. „Ich hab dir die Welt der Götter gezeigt. Das wirst du nicht lange aushalten“, murmelte sie noch, dann drehte sie sich wieder zum Meer.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 01.09.2020

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /