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Prolog

Prolog

So entstehen Legenden

Solange die Menschheit denken konnte, erschuf sie sich Götter. Mächtige Wesen, die sich nur besonderen Menschen zu erkennen gaben und diese mit besonderen Aufgaben betrauten. Im Verlauf der Geschichte änderte sich das Bild der Götter immer wieder - aber eines blieb gleich: Es gab nie einen wahrhaftigen Beweis ihrer Existenz. Also wurden sie von unserer Welt in die Fantasie verbannt und dienten dort nur noch als Mittel der Zerstreuung und Unterhaltung. Doch diese Vorstellung drohte zu zerbrechen, als sich der Beweis göttlicher Existenz vor aller Augen auftat und eine gewaltige, wunderschöne Stadt zum Vorschein brachte.

Aletria war ihr Name, aber die Menschen nannten sie Das silberne Königreich. Doch es gab kein Wunder ohne Opfer. Bei ihrer Entstehung forderte sie alles ein, was ihr im Weg war. Das Land wurde von einem ringförmigen Geschwür verschlungen und hinterließ ein klaffendes Loch, das sich in eine Tiefe erstreckte, aus der selbst das Licht nicht mehr entrinnen konnte.

Als diese Bestie nach vier Tagen zum Stillstand kam, verwandelte sie sich in einen Wall aus todbringenden Waffen mit schier unendlicher Macht. Die endlose Leere hinter dem Ring wurde binnen weniger Stunden von einem, aus der Mitte herauswachsenden Geflecht aus Wurzeln und Ranken verschlossen. Wie in einer Zeitrafferaufnahme entstand auf dessen Oberfläche eine üppige Landschaft, vielfältiger Flora und natürlichen Konturen. Im Zentrum formte sich derweil der Kern der Stadt, silbern schimmernd und makellos.

Wie ein funkelnder Stern thronte das silberne Königreich nun in Vollkommenheit über den Rest der Welt, welche angsterfüllt und dennoch hoffend zu ihr aufschaute. Aus Angst wurde Zorn, aus eifernder Hoffnung wurde Hass und die Menschen setzten alles daran, es an sich zu reißen. Alle Länder entsandten ihre Heere und vereinten ihre Streitkräfte. Doch all ihre Geschosse und Bomben zerschellten an einer saphirblau schimmernden Energiekuppel, die Aletria umschloss. Alles andere was ihr zu nahekam, wurde augenblicklich von der Bestie zerfetzt. Selbst die mächtigsten Massenvernichtungswaffen der Menschen zerfielen zu Staub, noch bevor sie überhaupt in die Nähe ihres Ziels kamen.

Millionen von Soldaten starben und ein unheilvoller Ring aus Leichen, Wracks und verbrannter Erde umschloss Aletria bereits nach wenigen Wochen. Erschöpft gaben die Menschen auf und es wurde ein paar Jahre lang wieder ruhiger. Doch eines Tages trat einer der Erbauer aus Aletria heraus und ging erbarmungslos auf die Menschheit los. Sechs Tage lang wütete er über den ganzen Planeten und vernichtete eine Stadt nach der anderen. Wieder entbrannte ein furchtbarer Krieg. Dieses Mal jedoch, ging es ums nackte Überleben; um nichts weniger als den Erhalt der eigenen Art.

Das gab den Menschen viel Kraft und so versuchten sie erbittert ihre letzte große Stadt gegen einen unmöglichen Feind zu verteidigen. Eine mutige Generalin schlug ihn mit den wenigen verbliebenen Streitkräften der Welt, in einem waghalsigen Angriff nieder und rettete die Menschheit vor ihrer vollkommenen Auslöschung. Wie genau sie das schaffte, wurde nicht überliefert. Man ehrte diesen Tag und nannte ihn von nun an das Ende des großen Krieges.

Eine ganze Woche lang feierte man das Renaissancefest. Die letzte große Stadt wurde zur neuen Hauptstadt der Welt und hieß von da an Marista. Ihr alter Name wurde vergessen und die Legende der tapferen Generalin und ihrer Soldaten wurde in allen Schulen der neuen Welt gelehrt. Das silberne Königreich begann zu verstummen und seine wenigen Bewohner verließen den Planeten. Die blau funkelnde Kuppel wurde pechschwarz und gewährte niemandem mehr Einsicht.

Eine neue Religion entstand aus der Asche der alten, deren einstige Propheten und Lehren einfach vergessen wurden. Ecclesia de Deus Regem - Die Kirche des Gottkönigs - nannte sie sich und prophezeite die Wiederkehr des Gottes Shezzar. Dieser würde erneut über die Welt herfallen, wenn sie weiter in Sünde leben und nicht zu ihrem Glauben finden.

Die Macht dieser Religion war unübertroffen. Niemand wagte es daran zu zweifeln, denn die Beweise für Shezzars Göttlichkeit fanden sich in den Erinnerungen aller Überlebenden und den unzähligen Aufzeichnungen von seinem zerstörerischen Treiben. Tausend Jahre vergingen, in denen die Menschheit sich wieder erholte und erneut über den Planeten ausbreitete. Marista wuchs durch einen nicht enden wollenden Strom von Pilgern ins Unermessliche. Große Mauern bändigten sie und sorgten dafür, dass nichts mehr herein oder herauskam.

  Kapitel 1

Die süße Freiheit und ihr bitterer Beigeschmack

Die äußeren Bezirke der Stadt zählten zu den Ärmsten und Heruntergekommensten. Die Viertel waren zu weiten Teilen verwaist und verfallen. Die Menschen, die dort zu lebten, waren meist Ausgestoßene, flüchtige Kriminelle und Waisenkinder.

Wie auch schon in den Großstädten der Zeit vor dem großen Krieg, wuchs der Wohlstand der Einwohner zum Zentrum hin immer weiter. Die Straßen hier waren weniger belebt und man sah mehr und mehr Ordnungskräfte, verschiedenster Hierarchien. Je näher man dem Regierungsviertel kam, desto rigoroser wurde bei Verstößen durchgegriffen. Ansonsten hatte es einen idyllischen schein einer perfekten, schönen und prosperierenden Welt. Hier zu leben war ein Traum.

Einer, den sich der Junge Val und seine Freunde nie zu träumen gewagt hätten. Und dennoch waren sie hier. Straften das Bild von Sauberkeit und Idylle lügen, als sie mit ihren ranzigen, zerfledderten Kleidern, zerlaufenen Schuhen und schmutzigen Gesichtern durch die Häuserschluchten liefen. Abscheuliche Vagabunden, die es voller Niedertracht auf die Habseligkeiten der privilegierten Ansässigen abgesehen hatten. So wurde sicherlich bereits hinter geschlossenen Fenstern getuschelt, war sich Val sicher.

Eingeschüchtert von den riesigen, prunkvollen und hochmodernen Gebäuden, lief er Momo, dem Anführer seiner kleinen Bande aus Taugenichtsen, angespannt hinterher. Sie durchquerten das Regierungsviertel zügig durch Gassen und Hinterhöfe, bis sie wieder im mittleren Randgebiet waren. Hier war alles wieder etwas lebendiger, weniger aufgeräumt und mit vielen kleineren Läden und geschlossenen Residenzgemeinden durchsetzt. Aber auch hier hatten Kinder wie Val nichts verloren. Mit seinen vierzehn Jahren war Val noch nicht einmal der Jüngste seiner Bande. Doch die Kinder, mit denen er hier gerade unterwegs war, waren alle älter als er. Er war auch nur dabei, weil Momo es unbedingt wollte. Die anderen mochten ihn nicht besonders. Val hatte eine seltsam verstörende Aura um sich, mit denen nicht viele was anzufangen wussten. Keiner wusste etwas über ihn. Er sagte immer, er weiß selbst nicht viel über sich. Momo war das egal. Er schätzte Vals Aufrichtigkeit und dass er sich auf ihn verlassen konnte.

Momo brachte die Gruppe in einer Gasse zum Stehen. Er sah über die Straße und zeigte mit dem Finger auf ein Geschäft, dass Überlebensausrüstung und Campingbedarf führte. Als er sich zu den anderen umdrehte, wurde er von Val skeptisch und urteilend angestarrt.

„Hier waren wir noch nie. Keiner von uns kennt sich hier aus”, flüsterte er, „Hier gibt es nur teuren Plunder, mit dem wir nichts anfangen können” Momo drehte seinen Kopf nach hinten und schaute zuversichtlich in die Gesichter der Gruppe.

„Vertraut mir einfach, ja?“, sagte Momo, packte Val an der Schulter und schaute ihm fest in die Augen. „Ihr werdet alles verstehen, wenn es soweit ist. Spätestens zum Renaissancefest sind wir alle fein raus. Dann kaufen wir uns so viel Essen, dass wir es wieder wegwerfen müssen“ Er lächelte und zog Val zu sich. „Du musst nur noch ein bisschen länger durchhalten. Kann ich auf dich zählen?“, fragte er eindringlich.

Val nickte eingeschüchtert mit dem Kopf. Doch seine Zweifel wollten sich nicht zerstreuen, egal wie sehr er es wollte.

„Wenn die uns hier erwischen“, murmelte er.

„Das wird nicht passieren”, unterbrach ihn Momo und tätschelte ihm den Kopf. „Wir gehen jetzt darein, hauen den Fettsack aus den Latschen, klauen sein Zeug und verschwinden wieder. Das dauert keine zwei Minuten. So schnell sind die Bullen nicht.” Er drehte sich wieder nach vorn, lugte kurz um die Ecke. Dann rannte er los. Er schaute nach hinten und bedeutete allen, ihm zu folgen. Die Straße war nur wenige Sekunden frei und diese wusste Momo zu nutzen. Sie stürmten in den Laden und Momo schlug den Mann hinter dem Tresen zu Boden. Dann gab er alles präzisen Anweisungen, was sie mitnehmen sollten. Alles lief sehr koordiniert und schnell ab. Momo hatte nicht gelogen: Alles lief problemlos und nach nur zwei Minuten versammelten sich alle vor der Tür und dann liefen sie davon.

Alle, bis auf Val. Wie besessen starrte er auf eine milchige Kunststoffphiole, die er in der Hand hielt. Er fühlte, dass sich darin eine Flüssigkeit befand, aber nicht nur eine. In dem Behälter war ein kleines Röhrchen aus Glas. Er umschloss die Phiole mit seinen Fingern und mit dem Daumen drückte er so fest dagegen, bis der Glasbehälter zerbrach. Als sich die Flüssigkeiten vermischten, fing die Phiole an zu leuchten. Ein simples Knicklicht, stellte er fest. Er versank in dem Gedanken daran, wie die komplexen Moleküle der beiden Flüssigkeiten miteinander reagierten. Auch Lebewesen verschiedenster Arten können diese simple chemische Reaktion für sich nutzen. Das führte dazu, dass er über die genetische Sequenz nachdachte, die die Herstellung und Nutzbarmachung solcher Systeme entwickeln lassen. Er wusste nicht nur genau, wie eine solche Sequenz aussehen musste, sondern auch wie er eine Maschine entwickelt, die ihm dabei hilft und welche Materialien er dafür brauchte.

Blut lief aus Vals Nase und auch aus Augen und Ohren. Sein Kopf schmerzte, doch er konnte sich nicht davon losreißen. Es folgte ein starker schmerz auf seiner Wange und ein lautes Pfeifen im Ohr. Das ließ ihn wieder zur Besinnung kommen, doch vor ihm stand eine furchteinflößende Gestalt. Es war ein Exekutor der inneren Garde. Diese haben ähnliche Aufgaben wie die Polizei, doch ohne sich vor dem gemeinen Populus für ihr Verfahren rechtfertigen zu müssen. Immer wieder hörte man Gerüchte, dass sie einfach so Leute mitnehmen. Besonders Kinder, die sie scheinbar tagelang folterten; meist bis zum Tode.

Val wurde unsanft am Unterkiefer gepackt und gemustert. Val blickte in die grausamen Augen des Mannes und sah einen weiteren den Laden durchsuchen. Der Ladenbesitzer, der vor kurzem erst wieder zu sich gekommen ist, stand eingeschüchtert hinter seinem Tresen.

„Der da”, stammelte er. „Der gehört zu denen. Die haben mich so zugerichtet”

„Der sieht nicht schlecht aus. Wir nehmen ihn gleich mit“, sagte der Gardist. „Wo deine Freunde sind, sagst du uns dann auch gleich, damit wir euch Gesindel nicht mehr auf unseren schönen Straßen sehen müssen“

Val zuckte panisch mit den Augen umher. Der Griff des Gardisten festigte sich.

„Ohja, denkst du ich weiß nichts von Euch?“, er lachte leise. „Ich hab euch schon verfolgt, als ihn in Alt-Berghain wart. Seitdem musste ich mich mit dem Unmut vieler Ansässiger dort rumärgern.“

Val dachte über die Geschichten nach, die aus den Stationen der Garde kamen. Es waren nichts weniger als Horrorgeschichten. Die wenigen, die dort wieder rauskamen, waren total verstört, schwer verletzt und mussten monatelang wieder aufgepäppelt werden. Gänzlich erholt haben sie sich aber nie. Viele wurden nie wieder gesehen, und wenn, dann als Leichen, die in modrigen Gassen verrotteten.

Val wurde schlecht und er kotzte auf die Hand des Gardisten. Angewidert zog er sie weg und wischte sie sich an den Jacken ab, die auf dem Kleiderständer neben ihm hingen. Val sah nun seine einzige Chance zur Flucht: Er trat dem Gardisten zwischen die Beine und floh, als dieser sich vor schmerz auf den Boden sacken ließ. Er rannte so schnell er konnte davon. Der andere Gardist verfolgte ihn. Val war immer noch nicht wieder ganz bei Sinnen und kannte sich in diesem Teil der Stadt auch nicht aus. Der Gardist war kräftig und agil.

Die Jagd war schnell vorbei und endete in einer Sackgasse. Val fand sich, mit dem Rücken zur Wand stehend, neben einem großen Müllcontainer wieder. Er war am ganzen Körper verschwitzt und er atmete schwer.

Der Gardist ging langsam auf ihn zu. Aufmerksam und berechnend musterte er Val und seine Hand schwebte die ganze Zeit über dem Holster seiner Waffe. Val war wie versteinert. Er sah sich überall um, doch es schien keine Möglichkeit zu geben, ihm zu entkommen.

Kinder waren in dieser Welt nichts wert. Und erst recht keine Ausgestoßene und Waisen wie er und seine Freunde. Sie dienten höchstens als Spielball frustrierter Autoritäten, wurden gefangen, verkauft, versklavt und gefoltert.

Diese Vorstellung jagte Val einen eiskalten Schauer über den Rücken. Sein Herz pochte immer schneller und vor Angst konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Als der Mann noch etwa zwei Meter vor ihm stand, zwängte sich Val hinter den Müllcontainer.

„Gib auf, Junge. Du hast keine Chance. Komm da raus!“ Panisch stieß Val den Container weg, aber der Gardist konnte ihn mühelos aufhalten. Doch nun hatte Val die entscheidenden Sekunden, um an ihm vorbeizulaufen. So schnell es ging, rannte er zur Straße. Es war nicht wirklich weit bis zum Ende der Gasse, doch es kam ihm unendlich lang vor. Wie in einem verzerrten Traum, der einen trotz Geschick und Mühen nicht entkommen lassen wollte.

Reflexartig zog der Mann seine Waffe, schoss ohne zu zögern und traf ihn einmal in der Hüfte und ein zweites Mal direkt in die Brust. Val verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Gesicht auf dem Asphalt auf. Er spürte, wie ihn seine Kraft verließ, als er versuchte seinen Arm zu heben und weiter zu kriechen. Seine Wahrnehmung verschwamm.

Der andere Gardist kam wenige Sekunden später dazu. Er blickte zu Val, der in einer wachsenden Blutlache am Boden lag.

„Dieses elende Gesindel hat es nicht besser verdient. Aber ich wollte ihn lebend, Viktor. Jetzt finden wir nie heraus, wo das Nest dieser Ratten ist“ fluchte er.

„Hättest du dich nicht von einem Kind überwältigen lassen, müssten wir uns jetzt nicht streiten”, antwortete Viktor und kniete sich zu Val herab. „Kaum zu fassen, der lebt ja noch”

„Halts Maul! Die Bonzen aus Tuya bezahlen immer gut für solche Streuner. Das können wir uns jetzt in die Haare schmier’n“, fauchte der andere.

„Hab gehört, die foltern sie tagelang nur aus Langeweile. Naja, der macht’s nicht mehr lange. Was für eine Zeitverschwendung”, sagte Viktor genervt. Sie schauten noch eine Weile auf ihn herab und sinnierten darüber, ob er das alles noch mitbekommt oder er schon längst das Zeitliche gesegnet hat. Die Gardisten kehrten zum Laden zurück und stellten dem Mann eine Rechnung aus. Schmerzensgeld, Kosten für Munition, Anreise, Abreise und die Arbeitszeit zweier Exekutor Gardisten, die auf eine Stunde aufgerundet war. Dazu kam noch der Verlust eines potenziellen Zeugen, der die Ermittlungen zum Erliegen bringen wird. Diese Summe war höher als sein Jahresumsatz.

Der Mann schluckte tief, aber er wagte es nicht, das infrage zu stellen. Jegliche Widerworte würden sein Geschäft oder gar sein Leben in Gefahr bringen.

 

Val lief durch eine staubige und stinkende Wüste, die übersät war mit Ruinen, Panzerwracks, Kratern und Leichen von Soldaten: Ein Schlachtfeld.

Irgendetwas in ihm wollte in eine bestimmte Richtung gehen. Trotzig ignorierte er das Verlangen und drehte nach rechts ab. Es wurde immer dunkler, bis er nur noch unendliche Finsternis wahrnahm. Es schien hier einfach aufzuhören. Er drehte sich wieder um und sah, dass die Umgebung wie ausgeschnitten wirkte. Eine Weile tat er nichts. Er versuchte sich zu konzentrieren, sich der Realität bewusst zu werden. Oder war DAS die Realität? War es möglich? Seine Erinnerungen waren blockiert. Er wusste nicht, wie er hierhergekommen ist, oder was vorher war.

Resignierend ergab er sich seinem Gefühl, dass etwas in der Ferne seine Fragen beantworten würde.

Es roch nach verbrannter Haut und Schießpulver. Er war nicht lange unterwegs, da mündete der Weg in einen riesigen Krater. Am tiefsten Punkt sah er etwas funkeln. Langsam stieg er hinab und ging verwundert weiter Richtung Zentrum. Das Funkeln stammte von einer Art grünlich glitzernden Säule, die aus dem Boden ragte. Er blieb stehen, als er eine verschwommene Silhouette wahrnahm, die sich nicht weit weg davon befand. Er konnte nicht genau erkennen um was es sich handelte, da ihm die trockene Luft und die grelle Sonne in den Augen brannte.

Zaghaft ging er darauf zu und stellte fest, dass es sich um einen seltsamen, sehr mageren, aber großen Mann handelte, dessen Körper voller tiefer Schnittwunden und Verbrennungen war. Der Mann saß mit angewinkelten Beinen auf dem Boden, den Kopf hatte er in seinen verschränkten Armen vergraben. Seine Kleidung bestand nur noch aus teils verbrannten Stofffetzen. Vor ihm lag ein schwarzer Zylinder und ein Stück Tafelkreide.

Val sprach den Mann an, aber dieser zeigte keinerlei Reaktion. Nach einem weiteren misslungenen Versuch gab er auf und beschloss ihn in Ruhe zu lassen. Er ging weiter zu der grün Funkelnden Säule. Als er an dieser ankam, wurde der Anblick nur noch verstörender: Die grüne Säule stellte sich als ein kristallenes Schwert heraus, das etwa einen halben Meter im Boden steckte. Die Klinge war um die 20 Zentimeter breit und ragte aus der Brust eines anderen Mannes, der blutüberströmt und regnungslos am Boden lag. Die Kleider des Mannes waren zum Großteil noch intakt. Das Hemd und die Jacke schienen aus sehr feinem Stoff zu sein, mit vielen Verzierungen und metallenen Ansteckern. Es sah aus wie die Militäruniform eines hohen Offiziers. Er kniete sich zu ihm herab und entdeckte einen seltsamen Armreif an dem linken Handgelenk des Mannes.

An der Unterseite befand sich eine sehr kleine Gravur: Das Wort Shezzar in schnörkeliger Schrift. Ansonsten hatte der Armreif eine sehr glatte und silbrige Oberfläche. Er schaute auf als sich das grelle Licht verdunkelte. Die Sonne wurde nun von ein paar kleinen Wolken verdeckt und blendete ihn nicht mehr. Dort sah er zwei schwarze Punkte und kurz darauf hörte er das laute Klopfen von anfliegenden Helikoptern. Einer davon landete direkt neben dem Mann, der immer noch mit dem Kopf in seinen Armen auf dem Boden saß. Zwei Männer stiegen aus und zerrten ihn in das Fluggerät. Der Mann leistete keinen Widerstand. Nur kurz hob er den Arm und zeigte auf seinen Zylinder. Eine große, schlanke Frau, mit silbernen, hüftlangen Haaren hob ihn auf und stieg wieder ein.

Der Hubschrauber stieg wieder auf und verschwand hinterm Horizont. Der Zweite landete direkt neben Val. Ein kräftiger Mann, in einem orangenen Overall, stieg aus und befestigte eine Kralle an dem Schwert, die mit einem starken Stahlseil am Hubschrauber angebracht war. Der Mann ignorierte den toten Offizier, stieg wieder ein und der Hubschrauber hob ab. Das Seil spannte sich langsam und zog das Schwert aus dem Boden. Das Blut des Offiziers rann an der Klinge herab und der Wind der Rotorblätter wehte die Tropfen in Vals Gesicht.

Die Leiche löste sich in eine grün leuchtende Flüssigkeit auf, die im Boden versickerte. Überall im Krater begannen auf einmal Pflanzen zu wachsen, so schnell, dass es aussah wie in einer Zeitrafferaufnahme aus einem Dokumentarfilm. Nach nur wenigen Minuten war er umgeben von haushohen Bäumen, Farnen und bunten Blumen. Zaghaft streckte er eine Hand nach einem großen Baumstamm vor sich aus. Als er diesen berührte, durchfuhr ihn ein starker Puls, der ein filigranes Muster aus grün leuchtenden Äderchen auf seiner Haut hinterließ. Die Blutstropfen auf Vals Gesicht glühten ebenfalls und breiteten sich als Muster über seinen Wangen aus und umschlossen seinen ganzen Kopf.

 

Val fühlte noch ein heißes Brennen auf seiner Haut, dann wachte er auf. Langsam öffnete er die Augen: Es war bereits dunkel und die orangenen Lichter der Straße, schienen in die Gasse. Das Blut, in dem er lag, war schon leicht geronnen. Es klebte überall an seiner Kleidung und auf seiner Haut. Erst begann er seine Finger zu bewegen, dann zog er seinen Arm zu sich und fühlte mit der Hand über sein Gesicht.

Er hatte keine Schmerzen und spürte wie sein Herz schlug. Seine Atmung war langsam und flach. Immer wieder ballte er seine Hand zur Faust, öffnete sie wieder und fühlte das klebrige, halbgeronnene Blut daran. Nach einer Weile beschloss er sich aufzurichten. Zaghaft schaute er an sich hinab. Die Schusswunden waren weg, doch die Löcher in seinem Hemd nicht. Der erste Schuss, der ihn in der Hüfte getroffen hatte, hatte auch ein großes Loch an der Vorderseite des Hemds hinterlassen. Doch bei dem zweiten war das nicht geschehen.

Er zog sein Oberteil aus und wischte sich damit, so gut es ging, das Blut vom Leib. Das orange Licht der Straßenlaternen wurde nahezu unverfälscht von seiner blassen Haut reflektiert. Sein Körper war sehr schmächtig und er war nicht besonders groß. Kein einziger Makel zierte seine Haut, obwohl er schon dutzende Narben überall am Körper haben müsste. Für ihn war das nichts besonders, weil es einfach schon immer so war. Es fragte auch niemand nach, da es sowieso keinen gab, der sich damit auskannte.

Val stand auf und lief eine Weile umher, bis er die Große Kirche im Stadtzentrum sah. Keine gewöhnliche Kirche, sondern ein gigantischer Wolkenkratzer, der alle anderen Gebäude weit überragte. An jeder der Fassaden hing ein großes, leuchtendes, auf dem Kopf stehendes Kruzifix, das über dem großen Querbalken noch einen kleineren Balken hatte. Um die Kirche herum war ein Bezirk, der sich Ecclesia-Varos nannte. Dort lebten die hohen Würdenträger der Kirche und die Mönche der Abtei Varos. Die reichen Bürger lebten in einem anderen Stadtteil, der vollkommen abgeschirmt im westlichen Bereich der Stadt lag.

Für Val war die Kirche im Zentrum nichts weiter als ein nützlicher Orientierungspunkt; denn von hier an wusste er, in welche Richtung er gehen musste. Er hoffte, dass sich alles andere schon ergeben würde. Die Nacht war sehr warm und schwül doch der Himmel war klar. Es war noch ein weiter Weg bis zu dem namenlosen Viertel, in dem er mit seiner Bande in einem verlassenen Waisenhaus lebte. Noch einmal schaute er sich das gewaltige Gebäude an, dann lief er los.

Als er ankam war es bereits Morgen und die Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die verwinkelten Häuserschluchten. Das Viertel, in dem sich das Waisenhaus befand, war verlassen und die Gebäude Großteiles verfallen. Leise öffnete er die Tür und schlich sich durch den Speisesaal. Die Kinder schliefen dort alle zusammen, meistens auf alten Matratzen oder in Nestern, die sie sich aus alten Kleiderresten bauten. Val hockte sich in eine Ecke und dachte über diesen merkwürdigen Traum nach. Es dauerte nicht lang, da kam Momo sich streckend und gähnend aus dem Zimmer, in dem die Betreuer früher geschlafen hatten. Er war der Einzige, der nicht bei den anderen schlief und ein eigenes Bett hatte. Warum das so war, wusste Val nicht. Vielleicht weil er der Anführer war oder auch nur weil er immer so laut schnarchte, dass ihn die anderen so weit wie möglich von sich weghaben wollten, wenn sie schliefen. Als er Val entdeckte, setzte er sich zu ihm.

„Hey”, sagte er ungewohnt schüchtern. „Es tut mir wirklich leid. Es ging alles so schnell, wir waren so aufgeregt”

„Schon okay. Ich bin dir nicht böse”, antwortete Val nachdenklich.

„Wir sind zurückgekommen und haben nach dir gesucht. Aber es waren immer noch viele Polizisten dort” Val legte seine Hand auf Momos Schulter und schaute ihm tief in die Augen.

„Es ist wirklich okay, du brauchst nichts zu erklären” Dann stand er auf und ging nach draußen. Momo folgte ihm.

„Was ist denn passiert? Du bist voller Blut. Und wo is‘n dein Hemd?“ Val schaute ihn schweigend an und versuchte sich eine glaubhafte Geschichte auszudenken. Momo packte ihn an den Schultern.

„Es ist okay. Mir kannst du es sagen”, sagte er sehr eindringlich. „Du bist in letzter Zeit ein bisschen verstörter als sonst. Aber mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder” Beide schwiegen ein paar Minuten. Momo ließ nicht von ihm ab. Er machte sich große Vorwürfe. Val haderte mit seinen Ängsten. Irgendwo, in den tiefen seines Bewusstseins, manifestierte sich die Angst, er würde ihm nicht glauben und ihn verstoßen, weil er für einen Lügner gehalten wird. Momo schaute ihm immer noch fest in die Augen. Val fasste all seinen Mut zusammen.

„Ich wurde von einem Gardisten niedergeschossen. Als ich wieder aufgewacht bin, war alles wieder verheilt”, sagte er schüchtern. Momo schaute an ihm herab, musterte Vals Oberkörper. Beschämt drehte Val den Kopf zur Seite und schaute angespannt auf den Boden.

„Also ich fand das schon immer komisch bei dir. Egal wie schwer du dich verletzt hattest, es war nach ein paar Stunden komplett weg” Er schien nicht sonderlich überrascht darüber zu sein.

„Vielleicht bin ich die Reinkarnation des bösen Gottes Shezzar und bin gekommen, um die Menschheit endgültig auszulöschen” Beide schmunzelten verhalten. Dann lachte Momo holprig.

„Naja, ist ja egal. Es geht dir gut, soviel reicht mir fürs Erste. Morgen ist Renaissancefest. Da können wir endlich wieder richtig viel futtern” Val lächelte. Momo ging zurück ins Haus, weckte alle mit lautem Getöse und machte aus dem Bisschen, was sie sich gestern ergaunert hatten, ein kleines Frühstück. Der Tag verstrich wie jeder andere. Sie zogen in kleinen Gruppen durch die Stadt, stahlen und erbettelten sich ein bisschen Geld, mit dem sie sich Essen kauften. Diese tägliche Routine war schon fast monoton, trotz der immerwährenden Gefahr, erwischt zu werden. Was für andere ein Abenteuer war, war für Val und seine Freunde eine bittere Drangsal, ohne die sie elendig verhungern würden. Wie ein Rudel wilder Wölfe zogen sie durch die Gassen und ließen keine Gelegenheit aus, irgendwie an etwas Essbares zu gelangen.

Am nächsten Morgen war der erste Tag des Renaissancefests. Alle gingen schon früh auf die Straße und teilten sich in mehrere Gruppen auf. Die Straßen der Stadt waren total überfüllt und die Menschen waren zu sehr damit beschäftigt betrunken zu sein und sich zu amüsieren, als auf ihre Habseligkeiten aufzupassen.

Die Kinder brachten eine beachtliche Menge Geld und Wertsachen mit Heim und die darauffolgenden Tage hatten die Kinder so viel zu essen, dass sie hin und wieder etwas wegwerfen mussten. Das Renaissancefest war ein fünf Tage andauernder Jahrmarkt, an dem das Ende des großen Krieges und somit der Beginn der Wiederauferstehung der Menschheit gefeiert wurde. In Marista mehr als anderswo. Es gab kilometerlange Paraden, Feuerwerk und ausgefallene Kostüme. Die Leute tranken sehr viel, grölten laut, spielten ohrenbetäubende Katzenmusik und prügelten sich, wo sie nur konnten.

Am letzten Tag war der Höhepunkt der Feierlichkeiten eine stundenlange Predigt von Kardinal Jannov, im Zentrum der Stadt. Val war zusammen mit Momo und zwei anderen in dem Menschengetümmel auf dem großen Platz vor dem Regierungsviertel unterwegs. Sie versteckten sich in einer Gasse und warteten auf eine Gelegenheit.

„Gina, siehst du den betrunkenen Kerl da drüben?“, flüstere Momo und zeigte dezent auf einen Typen, mit einem Gaunerkostüm, der scheinbar stark angetrunken war. Gina nickte schweigend.

„Okay, du lenkst ihn ab und ich krall mir sein' Geldbeutel”, fuhr er fort. „Val du kommst mit, falls was schiefläuft. Ryu, du wartest hier und hältst uns den Fluchtweg frei” Momos Charisma war beeindruckend. Es fiel ihm sehr leicht, andere für seine Ideen zu begeistern und sie zusammen zu halten. Er hatte die Bande immer voll im Griff und ohne ihn hätten die anderen wohl nicht so lange überlebt. Gina, mit 19 das älteste Mädchen der Gruppe, dazu noch bildschön, mit sehr weichen, blonden Haaren und einem engelsgleichen Gesicht, ging zu dem Typ und fing an mit ihm zu flirten. Val und Momo schlichen sich von hinten an und Momo zog ihm geschickt das Geld aus der Tasche. Alles schien glatt zu laufen, bis zwei andere Typen das sahen.

„Das Drecksbalg beklaut die Leute auf offener Straße!“, brüllte einer und rannte auf Momo und Val zu. Momo schubste den betrunkenen und schrie: „Oh scheiße!“ Das war das simpelste, aber effektivste Notsignal, das er sich ausgedacht hat. Alle wussten was es bedeutet und alle rannten in verschiedene Richtungen davon. Einer der Typen verfolgte Val, der andere war hinter Momo her. Val rannte so schnell er konnte und ging auch schnell in der Menge unter. Auf dem Weg zum Treffpunkt für Notfälle, rannte er eine weniger überfüllte Straße entlang und schaute immer wieder nach hinten. Er bog in eine Querstraße ab und plötzlich stieß ihn irgendwas an der Schulter. Er verlor das Gleichgewicht, stolperte und knallte mit dem Kopf gegen einen Laternenmast. Er kringelte sich kurz am Boden und hielt sich die schmerzende Stelle am Kopf. Laute, zischende Geräusche gab er beim Einatmen von sich.

Gleich gibt’s paar aufs Maul. Dachte er sich und schaute wütend auf.

„Geht’s dir gut?“, fragte eine niedliche Stimme. Als Val sah, mit wem er es zu tun hatte, verflog seine Wut und sein Schmerz, als wäre nie was gewesen. Es war ein süßes, blondes Mädchen mit einer Roten Schleife in den Haaren und einem etwas schmutzigem roten Kleid, das ihn sorgenvoll und mitfühlend anstarrte. Ihre großen, hellblauen Augen reflektierten das grelle Sonnenlicht und funkelten wie Diamanten.

Val schwieg verlegen. Ein paar Schritte hinter ihr, entdeckte er einen großen, schlanken Mann, mit kurzen, schwarzen Haaren, der ihm irgendwie vertraut vorkam. Er sah nicht besonders freundlich aus; als wäre er ihr Leibwächter. Das Mädchen rieb sich ihre schmerzende Schulter und schaute sich Vals Stirn an.

„Du hattest aber einen Zahn drauf. Läufst du vor jemandem weg?“, fragte sie und streckte ihren Arm nach seiner Stirn aus.

„Milena”, sagte der große Mann. „Können wir jetzt weitergehen?“, fragte er kalt und starrte in Richtung Innenstadt.

„Aber er ist verletzt. Ich seh‘ mir das kurz an” Sie griff nach der Hand, die Val schützend auf die schmerzende Stelle hielt und zog sie weg.

„Da ist ja gar nichts”, sagte sie und schaute genauer auf seine Stirn. Val wehrte sich nicht, obwohl ihm etwas unwohl war. Er starrte auf ihre Hand und beobachtete, wie sie seine festhielt. Sie war warm, sehr weich und umklammerte seine Finger sehr sanft. Val war wie hypnotisiert davon. Ein sehr angenehmer und beruhigender Duft ging von ihr aus. Plötzlich schimmerte kurz ein grün leuchtendes Symbol auf seinem Handrücken.

„Autsch”, schrie Milena und zog reflexartig ihre Hand weg.

„Was ist?“, fragte der Mann.

„Keine Ahnung, ich glaub ich hab einen elektrischen Schlag bekommen”, sagte sie angespannt. Der Mann drehte sich zu ihr und sah Val in die Augen. Plötzlich verzog er seine Mine, als ob er einen Geist sehen würde.

„Du bist das? Das kann nicht sein”, flüsterte er leise. Val starrte den Mann verängstigt an. Für ihn sah er aus wie eine turmhohe Puppe, gefertigt aus purer Bosheit. Zwei stechend leuchtende, rote Augen sahen auf ihn herab. Lange, knorrige Hände, mit dünnen, säbelartigen Klauen baumelten an seinem verzerrtem Körper. Das liebliche Antlitz des Mädchens versank in einem wabernden, schwarzen Schatten, der immer näherkam. Kurz bevor die scharfen Enden der Klauen nach ihm schlugen, rannte Val panisch davon.

„Warte!“, rief das Mädchen. „Du hättest mir wenigstens sagen können, wie du heißt” Doch Val war schon in die nächste Gasse verschwunden.

 

Als Val den Treffpunkt erreichte, warteten Momo, Gina und Ryu bereits auf ihn. Ryu war mit 11 Jahren der jüngste und der kleinste von allen. Er war immer etwas aufgedreht. Mit seiner kindlichen Art, seinem heiteren Gemüt und seinem optimistischen Charakter konnte er problemlos die anderen bei Laune halten. Dies war unglaublich wichtig für eine Gruppe von etwa elf Kindern, die im elendsten Teil einer elendigen Stadt mit ihrem Leben allein zurechtkommen mussten.

Ryu hatte fast immer ein schmutziges Gesicht, große, sehr helle, blaue Augen und kurze, meist zerzauste, schief geschnittene braune Haare. Er gehörte zu den wenigen Anderen, die sich gut mit Val verstanden und er war immer sehr fröhlich und neugierig. Gina war eine ausgesprochen attraktive junge Frau, die mit den anderen Kindern aufgewachsen ist und von Anfang an in der Gruppe war. Sie war, so reimte es sich Val in seiner Fantasie zusammen, wohl auch ein Grund warum Momo in einem anderen Raum schlief als alle anderen. Sie hatte kein eigenes Zimmer, schlief aber seit einer Weile nicht mehr mit im Speisesaal.

„Puh, dir geht es gut”, sagte Momo erleichtert und ging zu Val. „Und schau mal” Er hob die Geldbörse des Mannes in die Luft. „Es hat sich wenigstens gelohnt” Val atmete noch etwas schwer und ruhte sich kurz aus. „Gehen wir jetzt wieder nach Hause?“, fragte er. Momo schüttelte den Kopf.

„Nein noch nicht” Er ging zu Val und packte ihn an den Schultern. „Hör zu, ich hab einen Plan, wie wir zu genug Geld kommen, um die nächsten zwei Jahre für uns alle Essen und ein Schönes zu Hause zu kaufen” Momo schaute ihm sehr entschlossen und ernst ins Gesicht.

„Was hast du vor?“, fragte Val skeptisch.

„In Tuya gibt es mehrere Villen, in denen die Leute ihr Geld einfach so rumliegen lassen”, sagte Momo aufgeregt. „Es ist Haufenweise Geld. Mehr als du dir vorstellen kannst”

„Tuya? Wie sollen wir da reinkommen? Der Ganze Stadtteil wird bewacht. Außerdem ist er von einer Mauer umgeben”

„Ja, aber ich hab einen Weg gefunden. Ein altes Kanalisationsnetzwerk aus der Zeit vor dem großen Krieg. Ryu war auch schon da. Wir haben uns die Häuser angeschaut und es war wie im Paradies. Aber ich brauch dich dabei. Okay?“ Val ließ sich schnell mitreißen und willigte ein. Momos Pläne hatten für gewöhnlich Hand und Fuß, selbst wenn er sie spontan machte. Es war ein weiter Weg bis dahin und es fing an zu dämmern.

Momo öffnete einen Kanaldeckel in einer Seitenstraße und stieg hinab. Gina blieb zurück und bewachte den Ausgang. Val und Ryu folgten Momo. Die Leiter endete am Boden der Kanalisation. Ein paar Meter weiter war ein sehr kleines Loch in der Wand, durch das nur ein Kind oder ein sehr schlanker erwachsener passte.

Momo zwängte sich mit seinem großen Köper nur mühsam hindurch, Val und Ryu hatten keine Probleme. Der Tunnel war etwa zwei Meter lang und mündete in einem uralten Rohrschacht, der noch weiter nach unten in einen Kanal führte. Der Gestank war fast unerträglich und es war stockfinster. Jetzt verstand Val warum Momo letztens unbedingt diesen Laden überfallen musste. Denn er hatte einen Haufen nützlicher Sachen dabei: Taschenlampen, Knicklichter und ein Multifunktionswerkzeug. Er schien das schon länger geplant zu haben.

Dieser Ort war so unwirtlich, Val hegte keine Zweifel mehr, dass seit tausend Jahren niemand hier war. Nach etwa zwei Stunden durch die muffige und luftkarge Kanalisation, blieb Momo plötzlich stehen. Der Tunnel endete in einem schmalen Schacht, der senkrecht nach oben führte. Momo stieg eine Leiter rauf, bis er am Ende eine massive Betonplatte über sich hatte. „Das ist die Mauer von Tuya. Sie haben die Mauer wohl als Segment direkt hier draufgesetzt, so blieb der Schacht erhalten”, erklärte Momo und stieg von der Leiter ab, in eine kleine Nische, die er selbst mühevoll ausgehoben hat. Er streckte seinen Arm nach oben aus, schob einen Stein zur Seite und kletterte hoch. Val folgte ihm.

„Ryu, du sicherst den Fluchtweg, wie immer, klar?“, befahl Momo.

„Aber ich will auch mal mit raus”, flehte Ryu.

„Nein. Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Du bist noch zu unerfahren und außerdem brauche ich dich hier”, fauchte Momo herrisch. Etwas eingeschüchtert gab Ryu nach. Das Loch, dass er bewachte, war genau hinter der Mauer, die das Reichen-Viertel Tuya von den anderen trennte. Es war wie eine vollkommen andere Welt.

Grüne Wiesen, prunkvolle Villen und hübsch geschmückte Gärten. Viele der Anwohner waren heute auf Versammlungen und Festivitäten. Deswegen suchte sich Momo genau diesen Tag für die Aktion aus. Er und Val schlichen durch die Gärten und stiegen in die Häuser ein. Nur wenige waren verschlossen und Momo hatte nicht zu viel versprochen: Sie konnten unglaublich viel Geld abgreifen. Tuya war wie eine eigene kleine Welt. Die Menschen dort waren so reich, dass sie es nie verlassen mussten. Es war eine autonome Stadt, die von der Regierung und der Kirche in Ruhe gelassen wurde und in der andere Gesetze galten. Es machte nur einen Bruchteil von Marista aus, doch war es immer noch so groß wie eine Kleinstadt plus Umland. Es gab dicht bebaute Villenviertel, weite Felder mit Prachtvollen Höfen und sogar einen nochmal abgeschirmten Teil, der Tuya-Sola genannt wurde, indem die Dienerschaft der Bewohner lebte.

Ryu wartete gelangweilt auf die Rückkehr der Beiden. Er lugte immer wieder aus dem Loch und sah nach ihnen. Da fiel ihm ein großes Haus auf, an dem die anderen einfach vorbeigelaufen sind. Warum wusste er nicht. Aber es sah sehr prunkvoll aus. Ryu stieg, trotz Verbot, aus dem Loch und ging darauf zu. Es sah so aus als wäre keiner da. Eine Weile schlich er um das Haus und schaute durch die Fenster hinein. Überall lagen wertvoll anmutende Gegenstände wie Schmuck oder teure elektronische Geräte herum. Als er die Terrasse erreichte, bemerkte er, dass die Tür nicht ganz ins Schloss gefallen war. Er schaute sich noch kurz um, dann betrat er das Haus. Auf einer Kommode lag eine auffällig glänzende, silberne Halskette, von der er einfach nicht ablassen konnte. Vorsichtig näherte er sich ihr und wollte gerade den Arm nach ihr ausstecken da packte ihn eine große, starke Hand am Kragen und warf ihn zu Boden. Noch ehe er reagieren konnte, hielt man ihm den Mund zu und er wurde nach draußen geschliffen.

Val und Momo kamen gerade mit einem Rucksack voller Wertsachen aus einem Haus und schlichen zurück zum dem Erdloch. Auf dem Weg dahin sammelte Val einen zweiten Rucksack ein, den er vorher in einem Busch versteckt hatte. Momo stieg in das Loch und ließ sich von Val einen Rucksack geben.

„Ryu!“, rief er. „Ich bin's, Momo. Wo bist du?“, doch er bekam keine Antwort. Er ging wieder zum Ausgang und ließ sich einen weiteren Rucksack von Val geben.

„Ryu ist nicht da”, flüsterte er zu Val. „Siehst du das Haus da drüben? Wir haben es absichtlich gemieden, weil es im Sichtbereich des Wachhäuschens ist. Vielleicht ist er dahin gegangen”

„Geh schon mal vor, ich werde nach ihm sehen”, antwortete er.

„Nein, ich komme mit”, protestierte Momo.

„Vergiss es!“, Val wurde ernst und drückte Momos Kopf zurück in das Loch. „Du nimmst das Geld und gehst nach Hause. Wenn uns beiden was passiert, dann sind die anderen am Arsch. Ohne dich überleben sie nicht”

„Val, verdammt. Hör auf dich so aufzuspielen! Das ist verdammt gefährlich. Ich hab den Typ beobachtet. Der hat sie nicht mehr alle”

„Dann ist es so! Was soll mir passieren? Ich bin letztens niedergeschossen wurden und bin trotzdem zurückgekommen. Ich komme heim, zusammen mit Ryu, okay?“ Momo wurde traurig.

„Ich kann dich hier nicht allein lassen, man”, sagte er in einem seltsamen kindlich, jähzornigen Ton.

Val packte ihn am Kragen. „Ich sag es dir nicht nochmal. Die können nicht ohne dich, und das weißt du verdammt gut. Also verpiss dich gefälligst” Val schubste ihn weg und schob den Stein vor das Loch. Er schlich vorsichtig um das Haus und suchte nach Hinweisen. Er ging weiter Richtung Straße und entdeckte einen uniformierten Kerl. Dieser stand mit einem Fuß auf Ryus Rücken und drückte mit dem Stiefel auf seine Wirbelsäule. Val sah, dass Ryu schmerzen hatte.

Der Mann quasselte irgendwas am Telefon davon, dass er einen Streuner gefangen hatte. Es hörte sich nicht nach einem offiziellen Gespräch mit seinem Vorgesetzen an. Eher so als würde er versuchen, etwas zu verkaufen. Er handelte die ganze Zeit und pries Ryu als gesundes, junges Versuchsobjekt an, dass ihrer Göttlichkeit sicher zuträglich wäre. Seine Art zu reden war verstörend. Als wäre er ein adeliger oder ein Aristokrat.

„Hören sie den Knaben schreien? Das ist doch gut, nicht wahr? Er ist gesund und ausgesprochen Vital. Mir gereicht es, mit diesem äußerst fidelen Fang nun zu mehr als nur Siebzigtausend. Ich verlange nun mindestens hundert” Er beendete das Gespräch zufrieden und steckte das Telefon weg. Wieder drückte er Ryu stärker seinen Stiefel in den Rücken.

„Na du Kleines Arschloch”, sagte er nun weniger eloquent. „Wolltest die Reichen Schnösel hier beklauen, dafür wirste den Rest deines kurzen Lebens leiden. Die werden dich nämlich als Versuchskaninchen auf einen Fleischerhaken aufknüpfen und dich mit allerlei spitzen Gegenständen drangsalieren. Und ich bekomme einen fetten Batzen Kohle dafür, is das nicht geil?“

Ryu schrie immer wieder kurz auf, jedes Mal, wenn der fette Kerl die harte Schuhsole auf seine Wirbelsäule drückte. Und immer lachte er dabei. Val saß an einer Wand und überlegte sich, was er am besten tun könnte. Er hatte ebenso höllische Angst wie Ryu. Aber er musste ihm helfen. Bei dem Gedanken, dass sie einem 11-Järigen Jungen so grauenvolle Dinge antun werden, fing sein Blut an zu Kochen. Er wusste nicht warum, aber er hatte dabei das Gefühl, dass ihm so etwas selbst einmal passiert ist, und es ihm schrecklich wehgetan hat. Wie ein wahnsinniger sprintete er los und schrie laut.

„Ryu, Lauf weg!“ Schrie er, dann rammte er den Mann mit der Schulter und beide fielen zu Boden. Ryu stand auf und schaute zu Val. Er war wie versteinert vor Adrenalin.

„Hau ab! Lauf endlich los, du Vollpfosten!“, schrie Val ihn böse an und versuchte aufzustehen. Ryu rannte los. Val Stand auf und rannte ebenfalls los, doch er fiel sofort wieder. Der Mann hatte ihm am Fußgelenk gepackt und hielt ihn fest. Er zerrte ihn zu sich und richtete sich wieder auf. Val war nicht besonders stark und egal wie sehr er sich wehrte, er konnte ihm nichts entgegensetzen. Genau wie er es mit Ryu gemacht hatte, schlug er Val ins Gesicht und stemmte ihm seinen Fuß in den Rücken.

„Is‘ ja interessant”, sagte der Wachmann schnaufend. „Naja du bist zwar nicht so schön jung wie der andere, aber ich werde trotzdem noch gutes Geld für dich bekommen” Wenige Minuten später landete ein ungewöhnlich futuristisch aussehendes Fluggerät auf der Straße und es öffnete sich eine Luke. Eine Seltsame Frau mit lockigen, langen roten Haaren, Sommersprossen und einem Laborkittel stieg aus dem Vehikel. Eine große, verspiegelte Schutzbrille mit gelb getönten Gläsern verdeckte ihre Augen. Sie kniete sich vor Val nieder und sah ihn sich an.

„Sie hatten mir einen jüngeren versprochen”, sagte sie kalt und forsch.

„Naja, werte Dame Fraya. Es gab da einen kleinen Zwischenfall, der mich eben zu diesem Exemplar brachte”, Stotterte der Mann. Sie schaute noch einmal musternd alles an. Dann schnippte sie mit den Fingern und zwei Kräftige Männer in Kampfrüstungen stiegen aus dem Gefährt. Sie schubsten den Man weg und nahmen Val mit. Fraya überreichte ihm einen Umschlag. Er steckte ihn in seine Brusttasche, bedankte sich höflich und ging fort. Mehr als eine lustlose Handgeste bekam er von Fraya nicht, während sie sich umdrehte und in das Fluggerät einstieg. Sanft und anmutig hob es ab und flog davon.

Wie verrückt rannte Ryu durch die Kanalisation, immer der Spur aus Knicklichtern nach. Am Ausgang warteten Momo und Gina schon und halfen ihm raus.

„Wo ist Val?“ Fragte Momo besorgt.

„Er… er ist direkt hinter mir”, sagte Ryu und starrte in den Gully. „Er hebt bestimmt noch die Lichter auf, damit sie uns nicht folgen können, denk ich”

„Hast du gesehen, wie er dir nachgelaufen ist?“, fragte Momo eindringlich. Ryu schüttelte den Kopf. Nach drei Stunden warten sah Momo keine Chance mehr, dass er noch kommt. Zurück konnten sie nicht, da es bereits hell wurde. Traurig beschloss Momo, sich wieder auf den Weg nach Hause zu machen. Die ganze Zeit sagte keiner ein Wort.

 

Kapitel 2

Ein neues Leben

Val wurde auf einen Platz gesetzt und die zwei Soldaten setzten sich neben ihn. Das Licht in dem Gefährt war sehr düster und Val konnte kaum etwas sehen. Fraya kam den Gang entlanggelaufen. Sie hatte sich der Schutzbrille entledigt und sich stattdessen eine Offiziersmütze aufgesetzt, deren Sonnenblende weit über ihre Augen ragte.

„Bah, der stinkt ja wie eine Jauchegrube. Das ist ja unerträglich”, sagte sie abwertend und setzte sich auf den Platz gegenüber. Sie hielt sich mit einer Hand die Nase zu, mit der anderen griff sie nach Vals Kinn und drehte seinen Kopf hin und her. Penibel musterte sie ihn und ließ gleich wieder von ihm ab.

„Du gehst dann erst mal duschen und ziehst dir was Sauberes an”, sagte sie mit einer etwas freundlicheren Stimme und lehnte sich in den Sitz. Eingeschüchtert schaute Val zu den Männern und kam zu dem Schluss, dass er sich besser passiv verhält.

„Was ist mit dir?“, fragte Fraya eindringlich, aber nicht bedrohlich. „Kannst du nicht sprechen?“ Val fasste all seinen Mut zusammen. Doch sein Blick war fest auf den Boden gerichtet. „Wieso macht ihr grauenvolle Experimente an Kindern?“, fragte er laut und mutig. Fraya schaute grimmig unter ihrer Sonnenblende hervor. „Wir machen nur ein paar Tests. Dann bekommst du ein neues Zuhause”, sagte sie etwas verhalten.

„Wieso haben sie dem Mann sonst so viel Geld gezahlt?“ Vals Stimme war zittrig und angespannt. „Er hat gesagt, dass ihr mich aufschlitzt und mich foltert”

„So? Hat er das gesagt?“, Fraya verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, das war bis vor kurzem noch so. Meine Mutter ist einfach viel zu ungeduldig. Wärst du an sie geraten, wäre das wirklich so passiert”, sie machte eine kurze Pause und schaute nachdenklich auf den Boden, „Keine Angst, ich werde dir nicht weh tun. Wir suchen jemanden bestimmtes. Du bist es wohl eh nicht, aber ich muss mich ans Protokoll halten, genau wie alle anderen”

„Und was macht ihr mit mir, wenn ich es doch bin?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Wird sich wohl erst zeigen, wenn es soweit ist”

Das Flugzeug landete und als sie das Gefährt verließen erkannt Val, dass sie im Innenhof eines modernen Gebäudekomplexes gelandet sind, wie er ihn noch nie in Marista gesehen hatte. Um den Landeplatz herum war eine weitläufige Parkanlage. Alles war sehr sauber, die Pflanzen gepflegt und die Gehwege gepflastert. Die Gebäude waren fünfeckig um den Hof angeordnet. Die Fassaden waren weiß, ebenfalls sehr sauber und hatten große Fenster. Alles war als hätte ein einziger, von perfekter geometrischer Präzision besessener Ingenieur diesen Komplex allein entworfen und keiner wollte ihm widersprechen.

Val wurde in einen Wohnbereich gebracht und in ein Zimmer eingesperrt. Er erhielt die Anweisung sich gründlich zu Waschen und sich die Sachen anzuziehen, die auf dem Bett lagen.

Der Raum war sehr hell und alles war weiß. Es gab keine Winkel und Ecken. Alles war abgerundet und beleuchtet. Man würde jedes Staubkorn sofort entdecken und bräuchte sich nicht mal besonders anstrengen, es zu beseitigen. Aber es fühlte sich auch sehr kalt an. Das weiß-bläuliche LED-Licht, das einen fensterlosen Raum erhellte, war erdrückend. Auch wenn Val nicht wohl bei der Sache war, ging er ins Badezimmer und duschte sich. Das war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass er wieder sauberes, fließendes Wasser zum Waschen bekam.

Als er fertig war, trocknete er sich ab und setzte sich aufs Bett. Bedrückt schaute er sich die Sachen an, die für ihn bereit lagen. Weiße Unterwäsche, Socken, eine langärmlige, schwere, weiße Jacke mit Lederriemen und Schnallen an den Armen, am Kragen und an der Brust. Eine lange, weiße Hose, die ebenfalls an Oberschenkel, Unterschenkel und am Ende der Hosenbeine Schnallen hatte. Wozu die gut waren wusste Val nicht, doch er hatte den Verdacht, dass man so jemanden schnell irgendwo fixieren kann. Es klopfte an der Tür.

„In fünf Minuten holen wir dich ab, du bist bis dahin hoffentlich fertig”, brummelte eine tiefe Stimme von der anderen Seite. Val gab nach und zog sich die Sachen an. Er wollte es nicht, doch die Angst, man würde ihm etwas noch Schlimmeres antun, wenn er sich weigert, war einfach zu groß. Auf die Sekunde genau fünf Minuten Später öffnete sich die automatische Tür, hinter der Fraya alleine zum Vorschein kam. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.

„Du kommst doch sicher freiwillig mit”, sagte sie sehr freundlich und lächelte. Erst jetzt sah Val ihre Augen. Sie waren Orange. Noch nie zuvor hatte Val etwas davon gehört, dass Menschen orangefarbene Augen haben können. Zudem hatte sie sehr blasse Haut und Sommersprossen im Gesicht, was den Kontrast zu dieser ungewöhnlichen Augenfarbe noch extremer machte. Val ging langsam auf sie zu und studierte die Umgebung. Alles sah gleich aus: Weiß, mit LED-Streifen beleuchtet und vollkommen rein.

Er schmiedete einen Plan. Fraya wirkte nicht sehr kräftig, selbst Val könnte sie überwältigen. Doch wie findet er wieder nach Hause? Er beschloss, sich das später zu überlegen und musterte ihren Körper weiter nach Schwachstellen. Ihr Bauch schien ihm das logischste Ziel. Dann überlegte er, mit welcher Schlagkombination er seine Flucht einleiten soll. Ein kräftiger Schlag mit der Faust, den Ellenbogen oder lieber ein beherzter Tritt?

Diese ganzen Fragen verstummen augenblicklich, als er das Zimmer verließ und die zwei riesigen, schwer gepanzerten Typen wiedersah, die mit dem Rücken an der Wand neben seinem Zimmer standen. Er verlor augenblicklich jeglichen Mut und griff demütig nach Frayas Hand. Sie gingen eine Weile den Gang hinunter, der sich die ganze Zeit nicht zu verändern schien. Wie ein Labyrinth, gab es hin und wieder ein paar Quergänge, aber die waren so gleichmäßig angeordnet, dass man sofort die Orientierung verlieren würde, wenn man einmal vergisst mitzuzählen.

Alle, die eine Befugnis hatten, sich hier aufzuhalten, wurden von einer farbigen, leuchtenden Lichterreihe am Boden zu ihrem Ziel geführt. So war es auch jetzt der Fall. Der Streifen unter ihren Füßen leuchtete rot und erlosch direkte hinter ihnen wieder. Nach etwa einer halben Stunde erreichten sie eine große, schwere Tür, die sich auch gleich öffnete. Dahinter war ein kleiner Raum mit einer kleinen Kammer, in der sich eine aufrechtstehende Liege befand.

Fraya führte Val zu der Liege und fing an, unsanft seine Arme fest zu binden. Sie war nervös und grob, als ob sie es auf einmal besonders eilig hätte. Dabei verletzte sie ihn an der rechten Hand. Ein bisschen Blut quoll aus der Wunde heraus. Sofort ging ein Alarm an.

„Labor kontaminiert”, erklang eine Meldung.

„Verdammt”, fluchte Fraya und griff nach Vals Hand. „Mein Gott, bist du empfindlich. Jetzt muss ich erst wieder alles desinfizieren und sauber machen”, sagte sie wütend. Doch als sie beobachtete wie sich seine Wunde binnen weniger Sekunden verschloss, blieb ihr der Atem stehen. Wie eine trainierte Notreaktion griff sie nach Vals Gesicht und zog mit den Daumen seine Augenlieder auseinander.

Sie schaute sich sein Auge so nah an, dass Val die Wärme ihrer Haut spürte. Dann entdeckte sie etwas, wonach ihre Mutter schon lange gesucht hatte. Es war ein winzig kleiner, grün schimmernder Ring, der sich um seine äußere, braune Iris zog. Er war so klein, dass ihn Val selbst nie bemerkt hat, aber trotzdem war er mit bloßem Auge sichtbar. Fraya machte das nur noch nervöser. Man sah ihr an, wie sie überlegte und mit sich selbst rang.

Sie lief auf und ab, tippte mit dem Finger auf ihrer Hand, zählte leise vor sich hin und schüttelte immer wieder den Kopf. Val erstarrte vor Angst und er konnte sich nicht erklären, was auf einmal los war. Die einzige plausible Möglichkeit war, dass er wirklich unsterblich ist und sie ihn jetzt bis aufs kleinste zerlegen wollen, um herauszufinden wieso und wie sie es auf sich selbst übertragen können. Dieser Gedanke macht Val schreckliche Angst und er fing an zu zappeln und zu kämpfen. Fraya reagierte sofort und rammte ihm eine Spritze mit hochdosiertem Betäubungsmittel in den Hals. Das letzte, das Val vernahm bevor er einschlief, war wie Fraya brüllte, sie sollten ihn sofort zu einem Raumhafen bringen.

 

Währenddessen, in einer kleinen Hütte, etwa vierzig Kilometer östlich der Stadtgrenze von Marista, war Milena, das Mädchen mit dem Val damals einen Zusammenstoß hatte, gerade dabei sich etwas Leckeres zum Frühstück zuzubereiten. Sie war sehr fröhlich und ausgelassen, aber auch ein bisschen nachdenklich, denn aus irgendeinem Grund ging ihr der Junge, der sie auf dem Renaissancefest über den Haufen gerannt hat, seitdem nicht mehr aus dem Kopf.

Sie grübelte die ganze Zeit, wieso sie diesen elektrischen Schlag bekommen hat und warum der Junge so plötzlich weggelaufen ist. Auch Han, der große, schmale Typ, der sie begleitet hat, benimmt sich seitdem anders. Als würde er sich an etwas erinnern, könne es aber nicht zuordnen. Aber das seltsamste war, dass sie seit dieser Begegnung einen schimmernden Kreis auf ihrem linken Handrücken hatte, in dessen Inneren sich ein einfaches Symbol in Form einer gewundenen Linie befand. Dazu kommt, dass sie seit her vom Glück verfolgt wird. Auf dem Renaissancefest hat sie bei jedem Spiel an den Ständen gewonnen, egal wie tapsig sie sich anstellte. Sie gewann immer wieder, bis sie von den Besitzern verjagt wurde, weil sie ihnen das Geschäft ruinierte. Das war aber erst nach der Begegnung mit Val. Vorher traf sie nie einen Ring oder schaffte es, eine Dosenpyramide umzuwerfen. Sie war generell sehr ungeschickt und tollpatschig.

Das alles und die Tatsache, dass sie ihn niedlich fand, schürten in ihr den Wunsch, diesen seltsamen Jungen wiederzusehen. Doch es schien vollkommen unmöglich ihn in dieser abartig großen Stadt zu finden. Sie wusste nichts über ihn.

Ihr essen brutzelte unbeachtet auf dem kleinen Herd vor sich hin, während Milena geistesabwesend und nachdenklich an die Decke starrte. Sie spürte, wie sich etwas unfassbar Großes und Wichtiges in ihren Gedanken ausbreitete und sie völlig einzunehmen schien. Es war das totale Chaos, als könnte sie in die tiefen Gewebe des Universums blicken und davon verschlungen werden. Aber sie hatte nicht das Gefühl darin verloren zu sein, denn da war etwas, dass so viel wichtiger war als alles andere um sie herum. Es war ein winzig kleiner Punkt, eine Nuance, eine Nadel im Heuhaufen. Es war beinahe nichts, aber nur beinahe. Es war nur ein verschwindendes bisschen mehr als nichts, aber es war nicht nichts. Ihre Gedanken konzentrierten sich so stark auf diesen Punkt, dass sie ihn fast greifen konnte. Immer weiter näherte sie sich diesen verschwindend kleinen Punkt bis sie ihn schließlich berührte. In diesem Moment änderte sich alles. Als hätte sie einen Dominostein umgeworfen und eine nicht enden wollende Kettenreaktion ausgelöst.

Als sie ihren Blick von der Decke abwandte war ihr Essen komplett verbrannt, der Herd hatte sich abgeschaltet, nachdem der Rauchmelder auslöste. Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass zwei Stunden vergangen waren. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen und das Geschehene zu reflektieren, da hörte sie einen lauten Knall.

Milena verließ die Hütte und schaute sich draußen um. Eine Rauchfahne stieg auf der anderen Seite des Tals, über den Bäumen empor. Eilig lief sie los, stolperte über fast jede Wurzel, aufgeregt und unbeholfen nahm sie jeden tiefhängenden Ast mit, kratze sich sie Hände auf und machte sich schmutzig, wo es nur ging.

Der Weg war nicht weit, aber beschwerlich, durch Dickicht und dichtes Gebüsch, über spitze Felsen, die aus dem Fluss im Tal ragten und mit einer glitschigen Moosschicht überzogen waren. Zudem zog auch noch ein Gewitter auf und es fing schon an zu regnen. Als sie ankam war sie vollkommen von den Socken. Was sie dort sah, war das unglaublichste und kurioseste, was sie je erlebt hat. Vor ihr lag das Wrack eines Fluggerätes, wie sie es noch nie zuvor gesehen hat. Es war etwa so groß wie ein Bus und sah auch genauso klotzig aus. Es war weiß, hatte kleine Stummelflügel und viele, kleine, runde Triebwerke hinten und vorne. Es war kaum beschädigt und die Einstiegsluke war offen.

Vorsichtig betrat Milena das Wrack und schaute sich um. Die Piloten waren tot. Die Wachen ebenso. Im vorderen Bereich lief ein Countdown ab, über dem das Wort Desintegration stand. Im hinteren Bereich befand sich eine Liege, auf der jemand lag. Sie näherte sich und sah einen Jungen, der mit Gürteln und Riemen drauf fixiert war. Als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass es genau der Junge war, den sie damals auf dem Renaissancefest getroffen hatte. Er war nicht verletzt, doch er war auch nicht bei Bewusstsein. Gegen jede Vernunft entschied sie sich ihn mitzunehmen.

Der Regen wurde immer stärker und Haselnussgroße Wassertropfen bahnten sich ihren Weg durch die dichten Kronen der Laubbäume. Der Waldboden weichte auf und wurde extrem rutschig. Milena löste Val von den Befestigungen, zog ihn unsanft von der Trage und schleifte ihn aus dem Flugzeug.

Sofort rutschte sie auf dem feuchten Waldboden aus und schlitterte mit Val an der Hand den Abhang hinunter, bis sie unsanft von einem Baum aufgehalten wurden. Sie konnte ihn gerade noch festhalten, sonst wäre Val noch weiter runtergerutscht. Sie zog ihn zu sich hoch, klammerte sich fest an den Baum und atmete kurz durch.

Es regnete immer stärker und das Wasser, das vom Berg herabkam, drückte gegen das Flugzeug und löste es aus seiner Position. Es fing an zu rutschen und hielt direkt auf Milena zu. Vor Angst erstarrt, sah Milena ihr Ende in greifbarer Nähe, doch bevor es sie erreichte, zerfiel das Flugzeug zu Staub und bedeckte die beiden mit einer Schicht aus sehr feinen Sandkörnern, die sogleich vom Regen fortgespült wurden.

Sie atmete kurz durch, dann nahm sie all ihre Kraft zusammen, rappelte sich auf, nahm Val huckepack und schleppte sich mit ihm zusammen wieder zurück zu ihrer Hütte. Die ganze Zeit spürte sie seinen warmen Atem im Nacken und es war als würde er sich mit jedem Atemzug bei ihr bedanken. Als sie im Tal wieder den Fluss überqueren wollte, rutschte sie auf den glitschigen Steinen aus, fiel und schlitzte sich den Oberarm auf. Val landete im Wasser und prallte mit dem Kopf auf einem Stein.

Sie sah wie sein Blut vom Fluss davongetragen wurde und ihr eigenes an ihrem Arm herabrann. Sie griff nach seiner Jacke, zog ihn mit aller Kraft zu sich und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Sein warmes Blut rann an ihrem Arm herab und versickerte in ihrer Kleidung. Vorsichtig fühlte sie an seinem Hinterkopf entlang doch von einer Wunde war keine Spur. Dann schaute sie an ihrem Oberarm entlang, wo das Blut noch nicht ganz vom Regen und vom Fluss weggewaschen wurde. Die Wunde war weg, nur der Schmerz hallte noch ein klein wenig nach.

Der Himmel wurde immer finsterer und Blitze leuchteten auf, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnergrollen. Wieder rappelte sie sich auf, zog Val an seinem rechten Arm über ihre Schulter und schleppte ihn mühsam den Berg hinauf. Ständig rutschte sie ab und schlitze sich die Arme und Beine an Ästen und spitzen Steinen auf, bis sie nach einer schier endlosen Drangsal ihre Hütte erreichte. Ihre Hose und ihre Bluse waren von oben bis unten aufgerissen und voller Blut. Doch ihre Haut war heil, als wäre nichts gewesen.

Die Sachen die Val trug, waren aus einem besonders reiß- und schnittfesten Polymer, das speziell für hohe Beanspruchungen entwickelt wurde. Es wies keinerlei Beschädigungen auf. Sie brachte ihn hinein, legte ihn so sanft sie konnte auf den Boden und zog ihn aus. Ohne darüber nachzudenken überwand sie ihre Scham und brachte ihn in die Dusche, wo sie ihn vom Schmutz des Waldes befreite und seinen Körper auf Verletzungen untersuchte.

Danach trocknete sie ihn ab und legte ihn in ihr Bett. Dann wusch sie sich selbst, ebenso die Sachen von Val und hing sie zum Trocknen vor den Kamin. Ihre zerfetzten Sachen warf sie weg und zog sich ihr rotes Kleid an. Hin und wieder schaute sie nach ihm und suchte erfolglos nach einer Wunde an seinem Hinterkopf. Auch sonst hatte sie nirgendwo Verletzungen an seinem Körper entdeckt, was sie wunderte, da sie ihn so oft fallen ließ. Das Gewitter hielt noch bis zum Abend an und Milena beschloss sich zu ihm ins Bett zu legen.

 

Verschlafen öffnete Val seine Augen und fand sich an einem unbekannten Ort wieder. Vor kurzem war er noch in einer Art Labor, zusammen mit dieser unangenehmen Frau. Das letzte, woran er sich erinnern konnte, waren die Worte: Bringt ihn zum Raumhafen. Er darf auf keinen Fall wach werden. Nun lag er in einem weichen Bett, bis zum Kinn mit einer flauschigen Decke umhüllt, in einer kleinen Hütte. Es roch lieblich nach Essen und draußen hörte er die Vögel singen. Er quälte sich aus dem kuscheligen Bett und bemerkte, dass er vollkommen nackt war. Die Hütte war nicht sonderlich groß, aber sie hatte alles was man zum Leben brauchte: Eine kleine Küche, ein Badezimmer, ein Bett und sogar einen kleinen Wohnbereich mit Sofa und einem Kamin. Bis auf das Bad befand sich alles im selbem Raum. Es gab keine Wände, die sie voneinander trennten. Auf dem Ofen köchelte ein Topf Gulasch und der Esstisch war für zwei Personen gedeckt.

Er stand auf, fand seine Sachen fein gefaltet und sauber auf der Anrichte neben dem Bett und zog sie sich an. Eine Weile stand Val einfach nur da und dachte nach. Dann entdeckte er ein kleines Regal, indem zwei Bücher lagen, die ihm besonders ins Auge fielen. Eines kannte er. Es hieß: Gottes Erwachen. Dies war die Heilige Schrift der Ecclesia de Deus Regem, jene Religion, die aus dem großen Krieg heraus entstand und nun die Welt beherrschte.

Val kannte dieses Buch und hat auch hin und wieder darin gelesen. Es beschreibt den Untergang der Welt vor tausend Jahren anhand eines Wiedergeborenen Gottes, der auf die Erde kam, um die Menschheit von ihrem sündigen Dasein zu befreien. Das andere Buch kannte er nicht. Auf dem Einband stand: „Der weise König und das Reich des Lichts” Der Name des Autors war schlicht H.A.N. Es interessierte ihn zwar, nur hatte er keine Ambition, sich jetzt damit zu beschäftigen.

Er ging nach draußen, die Sonne fiel durch die Baumkronen in sein Gesicht. Er war mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung. Vor ihm befand sich ein Brunnen und ein kleiner Trampelpfad, der tiefer in den Wald führte. Ein paar Minuten blieb Val stehen und sah sich um. Er wollte irgendwie versuchen wieder nach Hause zu den anderen zu kommen. Er wusste aber nicht mal annähernd, wohin er musste. Er entschloss sich einfach loszulaufen und zu hoffen, dass er irgendwie weiterkommen wird. Kaum hatte er den Waldrand erreicht, kam ihm ein Mädchen in einem roten Kleid entgegen, das zwei große Beutel voller Lebensmittel trug.

Als sie Val entdeckte lächelte sie ihn freundlich an.

„Willst du schon wieder gehen?“, fragte sie mit lieblicher Stimme. Val erinnerte sich wieder. Es war das Mädchen, mit dem er in der Stadt zusammengestoßen ist. Sie war etwa 15 oder 16 Jahre alt, hatte blonde Haare, die ihr fast bis an die Schultern reichten, eine niedliche, große rote Schleife im Haar und zwei hellblaue, funkelnde Augen.

„Du, du warst damals..”, stammelte Val.

„Ja, wir sind uns schon mal begegnet. Aber du bist einfach weggelaufen”, antwortete sie und stolperte über einen Ast. Ihre ganzen Besorgungen verteilten sich über den Boden. Val ging zu ihr und half ihr, die Sachen wieder einzusammeln.

„Du redest nicht viel, oder?“, fragte Sie und stand wieder auf.

„Wohnst du etwa da?“, fragte Val schüchtern. Milena lächelte, hob die Beutel auf und ging weiter.

„Ja. Ich hab uns Gulasch gemacht. Wenn du jetzt gehst, muss ich viel davon wieder wegschmeißen” Val zuckte mit den Schultern und folgte ihr.

„Du hast es mir immer noch nicht gesagt”, sagte sie in Blaue.

„Was denn?“, fragte Val verwundert.

„Na wie du heißt”

„Ich heiße Valfaris” Milena klopfte sich den Dreck vom Kleid und betrat die Hütte. Val folgte ihr und stellte die Sachen in der Küche ab.

„Ein außergewöhnlicher Name. Und wie weiter?“, setzte Milena fort.

„Weiter? Meine Freunde nennen mich Val - falls du das meinst”, antwortete er verwirrt und setzte sich an den Esstisch.

„Na, wie heißt du weiter. Du musst doch einen Nachnamen haben” Val überlegte. Dann zuckte er nur mit den Schultern.

„Naja, wie dem auch sei. Mein Name ist Milena. Milena Limatari” Sie servierte das Gulasch und setzte sich zu ihm an den Tisch. Val schien es zu schmecken. Er verschlang es, als gäbe es kein Morgen mehr.

„Das schmeckt toll”, nuschelte Val mit vollem Mund. „Hast du das gemacht?“

„Ja, hab ich”, sagte sie und errötete leicht. „Ich koche immer selbst. Sag mal ..”, sie wurde von Val unterbrochen.

„Wie bin ich hierhergekommen?“, fragte er plötzlich aus heiterem Himmel und mit vollem Mund. Milena wusste nicht, ob sie ihm gleich alles erzählen soll.

„Du warst in einer Art Flugzeug, das nicht weit von hier abgestürzt ist. Ich hab dich hierhergebracht” Val schmiss sich noch eine Kelle Gulasch auf den Teller.

„Wow, ich kann selten so viel essen”, sagte er als ob ihn die Antwort gar nicht weiter interessierte.

„Du lebst auf der Straße, nicht wahr?“ Val nickte.

„Ich lebe mit meinen Freunden zusammen in einem alten Waisenhaus. Das ist ein bisschen ironisch, weil das Waisenhaus selbst verwaist war, bis wir es fanden. Ein Flugzeug, sagst du?“

„Ja ... äh. Irgendwie sowas”, sie kicherte verhalten.

„Bist du eine von denen?“, fragte er etwas ängstlich.

„Ich verstehe nicht, was du meinst”

„Sind wir noch auf der Erde? Oder schon auf einem anderen Planeten?“ Milena verzog nur fragend das Gesicht. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte.

„Du siehst nicht aus wie eine von denen”, sagte Val wieder etwas lockerer. „Die haben irgendwas gefunden und wollten mich zu einem Raumhafen bringen. Aber wenn du mich da rausgeholt hast”, er machte eine Pause. „Hast du mich etwa ausgezogen?“ Milena hatte gar nicht weiter darüber nachgedacht, dass das später zu einem Thema werden könnte und sich auch keine Antwort parat gelegt.

„Es hat geregnet und du warst bewusstlos. Du hättest dich sonst schlimm erkälten können. Es ging nun mal nicht anders” Val merkte das Milena etwas angespannt war.

„Ist okay. Du hast es schön hier” Er lächelte sie an.  Milena lächelte zurück.

„Danke. Mir hat jemand geholfen das zu bauen”

„Oh”, sagte Val etwas distanzierter. „War das dieser Kerl, der bei dir war?“, Val wurde ganz blass im Gesicht. „Es ist das Böse. Du darfst ihm nicht trauen!“, stotterte er. Auf Milenas Gesicht zeichnete sich ein abfälliges Lächeln ab.

„Was erzählst du da für einen Blödsinn? Er ist überhaupt nicht böse. Er ist sowas wie ein großer Bruder. Er lebt in dem Dorf in dem anderen Tal. Er hat mich aufgenommen nachdem …“, Val unterbrach sie erneut.

„Aber er war so unheimlich. Wieso lebst du alleine hier und nicht im Dorf?“ Milena wurde traurig und schaute bedrückt auf ihren Teller.

„Ich will es nicht. Ich hasse diese Menschen. Sie haben meine Eltern verraten, nur damit sie ihre Ruhe haben. Ich könnte jeden einzelnen von ihnen umbringen” Milena wurde immer wütender. „Jedes Mal, wenn ich ins Dorf gehe, um Lebensmittel zu kaufen, sehe ich sie und kann nur daran denken, wie skrupellos sie sind, wenn es um ihr eigenes Wohl geht”

Val schaute sie mitfühlend an. Er streckte seine Hand aus und wischte ihr eine Träne aus dem Gesicht. Diese Geste machte Val instinktiv. Was ihn sehr erschreckte, denn noch nie zuvor hätte er auch nur im Traum daran gedacht, das Gesicht eines Fremden in einer so intimen Situation zu berühren. Bisher bestand sein komplettes sozialverhalten ausschließlich aus Abwehr- und Schutzmechanismen. Doch diesmal nicht. Er war völlig frei von Angst.

„Ich hab mal mit meinem besten Freund Momo und seiner Freundin Michelle auf der Straße gespielt und gebettelt. Es war ein schöner Tag, wir hatten viel Spaß”, erzählte Val, „Dann kam einer der Ladenbesitzer und hat uns angeschrien. Verschwindet hier, blödes Drecksbalg! Ihr vergrault mir die Kundschaft, schrie er immer wieder” Milena hörte ihm aufmerksam zu.

„Was ist dann passiert?“

 „Wir haben uns nicht drum gekümmert und weiter gemacht. Dann kam er wieder raus und hat sich Michelle geschnappt. Momo wollte ihr helfen, da hat der Typ ihm in die Brust getreten. Momo hat kaum noch Luft bekommen. Mir hat er dann so hart ins Gesicht geschlagen, dass ich ohnmächtig wurde. Als ich wieder aufwachte, lag ich in Momos Bett und er saß daneben und weinte die ganze Zeit. Als ich ihn gefragt hab was passiert ist, erzählte er mir, dass der Kerl Michelle mit in den Laden genommen hat und das er sie noch entsetzlich schreien hörte. Niemand hat was unternommen. Nachdem der Mann den Laden verlassen hat, ist Momo in dort eingebrochen und fand Michelles nackte Leiche im Hinterzimmer. Ihr ganzer Hals war blau und ihre Oberschenkel waren voller Blut” Milena rann eine Träne über die Wange.

„Wieso erzählst du mir das?“

„Ich weiß wie es ist, wenn sich diese Wut in einem Ausbreitet und man kaum noch atmen kann” Milena nickte kaum wahrnehmbar mit dem Kopf.

„Wie ging es weiter?”, fragte sie.

„Momo hat mich nach Hause getragen. Ein paar Tage später haben wir seinen Laden niedergebrannt” Val lächelte.

Sie verbrachten noch mehrere Stunden so zusammen. Val plapperte aus dem Nähkästchen, erzählte von seinen Erlebnissen und was er und seine Freunde durchmachen mussten, um zu überleben. Langsam dämmerte es und die beiden machten es sich von dem Kamin gemütlich. Es klopfte an der Tür. Milena öffnete und begrüßte Han, die fragwürdige Gestalt, die Milena auf dem Fest begleitet hat. Ein großer, hagerer Mann, mit kurzen Haaren, einem knorrigen Gesicht und einer ausdruckslosen Mine. Als er Val sah, schauten sich die Beiden eine Weile schweigend an.

„Ähm”, brach Milena die Stille. „Han, könntest du dir mal was ansehen?“ Sie streckte ihm ihren linken Arm entgegen, „Das hab ich seit kurzem. Weißt du was das ist?“ Han sah genauer hin und entdeckte ein schwaches grünliches Schimmern unter der Haut ihres linken Handrückens. Wieder schaute er zu Val. Dann lächelte er.

„Mach dir keine Sorgen. Es ist nichts” Er setzte sich in einen Sessel vor den Kamin.

„Du”, sagte er ruhig und mit einer väterlichen Stimme und schaute Val erwartungsvoll in die Augen. „Ich möchte, dass du bei ihr bleibst” Val schwieg verlegen.

„Ich würde mich freuen, wenn du Milena Gesellschaft leistet. Sie scheint dich zu mögen und ich kann sie leider nur hin und wieder besuchen. Aber eins würde mich interessieren: Wie bist du hierhergekommen?“ Val zuckte mit den Schultern.

„Ich war in so etwas wie einem Labor”, erzählte er. „Weiß aber nicht, wo. Da war eine Frau mit roten Haaren. Sie hat irgendwas gemacht, dann hat sie mir eine Spritze gegeben und ich bin eingeschlafen. Heute Mittag bin ich hier aufgewacht. Mehr weiß ich nicht” Han schaute ihm wissbegierig in die Augen.

„Weißt du vielleicht wie die Frau hieß?“, fragte er eindringlich.

„Ihr Name war Fraya, glaub ich” Han schaute besorgt zu Milena.

„Wo hast du ihn gefunden?“ Milena schaute nachdenklich über den Boden. Das tat sie immer, wenn sie gerade entschied ob sie die Wahrheit sagen oder besser eine Lüge erzählen sollte. Auch wenn sie Han vertraute, benahm er sich im Moment etwas seltsam. „Ein Flugzeug ist abgestürzt. Er war der Einzige, der überlebt hat. Nachdem ich ihn rausgeholt hab, begann es sich ..”, sie wusste, dass was jetzt kommt klingt unglaubwürdig, „Aufzulösen”, sagte sie etwas leiser. Han kratzte sich an seiner Stirn.

„Bist du dir Sicher? Diese Schiffe stürzen nicht einfach ab. Das ist nicht möglich” Milena schüttelte den Kopf.

„Ich dachte eher, es ist nicht möglich, dass es sich auflöst. Und, ja. Es ist abgestürzt” Es regte sie auf, dass er so fragt. Sie hatte sich entschlossen, ihm die Wahrheit zu sagen und jetzt glaubt er ihr nicht. „Wenn du's sowieso nicht glaubst, dann frag gar nicht erst”, fuhr sie ihn harsch an. Han lächelte.

„Oh doch, ich glaub dir. Diese Schiffe sind nur normalerweise gar nicht sichtbar. Und um zu verhindern, dass jemand diese Technologie stiehlt, sollte es abstürzen, wird es automatisch desintegriert”, sagte er verhalten. Val stand auf.

„Desintegriert?“, fragte er.

„Ja. Wie Milena es gesagt hat, es löst sich auf. Das wundert mich nicht. Nur wie es abgestürzt ist, kann ich nicht verstehen” Val lief zu ihm.

„Du kennst diese Dinger also?“, fragte er aufgeregt.

„Äh ... ja”, seine Stimme wurde hakelig, „Ich hab sie sozusagen ... Entwickelt. Sie sind vollkommen autonom und die Chance, dass es abstürzt, ist beinahe Null” Milena schaute wieder nachdenklich auf den Boden.

„Beinahe Null ist aber nicht gleich Null”, sagte sie schnell und nervös. „Das Chaos kann alles geschehen lassen was geschehen könnte. Hätte es einen Willen könnte…“ Milena unterbrach sich selbst und schaute die beiden verstört an.

„Das ist echt merkwürdig”, fügte Val unnützerweise hinzu.

„Okay. Hm”, sagte Han und öffnete die Haustür. „Macht euch deswegen keine Gedanken. Passt bitte aufeinander auf. Wir sehen uns Morgen wieder” Er winkte und lächelte noch kurz, dann verschwand er in die Nacht. Er lebte in dem Dorf weiter unten im Tal, von dem Milena Val erzählt hatte. Zu Fuß war es ein relativ langer Weg, der nachts nur schwer zu erkennen war und direkt durch den Wald führte. Dort angekommen, betrat er sein Haus und öffnete eine Falltür im Boden seines Kellers. Unter der Falltür war ein stählernes Schott und eine Bedientafel.

Er tippte eine Kombination aus Zahlen und Buchstaben ein, dann öffnete es sich. Es führte in einen Aufzug, der etwa zwanzig Sekunden bis nach unten brauchte. Als sich die Türen öffneten stand Han vor einem weiteren schweren Schott. Man sah ihm an, dass er diesen Ort nicht besonders mochte. Er hielt seine Hand über eine glatte Fläche an der Wand und die Tür öffnete sich. Der Raum dahinter war wie ein Büro eingerichtet und beherbergte eine riesige Bildwand vor der sich ein großes, glatt poliertes Kontrollpult befand. Ein bequemer Bürostuhl, daneben ein großer, antiker Schreibtisch führten den Eindruck dieses Raumes ad absurdum: Kahler, kalter Beton, leuchtende Bildwände und in der Mitte ein hölzerner Schreibtisch mit alten Tischlampen, der auf einem weichen Teppich stand. In die Tischplatte war eine gläserne Kontrolltafel eingelassen.

Er setzte sich und ein Bildschirm leuchtete auf. Er zeigte das Wort Verbindungsaufbau an. Auf dem glatten Kontrollpult erschienen nun graphische Tasten in unterschiedlichen Farben. Nach wenigen Sekunden war das Bild einer etwas älteren, attraktiven Frau mit silbern-weißen langen Haaren zusehen.

„Ich hab zu tun”, sagte sie herablassend. Han rieb sich die Stirn.

„Wieso ist Fraya hier?“, fragte er fordernd.

„Um ihn zu suchen natürlich. Und sie hat ihn auch gefunden. Aber aus irgendeinem Grund ist er nie angekommen. Ich frage mich, wieso. Immerhin hast du mir versprochen, dass so etwas nicht passieren kann” Han stand auf und schlug wütend mit den Händen auf das Bedienfeld.

„Ach ja? Und du hast mir versprochen, dass du sie nicht auf die Erde schickst, solang ich hier bin” Die Frau lachte.

„Mach dir keine Sorgen. Sie ist schon wieder bei mir”, die Frau redete immer noch sehr abfällig, „Dafür wirst du dich jetzt darum kümmern, dass dieser Junge schnellstmöglich in mein Labor gebracht wird” Han schaute grimmig in den Bildschirm. Dann setzte er sich wieder und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Nun. Ich werde versuchen herauszufinden, wo er ist. Aber ich hab nicht mal eine Spur”, sagte er resigniert und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das ist mir doch egal. Finde ihn einfach”, sagte die Frau und ging weg. Das Bild schaltete sich ab. Han tippte auf der Konsole herum und schnell fand er das verlorene Schiff. Er konnte genau sehen, wo es abgestürzt ist und warum. Es war ein winziger Signalfehler, der eine fatale Kettenreaktion im System verursachte, die das Schiff ohne Vorwarnung komplett deaktivierte und wie einen Stein zu Boden fallen ließ.

Die Wahrscheinlichkeit, die der Computer ausrechnete, dass so etwas passiert, war so gering, dass sie komplett vernachlässigt werden konnte. Die ganze Nacht studierte er den Fehlerbericht. Es hätte einfach nicht passieren dürfen, dachte er sich. Er beschloss den ganzen Vorfall zu löschen, sodass es praktisch nie geschehen ist. Keiner wusste davon, da der Fehlerbericht als erstes immer direkt zu Ihm und sonst zu niemand anderem gesendet wird.

Kapitel 3

Aufbruch

Am nächsten Morgen wacht Val sehr ausgeruht wieder auf. Er kann sich nicht erinnern jemals so gut geschlafen zu haben. Milena war schon eine Weile auf den Beinen und wusch das Geschirr vom letzten Abend. Val ging nach draußen und schaute in den Wald. Alles war so friedlich und ruhig. Die Geräusche des Waldes und die wohlriechende Luft erzeugten in Ihm ein Gefühl, tiefer Glückseligkeit. Die Sonne schien im steilen Winkel durch die Bäume und tauche die Lichtung in ein sattes Grün. Der Tau glitzerte anmutig auf Den Blättern und der Nebel zog sich im Tal unter ihnen entlang und wich gemächlich der Wärme. Val fühlte sich von einer zufriedenen Besonnenheit durchströmt und dennoch spürte ein raues brodeln ganz tief in seinem Geist.

Erinnerungsfetzen, die er nicht zuordnen konnte, die seltsamen Träume und was mit diesem Typen von gestern los war. Aber was am meisten an ihm nagte, war dieser Zwischenfall in dem Labor und die Reaktion dieser unangenehmen Frau. Er setzte sich an den Brunnen und stocherte mit einem kleinen Stück Holz im Boden herum. Etwas schüchtern öffnete Milena die Tür, um nach Val zu sehen.

„Was ist mit dir?“, fragte sie und setzte sich neben ihn.

„Können wir diesem Typen vertrauen? Diesem Han?“, fragte Val etwas zaghaft.

„Ich denke schon. Ich weiß nicht so viel über ihn, aber ich glaube er sucht verzweifelt etwas” Milena fing ebenfalls an, mit einem Stock im Boden herum zu stochern.

„Und was?“, fragte Val. Milena zuckte mit den Schultern.

„Ich glaube es sind irgendwelche alten Erinnerungen. Aber es schien ihm unangenehm zu sein, darüber zu reden. Ist es bei dir genauso? Jagst du auch der Vergangenheit nach?“ Val nickte.

„Das weiß ich selbst nicht so genau. Aber es gibt ein paar Dinge, die ich nicht verstehe. Viele haben Angst vor mir, weil … naja, ich zeig’s dir mal” Val nahm einen Stein und schlug ihn auf die Kannte des Brunnens. Vom Stein brach ein Stück ab und legte eine scharfe Kannte frei. Damit schnitt er sich in den Unterarm. Milena war erst etwas erschrocken, doch dann schaute sie genauer hin und beobachtete wie sich die Wunde gleich wieder schloss. Sie war nicht sonderlich verwundert darüber, denn das Gleiche erlebte sie schon, als sie Val aus dem Wald geholt hat.

„Wir können gemeinsam in das Dorf im Tal gehen” Bot sie an. „Han weiß sehr viel, er kann uns vielleicht etwas dazu sagen. Vielleicht ist es eine seltene Krankheit, oder …“

Val zuckte mit den Schultern. „Wenn du denkst, er weiß was darüber, von mir aus. Aber was ist, wenn er zu denen gehört die mich wegbringen wollten und nur darauf wartet, dass wir zu ihm kommen?“

Milena schwieg einen Moment, dann erzählte sie Val wie sie Han kennenlernte. Nachdem ihre Eltern wegen Gotteslästerung vom Ältesten hingerichtet wurden, wurde Milena einfach ihrem Schicksal überlassen und man ging davon aus, dass sie irgendwann verhungert oder im Winter erfriert.

Als Han damals in das Dorf kam, kaufte er das Haus ihrer Eltern. Er wusste nicht wer die Leute waren, die hier lebten, aber man sagte ihm, weswegen man sie hinrichten ließ. So machten sie ihm klar, was ihn erwartet, wenn er sich nicht an die Konstitutionen der Gemeinschaft hielt. Von Milena erzählten sie ihm nichts. Er fand sie eines Tages bei einem Spaziergang halb erfroren und dem Hungertod nah in einer heruntergekommenen Jagdhütte.

Er nahm sie eine Weile bei sich auf, doch er merkte wie sehr es ihr zu schaffen machte, im Haus ihrer toten Eltern zu leben und von den Dorfbewohnern verachtet zu werden. Eines Tages führte er sie mit in den Wald und brachte sie zu der Hütte, wo er sie damals gefunden hat. Sie war überzeugt davon, dass er sie wieder dort aussetzt, um sie verhungern zu lassen. Als sie ankamen gab Han ihr einen zerkratzten, wertlosen Ring. Er bat Milena ihn anzulegen und als sie es tat schimmerte er kurz. Daraufhin ging er mit ihr zur Tür und bat sie, die Hütte zu betreten. Als sie die Klinke berührte gab es ein leises Klicken und sie ließ sich öffnen. Wie es im inneren aussah wusste Val ja bereits, denn es war genau diese Hütte, in der sie seitdem lebte.

So schön diese Geschichte auch war, Milena hatte Angst, Vals Vertrauen aufs Spiel zu setzen, denn Han war immer sehr verschlossen und konnte auch sehr grimmig werden, wenn es um bestimmte Themen ging: Zum Beispiel, wie er die Hütte so schnell wiederherrichten konnte oder womit er seinen Lebensunterhalt bestritt.

Sie war ihm sehr dankbar für alles, aber es waren zu viele Fragen offen, die ein volles Vertrauen zu ihm nicht ganz zuließen. Sie erkannte das Val ein wenig skeptisch war und wollte, dass er bemerkt, dass sie selbst auch ihre Zweifel hatte.

„Okay, was soll‘s. Gehen wir einfach und sehen was passiert. Mir fällt auch nichts Besseres ein” Er lächelte Milena an und zuckte mit den Schultern. Sie stand auf und beide gingen Tal abwärts in Richtung Dorf.

Auf dem Weg dahin schwiegen beide fast die ganze Zeit. Es fühlte sich aber nicht unangenehm an, sondern eher als müsste gerade nichts gesagt werden und das war okay so. Hin und wieder lächelten sie sich an und kicherten.

Der Weg war lang und nicht gerade angenehm. Milenas heiteres Gemüt steckte Val an und er vergaß seine Sorgen für eine Weile. Als sie im Dorf ankamen, änderte sich die Stimmung schlagartig. Milena war es unangenehm dort zu sein. Sie wurde immer so missbilligend angestarrt und fühlte sich, als hielte man sie für einen bösen Geist, der sie heimsucht.

Sie konnte sich ihren Hass diesen Leuten gegenüber nicht entziehen. Das Gefühl war so stark, dass es etwas in ihr auslöste. Ihre Gedanken schweiften kurz ab: Als wäre da irgendwas, dass sie vergessen hätte, etwas so unfassbar Wichtiges, dass sie ihr Leben davon abhing. Doch sie konnte sich einfach nicht erinnern.

Um zu Hans Haus zu gelangen, mussten sie über den Marktplatz, wo um diese Uhrzeit immer recht viel los war. Als die Leute sie bemerkten, erstarrten sie kurz und ein paar der älteren falteten ihre Hände zusammen und murmelten Gebete vor sich hin. Die Anderen zogen eine angewiderte Mine auf und gingen weiter ihren Geschäften nach. Val kannte dieses Verhalten nur zu gut.

Milena musste das immer ertragen, wenn sie Lebensmittel besorgen ging. Hin und wieder machte das Han für sie, doch das waren eher Ausnahmen. Sie versuchten es so gut es ging zu ignorieren und gingen weiter ihrem Ziel entgegen.

Das Dorf zog sich lang das Tal hinab. Han lebte an dessen unteren Ende. Sie waren noch gute zwanzig Minuten unterwegs bis sie den Ort erreichten. Milena klopfte an die Tür doch niemand öffnete. Das Betätigen der Klingel wurde ebenso konsequent ignoriert.

Sie warteten ein paar Minuten und versuchten es noch ein paar Mal mit klingeln und Klopfen. Doch niemand öffnete. Vals Vertrauen war Milena sehr wichtig. Sie wollte seine Skepsis Han gegenüber unbedingt zerstreuen. Deswegen vergaß sie ihre Manieren und griff nach der Türklinke. Kaum berührtet sie sie, entriegelte sich das Schloss und die Beiden betraten das Haus. Es war noch genauso eingerichtet wie früher, als sie noch mit ihren Eltern hier lebte. Sie liefen im Haus umher, riefen nach Han, klopften an Türen und suchten nach Hinweisen.

Keine Spur von ihm oder davon, wo er sich gerade befindet. Die Falltür, die zu seinem geheimen Raum führte, war so präzise in den Boden eingearbeitet, dass man sie nicht ausmachen konnte, selbst wenn man wüsste, dass sie dort ist und Versuche mit einer Lupe einen Spalt zu finden wären ebenso erfolglos. Sie öffnete sich nur für ihn und sonst niemanden.

Ein System aus versteckten Sensoren, die ihn anhand seiner Herzrhythmik, Venenstruktur und seiner Hirnströme identifizierten zu überlisten war vollkommen unmöglich. Zusätzlich musste er noch eine spezielle Geste ausführen, die ihm die Tür öffnete. Doch davon wussten Val und Milena nichts.

Mit einem enttäuschten seufzen auf das ein Schulterzucken folgte verließen sie das Haus und machten sich auf den Rückweg. Etwas weiter das Tal hinauf blieb Milena plötzlich vor einer Hauswand stehen und schaute fragend in den Himmel.

Diese Sache, an die sie sich erinnern wollte, stieß ihr nun wieder auf. Als wollte es unbedingt raus und konnte nicht länger aufgeschoben werden. Sie machte einen kleinen Schritt zur Seite und hielt Val am Ärmel fest. Nun wurde ihr klar, was sie getan hatte und mit aller Macht wieder vergessen wollte. Ihre Wut auf die Bewohner des Dorfes und diese eigenartige Fähigkeit, Dinge passieren zu lassen, wie sie es wollte, haben sich zu einem großen Übel aufgeschwungen.

Val drehte sich zu ihr und wollte gerade fragen was los ist, da blendete ihn ein gleißendes Licht, das so heiß war, dass Vals Gesicht zu brennen begann. Milena zerrte ihn in den Schatten des Hauses und beide hielten sich die Arme vors Gesicht. Das Licht erlosch und ein lautes Pfeifen, dass immer verzerrter und greller wurde fuhr durch die Luft, gefolgt von einem donnern als würde der Himmel über ihnen zusammenbrechen.

Die Erde fing an heftig zu beben und kurz darauf traf sie eine gewaltige Druckwelle. Das Haus, hinter dem sie sich versteckten, wurde einfach weggeweht wie Papierschnipsel. Beide lagen zusammengerollt auf dem Boden während Trümmer und Bäume über sie flogen. Nach ein paar Sekunden war alles vorbei und es kehrte Totenstille ein. Etwas mehr als eine Stunde verging bis Milena den Mut fasste ihren Kopf unter den Armen hervorzubringen. Sie begann sich aufzurichten und sah sich um.

Sie und Val lagen in einer Versenkung, die durch das Beben entstanden ist. Wie durch ein Wunder blieb ein kleiner Teil der Hauswand heil und fing die ganzen geschossartigen Schrapnelle ab. Sie sah an sich herab und entdeckte nicht einen Kratzer, nicht einen Blauen Fleck, ja selbst ihre Kleidung war nur etwas schmutzig aber noch vollkommen intakt. Sie sah zu Val, der Bewusstlos vor ihr lag. Eine Blutlache breitete sich unter seinem Gesicht aus.

Als sie ihn so sah wurde ihr schlecht. Nicht weil sie kein Blut sehen konnte, sondern weil es ihre Schuld war, weswegen er so leiden musste. Vorsichtig nahm sie seinen Arm und drehte ihn auf den Rücken. Die rechte Hälfte seines Gesichts war verbrannt und an seinem Hals klaffte eine tiefe Wunde aus der ununterbrochen Blut floss. Milena wurde kurz etwas panisch, doch dann entdeckte sie ein grünliches Schimmern, dass immer wieder in seinen Wunden hervor blitzte und die Wunden wie dünne Fäden zusammenzog und langsam verschloss. Auch über sein verbranntes Gesicht zogen sich kleine grün schimmernde Äderchen, die pulsierten und langsam seine Haut wiederherstellten.

Das laute wummern eines sich nähernden Fahrzeugs war zu hören. Milena lugte vorsichtig über die Reste der Hauswand hinweg und sah wie ein gepanzerter Militärtransporter in der Nähe hielt und mehrere Männer ausstiegen. Zwei von ihnen trugen weiße Schutzanzüge mit Atemmasken und hielten klickende Geräte in der Hand. Die anderen drei waren große, kräftige Soldaten, die ebenfalls Schutzmasken trugen. Sie konnte die Unterhaltung der beiden weiß gekleideten Wissenschaftler belauschen, als sie sich langsam auf Val und Milena zubewegten.

„Wir haben es wirklich geschafft, diese alte Technologie wieder nutzbar zu machen. Leider haben wir das Ziel um mehr als fünfzig Kilometer verfehlt und bewohntes Gebiet getroffen. Dabei waren sich doch alle so sicher, dass es auf wenige hundert Meter genau sein soll”, sagte einer der Beiden.

„Laut den ersten Ermittlungen der Techniker kam es beim Ausklingen des Sprengkopfes zu einer Verzögerung bei der letzten Klammer, deswegen hat sich wohl der Vektor um ein paar Sekunden geändert und somit auch der Aufschlagpunkt”, antwortete der Andere. „Ein dennoch passables Ergebnis für eine tausend Jahre alte Interkontinentalrakete. Wir haben zwar mit einer geringeren Streubreite gerechnet, trotzdem können wir mit den Daten arbeiten. Also würde ich es schon als erfolgreich ansehen”

„Es bereitet mir aber trotzdem eine wenig Unbehagen, dass es bewohntes Gebiet getroffen hat. Es haben Menschen hier gelebt, die mit Sicherheit nicht unsere Feinde waren”

„Alles außerhalb der Mauern von Marista ist unser Feind. Also hör auf dich hier wie ein Heiliger aufzuführen. Beginnen wir mit den Untersuchungen. Es gibt keine Überlebenden, selbst hier in der Randzone der Explosion wurde fast alles zerstört. Die radioaktive Strahlung besteht größtenteils aus Alphawellen und sollte nicht sonderlich lange andauern. Das Gebiet kann also in weniger als einem halben Jahr wieder besiedelt werden, denke ich”, sagte der Zweite und sie näherten sich weiter. Milena legte sich über Val in die Versenkung und hoffte, dass die Typen sie nicht bemerken. Doch das übriggebliebene Mauerstück war zu verdächtig für einen der Soldaten und er ging hin, um es zu untersuchen.

„Wartet!“ rief der Soldat. „Hier sind scheinbar doch überlebende” Der erste Wissenschaftler machte kehrt und ging zu ihnen. Der Zweite folgte kurz darauf. Sie schauten die beiden musternd an und fuchtelten mit ihren Geräten herum. Als er es auf Val hielt fing es an wie verrückt zu klicken.

„Der Junge scheint so gut wie tot zu sein. Er hat wohl eine zu hohe Strahlendosis abbekommen. Außerdem wurde er wohl durch ein Trümmerteil am Hals verletzt” Er richtete das Gerät auf Milena und es beruhigte sich sofort wieder. „Das Mädchen ist komplett unverletzt. Der Geigerzähler schlägt auch nicht aus… seltsam”, sagte der Zweite Wissenschaftler und klopfte skeptisch auf das klickende Gerät.

„Wir sollten sie in ein Labor bringen und sie untersuchen”, entgegnete der Erste, plötzlich fing Val an zu husten und sich zu winden. Er richtete sich auf und spürte Milenas Hand, die sich nervös in seinen Oberarm krallte. Der erste Wissenschaftler lehnte sich zu ihm vor und entdeckte ebenfalls die Wunde an seinem Hals und sah die grün schimmernden Fäden, die das Gewebe erneuerten. Dann zielte er mit seinem Gerät auf Val und es fing ebenfalls an laut zu klicken. Der Zweite Wissenschaftler zog eine Pistole aus seiner Tasche und richtete sie auf Val.

„Das ist unmöglich!“ Sagte er und schoss ihm ohne Vorwarnung in den Kopf. Der Erste Wissenschaftler schlug ihm die Waffe aus der Hand. Milena fing an laut zu schreien und zog Val zu sich. Sie schaute tief in seine Augen und entdeckte den winzigen grünen Ring um seine Iris.

„Geht’s dir nicht gut?“, schrie der Erste den Zweiten an. „Wieso hast du das getan?“

„Das kann doch nur irgendeine abartige Krankheit sein. So viel Strahlung wie der abbekommen hat hätte er zwei Mal sterben müssen. Wir können sie nicht hierlassen und ich will sie auf keinen Fall mitnehmen. Das ist mir zu riskant. Wir töten sie, vergraben ihre Leichen in dem Loch hier und tun so als wäre das nie passiert, klar?“, sagte der Zweite und richtete die Waffe auf Milena.

Der Erste seufzte nur angewidert und drehte sich weg. Der Zweite zog wieder am Abzug, doch diesmal fiel kein Schuss. Skeptisch untersuchte er die Waffe. Der Schlagbolzen bewegte sich nicht mehr. Er warf sie in den Dreck, ging zu einem der Soldaten, riss ihm zornig das Gewehr aus der Hand und richtete es auf Milena.

Er legte den Sicherungshebel um, zog am Abzug doch auch das Gewehr verweigerte den Dienst. Er schaute ins Magazin ob es überhaupt geladen ist, lud eine neue Patrone durch und wieder passierte nichts als er den Abzug betätigte. Das gleich Spiel ging mit den Waffen der anderen: Immer war es etwas anderes, dass ihn daran hinderte sie zu töten. Einmal war es eine gebrochene Feder, einmal ließ sich die Sicherung nicht lösen, ein anderes Mal klemmte der Verschluss. Schlussendlich zog er ein Messer aus dem Rucksack eines Soldaten.

Als er sich Milena näherte, mit der schwarz brünierten Klinge auf sie gerichtet, wurde sie etwas ängstlich. Die empfindliche Mechanik einer Schusswaffe zu stören war ein leichtes, doch wie sollte sie sich vor einem einfachen Messer schützen?

Doch dann fing Val wieder an zu husten und zu röcheln. Er richtete sich langsam auf, schaute dem Soldaten fest in die Augen. Die Kopfwunde war noch immer zu sehen, ebenso das grünliche Schimmern. Der zweite Wissenschaftler erstarrte vor Verwunderung.

„Das ist doch nicht wahr” Stammelte er und hielt wieder das klickende Gerät in Vals Gesicht. Diesmal schlug es nicht sonderlich aus. „Fesselt ihn und bringt ihn in den Transporter!“ Zwei Soldaten packten Val, banden seine Hände auf den Rücken und führten ihn ab. Dann gab er dem dritten Soldaten das Messer und befahl ihm Milena zu töten. Das konnte Val noch hören, bevor er von einem der Soldaten bewusstlos geschlagen und in den Transporter geworfen wurde.

Der Soldat mit dem Messer stellte sich hinter Milena, hielt mit der linken Hand ihr Kinn hoch und legte die Klinge auf ihren Hals. Ein subtiles nicken vom zweiten Wissenschaftler bedeutete ihm, die Hinrichtung durchzuführen. Milenas Gedanken waren nicht auf die Klinge gerichtet, sondern auf den Soldaten. Das Messer glitt langsam über ihren Hals, doch es ging nicht lang, da fiel es zu Boden. Der Soldat verkrampfte, sackte auf die Knie und starb im nächsten Moment. Ein klein wenig Blut rann Milenas Hals hinab, doch es war nicht sonderlich viel. Es war nur ein kleiner, flacher schnitt. Er schmerzte etwas, aber es war nichts lebensbedrohliches.

Der erste Wissenschaftler schüttelte mit dem Kopf. „Er war nicht älter als zwanzig, gut ausgebildet und gesund. So einfach stirbt man doch nicht. Ich sag dir“, er packte den zweiten an den Schultern, „hier geht etwas Seltsames vor. Wir nehmen sie beide mit und untersuchen sie im Labor. Vorher führen wir sie dem Priester vor. Bis dahin entziehe ich dir die Befehlsgewalt. Hast du mich verstanden?“ Wortlos ging der zweite zurück zum Fahrzeug. Die anderen beiden Soldaten holten Milena und brachten sie ebenfalls in den Transporter.

 

Als Han etwas später seinen Keller verließ, stand er in einer Ruine, die gestern noch sein Haus war. Das ganze Dorf war verwüstet, dem Erdboden gleichgemacht. Es lag kein Stein mehr auf dem andern, nur die Straße war noch zu erkennen. Sein Bunker war so gut abgeschirmt, dass er von all dem nichts mitbekam. Er stieg wieder hinab und schaute sich die Aufzeichnungen der Außenkameras an.

Er entdeckte Val und Milena, die eine Weile vor seiner Tür standen und immer wieder klopften und rufend durch das Haus stolperten. Dann sah er sie fortgehen und ein paar Minuten Später verschwand das Bild. Er konnte sich nicht erklären was passiert ist, also verließ er den Bunker und ging die Straße entlang Tal aufwärts. Es dauerte nicht lang, da entdeckte er die intakte Hauswand und die Versenkung, in der die Beiden Schutz suchten.

Vals Blut war längst im Boden versickert aber die Flecken waren noch gut zu sehen. Die Leiche des Soldaten wurde einfach dort zurückgelassen. Han schaute sie sich genauer an. Er konnte nicht feststellen, woran er gestorben ist. Es gab keine Einwirkung von außen. An der Klinge des Messers war ein klein wenig Blut, doch Han konnte nicht bestimmen wessen Blut, das war. Es war jedenfalls nicht das von Val, denn das gab eine kleine Menge einer unbekannten Energie ab, die Han spüren konnte. Entmutigt ging er ein Stück weiter, wo er die tiefen Scharten eines schweren Kettenfahrzeuges im Boden sah.

Die Spuren führten in Richtung Marista. Han machte sich sofort auf den Weg, doch es war sehr weit zu Fuß und er hatte nur wenige Anhaltspunkte, wo sie die Beiden hinbringen könnten.

Etwas später ertönte unverhofft ein leises Piepsen aus seiner Brusttasche. Er griff hinein und holte einen Armreif heraus, der eine Art Kommunikationsgerät war. Han trug ihn immer mit sich herum, obwohl er seit Ewigkeiten nicht mehr funktionierte. Daher war er sehr verwundert, als sich das kleine Gerät auf einmal zu Wort meldete.

Es war ein glatt polierter, silberner Reif mit einem eingearbeiteten Display und einer Gravur: Wieder ein verschnörkeltes ‚A‘. Auf dem Display stand eine Nachricht: Versiegelung aufgehoben. Systemstart angefordert. Das konnte nur eins bedeuten: Aletria, das sogenannte Silberne Königreich, wurde wieder zum Leben erweckt.

Eine riesige, wunderschöne Stadt, die allem, was die Menschen je erschaffen hatten, um Jahrtausende voraus war. Sie war seit dem großen Krieg vollkommen versiegelt und von einem undurchdringlichen Kraftfeld geschützt. Der Armreif war ein Gerät, mit dessen Hilfe er nicht nur Zugang zu dieser Stadt bekam, sondern auch ein vielseitiges Kommunikationsgerät. Es hatte sehr viele, teils versteckte Funktionen, mit denen man auf weitreichende Systeme der Stadt Zugriff hatte.

 

Als Val wieder zu Bewusstsein kam, hatte das Fahrzeug bereits sein Ziel erreicht und stoppte. Die Tür öffnete sich, zwei Soldaten packten ihn und Milena, und zogen sie aus dem Fahrzeug. Er schaute nach vorn und wurde vom Tageslicht geblendet. Langsam erkannte er die groben Umrisse der riesigen Kirche, vor der sie sich befanden. Als er sich erinnerte, was als Letztes geschah, fuhr ein starker Schmerz durch seine Brust. Sie wollten Milena umbringen. Und sie haben es auch getan, dachte er sich. Die kalten Worte der Wissenschaftler hallten in seinen Erinnerungen wieder und drückten auf sein Gemüt. Eine ungestüme Wut fing an in ihm zu brodeln.

„Das Mädchen hier rüber! Holt den Priester!“, schrie der erste Wissenschaftler. Val schaute sich um. Er konnte nicht an dem riesigen Soldaten vorbeischauen, der ihn festhielt. Doch dann sah er wie einer Milena grob am Genick packte und sie auf die Knie zwang. Ihre Handschellen waren so fest angelegt, dass sie an der Stelle blutete. Es machte ihm zu schaffen, dass sie wahrscheinlich große Schmerzen hatte, dennoch war Val erleichtert. Sie lebt noch und er würde sie retten. Das nahm er sich fest vor.

Er musterte die zwei Wissenschaftler genau, während sie auf den Priester warteten. Da sie ihre Schutzkleidung nicht mehr trugen konnte er ihre Gesichter und ihre Namensschilder erkennen. Der erste war etwas älter, hatte dunkle, kräusele Haare und sein Name war Irvin Adler, der zweite hatte blonde, kurze Haare und hieß Gerald Allardé. Val prägte sich die Namen und die Gesichter der Beiden gut ein und schürte weiter seine Wut. Milena versank so sehr in Schuld und Selbstmitleid, dass sie beinah katatonisch wirkte.

Ein wenig später kam ein seltsam gekleideter Mann aus der Kirche. Er trug eine lange, weiße Robe mit einer Kapuze, die zu weiten Teilen sein Gesicht bedeckte. Er trat an Milena heran, packte sie an den Haaren, dann hob er ihren Kopf, um ihr in die Augen zu schauen.

„Also ihr sagt, die hat die Explosion unversehrt überstanden? Und deswegen verschwendet ihr meine Zeit? Sie ist für mich bedeutungslos. Bringt sie in ein Labor oder was auch immer ihr wollt, ist mir scheiß egal. Dumme Geistergeschichten will ich hier nicht hören”, sagte der Priester und schaute rüber zu Val. „Aber der Junge scheint interessant zu sein. Was ist da genau passiert?“

„Er scheint…“, sagte der Irvin stotternd, „… irgendwie unsterblich zu sein. Also“, er räusperte sich, „wir haben ihn in den Kopf geschossen und er ist etwas später einfach wieder aufgestanden und die Schusswunde war verschwunden. Ich dachte das könnte sie interessieren, deswegen haben wir ihn mitgenommen” Gerald nahm an dem Gespräch nicht mehr teil, denn er war bereits dabei Milena wieder in den Transporter zu bringen und schon bald fuhr er mit lautem Getöse davon, was den Priester in seiner Ruhe störte und ihn wütend werden ließ.

„Es war die richtige Entscheidung den Jungen hier her zu bringen. Ich habe hier eine Waffe, die selbst Götter töten kann und ich brauche sowieso noch ein Opfer für die Zeremonie heute. Der kommt mir gerade recht. Bringt ihn rein, übergebt ihn den Lakaien und geht mir aus den Augen. Ich kann euch Zahlenschubser nicht ausstehen. Ihr seid ein Arrogantes Pack, dass sich hinter seinen erbärmlichen Tabellen und Experimenten versteckt”

„Zu Befehl”, sagte Irvin unterwürfig und folgte den Anweisungen des Priesters. Val wurde in die Kirche gebracht; die Soldaten und der Wissenschaftler verließen den Ort in dieselbe Richtung, in die der Transporter gefahren ist.

Von außen sah das Gebäude wie ein moderner, stark überdimensionierter Wolkenkratzer aus. Von innen war es eine prunkvolle, barocke Kirche im Stil des 16. Jahrhunderts. Die vielen Kuppeln waren mit aufwändigen Fresken bemalt, die Formen waren sehr geschwungen und viel Gold wurde verwendet. Der Boden war aus feinstem Marmor und auf ihm lagen lange, verzierte Teppiche. Die Sitzbänke waren aus einfachem Holz und sehr unbequem. Eine riesige Orgel prahlte mit goldenen Pfeifen hinter einem Großen Altar, der ebenfalls aus Marmor war.

Val wurde vor dem Altar auf die Knie gezwungen und von einem der Diener mit dem Fuß nach unten gedrückt. Er stützte sich mit seinen Händen am Boden ab. Es war unglaublich demütigend in einer Gebetspose vor dem Priester zu knien. Aber ihm war das alles relativ egal. Er dachte nur daran, wie er es anstellen sollte, Milena zu befreien. In erster Linie war er nur froh, dass sie noch am Leben war. Ein paar Minuten später bereitete der Priester eine Predigt vor. Später betraten viele Leute den Saal. Als alle Plätze belegt waren, schlossen sich die riesigen Tore. Alles beruhigte sich. Der Priester schlug ein Buch auf und schaute auf.

„Werte Gemeinde” Begann er mit seiner Predigt. „Wir, das auserwählte Volk: Die Nachkommen der gesalbten, welche nicht von Gottes Zorn getroffen wurden, sind verpflichtet die ungläubigen zu bekehren, damit sie auf den Pfaden der Wahren Erlösung wandern. Wir müssen sie bekehren, um Gott zu beweisen, dass wir ihm auch weiterhin würdig sind. Er wurde aus seinem Himmelreich entsandt, um alle zu vernichten, die den falschen Weg gegangen sind. Und er wird es wieder tun, wenn wir uns nicht darum kümmern. Wir wollen nicht, dass uns noch einmal eine Apokalypse überkommt. Deswegen werden wir dem Willen Gottes gehorchen, unsere Armeen aussenden und die anderen Reiche bekehren. Und als Beweis meiner unerschütterlichen Überzeugung, werde ich persönlich diesen ungläubigen Jungen an das Werkzeug Gottes opfern”

Lauter Applaus hallte durch das Gemäuer. Zwei Diener des Priesters packten Val und legten ihn mit dem Rücken auf den Altar. Sie fixierten seine Hände und Füße mit speziellen Vorrichtungen. Dann wurde mit einem Seilzug eine eineinhalb Meter lange, schwarze Klinge über ihm herabgelassen. Die Spitze der Klinge pendelte etwa einen Meter über Vals Brust.

Ängstlich versuchte er sich zu befreien. Doch die Konstruktion war sehr stabil gebaut. Er hatte keine Chance sich loszureißen. Sein Herz schlug immer schneller und eine tiefe, zermürbende Angst durchströmte seinen Körper. Nicht nur dass in wenigen Sekunden eine Tonnenschwere Klinge durch seine Brust fahren wird und ihn qualvoll aus dem Leben reißt. Viel zermürbender war der Gedanke daran, dass er sein Versprechen, Milena zu retten, nicht einhalten würde. Er versuchte sich wieder und wieder zu befreien. Doch es war schier unmöglich.

„Sehet nun meine werten Gläubigen”, sprach der Priester weiter. „Wie das Werkzeug Gottes im Blute das ungläubigen versinkt und wir auch weiterhin seiner Gnade würdig sind” Der Priester nickte einem seiner Diener zu, worauf hin dieser einen Knopf betätigte. In diesem Moment löste sich die Klinge aus seiner Halterung und fiel herab. Wie in Zeitlupe sah Val sie auf sich zu kommen. Tausende Gedanken schossen ihm durch den Kopf.

Zur selben Zeit ...

Han betrachtete den Armreif noch eine Weile, aber er konnte nicht mehr zuordnen, woher oder warum er diesen überhaupt hat. Er wusste nicht, ob es sein eigener war oder ob er ihn mal von irgendwem bekommen oder gefunden hat. Der Name Alexander, der auf dem Zerkratzen Display flackerte, löste in ihm ein seltsames Gewirr an Erinnerungen aus, die er nicht zuordnen konnte.

Er riss sich schnell wieder davon los, und dachte darüber nach wie er Milena und Val zurückholen konnte und wohin sie verschleppt wurden. Sein erster Gedanke war die Kaserne in der Nähe des Regierungsviertels, doch das schien abwegig. Was soll das Militär mit diesen Kindern anfangen? Seine zweite Idee war die Kirche. Viel mehr fiel ihm nicht ein, daher beschloss er diesem Gedanken zu folgen.

Als Agent der unbekannten Organisation, die Val entführen wollte, hatte er Zugriff auf die Fluggeräte, mit denen sie ihn transportiert hatten. Er ging zurück in seinen Bunker und forderte eines an. Während er wartete, ließ er den Militärfunk der Armee von einem Computerprogramm abhören und es nach bestimmten Schlüsselwörtern suchen.

Es dauerte nicht lang, da wurden seine Vermutungen, die Beiden würden in die Kirche gebracht, über den Haufen geworfen. Im Funk wurde eindeutig über ein blondes Mädchen berichtet, dass schnellstmöglich in eine wissenschaftliche Fakultät gebracht werden soll. Da er davon ausging, dass die beiden zusammen waren, hatte er nur Schlüsselwörter suchen lassen, die mit Milena zu tun hatten und übersah dabei, dass die beiden vom Priester getrennt wurden.

Etwa 30 Minuten vergingen, da bekam er eine Meldung, dass das angeforderte Transportflugzeug eingetroffen ist. Er verließ den Bunker und programmierte die Flugroute. Wieder piepste der Armreif in seiner Brusttasche. Er kramte es heraus und las eine Meldung: Systemstart erfolgreich. Reaktivierung Aletrias nach Aufhebung der Sicherheitsquarantäne eingeleitet. Keine Maßnahmen erforderlich.

Wieder versuchte er irgendwelche nutzbaren Informationen aus seinen bröckeligen Erinnerungen an diese Stadt zu gewinnen, doch es waren nur undeutbare, nostalgische Gefühle, mit denen er nichts anzufangen wusste. Er atmete tief durch, steckte den Armreif zurück in die Tasche und machte sich auf den Weg. Unbemerkt landete er das Schiff nahe der zuvor erwähnten Fakultät und schickte es wieder fort.

Kapitel 4

Der Fluch der Vergangenheit

In den Wenigen Millisekunden die Val hatte, um sein Leben zu reflektieren, dachte er gelassen über die kurze, aber schöne Zeit nach, die er mit Milena verbrachte. Er hätte gern mehr erfahren über seine seltsamen Träume, diese unangenehme Frau und unsichtbare Raumschiffe, die sich auflösen, wenn sie abstürzen. Doch das war jetzt alles vorbei. Nichts konnte die tonnenschwere Klinge mehr aufhalten, die sich im freien Fall auf ihn zu bewegte.

Und diesmal würde er auch nicht in einer dreckigen Gasse wieder aufwachen und nach Hause gehen können: denn er glaubte dem Priester, die Waffe könne gar Götter töten. Selbst wenn nicht, würde er in einem Sarg, tief unter der Erde aufwachen und dort auf ewig gefangen sein. Val resignierte vollkommen und hoffte nur dass der Schmerz nicht allzu lange anhielt. Aber es schien einfach nicht weiterzugehen. Er hatte schon viel davon gehört, dass die Zeit im Angesicht des Todes viel langsamer vergeht, doch das war schon lächerlich lange, dachte er sich und fühlte gleichzeitig wie sich seine Angst legte und eine Welle aus Energie seinen Körper überrollte. Er ist schon so oft getötet wurden, er hoffte mittlerweile sogar, dass er diesmal nicht wieder aufwacht. Gleichgültigkeit begann all seine Gedanken zu verdrängen.

Es langweilte ihn, ewig darauf warten zu müssen, also beschloss er seine Augen wieder zu öffnen und seinem Sterben bewusst beizuwohnen. Er sah die Klinge des fast zwei Meter langen Schwertes über seiner Brust schweben. Als würde sie noch immer am Kran hängen und die ganze Predigt sei nur ein dummer Streich gewesen.

Es schwebte da einfach so, als hätte es nichts Besseres zu tun. Wie von einer unsichtbaren Kraft gehalten, wartete es, ohne sich zu rühren. Val drehte seinen Kopf zur Seite und sah die schockierten Gesichter der Menschen im Saal, die vor Entsetzen wie gelähmt waren. Wieder überrollte ihn eine Welle aus Energie, die durch seinen ganzen Körper floss.

Er schaute zu dem Schwert auf und sah, wie die schwarze Schicht von der Klinge abfiel und ein leuchtendes Symbol freigab. Es war ein filigran gearbeitetes Schriftzeichen, umgeben von einem Kreis aus anderen, kleineren Schriftzeichen. Val verstand sie. Diese Schriftzeichen sah er auch während seiner Anfälle, konnte sie aber nie Lesen, da es einfach zu viel auf einmal war. Doch nun sah er sie einfach da stehen und er wusste, was sie bedeuten. Der Kreis um die Symbole herum war ein Schwur. Val las ihn leise vor.

Ich bin das Leben. Ich bin der Tod. Mein Name gedeiht auf Erde und auf Stein, im Wasser und im Feuer. Ich bin eins mit den Welten und der Herrlichkeit Diener.

Das große Schriftzeichen in der Mitte war eine Kombination aus vier verschiedenen. Astra, Terra, Aeon und Solaris. Wobei das Schriftzeichen Terra am größten war und am deutlichsten herausstand.

In dem Moment, als er den Schwur zu Ende gelesen hatte, brannte sich das Symbol auf seinen linken Handrücken. Dann zerbrach das Schwert in abertausende kleine Teile, die um den Altar kreisten und eine Art Kuppel aus rasiermesserscharfen Splittern formten. Val erinnerte sich: Es war das Schwert, dass aus der Brust dieses Mannes ragte, von dem er neulich geträumt hatte. Er wusste nicht wieso, doch es schien ihm zu gehorchen.

Er fühlte eine gewaltige Kraft durch seine Adern fahren und konnte sich mühelos von seinen Fixierungen losreißen. Er stand vom Altar auf und streckte seine Hand aus. Die Kristallsplitter fügten sich wieder zusammen, und schließlich hielt er das Heft des Schwertes in der Hand. Es hatte die Form einer verflochtenen Wurzel, die tief in den Kristall der Klinge hinein reichten. Er konnte es einfach so halten. Obwohl es so schwer ist, dass es nur mit einem Kran bewegt werden konnte. Er schwang es ein bisschen hin und her. Es war federleicht und äußerst handlich. Der Priester ging fassungslos auf die Knie.

„Er ist zurück! Der Zerstörer ist wieder da!“, brüllte er voller furcht. Val hielt ihm das Schwert vor das Gesicht.

„Wo habt ihr das Mädchen hingebracht?!“

„Sie ist … sie ist”, stotterte der Priester. Dann fiel er in Ohnmacht. Die Menschen im Saal gerieten in Panik und liefen wie wahnsinnig herum. Alle, bis auf eine junge Frau mit einer Kutte, die der vom Priester sehr ähnlich war. Ebenfalls mit einer sehr weiten Kapuze über dem Kopf, stand sie ganz ruhig in einer Ecke und lächelte. Sie hielt ein kleines elektronisches Gerät in der Hand und tippte darauf herum.

Die anderen verließen panisch die Kirche, nachdem sie es schafften die Riesigen Tore zu öffnen. Val stand vor dem Altar und schaute sich um. Als der Saal leer war bemerkte er, dass die Frau mit der Kapuze langsam auf ihn zukam. Sie war etwas größer als er. Val ging in eine Abwehrhaltung, doch je näher sie ihm kam, desto weniger bedrohlich fand er sie. Sie schaute zu ihm herab und streichelte mit ihren Händen über seinen Kopf.

„Ich habe dich gefunden. Jetzt können wir endlich wieder zusammen sein. Tausend Jahre habe ich darauf gewartet”, sagte sie mit einer unglaublich warmen und weichen Stimme. Val wurde von Emotionen überflutet. Er fühlte sich unglaublich leicht und glücklich. Vollkommen unbeschwert und ohne jeglichen Anflug von Angst oder irgendeinem anderen negativen Gefühl. Doch ein Gedanke manifestierte sich immer wieder: Milena. Egal wie gut er sich im Moment fühlte, er dachte gerade an sie. Ein stetig pulsierender Schmerz, der an seiner Kehle drückte und ihn davon abhielt in Trance zu fallen.

„Ich muss zu ihr”, stammelte er leise. Die Frau schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte seinen Kopf gegen ihre Brust.

„Du bist bei mir. Nirgendwo sonst gehörst du hin” Val rang mit seinen Gefühlen. Er musste sich sehr stark konzentrieren und seine Gedanken ordnen, sonst würde diese seltsame, fremde Frau ihn vollkommen einnehmen. Es gelang ihm nur mühevoll und er drückte sie entschlossen von sich weg.

„Ich muss zu …“, stammelte er leise und wandte sich von ihr ab. Er schliff das Schwert hinter sich her und hinterließ eine riesige Scharte in dem feinen Marmorboden, während er langsam aber unaufhaltsam Richtung Ausgang lief. Die Frau drehte sich zu ihm, holte wieder das kleine elektronische Gerät aus ihrem Ärmel und tippte darauf herum.

„Du lässt mich nicht noch mal allein!“, brüllte sie. Sie wollte gerade einen Regler aufdrehen, da hörte sie ein Piepsen, dass aus ihrem Ärmel kam. Sie legte das Gerät beiseite und streifte ihren Ärmel nach oben. Sie hatte den gleichen Armreif wie Han am Handgelenk. Und es hatte die gleiche Gravur, wie das aus Vals Traum. Das große A und darunter das Wort Shezzar. Es erschien auch die gleiche Nachricht auf dem Display. „Die Stadt ist wieder aktiv”, flüsterte sie. „Endlich ist es soweit” Sie hob ihren Kopf und schaute Val konzentriert hinterher.

Sie lächelte und verließ die Kirche durch einen Ausgang hinter dem Zimmer des Priesters. In diesem Moment kam Val wieder zur Besinnung. Als er die Kirche verließ dachte er zuerst daran, wieder zu seinen Freunden zu gehen. Er kannte den Weg dahin nur zu gut und wenn es ihnen gut geht, würden sie ihm sicher bei der Suche nach ihr helfen. Er lief ein kleines Stück über den Platz und zog dabei noch immer das Schwert hinter sich her.

 

Auf dem Weg zur Fakultät fiel Han auf, dass etwas Seltsames in der Stadt vor sich ging. Überall liefen schwer bewaffnete Soldaten in großen, geordneten Zügen durch die Straßen. Als würden sie sich irgendwo sammeln, um eine Streitmacht zu formen. Dazu noch ein Waffentest mit einer wiederentdeckten Technologie. Das war also ein Atomwaffentest. Einerseits war der Gedanke daran verstörend, andererseits beruhigte es ihn auch ein wenig, denn es war besser, als wenn Fraya die beiden gefunden hätte. Der Gedanke war beinahe lächerlich, doch was Fraya, oder schlimmer noch: Isabelle; mit Vals Macht anstellen konnten, war weit schlimmer als tausende von Atombomben.

Kapitel 5

Zurück nach Hause

Val blieb für einen Moment stehen und schaute sich um. Alles war menschenleer und wie ausgestorben. Normalerweise war hier immer viel Gewusel, egal ob Nacht oder Tag. Er hob das Schwert und schaute es sich genauer an. Es war etwa einen Meter lang, zwanzig Zentimeter breit und war an beiden Seiten scharf. Es schimmerte grünlich und in der Mitte war das Symbol, das sich jetzt auch auf seiner Hand befand. Er hielt das Schwert mit einer Hand fest, als ob es federleicht wäre.

Eine Weile starrte er wie hypnotisiert darauf, dann schleuderte er es senkrecht in die Luft. Es flog etwa zehn Meter hoch und schlug ein paar Meter hinter ihm, mit der Spitze voraus, in dem Boden ein und versank bis zur Hälfte in den harten Steinplatten des Kirchplatzes. Er drehte sich kurz danach um und seufzte. Er würde nur zu sehr auffallen und seinen Freunden Angst machen, wenn er damit durch die Stadt läuft.

Kurz hielt er inne und ging los. Er dachte angestrengt darüber nach, was er tun könne, um Milena zu helfen. Die ganze Zeit plagte ihn ein komisches Gefühl. Die Straßen waren leer und es war fast totenstill. Unbehaglich und misstrauisch ging er weiter. Als er eine große Hauptstraße, auf der normalerweise hunderte von Autos fuhren, erreichte, wurde sein Misstrauen auf eine sehr derbe Art und Weise bestätigt. Vor ihm stand ein schwer gepanzertes Fahrzeug, das seine Kanone bereits auf ihn gerichtet hat. Um ihn herum gingen Soldaten in Stellung und richteten ebenfalls ihre Waffen auf ihn.

„Feuer!“, hallte es aus irgendeiner Gasse und der Panzer feuerte seine Kanone ab. Noch bevor Val darauf reagieren konnte, schlug das Geschoss auf eine gläsern wirkende, diamantförmige schimmernde Fläche auf, die kurz nach dem Schuss erschien. Die hochexplosive Granate wurde abgelenkt und schlug in ein Haus auf der anderen Seite der Straße ein.

Dann raste das Schwert vom Himmel, schlug in den Panzer ein und zerfetzte ihn in einem Sturm aus Splittern und Schrapnellen, von denen viele der umstehenden Soldaten getroffen wurden. Val schaute sich das Chaos an und spürte wie die Macht und die Gewalt dieser Waffe durch seine Adern strömte. Der kleine grüne Ring in seinen Augen leuchtete, wurde immer größer, und bedeckte seine Iris bald komplett. Val geriet in einen Rausch. Die Splitter des zerborstenen Schwertes erhoben sich vom Boden und kehrten zu Val zurück.

Wie hypnotisiert lenkte er die Splitter durch die Luft und tötete einen Soldaten nach dem anderen. Langsam lief er die Straße entlang. Wieder tauchten Panzer auf und eröffneten das Feuer. Die Geschosse schlugen wieder auf einer diamantförmigen Fläche auf, die sich aus Teilen der Splitter vor ihm bildete. Val streckte seinen rechten Arm aus und eine pulsierende, grün schimmernde Energie strömte aus dem Boden. Hinter ihm bauten sich die Splitter zu einem Spiegel auf, der die Energie bündelte und in seinen Arm leitete.

Val machte eine Fingerpistole und ein intensiv leuchtender, grüner Energiestrahl löste die beiden Panzer auf, wie ein Windstoß einen Laubhaufen. Er lief langsam weiter. Auf seinen Armen bildeten sich leuchtende Schriftzeichen und begannen sich über seinem Körper auszubreiten. Überall um ihn herum durchbrach die Vegetation die dicke Asphaltschicht der Straße. Die übrigen Soldaten flohen in alle Richtungen. Die Macht dieser Waffe korrumpierte Vals Gefühle so stark, dass ihm jeder Sinn für Realität verloren ging. Ohne irgendeinen Antrieb zu verspüren, lief er einfach weiter und versuchte dabei seine Gedanken wiederzufinden. Doch es war ein Kampf gegen Windmühlen. Dann spürte er wie etwas an seinem Hemd zog und versuchte ihn zum Stehen zu bringen.

„Val! Was tust du da!?“, erklang eine bekannte Stimme hinter ihm. Val drehte sich um und sah in das Gesicht seines besten Freundes Momo. Val packte ihn am Hals und hob ihn hoch. Wie verrückt strampelte er und kämpfte um sein Leben, während Val durch ihn hindurchzuschauen schien.

„Val! V-Val!“, krächzte Momo mit dem letzten bisschen Luft, das er noch hatte. „Ich bin es! Dein Freund” Er erkannte Momos Gesicht doch seine Gedanken waren gefangen in einer Schleife aus zweifeln und Widersprüchen. Momo war ein Mensch, doch die sind jetzt der Feind. Sie versuchen ihn zu töten, ihn zu foltern, ihn zu opfern. Ganz gleich wie sehr sich Val auf seine Freundschaft mit ihm konzentrierte, er war nicht stark genug den Argumenten zu widersprechen. Seine Augen glühten smaragdgrün und seine Miene war furchteinflößend.

Als Momo in Ohnmacht fiel wurde Vals griff schwächer. Er ließ von ihm ab und seine Gedanken klarten wieder etwas auf. Momo war keine Bedrohung, soviel konnte er sich noch klar machen, bevor er ihn getötet hätte. Val ging noch ein Stück weiter, blieb aber nach kurzer Zeit wieder stehen. Seine Gedanken waren so durcheinander, dass er nicht mehr wusste, was er tun wollte und wohin er geht. Als ihm eine warme, weiche Hand über die Wange streifte fiel es ihm wieder ein.

„Milena…“, flüsterte er. Doch als er sich umdrehte, sah er das zur Hälfte mit einer Kapuze bedeckte Gesicht der Frau, die er in der Kirche gesehen hatte. Sie schaute ihn entsetzt an und ließ wieder von ihm ab.

„Du hast mich einfach”, stotterte sie. „Ersetzt?“ Val war verwundert. Er hatte fest damit gerechnet, dass es nur Milena sein konnte, die es vermochte ihn mit dieser Art von Glückseligkeit zu überschwemmen. Das Mädchen streifte sich die Kapuze vom Kopf. Ihre tiefschwarzen Haare fielen ihre Schultern herab und es offenbarte sich ein wunderschönes, makelloses Gesicht, mit blasser Haut und zwei wunderschönen braunen Mandelaugen. Der Moment zog sich Ewigkeiten in die Länge.

 „Wer bist du?“, flüsterte Val. Sie nahm seine Hand und vergrub ihr Gesicht darin.

„Ajuki“, sagte sie und zog ihn an sich. „Deine, dich über alles liebende Königin. Komm wieder nach Hause in dein Königreich”

Val schaute auf. Ein Funkeln am Himmel deutete auf ein herannahendes Fluggerät. Es war etwas größer als ein Hubschrauber, nur ohne Rotoren und in einer kantigen Form. Es war kaum zu hören und landete elegant und sanft vor ihnen. Die Oberfläche war aus einem matten, weißen Material, das an Keramik erinnert. Ein seltsam schnörkeliges A verzierte die Seitenlinie. Ajuki nahm seine Hand und führte ihn hinein. Val versuchte sich zu wehren, doch er konnte ihr nicht widerstehen. Es war ihm aus irgendeinem Grund sehr wichtig bei ihr zu bleiben.

 

Nach fast einer Stunde zu Fuß erreichte Han das Labor. Es wurde nicht bewacht. Nirgends waren Polizisten oder Soldaten zu sehen. Er betrat das Gebäude durch den Vordereingang und näherte sich der Tür zum Sicherheitsbereich. Mit dem Fuß auf den Boden tippend drehte er seinen Kopf zur Rezeptionistin, die gerade noch in irgendwelchen Akten stöberte. Als sie ihn bemerkte, schaute sie kurz fragend zu ihm auf, dann änderte sich ihre Mine schlagartig. Etwas angsterfüllt und ehrfürchtig starrte sie ihn kurz an, dann betätigte sie einen Knopf und die Tür, vor der Han stand, öffnete sich.

Er nickte kurz, dann trat er hindurch. Vor ihm erstreckte sich ein kurzer Gang, von dem links eine Tür abging, die verschlossen war. Am Ende des Ganges war ein metallenes, massives Schott. Während es sich öffnete, blinkten rote Lichter und ein Warnsignal war zu hören. Es führte in einen kleinen Raum an dessen Ende das gleiche Schott zu sehen war. Der Boden in dem Raum war ein feiner Gitterrost, unter dem sich vielerlei Geräte befanden. An den Wänden waren Rohrleitungen und Lampen, die in die Mitte des Raumes gerichtet waren. Das Schott hinter ihm schloss sich und das Licht färbte sich in ein dunkles Violett. Wieder ertönte ein Alarmsignal. Kurz darauf strömte Gas aus den Rohrleitungen und blendende Blitzlichter flackerten rhythmisch. Ein Netz aus Laserstrahlen fuhr von der Decke herab und tastete sich an Hans Körper nach herab. Es folgte ein starker Luftstrom von unten, der Hans Kleider aufwirbelte. Danach wurde das Gas abgesaugt, das Licht färbte sich wieder gelb und das Schott vor ihm öffnete sich. Han trat heraus in den nächsten Raum, nahm sich dort einen langen, weißen Laborkittel vom Haken und zog ihn sich über.

Er ging weiter den Gang entlang, an dessen Ende eine weitere automatische Tür war, die sich öffnete als er sich ihr näherte. Dahinter war ein großer Raum mit einer weiteren Rezeption. Han ging darauf zu und lehnte seinen Oberkörper auf den Tresen. Ihm wurde ein Klemmbrett gereicht an dem ein Kugelschreiber hing.

„Tragen sie sich hier ein und verifizieren sie ihren Status mit ihrer ID Karte“, sagte eine genervte, männliche Stimme.

Han reagierte nicht und tippte nur trotzig mit dem Finger auf den Tresen herum, bis er die komplette Aufmerksamkeit des Mannes hatte. Als dieser endlich aufschaute und in Hans mürrisches Antlitz blickte, zog er das Klemmbrett wieder zurück und setzte sich aufrecht hin.

„Äh … bitte verzeihen sie … a … aber wir haben nicht oft besuch von … ähm … naja“ Der Mann war sichtlich angespannt und haderte mit seiner Unsicherheit. „W-wie kann ich… äh, …was kann ich für sich tun? Wir betreiben hier nur rudimentäre Forschungen an bedenklichen Entitäten. N-nichts was euer Eingreifen provozieren könnte. Ja, äh … alles streng nach Vorschrift“

„Ein etwa 14-jähriger Junge und ein gleichaltes, blondes Mädchen wurden vor kurzem hergebracht“, sagte Han fordernd. „Ich will sie sofort sehen“

„Hm… einen Moment bitte“ Der Mann tippte auf seiner Tastatur herum und schaute konzentriert auf den Monitor. Immer wieder richtete er seine Brille neu aus und legte den Kopf zur Seite. „Ein Mädchen, ja… Blonde Haare, etwa 14 Jahre alt. Ja, die wurde vor ein paar Stunden von einem Militärtrupp gebracht.“ Der Mann tippte weiter und wieder richtete er seine Brille aus. „Ein Junge? Hm… Gestern kam einer herein aber der verstarb kurz nach der Untersuchung. Aber heute? Hm... Nein. Heute wurde nur das Mädchen gebracht, sonst niemand“

Han tippte immer schneller mit den Fingernägeln auf den Tresen. Der Mann wurde noch angespannter und richtete wieder die Brille auf der Nase aus. Nach einer weiteren Minute zuckte er mit den Schultern und resignierte.

„E-es tut mir leid. Aber von einem Jungen ist hier nichts vermerkt. Ich arbeite heute schon seit zehn Stunden und es ist hier einfach niemand vorbeigekommen. Ich schwöre es ihnen, ich sag die Wahrheit“

Han schnaufte grimmig. „Dann bring mich zu dem Mädchen“

„Äh… ja, selbstverständlich. Sie ist im Labor D-1. Die sind schon sehr lang mit ihr beschäftigt. Ich stelle ein blaues Leitlicht für sie ein“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schaute Han links an die Wand, wo ein blaues Licht hin und her pulsierte. Er ging darauf zu und es fing an, sich vorwärts an der Wand entlangzubewegen.

Ein paar Treppen und Gänge später entdeckte er die Tür auf der Labor D-1 stand. Im Gegensatz zum Rest des Gebäudes, sah dieser Trakt sehr neu aus. Kameras und Scanner waren gleichmäßig an den Wänden verteilt und schafften eine unheimlich beklemmende Atmosphäre. Die Tür war aus Metall und Glas. Sie öffnete sich automatisch, als Han sich ihr näherte und führte in eine weitere Dekontaminationskammer. Es begann das gleiche Prozedere wie bei der letzten Kammer, nur dass es etwas länger dauerte. Als er die Kammer verließ, stand auf einer Empore, auf der sich eine große Schalttafel befand. Weiter vorne in der Mitte des Raumes befand sich eine Liege auf der Milena festgebunden war. Über ihr war ein großes Gerät, aus dem ein leichtes Brummen dröhnte. Einer der Wissenschaftler drehte einen Regler auf.

„Okay. Versuchen wir die Entnahme mit den neuen Parametern” Er tippte eine paar Knöpfe und drehte an ein paar anderen Reglern. Daraufhin brummte das Gerät intensiver und Milena begann sich zu winden, als ob sie große Schmerzen hätte.

„Die Werte sind minimal. Ich weiß nicht, warum sie für so wertvoll gehalten wird, aber sie scheint keine Terra generierenden Zellen zu haben”, berichtete der Assistent.

„Irgendwas muss doch da sein”, sagte der Wissenschaftler nervös. „Ich passe die Parameter neu an und erhöhe die Stimulation” Wieder drehte der Wissenschaftler einen Regler auf. Han ging zu dem Pult, schubste den Wissenschaftler weg und drehte die Regler wieder runter. Das Brummen verstummte und Milena beruhigte sich etwas.

„Ich übernehme das Testsubjekt ab hier“, sagte er herrisch. „Diese Anlage ist dafür nicht geeignet“

„Was? Diese Anlage ist nagelneu und mit den feinsten Sensoren ausgestattet!“, fauchte ihn der Wissenschaftler an. Er drehte sich zu Han und wollte ihn gerade aus dem Labor prügeln, dann sah er in sein Gesicht und verstummte plötzlich.

„Ihr seid es? Ich hab sie noch nie in Person gesehen, deswegen bitte ich um Verzeihung, dass ich so unhöflich war, Herr Han” Han verschränkte die Arme und schaute dem Wissenschaftler fest in die Augen. „B-bitte vermerken sie das nicht in meiner Akte. Ich arbeite seit drei Tagen durch. Und vor ein paar Stunden haben die Soldaten dieses Mädchen gebracht. Die hatten Angst vor ihr. Sie haben nicht gesagt wieso, aber sie waren sich sicher, dass sie nicht normal ist. Wir haben sie die ganze Zeit getestet, aber es ist einfach nichts an ihr“ Der Wissenschaftler nah ein Klemmbrett vom Tisch und hielt es Han vors Gesicht.

„Das Subjekt ist mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die gesuchte Person. Sie hat keinerlei Ausbrüche oder Fluktuationen während der Behandlung gezeigt. Des Weiteren fehlen ihr die signifikanten Merkmale, nach denen wir Ausschau halten sollen“ Han drehte sich zum Pult und fuhr die Anlage herunter. Dann drehte er sich wieder zu dem Wissenschaftler.

„Heißt, dass ihr habt sie gefoltert? Sie versucht zu töten, ihr die Gliedmaßen ausgerissen?“ Hans Blut kochte. Der Wissenschaftler nickte angespannt.

„Ja, aber natürlich. Alles streng nach Vorschrift. Es ist wichtig das sie dabei bei Bewusstsein ist. Nur so können wir die entstehenden Knoten vergleichen. Doch es ergab sich einfach nichts. Die Regeneration hat nach kurzer Zeit schon nachgelassen und seit dem letzten Test lassen sich auch keinerlei energieströme und Knoten mehr messen“

„Dann war sie wohl nur eine Gespielin einer der Oberen, die sie dann irgendwo entsorgt haben. Der Effekt von Shezzars Blut kann sich auch geschlechtlich übertragen. Wenn auch nur schwach und zeitlich sehr begrenzt”, sagte Han kalt.

„Äh… ja, davon hab ich gehört. Jetzt wo sie es sagen, hatten wir schon Subjekte hier, die ähnliche Anzeichen hatten”, erklärte der Wissenschaftler. „Die Herrin hat dann immer befohlen sie zu entsorgen. So steht es seitdem auch im Protokoll. Ich werde das sofort in die Wege leiten. Aber sie hätten deswegen nicht extra herkommen brauchen”

„Nein!“, brüllte Han. „Das Protokoll wird geändert. Der Vorgang wird abgebrochen und sie wird in meine Obhut übergeben! Gebt dem Mädchen ihre Kleidung und sorgt dafür, dass sie selbst laufen kann. Um den Rest kümmere ich mich”

Der Wissenschaftler verzog angewidert seine Mine, versuchte es aber zurückzuhalten. Er verstand nicht, warum der Schoßhund von Herrin Isabelle persönlich ein so belangloses Labor besucht, nur um eine verbrauchte Liebessklavin eines Adeligen zu holen. Aber er wagte es nicht, das anzusprechen. Ein falsches Wort von Han zu Isabelle und er würde selbst in einer Folterkammer landen.

Ein paar Minuten Später brachten zwei andere Laborarbeiter Milena zum Eingangsbereich. Han stand mit dem Rücken zu ihnen. Milena zappelte und wehrte sich.

„Hier ist sie, wie sie es befohlen haben”, sagte der eine. Das Licht der Abendsonne schien an Hans Schulter vorbei, sodass man ihn kaum erkennen konnte.

„Nehmt ihr die Handschellen ab und dann verschwindet!“, sagte er.

„Die Handschellen? Aber sie ist sehr aggressiv!“, sagte der andere.

„Schnauze! Wenn du noch einmal meine Befehle in Frage stellst, mache ich dich zu einem der Testsubjekte!“, schrie er wütend. „Und jetzt verschwindet, verdammt nochmal!“ Die Männer gingen demütig in ihre Labors zurück. Milena rieb sich die schmerzenden Handgelenke und stürmte gleich darauf wütend auf Han los. Doch bevor sie ihn erreichte, drehte er sich um und sie erkannte ihn. Er streckte seine Arme aus und fing sie auf.

„Es tut mir leid, dass ich es nicht früher geschafft habe”, flüsterte er. Milena klammerte sich an ihn. Sie zitterte und atmete flach.

„Es tat so weh. Es war schrecklich” Han streichelte ihren Kopf.

„Jetzt ist es vorbei. Lass uns gehen”, sagte er tröstend. „Wir müssen Val finden. Weißt du wo er ist?“ Milena nickte.

„Sie haben ihn in die Kirche gebracht. Ich glaube, sie wollen ihn opfern”, sagte sie ängstlich. Han wurde nachdenklich. Er erinnerte sich, dass es ihm verboten wurde, dieses Gebäude zu betreten. Doch das war jetzt nicht mehr wichtig.

„Okay, gehen wir da hin”, sagte er und beide verließen das Gebäude. Die Kirche war etwa eine Stunde von der Fakultät entfernt.

Als sie ankamen, fanden sie alles Menschenleer. Neben dem Altar lag der Bewusstlose Priester. Han ging zu ihm, um zu schauen ob er noch lebt. Als er sich zu ihm herab kniete, überkam ihm plötzlich ein seltsamer Schmerz. Er schaute nach oben, an zwei Säulen links und rechts neben dem Altar entlang. Dort sah er zwei junge Mädchen, die mit einem Speer durch die Brust aufgespießt waren. Ihre Arme waren an zwei massiven Ketten hochgebunden und an einem großen Ring mit der Säule verbunden.

Ihr Blut floss an der Säule herab und wurde in einer zeremoniellen Schale gesammelt. Hans Entsetzen war grenzenlos. Doch viel schlimmer wurde es erst, als er sich an die Beiden erinnerte. Es war schon viele Jahre her, als Han die Zwillinge das letzte Mal gesehen hatte. Seine Erinnerungen waren aber zu kaputt, um sich an mehr als ihre Namen zu erinnern. Die Beiden wachten auf und schauten Han lächelnd ins Gesicht.

„Meister. Du bist wieder da. Wir haben auf dich gewartet”, sagte eines der Mädchen kraftlos. Milena lief zu ihnen.

„Wer sind die Beiden? Und wieso nennen sie dich Meister?“, fragte sie. Das andere Mädchen sprengte die Kette mit einem kräftigen ziehen, packte den Speer, der in ihrer Brust steckte und riss ihn mit einem starken hieb heraus. Sie fiel herab und hielt sich ihre schmerzende Wunde, doch sie verheilte in Sekunden und bald stand sie wieder auf. Glücklich fiel sie Han in die Arme.

„Wieso seid ihr nicht geflohen?“, fragte er traurig.

„Wenn du nicht in der Nähe bist, verlieren wir unsere Stärke. Wir konnten uns nicht gegen sie wehren”, sagte sie und rieb ihre Wange an seiner Brust. Das andere Mädchen befreite sich ebenfalls - wenn auch nicht ganz so elegant - von der Säule und stürzte mit dem Kopf voraus auf den harten Marmorboden. Sie stöhnte genervt und stand auf. Wackelig taumelte sie zu Han und schlang ihre Arme ebenfalls um seine Brust. Sie schob das andere Mädchen dabei von ihm weg. Die Beiden fingen an zu streiten und fauchten sich an. Han streichelte ihre Haare.

„Maria, Lili. Wie seid ihr bloß hierhergekommen?“, fragte er.

„Isabelle war das. Sie wollte uns als Mahnmal dafür, wie töricht es ist, sich Unsterblichkeit zu wünschen, nachdem sie dich nicht mehr brauchte. Aber wir wussten, dass du wieder zu uns findest. Spätestens nach Shezzars Rückkehr”, erklärte sie.

„Wer ist Shezzar?“, fragte Milena die sich langsam wie das dritte Rad am Wagen vorkam. Lili löste sich aus der Umarmung und setzte sich auf den Altar.

„Shezzar ist der Junge, den sie hier opfern wollten. Ironischer weise wieder mit seiner eigenen Waffe. Naja, sie wussten nicht, dass er es ist” Han dachte nach.

„Das muss Val gewesen sein”

„Ich weiß nicht, wen du meinst. Niemand hat Val zu ihm gesagt. Es war ein etwa 15 Jahre alter Junge, braunes Haar und mit seltsamen, weißen Sachen, die überall schnallen und Riemen hatten”, sagte Lili.

„Das war er. Wo ist er hin gegangen?“, fragte Milena.

„Ich weiß es nicht. Er hat die Kirche verlassen und ist wohl Richtung Stadt gelaufen” Maria löste sich ebenfalls von Han und ging mit ernster Miene und auf eine bedrohliche Art auf Milena zu. Sie schaute ihr tief in die Augen.

„Irgendwas ist mit dir. Ich weiß nur nicht genau, was”, murmelte sie und drehte sich zu Lili. „Komm, Schwester. Wir gehen ihn suchen, wenn es Han so wichtig ist. Doch vorher ...” Maria ging in das Zimmer des Priesters und kam nach kurzer Zeit mit zwei großen Japanischen Katanas wieder raus. Eins davon warf sie Lili zu.

„Frechheit! Er hat sie nicht mal gepflegt”, grummelte Lili als sie das Schwert aus der Scheide zog. Dann ging sie zu dem Priester, der immer noch bewusstlos auf dem Boden neben dem Altar lag und trat ihm so lange ins Gesicht, bis er aufwachte. Sie packte ihn und richtete ihn auf, sodass er vor ihr kniete. Dann legte sie die Klinge, mit der Schneide auf seinen Hals gerichtet, auf seine Schulter.

„Warte noch!“, rief Maria und ging zu ihr. Sie zog ihr Schwert ebenfalls aus der Scheide und richtete die Spitze der Klinge auf seinen Unterleib. „Siebzehn Jahre Folter und Vergewaltigung. Du kannst froh sein, dass du sterben wirst” Sie schaute ihn angewidert an und rammte das ihm das Schwert zwischen die Beine.

Der Mann schrie entsetzlich und Lili schlug ihm mit der stumpfen Seite der Klinge ins Gesicht. Sie schnaufte entspannt. Maria wischte noch das Blut am Gewand des Priesters von der Klinge. Milena hatte das Gebäude verlassen als sie begriff, was die beiden mit dem Mann vorhatten. Sie billigte ihre Rachegelüste, doch dabei zusehen wollte sie nicht. Han ging zum Ausgang.

„Wir müssen Val finden. Lasst uns gehen”, rief er in die Kirche hinein.

Milena erwartete sie bereits auf dem großen Platz. Sie zeigte mit dem Finger auf die Scharte im Boden. Etwas weiter links davon war ein etwa ein Meter tiefes Loch, das aussah als wurde es von unten aufgesprengt.

Sie liefen ein Stück weiter, dann fing Hans Armreif an zu piepsen. Er streifte seinen Ärmel nach hinten und las eine Nachricht:

Vollständige Reaktivierung Aletrias eingeleitet. Astrale Signatur von Shezzar bestätigt. Barrieren werden gelöst.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Han. Wieder erschien eine Nachricht auf dem Armreif:

Alexander, melden sie sich bitte umgehend im Hauptturm. Dieser Name löste in ihm ein sonderbares, nostalgisches Gefühl aus. Es dauerte nicht lang, da landete ein großes, weiß schimmerndes Fluggerät vor ihnen. Han erkannte, dass es keines von denen ist, die er entwickelt hat. Er erkannte das Gleiche verschnörkelte A wieder, das auch auf seinem Armreif eingraviert ist.

Das Schiff hatte keine Flügel, dafür sehr elegante und weiche Linien. Es war schneeweiß, matt und anmutig. Das letzte Licht der Abenddämmerung ließ die rechte Flanke des Schiffs in einem feurigem Orange glühen und funkeln, als käme es direkt aus der Unterwelt. Etwas zögerlich ging er darauf zu. Lili hielt ihn am Arm fest. „Geh da nicht rein. Das ist sicher eine Falle” Sagte sie ängstlich. Han schüttelte den Kopf.

„Das glaub ich nicht” Er begann zu flüstern. „Alexander. Wieder dieser alte Name. Wieso erschüttert das meinen Verstand so sehr?“, murmelte er vor sich hin und betrat das Schiff. Etwas zaghaft folgten ihm die anderen. Alle setzten sich und schnallten sich an. Das Schiff startete sanft und eine Durchsage erklang.

Reiseziel: Aletria, Flughafen. Bitte vergewissern sie sich, dass alle mitreisenden eine Autorisierung bekommen. Das Schiff hatte keine Fenster. Die Umgebung wird auf die Innenwände projiziert und über einen Restlichtverstärker konnte man auch nachts noch alles gut sehen. Alle schauten nach draußen und staunten über den Anblick, der sich unter ihnen bot. Während das Schiff langsam empor stieg, wurde die Riesige Stadt unter ihnen immer kleiner.

Als sie den Stadtrand überflogen wurde der Anblick sehr bizarr: Alles was nicht bebaut wurde, holte sich die Natur gnadenlos zurück. Ein dichter und großer Wald begann genau da, wo Marista aufhörte. Milena fielen sofort die noch immer brennenden Ruinen ihres Dorfes auf. In ihrem Inneren brodelte ein Kampf zwischen ihrem Durst nach Rache und der Schuld am Tod dieser Menschen. Das Gefühl der Rache obsiegte. Ihr Blut kochte vor Genugtuung und ihr Gemüt schwappte in eine bösartige Heiterkeit um.

Das Schiff begann immer schneller zu werden. Die Landschaft unter ihnen fing an zu verschwimmen und es war kaum noch was zu erkennen. Es flog sehr schnell, aber trotzdem schien der Wald kein Ende zu nehmen. Es war sehr verwirrend, da es eine scheinbar unglaubliche Geschwindigkeit hatte, man aber nur sehr schwache Beschleunigungskräfte verspürte.

Ein paar Minuten später wurde es wieder langsamer. Der Wald unter ihnen wurde etwas lichter. Weit vor sich sahen sie schon ein riesiges Gebäude, das weit in den Himmel ragte. Umgeben von vielen, etwas kleineren aber immer noch sehr großen Gebäuden. Eine Stadt, die silbrig weiß schimmernd aus dem Wald ragte: umgeben von einer Mauer, die höher war als die höchsten Bäume des Waldes. Hinter der Mauer erstreckte sich eine romantische Landschaft mit kleinen Waldstücken, Seen, Auen und vereinzelt ein paar Straßen und kleinen Gebäuden.

Während sie weiter Richtung Zentrum flogen, fing die Stadt an, immer weiter in die Höhe zu wachsen. Bis sie schließlich an einem riesigen Turm vorbei flogen, der, genau wie in Marista, das Zentrum der Stadt darstellte. Das Schiff landete selbständig auf einem kleinen Flugfeld in der Nähe des Turms. Es setzte auf und die Antriebe verstummten langsam. Die Projektionen wurden abgeschaltet und ein paar Lichter gingen an, die den Weg zum Ausgang wiesen. Wieder ertönte eine weiche, weibliche Computerstimme:

Willkommen in Aletria. Alexander, melden sie sich bitte umgehend im Hauptturm. Die Autorisierung ihrer Gäste läuft in 30 Minuten ab. Bitte registrieren sie sie umgehend.

Alle verließen das Schiff und schauten sich beeindruckt die Stadt an.

„Ich glaube wir sollten in den Turm gehen”, sagte Han, der demütig nach oben schaute. Im Zwielicht konnte man dessen Ende kaum sehen. Er war höher als alles, was sie je gesehen hatten.

 

Kapitel 6

Die Geister der alten Welt

Einige Stunden vorher landeten Val und Ajuki direkt auf dem Hauptturm. Sofort lief sie zu einem der Bedienkonsolen. Vollkommen überfordert tippte sie ziellos auf allem herum.

„Okay, Ajuki”, flüsterte sie angespannt. „Jetzt alles streng nach Protokoll” Sie nahm ihren Armreif und legte ihn auf die Konsole. Sofort fing das Gerät an, damit zu harmonisieren und nach einigen Minuten hörte es wieder auf. Sie legte sich den Armreif um das linke Handgelenk und schaute eine Weile starr in den Raum.

Val lief wie hypnotisiert umher und schaute sich alles fasziniert an. Der Turm war so hoch, dass er kleinere Wolken fast auf Augenhöhe vorbeischweben sah. Ebenso spürte er, wie das Gebäude sich dem Wind hingab und sich sanft bewegte. Die Kanzel des Turms, die sich als ein Ring um die vier Stützen schlang, war so schwer, dass sie von Partikelkanonen gestützt wurde, die einen stetigen Strom an geladenen Teilchen auf ein gegenpoliges Magnetfeld schießen. Wie ein Wasserstrahl auf dem ein Teller balanciert wird.

Ajuki zog ein weiteres Gerät aus der Robe und befestigte es an ihrem Armreif. „Okay, so müsste das doch funktionieren mit der Datenübertragung. Gleich ist es fertig”, murmelte sie. Wieder vergingen ein paar Minuten, dann schaute Ajuki auf und drehte sich um. Val stand schon eine Weile da und starrte ausdruckslos in ihre Richtung.

Wiederherstellung der Basisprozedere. War eine Meldung, die ihm direkt ins Blickfeld projiziert wurde. Am Armreif gingen ein paar Lämpchen auf und Val begann wie besessen mit den Pupillen zu zucken. Er sah plötzlich schemenhaft einen kleinen Jungen vor sich herlaufen, der von einem Kontrollpult zum anderen ging.

„Bellami?“ murmelte Val. Er versuchte ihn zu packen aber in dem Moment war der Spuk vorbei. Ajuki drehte sich zu ihm um.

„Was ist mit dir?“, fragte sie besorgt. Val schaute ihr tief in die Augen. „Wo sind wir? Was machst du da? Wo ist Milena?“ Ajuki warf ihm einen finsteren Blick entgegen und schüttelte enttäuscht den Kopf.

„Schon wieder dieser Name. Es bringt wohl nichts. Es ist einfach so erbärmlich zu sehen, was aus dir geworden ist. Du bist nutzlos, genau wie dieses Ding” Sie kramte ihr kleines, elektronisches Gerät aus der Tasche, drückte zwei Mal auf den Bildschirm und warf es Val vor die Füße. Ihn durchzog plötzlich eine extreme Traurigkeit, verbunden mit Angst und Verzweiflung. Er sackte zu Boden und vergrub den Kopf in seinen Armen.

Ajuki verließ den Hauptturm. Ein paar Minuten später startete ein Flieger aus einem der Hangars und verschwand im Himmel. Val quälte sich und hielt seinen Kopf fest. Er schloss die Augen und fühlte grenzenlose Traurigkeit. Es lähmte ihn förmlich und er fand keinen Ausweg. Vor seinen Augen erschien plötzlich ein seltsam gekleideter junger Mann. Er war sehr dünn, trotzdem muskulös, hatte eine enge Lederjacke und weite, schwarze Hosen an. Sein Blick war kalt und ein bisschen herablassend. Val raffte sich mühsam auf und sah ihn an.

„Wer bist du?“ fragte er leise und schüchtern. Der Mann trat ein Stück an ihn heran und schaute musternd über ihn hinweg. Er fing an laut zu lachen. Seine Eckzähne waren sehr spitz und seine Schneidezähne hatten kleine, scharfe zacken. Er packte Val am Kragen und hob ihn hoch.

„Du hast dich verändert. Aber genau das wolltest du, nicht wahr? Vergessen. Noch einmal von vorn anfangen. Alles mit anderen Augen sehen”, sagte er mit kalter Stimme, „Deine Welt ist nicht besser geworden. Dein Leben auch nicht. Noch immer verdirbt Angst und Verzweiflung deinen Verstand. Ich kann es nicht ertragen, wenn ihr leidet” Val schaute ihm tief in die Augen.

„Wen meinst du mit ihr? Wer noch?“ Er ließ langsam von Val ab.

 „Ich möchte dir etwas zeigen” Er hob die Hand und schnippte mit den Fingern. Plötzlich waren die beiden in einem niedlich eingerichtetem Kinderzimmer. Es war nicht sonderlich groß, aber sehr gemütlich. Val saß auf einem kleinen Bett, mit einer sehr dicken Federbettdecke auf dem wieder dieses große, verschnörkelte A aufgestickt war. Gegenüber stand ein Schreibtisch, auf dem große Unordnung war. Spielsachen lagen überall verteilt, Zettel mit Kritzeleien lagen auf dem Boden und auf den Möbeln. Rechts war ein großes Fenster, das immer einen Spalt offen war.

Wie aus einem hohen Turm konnte man dahinter eine wunderschöne, weitläufige Landschaft sehen. Kleine Seen, Wälder und satt grüne Wiesen. Die Vorhänge schwankten sanft in einer Warmen Briese, die durch das Zimmer zog. Links von Bett war eine Holztür. Sie war immer verschlossen und keiner, außer Bellami, wusste wohin sie führte.

„Ich hab mal von diesem Ort geträumt”, stotterte er.

„Ja, das mag sein”, sagte der Mann. „Dies ist ein Ort, an dem ihr eure Gedanken geteilt habt. Er ist fernab von Realität, Zeit und Raum” Val ging zum Schreibtisch und fand ein paar Kritzeleien. Auf einer standen 3 Namen und darunter waren Bilder. Bellami, Shezzar und Zeraph. Einen erkannte er sofort.

„Du … du bist Zeraph. Dann muss er Bellami gewesen sein” Er zeigte auf das Bild eines kleinen Jungen, der breit grinsend zwischen den Beiden stand. „Ich hab ihn auch mal in einem Traum gesehen. Doch wer ist Shezzar?“

„Es bleibt ja nur noch einer übrig. Oder warum glaubst du, hab ich dich hierhergebracht?“

Val schüttelte den Kopf. „Das war ich? Aber die Person ist viel älter als ich” Zeraph nahm das Bild und schaute darauf.

„Es ist auch schon eine Weile her. Ich weiß noch, wie du damals die Welt auf den Kopf gestellt hast. Das war eine Woche …“, sagte er etwas zynisch und lachte. „Sie nannten sie den großen Krieg. Das war wunderschön. Ich konnte fühlen, wie sich der ganze Schmerz dieser Welt Stück für Stück auflöste. Doch es brachte Bellami nicht zurück” An der Wand über dem Schreibtisch hing Vals Schwert. Beide schauten es sich eine Weile still an.

„Was ist mit Bellami passiert?“, fragte Val traurig.

„Das weiß ich bis heute nicht. Das Letzte, was wir von ihm gehört haben war, dass er für ein paar Tage die Stadt verlässt. Aber er ist nie zurückgekehrt” Zeraph setzte sich auf das Bett. „Wir haben urplötzlich jede Spur von ihm verloren. Du hast überall nach ihm gesucht. Jedes Mal, wenn du erfolglos zurückgekehrt bist, wurdest du trauriger und wütender. Irgendwann hast du beschlossen zu glauben, dass die Menschen es geschafft haben, ihn zu töten. Sie haben ihn sowieso gehasst, da er seine schöne, kleine Welt nur mit wenigen geteilt hat” Zeraph hielt kurz inne.

„Was ist dann passiert?“, fragte Val neugierig. Zeraph musste schmunzeln.

„Du hast sie vernichtet” Er schaute aus dem Fenster. „Interessanterweise warst du sehr behutsam” Val schaute ihn nur fragend an. Zeraph fuhr fort. „Du hast bewusst nicht alle getötet und den Planeten weitestgehend verschont” Val schüttelte den Kopf und schwieg.

„Du hast es doch vorhin selbst erlebt. Diese Kraft, die du freisetzen kannst. Sie ist die Essenz von allem, was lebt. Leben und Tod – Terra”, sagte Zeraph laut und kraftvoll. Das Bild vom Kinderzimmer verblasste und der Kontrollraum tauchte im Hintergrund wieder auf. Vals Armreif reagierte und ein elektromagnetischer Impuls zerstörte das Gerät, das Ajuki auf den Boden geworfen hat.

Val stand auf und kratzte sich am Kopf. Zeraph stand neben ihm. Er hatte eine furchteinflößende Ausstrahlung. Sein Gesicht war fahlbleich und winzig kleine, rote Äderchen schimmerten unter seiner Haut hervor. Seine Haare waren pechschwarz und zu einer spitzen Igelfrisur hergerichtet. Seine Augen schimmerten blutrot und in seiner Iris waren winzige, schwarze Symbole.

„Interessant” murmelte er. „Dieses Ding hat sich deiner Gefühle bemächtigt. Das Sicherheitssystem hat es zerstört” Val schaute ein wenig verwirrt und sein Kopf taumelte. Zeraph stellte sich vor ihn und schaute ihm tief in die Augen. Er grinste und packte ihn an den Schultern. Trotz Zeraphs furchteinflößender gestallt fühlte Val sich ihm sehr verbunden. Es war, als könne er die Gefühle des seltsamen, ihm vollkommen unbekannten Mannes spüren. Sie waren durchwachsen von Einsamkeit, Zorn aber auch Freude und Liebe zugleich. Aber was ihm am meisten Beeindruckte, war eine tiefe Aufrichtigkeit. Was Zeraph sagte, war die Wahrheit, dass wusste Val genau, auch wenn er nicht wusste, wieso. Was er zu diesem Zeitpunkt auch niemals hätte begreifen können.

„Du fühlst es, hab ich recht? Das Gerät ist es nicht, das ist kaputt. Dein Kopfweh kommt von hier”, sagte Zeraph mit einer sanften, aber beängstigenden Stimme und tippte mit dem Finger auf Vals Brust. „Es ist dein Herz” In dem Moment drang ein helles, rotes Licht durch seine Haut.

„W-w-was ist das?“, stotterte Val. Zeraph nahm seine Hand wieder weg.

„Kannst du dich nicht mehr erinnern? Es ist nicht lang her, da habe ich dich in meiner echten Gestalt besucht”, er schwieg kurz und ließ Val darüber nachdenken.

„Du … du warst das? Das war doch nur ein Traum, oder?“ Val erinnerte sich an ein seltsames Ereignis, vor ein paar Monaten.

 

Kapitel 7

Das Herz aus einem Traum

Die Sommerzeit in Marista ist eine sehr unangenehme Zeit. In der Stadt ist es immer sehr warm und schwül, was den Gestank im Viertel nur noch schlimmer machte. Selbst nachts hält sich diese unangenehme Temperatur. Val hatte so schon Probleme abends zur Ruhe zu kommen aber im Sommer war das manchmal fast unmöglich. Wenn er nicht schlafen konnte, ging er immer spazieren. Und einmal fand er einen Ort, an dem er sich auf eine seltsame Art und Weise sehr wohl fühlte.

Es war der Sportplatz einer schon längst verlassenen Schule. Das Schulgebäude war marode und teilweise eingestürzt. Nachts war es stockdunkel, da das ganze Viertel, in dem sich die Schule befand, fast vollkommen verlassen war. Die Finsternis tat ihm gut. Sonst ist die Stadt fast überall voll ausgeleuchtet und es ist immer taghell. Außerdem war es dort auch etwas kühler. Die Gebäude in dem Viertel waren wesentlich kleiner und nahmen tagsüber viel weniger Wärme auf.

Er legte sich am liebsten in das überwucherte Baseballfeld und schaute in die Sterne. Er stellte sich vor, wie er hier zu Schule gehen könnte und mit seinen Freunden lernen und spielen würde. Und auch wenn er genau wusste, dass es nie dazu kommen würde, fühlte er sich frei und behaglich in dem Gedanken. Die Dunkelheit und die Stille waren wie ein Tor zu seinen tiefsten Gefühlen. Doch an diesem Abend hielt die Stille nicht an. Val fühlte sich beobachtet und er hörte von irgendwo ein leises Schnaufen.

Er richtete sich auf und schaute sich um: Nirgends war etwas zu sehen, und trotzdem war da etwas. Das Schnaufen wurde lauter und bedrohlicher. Val zitterte und ihm standen die Haare zu Berge. Es schien sich auf ihn zu zubewegen und er war so überwältigt davon, dass es ihm nicht gelang aufzustehen. Das Gras fing an leise zu rascheln. Ängstlich streckte er seinen Kopf über das Gras, doch er sah nichts. Es war zu dunkel. Das Schnaufen wurde immer lauter und dann kam noch ein donnerndes Stampfen dazu, das sich auf ihn zu bewegte.

Es war in Wirklichkeit nicht lauter als das Tapsen von Katzenpfoten, aber Vals Sinne waren gerade so scharf, dass er es als unerträglich lautes poltern vernahm. Er versuchte rückwärts weg zu kriechen, doch er war nicht schnell genug. Dann wurde das Schnaufen so laut, dass es unmittelbar vor ihm sein musste. Jetzt fühlte er auch einen warmen Lufthauch, der an seinem Kopf vorbei wehte, immer wenn er das Schnaufen hörte. Eine unglaublich intensive, riesige Präsenz hatte sich vor ihm aufgebäumt. Es war nur wenige Zentimeter vor ihm. Sehen konnte er es nicht.

Es war so schwarz, dass es selbst das helle Mondlicht vollkommen verzehrte. Val lag auf dem Boden und schaute in den Himmel. Gelähmt vor Angst sah er, wie die Sterne über ihm verschwanden. Die Präsenz war so stark, dass sie sogar seine Gedanken zu verschlingen schien. Sie war furchteinflößend, mächtig, kraftvoll und selbstbewusst. Dem Antlitz Gottes höchstpersönlich gegenüber zu stehen, hätte ihn mit Sicherheit nicht annähernd so beeindruckt und Val konnte nicht einmal sehen, was sich da vor ihm auftat. Er hatte unsagbare Angst, doch irgendwas in seinem Kopf sagte ihm, dass er nicht weglaufen soll.

Dann erschienen über ihm zwei riesige, blutrot leuchtende Augen. Sie leuchteten hell genug, dass sich ein paar Umrisse eines gewaltigen Kopfes und eines riesigen Mauls abzeichneten. Das Maul war so groß, dass es locker einen Schulbus mit einem kleinen Happs verschlingen konnte. Die Kreatur richtete sich über ihm auf und öffnete sein Maul. Seine Zähne waren dick wie Eichenstämme, scharf wie Schwerter und spitz wie Dolche. Blutrote Flammen stiegen an ihnen empor. Tief im Rachen der Kreatur flackerte ein Rotes Licht, das immer heller wurde. Kleine Wellen aus purpurnen Flammen rollten über die riesige Zunge. Brennender Speichel tropfte an den Zähnen herab und verfehlte Vals Kopf nur um Millimeter.

Die Flammen in seinem Rachen wurden immer heller und stiegen immer höher und plötzlich ergoss sich ein Schwall aus roten Flammen auf ihn und verbrannten alles um ihn herum in wenigen Sekunden. Doch Val fühlte keinen Schmerz. Selbst als die Kleidung auf seiner Haut verbrannte. Er hielt sich die Hand vor das Gesicht und sah wie die Flammen seine Haut durchdrangen, ohne ihn zu verletzen. Alles um ihn herum verbrannte vollständig. Selbst der Beton des Schulgebäudes schmolz in wenigen Sekunden und verdampfte. Doch Val fühlte sich wie unter einer Dusche aus purer Lebensenergie.

Er schaute an sich herab und sah sein eigenes Herz, wie es unter seiner Brust schlug. Er beobachtete wie sich langsam ein Symbol darauf aufzeichnet, das noch heller leuchtet als die Flammen. Plötzlich war alles vorbei. Die Flammen erloschen, Mond und Sterne waren wieder an ihren vertrauten Plätzen. Die Finsternis war wieder in ihrer gewohnten, nächtlichen Form und es gab kein Anzeichen mehr von dieser unfassbaren Kreatur. Val stand auf und schaute sich um. Um ihn herum war alles verbrannt. Der verdampfte Boden hatte ein drei Meter tiefes Loch hinterlassen aus dem Val mühevoll heraus kletterte. In dem verfallenen Schulgebäude klaffte ebenfalls ein riesiges Loch, das noch von einem glühenden Rand umgeben war.

Wieder schaute er auf seine Brust. Das Symbol leuchtete immer noch so hell, dass er sein Herz sehen konnte. Voller Angst rannte er so schnell er konnte davon, doch weit kam er nicht. Das Symbol erlosch und Val fiel in Ohnmacht.

Als er wieder aufwachte, lag er in einem Bett im Waisenhaus. Er schaute sich um und sah Momo, der auf einem Stuhl saß und mit dem Kopf auf Vals Bett eingeschlafen war. Val schaute Momo nachdenklich an. Er richtete sich auf und schaute aus dem Fenster. Es war etwa sechs Uhr morgens und die Sonne ging gerade auf. Nachdenklich schaute er nach draußen.

Was war das nur? War das ein Traum? Sowas kann doch nicht passieren … oder? Dachte er sich. Langsam wurde Momo wach und öffnete zaghaft die Augen.

„Val! Endlich bist du wieder wach”, rief er begeistert” Wir dachten schon, du wachst nie wieder auf”, sagte er mit tränenden Augen. Val schaute ihn verwirrt an.

„Aber ich hab doch nur ein paar Stunden geschlafen” Murmelte er. Momo schüttelte den Kopf. „Nein, es waren drei Tage. Wir haben dich in einer Gasse gefunden als du eines Nachts nicht wiedergekommen bist”

„Ich war … an einem geheimen Ort” Momo lächelte breit übers ganze Gesicht. Es berührte Val tief, dass Momo sich solche Sorgen um ihn machte.

„Das wusste ich”, antwortete Momo altklug. „Da gehst du immer hin, wenn du nicht schlafen kannst. Dort wollten wir dich auch als erstes suchen aber das ganze Gebiet der alten Uni war komplett abgesperrt” Val war entsetzt.

„Du kennst diesen Ort? Wieso hast du nichts gesagt?“ Momo lächelte.

„Ich kenn dich lange genug, um zu wissen, dass du hin und wieder mal ein bisschen für dich sein musst. Deswegen hab ich dich nie gestört. Ich wusste ja, dass du dort bist, also hab ich mir auch keine Sorgen gemacht. Du bist ja immer am nächsten Morgen zurückgekommen” Er machte eine Pause und seine Miene wurde traurig. „Doch diesmal nicht” Fuhr er fort. „Wir haben dich überall gesucht. Ryu fand dich bewusstlos in einer Gasse zwischen Mülltonnen. Du warst völlig nackt und blass. Wir dachten du bist tot”

„Es war alles so seltsam. Da war diese riesige Kreatur. Größer als ein Haus und diese blutroten Flammen. Mein Herz!“ Val riss sich das Hemd vom Leib und schaute auf seine Brust. Doch da war nichts. Momo tätschelte ihm den Kopf und lächelte.

„Du hast drei Tage geschlafen. Das hast du sicher nur geträumt. Ich hab dich auch schon ewig nichts mehr Essen sehen” Val nickte zustimmend. Es war ja auch plausibel. Immerhin ist es gar nicht möglich, dass Lebewesen so eine Größe erreichen können. Schon gar nicht, ohne je bemerkt zu werden. Alles wies auf einen verrückten Traum hin und jeder Gedanke, es könnte tatsächlich passiert sein, war einfach absurd. Aber trotzdem fühlte er etwas, was vorher noch nicht da gewesen zu sein schien. Eine ganz neue Sicht auf die Welt. Als er Momo in die Augen sah, verstand er seine tiefsten Gefühle. Der Grund, warum er so überfürsorglich war und immer das Verlangen hatte, alle Probleme lösen zu müssen. Bisher dachte Val Momo zu kennen. Immerhin lebten sie schon seit Jahren zusammen. Aber erst jetzt sah er die Dinge, wie sie wirklich waren. Ab dem Tag nahm Val die ganze Welt anders wahr.

 

Fasziniert beobachtete Zeraph Val, der die ganze Zeit auf dem Boden hockte und nachdenklich an die Decke starrte. Es war ihm klar, dass Val gerade seine Erinnerungen reflektierte, aber Zeraph wüsste nur zu gern, was genau Val jetzt denkt.

„Das war also kein Traum damals. Es ist wirklich passiert”, platzte Val unverhofft aus sich heraus. „Und das war auch der Grund, weswegen sie das Gebiet abgesperrt hatten. Du hast mir das angetan” Zeraph wurde wütend und seine Augen fingen an rot zu glühen.

„Angetan?“, brüllte er und tänzelte Armewedelnd vor Val herum. „Was glaubst du eigentlich, was du von mir bekommen hast? Ich habe lediglich dein Verlangen gestillt die Welt zu verstehen, indem ich dir das größte Geschenk gemacht habe, das ein Mensch - Nein, selbst ein Gott, je bekommen könnte” Val schreckte ein wenig zurück und schüttelte den Kopf.

„Was ist das?“ Zeraph beruhigte sich wieder und schaute ihn konzentriert an.

„Das Herz der Drachen ist eine Verbindung zwischen mir, dir und allen anderen die es haben. Wir Drachen haben es von Geburt an und können es an jeden weitergeben. Es offenbart jedem eine unglaubliche Quelle von Wissen und Erfahrung, die einen Menschen aber sehr schnell überfordern kann” Val schaute eingeschüchtert und nachdenklich auf den Boden.

Daher kommen also meine Kopfschmerzen. Was hat er gesagt? Drachen? Dachte er. „Wen meintest du noch? Du hast doch euch gesagt”

„Bellami” Zeraphs Stimme wurde weicher. „Es war wie eine Erfüllung für ihn. Er hat das hier alles mit dem Wissen der Drachen erschaffen. Seine Neugier und sein Enthusiasmus waren atemberaubend” Er setzte sich zu Val auf den Boden.

„Also hat Bellami diese Stadt hier gebaut?“, fragte Val zurückhaltend. Zeraph nickte.

„Ähnlich wie du, besitzt er eine starke Kraft”

„Meinst du wieder dieses Terra?“

„Nein, es unterscheidet sich von deiner. Seine Kraft zog er aus dem Sein selbst”

Val zuckte mit den Schultern. „Dem Sein selbst? Das kann doch unmöglich eine Macht sein. Ist das nicht außerdem das gleiche?“

Zeraph lachte. „Nein. Das Leben und das Sein sind voneinander unabhängig. Du kannst Leben, ohne zu sein und du kannst Sein, ohne zu leben. Du musst das nicht verstehen. Einfach gesagt, ist es die Kraft aus den Gedanken, den Informationen und der Wahrnehmung. Die Macht des Geistes – Astra” Val drehte seinen Kopf zum Fenster und schaute fasziniert nach draußen.

„Sie ist so riesig” Zeraph lächelte.

„Han hast du ja bereits kennengelernt, oder?“ Val nickte.

„Woher weißt du das?“

„Ich bin immer in deiner Nähe. Seit dem Tag, an dem du wieder in dieser Welt bist, passe ich auf dich auf”, sagte Zeraph auf beängstigende Weise.

„Seitdem ich hier bin? Du meinst seitdem ich geboren bin? Dann kennst du ja all meine Geheimnisse” Val stieg eine kolossale Schamesröte ins Gesicht. Zeraphs lachen hallte laut durch den ganzen Turm.

„Keine Angst. Deine Privaten Momente und deine Geheimnisse gehören dir ganz allein” Val schluckte tief und sein Herzschlag beruhigte sich langsam wieder.

„Weißt du dann auch, was mit meinen Eltern passiert ist?“

Zeraph lachte wieder. „Eltern? Hast du etwa Erinnerungen an irgendwelche Eltern?“

Val schüttelte den Kopf.

„Dafür gibt es einen einfachen Grund – Sie existieren nicht”, sagte Zeraph etwas gehässig.

„Das ist doch gar nicht möglich”, stotterte Val.

„Willst du mich verarschen?“ Brüllte Zeraph, stand auf und schmiss die Arme in die Luft. „Vor ein paar Stunden bist du durch die Stadt gezogen und hast hunderte Soldaten mit einem Fingerschnippen getötet, Kampfpanzer zerstört und ein tonnenschweres Schwert durch die Luft wirbeln lassen. Also hör auf dir einzureden du wüsstest was möglich ist und was nicht”

„Wo komme ich dann her?“, fragte er zutiefst eingeschüchtert.

„Du warst mal irgendein Kerl aus der alten Welt. Vor was-weiß-ich-wie-viel Jahren hattest du wahrscheinlich mal sowas wie Eltern. Aber das war die Zeit, bevor du Shezzar warst. Du hast uns nie davon erzählt. Es war auch niemandem wichtig” Val dachte nach. Er ging tief in sich und stellte fest, dass er sich eigentlich nicht wirklich dafür interessierte, wo er herkommt und wer seine Eltern waren. Die einzigen Menschen, die ihm etwas bedeuten sind Momo und Ryu. Und ... Milena.

Er lief im Kontrollraum herum und schaute sich die Bedientafeln an. An einem blieb er stehen und legte seine linke Hand darauf. Auf der glatten, schwarzen Oberfläche des Pults leuchteten plötzlich dutzende kleiner Grafiken und Tasten auf. Sein Armreif reagierte auch und zeigte auf dem Display das Wort Nicht synchronisiert in einer seltsamen Schrift an. Dass er diese Schrift lesen konnte, ohne sie je vorher gesehen zu haben, bemerkte er nicht einmal. Auch die Tasten und Grafiken waren auf diese Weise geschrieben.

„Kannst du mir sagen, wie man das hier benutzt?“, fragte er murmelnd. Doch niemand antwortete. „Zeraph?“, rief er mit etwas lauterer Stimme und schaute sich dabei um. Er war nirgends zu sehen. Val dachte sich nichts dabei. Er war ihm sowieso nicht sonderlich sympathisch. Er tippte weiter auf den Tasten herum und versuchte etwas über die Stadt herauszufinden. Doch das war alles zu kompliziert. Außerdem kam die ganze Zeit eine Meldung, die ihm den Zugang zu den meisten Systemen untersagte. Die Meldung lautete:

Bitte zuerst Synchronisation durchführen. Leider wusste Val nicht, was er tun sollte, um dieser Bitte nachzukommen. Doch dann bemerkte er, dass auf dem Display seines Armreifs ebenfalls eine Meldung erschien.

Anfrage für Synchronisation vom Leitsystem erhalten: Möchten sie die Synchronisation starten? Etwas skeptisch schaute Val auf das Display und las die Meldung wieder und wieder. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und drückte auf JA. Sofort verschwamm seine Wahrnehmung. Er konnte noch fühlen wie er vor dem Pult steht aber sehen konnte er fast nichts mehr. Alles war so als wäre es unwichtig und in den Hintergrund gerückt. Dann erschienen vor seinen Augen ein paar normale Gegenstände: Eine Birke, ein Stuhl, Ein Schrank, dann eine Fichte, ein Löwe, eine Katze, ein Adler und ein paar weitere übliche Dinge, die er alle schon mal irgendwo gesehen hat. Unterbewusst ordnete er diese Bilder bestimmten Gruppen zu. Genau wie es jeder Mensch automatisch macht.

Die Birke und die Eiche waren Bäume, der Stuhl und der Schrank waren Möbel und so weiter. Aber er hatte keine Ahnung was das für einen Sinn haben sollte. Dann erschienen Bilder aus seinen Erinnerungen. Ein Bild von Momo, das sehr brüchig und verschwommen war. Aber je länger er darauf blickte desto schärfer und detailreicher wurde es. Dies wiederholte sich ein paar Mal mit verschiedenen Erinnerungen, bis ein Bild von Milena erschien. Es war von Anfang an scharf. Ihn überfluteten heftige Emotionen und er fühlte sich wie durch den Wolf gedreht. Schuldgefühle, Angst und Sorge. In der ganzen Aufregung hatte er sie fast vergessen. Und dass sie immer noch in Gefahr sein könnte. Wieder kam eine Meldung vom System.

Synchronisation abgeschlossen. Er erlangte sein volles Bewusstsein zurück und fand sich wieder vor dem Pult im Hauptturm. Es hatte sich nichts geändert. Doch das war ihm jetzt egal. Val wollte unbedingt wieder zurück zu ihr. Er fragte sich, was es für ein Labor in Marista gewesen sein könnte, in das sie Milena verschleppt haben. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, erschien vor seinen Augen eine Übersichtskarte von Marista auf der 3 Markierungen waren, die Orte zeigten, wo er sie vielleicht finden könnte.

Er sah die Karte vor sich und konnte sie hin und her schieben, vergrößern und verkleinern, Details ein- und ausblenden. Und das alles mit seinen Gedanken. Das war die großartige Technologie dieser Stadt. Man kann jederzeit mit dem System interagieren, indem man seine Gedanken und Wünsche darauf ausrichtet. Val hatte Zugriff auf alles. In einem Hangar ließ er einen Flieger startklar machen, während er weiter die Karte absuchte.

Er schickte eine kleine Drohne los, die Marista von oben überwachen soll. Kurz bevor er gehen wollte, entdeckte er auf den Bildern der Drohne etwas Furchteinflößendes. Es gab einen ganzen Stadtteil, der frei gemacht wurde, um das gewaltige Heer Maristas auf einen Angriff vorzubereiten. Das System markierte die Streitkräfte und analysierte sie.

Relevante Streitmacht lokalisiert. Potenzial einer möglichen Bedrohung: 2%. Verteidigungssysteme Anpassen? Val nickte nur schweigend. Wirkungsdaten feindlicher Technologie werden analysiert. Kategorie 0. Projektilwaffen, Explosionswaffen, Kernwaffen. Anpassung läuft… Potenzial einer möglichen Bedrohung jetzt: 0,0% Val lief zum Aufzug und fuhr hinab zum Terminal eines kleinen Raumhafens. In der Dunkelheit der Abenddämmerung sah er nicht, dass sich ein Passagierflugzeug näherte. Es waren Han, Milena und die Zwillinge. Doch Val war zu beschäftigt um sich darum zu kümmern. Das Terminal war unterirdisch, was ihm ein wenig suspekt vorkam, da er ja fliegen wollte.

Als sich die Aufzugtür öffnete erstreckte sich vor ihm eine große Lobby die von einem weichen, weißen Licht durchflutet war. Es gab mehrere Ruhezonen, in denen das Licht etwas schwächer war und auch nicht weiß, sondern eher gelblich leuchtete. Ein paar große Monitore hingen an den Wänden auf denen Tabellen mit Flugplänen zu sehen waren. Die Tabellen waren leer, bis auf einen Eintrag.

Mission: keine / Priorität: unbekannt / Hangar: 1 / Fahrzeug: EVI-Jäger Klasse 5 / Status: Einleitung der Startvorbereitung.

Val schaute sich noch etwas in der Lobby um. Es sah aus als wäre es neu gebaut. Er fragte sich, warum. Er hatte gehört, dass die Stadt seit fast tausend Jahren nicht bewohnt ist. Und es war auch nirgends eine Menschenseele zu sehen. Dieses rastlose Gewusel, wie man es aus großen Städten kennt gab es hier ebenfalls nicht.

Trotzdem war alles sauber, gepflegt und belebt, als würde jeden Tag der Reinigungsdienst kommen und hier sauber machen, die Blumen gießen und Mülleimer entleeren. Einige Gegenstände sahen auch ein wenig verlebt aus, als wären hier mal hunderte Menschen umher gegangen und eben nur in der Kantine zum Mittagessen. Oder als ob alle aus irgendeinem Grund schnell weg mussten. Das Terminal war relativ klein, schlicht und zweckmäßig.

Val hatte aber auch noch nie einen Raumhafen oder ähnliches gesehen, deswegen faszinierte es ihn sehr. Er schaute sich noch etwas um und sah durch die Fenster an den Seiten in kleine, leere Hangars, die nicht viel größer waren als eine Garage. Langsam verstand Val, wie er alles mit seinen Gedanken steuern konnte. Er ließ sich den Weg zum seinem Hangar direkt in sein Blickfeld einblenden. Er ging einen breiten Gang entlang, vorbei an mehreren Konferenzräumen und einem großen Fenster, vor dem er erstaunt stehen blieb. Dahinter sah er eine Halle die groß genug war, um dort mehrere Kreuzfahrtschiffe zu parken.

In der Halle waren hunderttausende verschiedenster Vehikel und Geräte gelagert. Zwischen ihnen bewegten sich Roboter hin und her. Grazil und sehr präzise fuhren sie zwischen den haushohen Regalen entlang und arbeiteten emsig ihre Aufträge ab. Val versuchte über das neuronale Interface, das seinen Geist mit dem System verband, herauszufinden was die Roboter für einen Auftrag hatten. Er folgte den Hinweisen des Assistenzsystems und es dauerte nicht lange bis er Zugriff auf diese Daten hatte und sie einsah. Sie bereiteten gerade eine kleine Flotte vor, die im Streitfall schnell eingesetzt werden konnte. Eines der Geräte wurde in einen separaten Hangar transportiert, dann bekam Val einen Hinweis, dass sein Schiff im Hangar eins nun startklar ist. Er ging weiter den Gang entlang und erreichte den Hangar.

Da stand es: Ein kleines Jagdflugzeug, nicht größer als ein Sportwagen und ebenso schneidig und elegant. Vier kleine, eckige Triebwerke ragten angeberisch rechts und links aus der Heckpartie des Gerätes. Die Kontur war scharf, aber auch sehr grazil. Jeder Freund, sportlicher Fortbewegungsmittel hätte hier eine Träne der Freude vergossen.

 Als Val sich dem Jäger näherte, öffnete sich die Haube automatisch. Er sprang rein, setzte sich auf den Stuhl und schaute sich um. Nirgends waren knöpfe oder Schalter zu sehen. Nur zwei Griffe am Ende der Armlehne. Als er sie berührte, schloss sich die Haube wieder und die Systeme des Jägers fuhren hoch. Vor seinen Augen erschien ein Symbol: Synchronisiere. Dann verschwand es wieder und es erschienen überall Anzeigen und der Außenbereich wurde nun auch auf die Oberflächen des Cockpits in einer beeindruckenden Qualität dargestellt.

Alles wurde automatisch bereit gemacht und der Jäger wurde mit einem kleinen Kran zu einer Abschusskammer gefahren. Val war sehr aufgeregt. Er wusste nicht was als nächstes passiert, geschweige denn ob er den Flieger überhaupt steuern kann. Am Ende platzierte der Kran den Jäger in einer kleinen Kammer. Val spürte wie Halteklammern das Gefährt fixierten. Vor ihm öffneten sich dutzende kleiner Schotts und gaben einen langen, geraden Tunnel nach oben frei.

Abschusskammer geladen

Trägheitsdämpfung auf Maximum

Diese Nachrichten wurden in seinem Blickfeld eingeblendet, dann fühlte er wie Luft plötzlich dicker wurde. Er fühlte sich als würde er in einem Topf Honig sitzen. Doch Atmen konnte er frei und unbeschwert. Das Trägheitsdämpfungssystem arbeitete mit einem Energiefeld, das jedes einzelne Atom umschloss und ein umgekehrt geladenes Feld um das Schiff herum erzeugte. Dieser Effekt verwandelte es in einen komplett neutralen Raum, der nur noch bewegt werden musste. Diese Technologie wurde später noch weiterentwickelt und komplett als Antrieb genutzt; indem ein weiteres, umgekehrtes Feld herum gelegt wurde welche das Innere dann verdrängte, was einen gerichteten Impuls erzeugte.

Magnetschienen aufgewärmt

Start in 3 ... 2 ... 1

Das Bild verzerrte leicht als er mit extremer Geschwindigkeit durch den Tunnel katapultiert wurde. Als er die Abschusskammer verließ wurden die Restlichtverstärker eingeschaltet und passten die Sichtverhältnisse der Dunkelheit an. Er sah kurz das Antlitz der Stadt von oben und das Schimmern des Kuppelförmigen Energieschildes, der die ganze Stadt unter sich beherbergte.

Dass dieser Schild seinen Zweck nicht verfehlte, sah man an den Zahlreichen Bombenkratern und Kampfspuren im Gebiert um die Stadt herum. Er war so in seinen Gedanken und in seiner Faszination versunken, dass er nicht bemerkte, wie er das Schiff steuerte. Es schien seinen Instinkten zu gehorchen und flog einfach dorthin, wo Val es wollte, ohne dass er es bewusst dazu bringen musste. Er flog Manöver, die ihn ohne die Trägheitsdämpfung umbringen könnten und bemerkte es nicht einmal. Dieses Schiff wird vom sogenannten Sub-Sky-Field mit Energie versorgt, dass in etwa wie eine Art kabelloses Stromnetz, Energie durch den Subraum überträgt.

Aber das faszinierendste an diesem Schiff waren die Antriebe: Masse Injizierende Linearantriebe oder auch MILA werden sie genannt und funktionieren auf dem Prinzip von normalen Linearantrieben, nur dass sich vor den Spulen Masseprojektoren befinden, die eine digitale, statische, magnetische Masse simulieren und somit eine Magnetschiene erzeugen. Diese digitale Masse existiert für genau zwei Sekunden und absorbiert währenddessen ein klein wenig Licht, was dann bei Tag so aussieht als würde sie eine schwarze Linie in den Himmel zeichnen. Das Schiff manövriert, indem die Masseprojektoren die Position der Digitalen Masse verschieben und somit die Schiene krümmen. Da das aber nur eine begrenzte Richtungsänderung bringt, hat das Schiff zusätzlich noch vier sehr kleine Manövertriebwerke.

Val schaute wieder nach vorne und näherte sich langsam seiner Heimatstadt Marista. Er überflog sie eine Weile und schaute sich alles genau an. Vor der Stadtgrenze wurde gerade ein riesiges Heer bereit gemacht. Es waren zigtausende Soldaten und eine riesige Masse an Kriegsgerät. Val stoppte das Schiff, sodass es ruhig in der Luft schwebte. Er öffnete die Luke und kletterte aus dem Cockpit. Konzentriert starrte er auf die Stadt, die Soldaten und die überragende Kirche im Zentrum. Von oben sahen die beleuchteten Straßen aus wie Adern, die pulsierten und die Stadt zum Leben erweckten.

 

Kapitel 8

Die Bürde der Drachen

Han, Milena und die Zwillinge stiegen in einen der Aufzüge zum Hauptturm und genossen den herrlichen Anblick, der zum Leben erwachenden Stadt, durch die gläserne Fassade der Kabine. Der Turm war über tausend Meter hoch, doch es dauerte nur eine halbe Minute bis sie oben ankamen. Als sie die erste Ebene des oberen Rings erreichten, wurden sie von einem jungen Mädchen mit einer Waffe in der Hand erwartet.

Sie stand in einer schick eingerichteten Empfangshalle. Drei Aufzüge befanden sich an jeder der zwei Wände, die V-förmig aus dem Raum Richtung Zentrum zeigten. In der Mitte waren gepolsterte Sitzgelegenheiten aus sehr feinen, samtigen Stoffen. Die Aufzüge befanden sich im Zentrum des Turms, in den Kehlen der vier riesigen, ebenfalls V-förmigen Säulen. Der Hauptturm war ein riesiger Ring, der sich um die vier Säulen schlang und in der Mitte ein verdächtiges, klaffendes Loch hinterließ.

„Wer seid ihr?“, fragte das Mädchen in einem sehr bedrohlichen Ton. Ihre Stimme war kratzig, ihre mandelförmigen, braunen Augen waren rot unterlaufen und sie war am ganzen Körper mit einer schleimigen, durchsichtigen Flüssigkeit bedeckt.

Sie trug nur einen Kinderbadanzug und ein Handtuch, das um ihre Hüfte gewickelt war. Ihre pechschwarzen Haare schmiegten sich, nass schimmernd an ihren Kopf und hoben ihr blasses, kindliches Gesicht in einen sauberen Kontrast. Frierend und zitternd hielt sie die schwere Waffe auf ihrer Schulter. Han trat einen Schritt vor und verbeugte sich.

„Ich bin Han. Das sind meine Freunde: Lili, Maria und Milena”, sagte er sehr höflich und zeigte auf seinen Armreif. Das Mädchen senkte die Waffe und schaute sich den Armreif genauer an. Dieser hatte eine sehr spezielle Gravierung, die jemand, an den er sich kaum noch erinnern konnte, für ihn gemacht hatte. Es war ein unbeholfen gekritzelter Smiley und die Buchstaben H, A und N.

„Dich kenn ich”, brüllte sie wütend. Sie richtete die Waffe wieder auf ihn und trat einen Schritt zurück. „Du bist ein Monster” Ihr lief eine Träne über die Wange und sie schniefte weinerlich.

„Du hast ihn getötet und jetzt kommst du und willst dir sein Königreich holen. Aber das lasse ich nicht zu!“ Sie legte mit ihrem Daumen einen kleinen Schalter an der Waffe um, die daraufhin ein leises Summen von sich gab.

„Du hast ihn einfach getötet. Meine Schwester hat die ganze Zeit geweint”, sie wischte sich die Träne aus dem Gesicht und schniefte wieder. „Er war der Einzige, der uns geholfen hat. Wir hatten niemanden außer Ihn” Sie umklammerte den Griff so fest sie konnte und holte tief Luft. „Du wirst niemandem mehr weh tun, du Ungeheuer!“, schrie sie laut und zog wie verrückt am Abzug.

Doch die Waffe schwieg. Han wusste nicht was er denken sollte. Er hat dieses Mädchen noch nie in seinem Leben gesehen. Und doch schien sie sich unglaublich sicher zu sein, dass er wirklich der war, der ihr einen lieben Freund aus dem Leben gerissen hat. Ihr Blick war fest auf Han gerichtet und sie hörte nicht auf, wie in Trance den kleinen Hebel zu ziehen.

Sie sah sehr erschöpft aus und sackte nach einer qualvollen Minute kraftlos in die Knie. Die Waffe viel von ihrer Schulter und verstummte. Das Mädchen atmete sehr schwer und schniefte immer wieder. Tränen rannen ihre Wangen herab. Han ging langsam zu ihr und kniete sich vor ihr auf den Boden.

„Egal was ich getan habe, es tut mir außerordentlich leid. Aber ich hab einen Großteil meiner Erinnerungen verloren. Bitte sag mir, wen ich damals getötet habe”, sagte Han sehr ruhig und unterwürfig. Das Mädchen schniefte und schaute ihn extrem verängstigt an.

„Ich hab es nicht geschafft, große Schwester”, stammelte sie kraftlos vor sich hin. „Bitte sei mir nicht mehr böse” Sie umklammerte liegend ihre Beine und zog sie zitternd an ihren Körper. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Han entsetzt an. „Das Monster”, flüsterte sie mit einer panischen Angst und zitterte wie Espenlaub. „Es wird mich töten. Der Drache wird uns nicht retten. Bitte hör auf den Drachen zu jagen. Aju! Bitte lass mich nicht mit Alexander allein”

Entsetzt stand Han auf und trat ein paar Schritte von ihr zurück. Er schüttelte fassungslos den Kopf. Wie hat dieses Mädchen mich gerade genannt? Das kann doch nicht sein. Dachte er sich. Mutig nahm das Mädchen ihr letztes bisschen Kraft zusammen und rannte davon. Milena ging zu Han.

„Weißt du, wer sie war? Und wovon hat sie da gerade gesprochen?“ Han schüttelte den Kopf. Seine Augen zuckten angespannt umher.

„Ich weiß es nicht mehr. Meinte sie den Drachen?“ Milena schaute entsetzt zu ihm auf.

„Ein Drache? Aber es gibt doch gar keine Drachen”, murmelte sie vor sich hin. Maria, die zusammen mit Lili gelangweilt an der Wand stand, räusperte sich auffällig.

„Natürlich gibt es Drachen. Wir haben ihn schon gesehen. Er ist riesig. Seine Haut ist so schwarz, dass sie das Licht verschlingt. Seine Augen glühen rot und sein Atem ist so heiß wie die Sonne. Wir haben manchmal gesehen, wie er um die Kirche geschlichen ist. Es ist unglaublich wie geschickt er das macht. Niemand schien ihn zu bemerken, selbst wenn die Leute direkt an ihm vorbeigelaufen sind. Und diese Aju war wahrscheinlich”, Maria übernahm das Wort.

„Sie meint wohl diese Ajuki. Ein asiatisches Mädchen, das in der Kirche manchmal Predigten gehalten hat. Ich bin ja keine Hellseherin, aber es scheint eindeutig zu sein, dass sie wohl die Schwester der kleinen ist”, sagte sie und lief in den Kontrollraum, „Lili schau mal die Aussicht! Endlich sind wir hier: Aletria!“ Lili lief ihr nach. Der Weg zum Kontrollzentrum des Turms war nun frei.

Die beiden Mädchen liefen sofort zu einem der Vielzähligen Segmente und schauten aus dem Fenster. Die Nacht war klar und das Mondlicht legte die Stadt in eine friedliche, anmutige Gesinnung. Sie konnten die ganze Stadt überblicken und sahen sogar die Lichter an der Mauer der Stadt, weit entfernt vom Zentrum. Das weiche Schimmern des Schutzschildes betörte die beiden und ließ sie begeistert jauchzen. Han wollte ihnen folgen, aber Milena hielt ihn fest.

„Bitte erklär mir das. Wieso hat dieses Mädchen dich so verachtend angeschaut? Was hast du getan?“, fragte sie angespannt. Han nahm ihre Hand und lief langsam weiter.

„Ich kann mich an fast nichts mehr erinnern. Jahrelange Folter und Manipulation haben meinen Verstand zu Grunde gerichtet. Du hast doch meine Bücher gelesen, oder?“ Milena nickte. Sie stellten sich ans Fenster und schauten ebenfalls auf die wunderschöne Stadt herab.

„Vals damaliger Name lautet Shezzar”, begann Han zu erklären.

„Das stand in keinem deiner Bücher”, antwortete Milena.

„Nein, da hast du wohl recht. Ich konnte mich auch kaum noch daran erinnern. Selbst mein eigener Name ist mir erst vor kurzem wieder eingefallen. Aber das spielt keine Rolle. Viel wichtiger ist, dass Val aus der alten Welt stammt und sie damals zerstört hat, weil sie ihm jemanden genommen hatten der für ihn so etwas wie ein Sohn war”

„Wie soll er das bitte gemacht haben? Ein einzelner Mensch kann so etwas nicht tun” Han senkte seinen Kopf und atmete tief ein.

„Ich wünschte, ich könnte es dir erklären. Val kann eine Energie kontrollieren, die in jeder Zelle, jedes lebenden Wesens zirkuliert und durch den ganzen Planeten fließt. Diese Energie heißt Terra. Er hat aus ihr ein kristallenes Schwert geformt, das niemand, außer ihm selbst, halten konnte” Milena drehte sich um und lehnte sich gegen das Fenster.

„Wieso sollte jemand so eine Macht besitzen? Und wie gelangt man an so etwas?“, fragte Milena ungläubig.

„Man gelangt an solch eine Kraft, wenn man den falschen Wunsch an die richtige Person richtet. In diesem Fall Gott höchst persönlich. Doch das ist reine Ansichtssache” Han lief zu den Zwillingen und tätschelte liebevoll ihre Köpfe.

„Du redest von Gott? Also gibt es ihn wirklich?“, fragte Milena. Han schüttelte den Kopf.

„Nein. Aber wenn dann wäre es eine Sie“ Milena glitt langsam am Fenster herab und hockte sich auf den Boden. Sie rieb ihre Schläfen und schüttelte dabei den Kopf.

„Also Gott ist nicht Gott, sondern Göttin aber irgendwie auch nicht, hab ich das richtig verstanden?“, sagte sie auffällig genervt.

„Die Menschen neigen dazu, Götter zu erwählen. Also Ja und Nein. Sie sind eigentlich eher sowas wie Wächter. Über ihnen steht eine Entität, die wir Keara nennen. Menschen würden sie als Gott bezeichnen, weil es einfach in ihrer Natur liegt so etwas zu tun. Aber es ist vielmehr eine andere Form der Existenz. Sie ist weder allwissend noch allmächtig. Genauso wenig wie Val oder die Menschen. Es gibt Dinge in diesem Universum, die kann man nicht gleich begreifen” Milena schaute ängstlich zu Han auf.

„Und was ist mit mir?“, sagte sie laut und hob Hand, sodass Han das Symbol sah. „Ich bin nie einem Gott oder etwas Ähnlichem begegnet. Ich hab nie irgendjemandem gegenüber den Wunsch geäußert, irgendwie besonders zu sein. Ich hab mich nur in diesen Jungen verliebt und jetzt sehe ich ihn nie wieder”, sie fing an zu weinen. Han verschränkte die Arme.

„Ich kann dir dazu nicht viel sagen außer, dass es eine Verbindung zwischen dir und Val darstellt. Ich habe schon versucht mehr darüber zu erfahren, aber es gibt einfach nichts. Es ist wohl einfach zufällig passiert als du mit ihm zusammengestoßen bist. Es ist eine Verbindung, mehr kann ich dir darüber nicht sagen” Milena stand auf, sah aus dem Fenster und hielt ihre Hand in die Luft.

„Dann verlange ich, bei ihm zu sein!“, brüllte sie und verschwand in einem kurzen Lichtblitz.

 

Minuten vorher ...

 

Als Val am vorderen Ende des Fliegers auf die Stadt herabschaute, dachte er die ganze Zeit daran wo Milena sein könnte. Zeraph stand plötzlich grinsend neben seinem Cockpit und beobachtete Val interessiert. Val drehte sich um und schreckte kurz auf, als er Zeraph hinter sich stehen sah.

„Hey Du!“, schrie er. „Du sagtest doch das Herz der Drachen sagt mir immer die Wahrheit. Wieso sagt es mir nicht, ob es Milena gut geht?“ Zeraph kniff übertrieben nachdenklich die Augen zusammen. Dann hob er den Zeigefinger und wippte ihn zurechtweisend vor und zurück.

„Das Herz sagt dir nur was du wissen willst. Aber du willst nicht wissen, wie es Milena geht. Du hast viel zu viel Angst, etwas zu erfahren, dass dir nicht gefallen könnte. Deswegen schweigt dein Herz” Zeraph näherte sich ihm argwöhnisch und mit einem bedrohlichen Grinsen. Val schob ihn von sich weg.

„So ein Schwachsinn! Ich will es wissen, egal ob es mir gefällt oder nicht. Dieser Scheiß funktioniert einfach nur nicht” Zeraph lachte laut. Plötzlich tauche Milena hinter ihnen auf dem Flieger auf. Ihre Gestalt war seltsam verzerrt, halb durchsichtig und von einem weißen Leuchten umgeben. Sie streckte ihre Hand nach Val aus und lächelte.

Val lief zu ihr und versuchte sie festzuhalten. Doch dann verschwand sie wieder. Das Symbol auf Vals Hand leuchtete wieder und es entstand ein gemusterter Kreis um das Symbol herum. Val zitterte vor Entsetzen und Verzweiflung.

„Ich … ich hatte … Ich hatte sie doch fast”, sagte er und sein Herz schlug wie verrückt. Dann tauchte ein weiterer Jäger hinter ihm auf und eröffnete das Feuer. Kleine leuchtende Geschosse zischten an ihm vorbei und prallten von der harten Panzerung des Jägers ab, ohne einen Kratzer zu hinterlassen. Val sprang ins Cockpit und flog los.

Zeraph blieb unbeeindruckt stehen und ließ sich, - entgegen sämtlicher Naturgesetze wie Trägheit und Luftwiderstand - nicht vom Flieger stoßen. Der andere Jäger war dicht hinter ihm und traf ihn ein paar Mal.

„Verdammt, was soll das? Wer ist das?“ brüllte Val und versuchte zu entkommen. Ein Bildschirm tauchte neben seinem Sitz auf, auf dem Ajuki zu sehen war.

„Du weißt, wo der Drache ist! Sag es mir! Sag es mir! Wo ist er?“, brüllte sie energisch und schoss weiter auf ihn.

„Sie jagt mich also immer noch. Ach, wie schade, dass ich nicht mehr mitspielen kann”, erklang Zeraphs Stimme im Cockpit.

„Sie hat es die ganze Zeit nur auf dich abgesehen?“, sagte Val entsetzt.

„Wie du unschwer erkennen kannst”, antwortete Zeraph emotionslos. „Ich hab es ehrlich gesagt schon ziemlich vermisst” Val stoppte aus heiterem Himmel und sprang wieder aus dem Cockpit. Sein Schwert fiel pfeilschnell vom Himmel und zerbrach über ihm. Die Splitter setzten sich zu einem kristallenen Schild zusammen und hielten den Beschuss ab. Ajuki wich aus und flog senkrecht nach oben. Sie schaute fasziniert auf ihren Armreif.

„Das ist der totale Wahnsinn”, brüllte sie aufgeregt, dann überschlug sie den Jäger nach hinten und flog im Sturzflug erneut auf ihr Ziel zu. Val stand in Abwehrhaltung auf der Nase des Fliegers und schaute nach oben. Die feindlichen Geschosse hackten unablässig auf den Schild ein. Erneut wich Ajuki aus, flog einen scharfen Bogen über die Baumkronen hinweg und drehte dabei den Flieger mehrere Male um seine Längsachse.

Es schien ihr außerordentlich viel Freude zu bereiten damit Kunststücke zu vollführen. Val stand angespannt auf der Nase des Fliegers und erwartete den nächsten Angriff. Diesmal schlugen faustgroße Geschosse auf sein Schwert ein. Zeraph lachte die ganze Zeit amüsiert und er war scheinbar sehr zerstreut, was Val unglaublich wütend machte. Wieder wich Ajuki aus und zog einen noch größeren Bogen, um einen längeren Angriffsweg zu erlangen. Val nutzte die Zeit und überlegte. Das Schwert schwebte schützend vor ihm und hatte von dem ganzen Getöse weder Scharten noch Kratzer abbekommen.

Nun wurde ihm seine Stärke erst richtig bewusst. Wenn er selbst einem hochentwickelten Jagdflugzeug überlegen war, so dachte er, musste er sich auch nicht von diesem Typen herum schubsen lassen. Seine aufbrausenden Gedanken gaben ihm viel Kraft und er fühlte wie sein Herz darauf reagierte. Val verstand allmählich, wie er das Wissen der Drachen aus dem Herz herauslocken konnte, ohne dass ihm vor Schmerzen gleich der Kopf platzt.

Seine Wahrnehmung veränderte sich. Alles um ihn herum verlor seine Farbe und seine Masse. Als wäre seine Umgebung eine geisterhafte Vision, die von der Realität angeschnitten ist. Val konnte immer noch Zeraphs herablassendes Grinsen erkennen, trotz das er hinter ihm stand. Zeraphs Gestalt war umhüllt von einem rot leuchtenden Nebel, der sich links von ihm zu einem Faden verwob, bis zum Horizont reichte und dahinter verschwand. Val drehte seinen Kopf nach rechts und sah einen goldenen, fadendünnen Lichtstrahl, der aus der Ferne auf ihn zeigte. Er schaute an sich herab und sah sein schlagendes Herz unter seiner farblosen, durchsichtigen Haut. Der Lichtstrahl spleißte sich ein paar Zentimeter vor seiner Brust auf und spann sich wie Seidenfäden um das pulsierende Herz. Unter dem Gespinst sah er das Symbol der Drachen, das in der gleichen Farbe leuchtete wie der Nebel um Zeraph.

Val schaute weiter seinen Körper entlang und bemerkte, dass auch seine Silhouette von einem schwachen schimmern durchsetzt war. Es war in einem satten neongrün; dieselbe Farbe, in der auch sein Schwert leuchtete. Er hob seine offene Hand, mit dem Ballen nach oben und es erschien auch gleich darüber. Die Spitze der Klinge schwebte nur Millimeter über seiner Hand und drehte sich gemächlich, als wäre alles andere egal. Val spreizte seine Finger auseinander und das Schwert zerbrach in tausend kleine Splitter, die nun genauso sanft über seinem Ballen kreisten. Er griff nach einem der Splitter und umschloss ihn fest. Dann sah er zu Zeraph.

Val beschloss, sich nicht länger mit den Spielerein dieses arroganten, launischen Mannes auseinanderzusetzen. Er führte den Splitter immer näher an ihn heran. Der rot leuchtende Nebel, der Zeraph umschloss, wich beiseite und gab seine Schulter frei. Val öffnete die Hand und der Splitter fuhr, wie von einem bösen Geist beseelt, hinab und bohrte sich durch die schemenhafte Kontur Zeraphs Haut, zwischen Hals und Schlüsselbein.

Val schaute wieder auf sein Herz. Wellen aus Licht pulsierten den Strahl entlang, im selben Takt wie sein Herz schlug. Er richtete seine Gedanken auf Milena. Sein Herz schlug schneller als er seine Hände zu dem Lichtstrahl führte und ihn umschloss. Er hob seinen Kopf und schaute in die Richtung des Strahls. Dann wurde er fortgerissen.

Die Realität um Zeraph fügte sich wieder in ihre normalen Bahnen und seine rot leuchtende Augen funkelten kurz auf. Ein stechender Schmerz fuhr seinen Hals entlang und er drehte mit schmerzverzerrter Mine seinen Kopf. Der leuchtende Splitter ragte zur Hälfte aus seiner Lederjacke. Er griff danach und wollte ihn herausziehen, da schlug ein Geschoss in sein Unterleib. Zeraph fiel auf die Knie. Weitere Geschosse hagelten auf ihn ein und zerfetzen seine Brust. Ein gleißender Energiestrahl verfehlte nur knapp seinen Kopf und schlug in den Antrieb des Fliegers ein. Dieser verlor nun seinen künstlichen Halt in der Luft und stürzte senkrecht in den Wald. Grüne lichtblitze zuckten aus dem Splitter in seinen Hals, als er auf dem Waldboden aufschlug und das Bewusstsein verlor.

Nach ein paar Minuten kam er wieder zu sich. Er hielt sich die Hände vors Gesicht und auf einmal fühlte er den starken schmerz vom Aufprall und die pulsierend schmerzenden Wunden in seinem Körper. Nur schwer gelang es ihm aufzustehen. Er schleppte sich qualvoll durch den Wald, ohne zu wissen, wohin er wollte. Es nahm kein Ende und die Schritte wurden immer schmerzvoller. Zeraph fiel auf die Knie. Blut tropfte von seiner Nase auf seine Hände. Die riesigen Wunden in seinem Körper taten ein Übriges. Langsam verschwamm seine Wahrnehmung. Er hörte noch, wie sich ihm jemand näherte. Er lachte wieder etwas und hustete dabei. Wie hat er das geschafft? Dachte er sich und schlief langsam ein.

Bei Sonnenaufgang wurde er unsanft mit kaltem Wasser aus seinem heilsamen Schlaf gerissen. Er öffnete die Augen und sah Ajuki vor sich, die ihn grimmig anstarrte. Seine Hände waren gefesselt und neben ihm lagen eine Tasche mit medizinischer Ausrüstung, blutige Bandagen, leere Spritzen und Antibiotika.

„Jetzt hab ich dich mühsam wieder zusammengeflickt. Dafür sagst du mir endlich, wer du bist”, befahl Ajuki in einem herzlosen Ton. Zeraph lächelte.

„Du hast es endlich geschafft, Ajuki. Du hast deinen Drachen gefangen. Wenn auch nicht ganz ohne Hilfe, aber das rechne ich dir nicht ab, keine Sorge”, stammelte er hustend. Ajuki drehte Zeraph den Rücken zu und verschränkte ihre Arme.

„Ich sehe aber keinen Drachen. Nur die jämmerliche Gestalt eines halbtoten Mannes. Also sag mir die Wahrheit. Wer bist du? Wo ist Shezzar? Und wo ist der Drache?“ Zeraph richtete sich qualvoll auf und schaute zu ihr nach oben.

„Du hast den Drachen öfter gesehen als jeder andere. Und du hast ihm auch schon zig Mal in die Augen geblickt. Was siehst du jetzt?“ Ajuki drehte sich langsam zu Zeraph und schaute ihm tief in die Augen. Das pulsierend dunkelrote Schimmern seiner Iris und die winzigen Symbole neben den Pupillen waren wie eine Offenbarung für sie.

„Nein!“ sagte Ajuki laut und griff nach einer Pistole. Sie richtete die Waffe auf Zeraphs Kopf, „Wie kannst du es wagen, mich fast tausend Jahre an der Nase herumzuführen. Ich habe einen Drachen gejagt und schlussendlich bist du doch nur ein Mensch!“ Zeraph schüttelte den Kopf.

„Ein Mensch? Nein, wir Drachen sind in der Lage unsere Gestalt zu verbergen. Du hattest sehr oft die Chance, mich zu fangen. Und ich hätte es auch ab und an gern zugelassen. Wir waren uns so nahe”

„Deswegen hast du mich immer als einzige verschont. Wieso hast du zugelassen, dass Shezzar stirbt? Und wieso ist er jetzt wieder da und erkennt mich nicht mehr?“

Zeraph streckte seine Arme aus und gab ihr zu erkennen, dass sie seine Fesseln lösen soll. Er sah ihr dabei fest und entschlossen in die Augen, vermittelte ihr aber auch, dass sie nichts zu befürchten hat. „Shezzar wurde für seine Taten verurteilt. Von einem Wesen, das deine Vorstellungskraft übersteigt. Jemand hat einen hohen Preis dafür gezahlt, dies geschehen zu lassen”

Ajuki befreite ihn, setzte sich auf einen Ast und schaute bedrückt auf den Boden. „Wie konnten sie ihn einfach so besiegen? Was war das für ein Ding, das ihn getötet hat?“ Zeraph setzte sich zu ihr.

„Die Menschen brachten es fertig einen Faarih namens Alexander zu beschwören. Er war Shezzars Freund, doch das hielt ihn nicht davon ab, über ihn zu richten. Die Faarih sind sehr mächtig, doch sie sind an ihre Schwüre gebunden und wagen es nicht, sie zu brechen” Ajuki schluchzte.

„Wieso gibst du ihm seine Erinnerungen nicht zurück?“

„Diese Erinnerungen existieren nicht mehr. Das war das Einzige, was ich für ihn tun konnte. Hätte er seine Erinnerungen behalten, so wie es die Strafe vorgesehen hatte: Er wäre daran zerbrochen”, sagte Zeraph und stand auf. Ajuki stand ebenfalls auf und ging in Richtung der Stelle, wo sie ihren Jäger gelandet hat.

„Er hat mir einmal von dir erzählt”, erklärte sie, „Vom König der Drachen. Ich hab es ihm geglaubt aber nach seinem Tod nie darüber nachgedacht. Später dann häuften sich Meldungen das Leute einen Drachen gesehen haben wollen. Ich habe mich dann Drachenjägern angeschlossen und später bin ich allein losgezogen. Der Drache war die einzige Verbindung, die ich noch zu ihm hatte”

„Was hast du jetzt vor?“ Zeraph ging ihr nach. Ajuki blieb stehen. Sie nahm ihre Waffe und hielt sie sich an die Stirn. „Die letzte Ewigkeit habe ich damit verbracht nach ihm zu suchen. Ich hab weder den Drachen noch meinen geliebten bekommen. Nur Schmerz”

„Deinen geliebten, sagst du” Zeraph lachte abfällig. „Nichts hast du geliebt an ihm außer seiner Macht. Du warst so gefesselt davon, dass du es nicht mal bis nach Aletria geschafft hast, obwohl er dir den Schlüssel dafür gegeben hat. Stattdessen jagst du mir hinterher, in der Hoffnung ich würde dafür sorgen, dass er sich in dich verliebt. Selbst deine Schwester hast du einfach fortgeschickt”

Ajuki lief eine einzelne Träne über die Wange, dann zog sie am Abzug und Zeraph schaute zu wie ihr Körper leblos zu Boden fiel. Ohne eine Miene zu verziehen, ging er zu ihr und nahm ihr den Armreif ab. Dann stieg er in Ajukis Jäger ein und flog zurück nach Aletria.

Er dockte direkt am Hauptturm an und betrat ihn. Die ganze Zeit kratzte er sich an den Armen und am Hals. Die Wunde an seiner Schulter bebte immer noch vor Schmerz und wollte sich als einzige nicht verschließen.

Er lief achtlos und desinteressiert an Han und den anderen vorbei, ging in einen anderen Teil des Turms und aktivierte eine Konsole. Dort stellte er sich eine Auswahl an Fahrzeugen, Fliegern und Waffen zusammen, ließ sie in einen Transporter verladen und schickte ihn nach Marista. Als er fertig war, legte er den Armreif auf die Konsole und schaute sich die Daten darauf an. Es waren sehr viele.

Ajuki hatte von all ihren Unternehmungen Aufzeichnungen gemacht, Notizen, Kommentare, Bilder und Videos. Zeraph stöberte ein wenig in den Daten, nahm nach kurzer Zeit den Armreif wieder und legte ihn sich an. Dann verließ er den Raum und lief wieder achtlos an Han vorbei. Er stieg in den Jäger ein und verließ Aletria in Richtung Marista.

„Wer war das?“, fragte Han. Lili schaute rüber zu Maria, die sich gelangweilt die Klinge ihres Schwertes anschaute und sich immer wieder die Hand aufschnitt.

„Der Drache” Sagte Lili tonlos, hob ihren Kopf und fing an Maria Grimassen zu schneiden.

„Kennst du ihn etwa?“, fragte Han erneut. Lili rollte die Augen genervt.

„Hast du nie etwas davon mitbekommen?“ Sie stand auf und schaute Han besorgt ins Gesicht. „Die haben dir echt das Hirn zermartert. Wenn ich die Schlampe sehe, hacke ich ihr den Schädel ab”, blanker Wahnsinn schwang in ihrer Stimme. Han schüttelte den Kopf.

„Ich kann nicht mehr klar denken. Es ist wie ein Rauschen” Maria ging ebenfalls zu ihm. Sie hob ihren blutigen Finger und wirbelte damit herum.

„Der große Zeraph, König der Drachen” Murmelte sie.

„Woher weißt du, dass Er es ist?“

„Wie ich schon sagte, er war sehr oft bei der Kirche und hat Ajukis Predigten gelauscht. Seine Präsenz ist sehr stark und unverwechselbar. Den Namen hat Ajuki manchmal stundenlang aufgesagt, wenn sie alleine war. Die is total Banane, wenn du mich fragst” Kaum hat sie den Satz zu Ende gesprochen, fing sie wieder an sich die Handballen aufzuschneiden. Die Wunden verheilten jedes Mal sofort wieder, doch der Schmerz musste unerträglich sein. Maria lachte dabei und leckte das Blut von ihrer Hand.

„Ich wette er geht wieder zur Kirche und stiert ihr nach. Irgendwie beneide ich Ajuki” Sie stand auf und griff nach Lilis Hand.

„Los Komm, wir gehen jetzt auch auf Drachenjagt. Aber vorher ziehen wir uns was Ordentliches an. Diese frommen Engelskleidchen passen gar nicht zu uns” Han schaute ihnen etwas nachdenklich hinterher. Dann ging er zu einer Konsole und suchte nach Aufzeichnungen und Informationen. Der Datenkern der Stadt und die Künstliche Intelligenz, die ihn verwaltet, waren noch voll intakt.

Auch während Aletrias Abschottung wurde das Weltgeschehen weiter dokumentiert und archiviert. Kommunikationsdaten, Felddaten, Ereignisse und Bewegungen aller Art wurden aufgenommen und gespeichert. Eine unvorstellbare Menge an Informationen lag dort und konnte einfach abgerufen werden.

 

Zeraph stellte das Schiff über dem alten Schulgelände ab und wartete darauf, dass seine schmerzende Schulter verheilt. Er hatte seine Einsamkeit zwar überwunden, doch fühlte er sich gerade seltsam schwer und unangenehm traurig. Die Wunde an seiner Schulter verschloss sich langsam wieder und er konnte eigentlich zu seiner Urgestalt zurückkehren, doch er wollte gerade lieber ein Mensch sein. Die meiste Zeit saß er einfach nur an der Wand des alten Schulgebäudes und schaute sich Ajukis Aufzeichnungen an.

  1. Januar 2053 Erster Eintrag in Ajukis Tagebuch.

Ich habe gerade herausgefunden, wie man diesen Armreif benutzt. Aber die meisten Funktionen sind nicht verfügbar. Ich mache mir Sorgen um meine Schwester. Es ist kalt.

  1. März 2053. - Tagebucheintrag #12

Wir haben seit fast drei Monaten nichts gegessen und nichts getrunken. Ich empfinde keinen Hunger mehr. Kumiko auch nicht. Trotzdem geht es uns gut. Zumindest körperlich. Er hat gesagt, er kommt wieder … Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte.

  1. März 2053 - Videoaufzeichnung.

Ein paar verwackelte Bilder, über die ein riesiger Schatten zieht, sind zu sehen.

„Es ... es ist riesig!“, brüllte Ajuki freudig. „Ich fühle es. Hier in der Nähe. Ich kann es nicht erkennen. Es ist zu dunkel. Ich schau mal da drüben” Auf dem Bild war kaum was zu sehen, doch kurz flackerten zwei große, rotglühende Augen auf und Ajuki wurde umgestoßen.

„Aju! Aju!“, schrie Kumi, „Bist du okay? Was ist passiert?“ Ajuki stand auf und schaute nach oben. „Unglaublich. Hast du das gesehen? Diese riesigen, leuchtenden Augen? Das war ein Drache”

„Ich hab Angst. Bitte lass uns nach Hause gehen”, wimmerte Kumi.

 Ajuki schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht! Ich muss wissen, was das war! Du gehst nach Aletria, wie er es gesagt hat. Ich geh nach Marista und frag, ob sonst noch jemand was über den Drachen weiß”

Kumi weinte und zerrte an ihrem Ärmel. „Nein nein! Lass mich nicht allein, bitte. Bitte!“

Ajuki stieß sie von sich. „Ich kann nicht die ganze Zeit auf dich aufpassen. Ich muss diesen Drachen finden. Er wird ihn mir wiederbringen, sonst werde ich ihn töten”

Kumi weinte lauter und zog an Ajukis Hand. Dann war kurz das Knallen einer Ohrfeige zu hören.

„Du gehst jetzt nach Hause und wartest dort auf mich! Keine Widerrede!“ Kumi lief schweigend davon. Ende der Aufzeichnung.

  1. Februar 2054. - Tagebucheintrag #74

Diese idiotischen Drachenjäger. Besaufen sich die ganze Zeit und dann prügeln sie sich. Von den unnütz großen Waffen, die sie benutzen, sollte ich besser gar nicht erst anfangen. Einer von ihnen beobachtet mich seit einer Weile. Er hat wohl bemerkt, dass ich fast nie was esse oder trinke. Ich denke, es wäre das Beste, wenn ich ihn aus der Gruppe entferne.

  1. Februar 2054. - Tagebucheintrag #75

Es geht weiter Richtung Süden. Diese Trottel haben überhaupt keinen Dunst, was sie tun. Sie haben nicht einmal bemerkt, dass Wilson seit gestern nicht mehr da ist. Dabei haben sie sich noch feierlich geschworen, aufeinander aufzupassen. Ich glaub es ist egal, wo wir hinlaufen. Wir verfolgen den Drachen nicht - er verfolgt uns.

  1. Februar 2054. - Tagebucheintrag #76

Sie sind alle tot. Als ich heut Morgen aufgewacht bin, lagen sie von Hals bis zu den Knien aufgeschlitzt neben mir. Das wundert mich nicht. Aber wieso bin ich noch am Leben? Es hat keinen Sinn. Ich mache mich wieder auf den Weg nach Marista. Ich muss mir eine neue Gruppe Drachenjäger suchen.

  1. Februar 2054. Tagebucheintrag #81

 Der Winter ist dieses Jahr erbarmungslos. Es müssten etwa -30 Grad sein. Ich fühle die Kälte. Aber nicht als Schmerz. Ich schlafe nachts im Freien. Nur sehr leicht bekleidet. Vor ein paar Tagen sind ein paar der anderen nachts erfroren. Das war seltsam, da sie in einem Zelt schliefen und ich in Sommerkleidung an einem Baum. Langsam macht mir das Angst.

  1. März 2055. - Tagebucheintrag #174

Ich hab seit einem Jahr keine Spur mehr von dem Drachen. Es macht nichts, denn ich glaub, ich bin in einen der Drachenjäger verliebt. Ich brauch den Drachen gar nicht mehr.

  1. April 2160. - Tagebucheintrag #997

Mein 132’er Geburtstag. Ich sehe noch fast genauso aus wie am letzten Tag der alten Welt. Ich hasse diese Welt. Alles was ich sehe ist Tod. Mein Mann, meine Freunde, meine Kinder. Sie sind alle tot. Warum nicht ich?

  1. Juni 2195 - Videoaufzeichnung.

Eine Lichtung im Wald ist zu sehen. Dahinter eine Stadtruine die von der Natur zurückerobert wurde.

„Ich fühle, dass du hier bist”, flüsterte Ajuki und etwa 20 schwer bewaffnete Männer gingen an ihr vorbei, Richtung Stadt.

  1. Juni 2195 - Videoaufzeichnung.

Um Ajuki herum liegen die toten Körper der Soldaten, mit denen sie unterwegs war. Ein tiefes Brüllen hallte durch die überwucherten Ruinen der Stadt. Hinter ihr loderte eine Wand aus kirschroten Flammen. Sie schaute sich ihre blutverschmierten Hände an und schwieg. Ende der Aufzeichnung.

 

Ein paar Tage sind vergangen und Zeraph saß noch immer angelehnt an der Wand des alten Schulgebäudes und starrte wie festgefroren auf den Armreif. Etwas später beschloss er einfach loszulaufen, um wenigstens zu versuchen seiner Melancholie zu entkommen. Er dachte daran die Welt zu verlassen und zu den anderen Drachen zurückzukehren, doch er war nicht gewillt Val und Bellami zurückzulassen.

Er bog in eine Gasse ein, setzte sich neben einen Müllcontainer und starrte wieder regungslos auf seinen Armreif. Er bemerkte nicht, dass er die ganze Zeit von einem kleinen Jungen, in einem alten, kaputten Mantel verfolgt wurde, der nun zaghaft unter seiner Kapuze hervorschaute und ihn beobachtete. Eine Weile rang der Junge mit seiner Angst, doch er nahm all seinen Mut zusammen, ging zu Zeraph in die Gasse und sprach ihn an.

„Bist du das?“, fragte er. Zeraph schwieg und schaute weiter konzentriert auf das Display an seinem Handgelenk. Der Junge ging weiter auf Zeraph zu, schaute ihm wieder in die Augen und musterte sein Gesicht. „Oh ja, du bist es. Sag, kümmerst du dich gut um Val?“ Zeraph schaute auf.

„Du kennst ihn?“ Der Junge nickte.

„Na klar. Er ist doch der beste Freund vom Chef. Alle kennen ihn. Weißt du wie es ihm geht?“ Zeraph senkte den Kopf und sein Blick ruhte wieder auf dem Armreif.

„Er ist vor einer Weile einfach verschwunden. Diesem Mädchen hinterher. Ich weiß nicht, wo er ist” Der Junge verschränkte die Arme und schaute Zeraph zuversichtlich an.

„Weiß du, ich hab mir große Vorwürfe gemacht, weil er wegen mir nicht mehr heimgekommen ist. Aber da du wieder da bist, denke ich, es geht ihm gut. Momo wird sich freuen, das zu hören” Er hielt kurz inne, „Hey, wieso kommst du nicht mal mit zu uns nach Hause? Ich zeig dir, wo er geschlafen hat. Ach halt, das weißt du ja sicher schon. Naja, aber die anderen werden bestimmt Augen machen, wenn ich ihnen sage, dass ich den Drachen gefunden hab” Zeraph schaute wieder zu dem Jungen auf.

„Du weißt wer ich bin?“ Beide schwiegen eine Weile. Der Junge wirkte sehr eingeschüchtert.

„Verrätst du mir deinen Namen?“, fragte Zeraph. Der Junge nickte und zog sich die Kapuze vom Kopf.

„Ich heiße Ryu. Ich weiß, dass du der Drache bist, der uns die ganze Zeit beschützt hat, bevor Val entführt worden ist. Ich hab es den anderen aber nicht gesagt” er blinzelte mit dem linken Auge. Zeraph stand auf und schaute wütend zu dem Jungen herab.

Ryu umschloss eine beklemmende Angst. Scheinbar verärgert es Drachen, wenn man sie beobachtet. Aber das wusste er nicht. Nun machte er sich auch noch Vorwürfe, die anderen in Gefahr gebracht zu haben. Es konnte nichts Gutes heißen, einen Drachen zu verärgern, dachte er sich und bereute sein törichtes Verhalten zutiefst. Doch dann fing Zeraph an zu lächeln, kniete sich wieder zu ihm runter und senkte ehrfürchtig seinen Kopf.

„Du bist wahrlich sehr geschickt. Du hast es geschafft mich zu beobachten ohne dass ich es bemerkt habe. Das ist vor dir nur einer Person gelungen” Ryu rümpfte die Nase.

„Du meinst die Frau, die dich gejagt hat? Die war ab und zu bei uns. Sie wusste, dass du öfter hier bist” Zeraph sah ihm tief in die Augen.

„Wie wär’s, wenn ich dir ein Angebot mache” Er hielt sich die Hände vor das Gesicht und bildete mit den Handflächen einen Kelch. Dann pustete er sanft in seine Hand und ein kleines, tief rotes Feuer fing an darin zu lodern.

„Ich möchte dich bitten in Zukunft selbst auf deine Freunde aufzupassen. Dafür überreiche ich dir das Drachenfeuer. Benutze es, um dich und deine Freunde zu beschützen oder zu was auch immer. Die roten Flammen verbrennen alles oder gar nichts. Sie sind ein Ausdruck deines Willens. Damit wirst du selbst zu einem Drachen und kannst uns später bei unseren Reisen durch die Welten begleiten. Wenn du mein Angebot annehmen möchtest, musst du nur die kleine Flamme berühren”

Fasziniert bewunderte Ryu die tanzende, rote Flamme in Zeraphs Hand. Etwas zaghaft streckte er seine Hand danach aus und hielt sie darüber. Er fühlte weder Hitze noch Schmerz. Immer näher bewegte er seine Hand zur Flamme. Als er sie berührte breitete sie sich über seine ganze Hand aus.

„Es tut gar nicht weh”, flüstere Ryu. Zeraph grinste.

„Du willst also wirklich ein Drache werden?“ Ryu nickte. In dem Moment verschwand das Feuer in seiner Hand und eine Welle aus rotem Licht fuhr durch seine Arme. Ein paar Sekunden lang schimmerten seine Adern leuchtend durch seine Haut hindurch. Sie pulsierten wellenartig unter seiner Haut in Richtung Herz. Wenig später war alles vorbei und Ryu sah wieder ganz normal aus.

„Warum gerade ich? Wäre Momo nicht besser dafür geeignet? Er ist doch unser Anführer” Zeraph legte seine Hand auf Ryus Kopf.

„Junger Drache, du musst verstehen, dass nicht ich dich erwählt habe, sondern du dich selbst. Du wusstest, dass ich ein Drache bin, du hast mich gesucht und mich angesprochen. Kein anderer würde besser infrage kommen, ein junger Drache zu werden als du” Ryu atmete tief durch. Er sah sich fasziniert seine Hände an und fühlte eine große Kraft in seinem Herzen heranwachsen.

„Hast du das mit Val auch gemacht?“, fragte er neugierig.

„Nein“, antwortete Zeraph und stand auf. „Val hat das Herz der Drachen. Es ist ein Zeichen der Freundschaft und der Zugang zu all unserem Wissen. Wir Drachen haben es alle von Geburt an” Mit großen, weiten Augen schaute Ryu zu Zeraph auf.

„Aber ich bin nicht als Drache geboren. Heißt das, ich habe es nicht?“

„Deine Geburt als Drache steht dir noch bevor. Das wird noch eine Weile dauern. Das Drachenfeuer erwacht gerade erst. Du wirst sehr lange leben, also übe dich in Geduld” Zeraph ging zur Straße.

„Warte noch kurz!“, schrie Ryu ihm nach. Zeraph schüttelte den Kopf.

„Ich werde dir nicht sagen, wie lange es noch dauert. Das liegt ganz bei dir selbst”, antwortete er, ohne sich umzudrehen.

„Das ist es nicht“, sagte Ryu und lief zu ihm, „Sagst du mir wenigstens, wie du heißt?” Zeraph drehte sich um und lächelte. Dann verbeugte er sich.

„Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Zeraph Darthas. Aber die meisten sagen einfach nur Zeraph” Als er wieder zu Ryu aufschaute, sah er ihm lange und tief in die Augen. Ein paar Sekunden vergingen, dann veränderte sich seine Miene zu einem nachdenklichen grübeln.

Er richtete sich wieder auf und ging weiter die Straße runter. Zeraph wurde die ganze Zeit von Passanten angerempelt und manchmal auch geschubst. Er sah den Leuten nie in die Augen und sein Blick war stets auf die Straße gesenkt.

Immer wieder blieb er kurz stehen und sah sich weitere Tagebucheinträge von Ajuki an. Dies war die einzige Beschäftigung, die seiner Einsamkeit etwas Linderung verschaffte. Das mit Ryu hat ihm auch weniger geholfen als er sich erhofft hatte. Er mochte den kleinen aber sein Herz schrie nach etwas, dass er wohl nicht haben könnte. Ryu lief ihm langsam nach. Nach einer Weile blieb Zeraph wieder stehen und drehte sich um.

„Bist du dir sicher, dass du mir weiter folgen willst?“ Ryu nickte.

„Ich dachte wir bleiben jetzt zusammen?“

„Nein“, antwortete Zeraph sehr kalt.

„Suchst du Val?“, fragte Ryu weiter. Zeraph schaute wieder auf das Display. Es zeigte nichts an.

„Sag mal, Ryu”, sagte Zeraph mit einem beklemmenden Unterton. „Warst du heut schon zu Hause?“ Ryu schüttelte den Kopf.

„Warum fragst du?“       

„Deine Freunde machen sich sicher Sorgen um dich. Ich werde dich noch bis dahin begleiten. Ab dann musst du deinen eigenen Weg gehen” Zeraph streckte seine Hand aus. Ryu zögerte nicht lange und griff nach ihr.

Zusammen liefen sie eine Weile die Straße entlang, durchbohrt von finsteren Blicken und abwertenden Fratzen. Die Menschen wussten nicht was sie von dem Anblick eines älteren Kerls, der mit einem Straßenkind an der Hand den Bürgersteig entlanglief, halten sollten. Ryu kümmerte das überhaupt nicht. Er war sehr froh, mal einen richtigen Erwachsenen zu haben, der sich um ihn kümmert.

Zeraph machte diese Pausenlose Erniedrigung sehr zu schaffen. Ein stolzer Drache der sich mit solch unwürdigen Meinungen herumärgern musste. Manchmal dachte er daran, die Welt einfach niederzubrennen und woanders hinzugehen, aber das würde ihm nichts bringen, genau wie es damals nichts brachte, als Shezzar dieselbe Idee hatte.

Er starrte wie immer konzentriert auf die Straße und ließ sich nicht ansprechen. Sie waren etwa eine Stunde unterwegs. Als sie dort ankamen, sahen sie einen Streifenwagen der Polizei und einen großen Militärjeep vor dem Gebäude stehen.

Ryu lief es kalt den Rücken herunter. Sie hörten lautes Geschrei und das Zerbrechen gläserner Gefäße. Am lautesten war Momos Stimme zu hören. Er protestierte und tobte wie wild. So einfach konnte man ihn nicht einschüchtern auch mit Waffen und Gewalt nicht. Die Beiden näherten sich der Eingangstür.

Als sie nur noch ein paar Meter davon entfernt waren, sprang sie plötzlich auf. Ein Polizist kam heraus, der Momo am Genick gepackt hat und seinen Kopf nach unten drückte. Er schubste ihn, sodass er mit dem Kopf auf die Motorhaube des Polizeiwagens knallte. Da sah Momo Ryu und Zeraph.

„Ryu, lauf weg!“, schrie er, dann wurde der Polizist auf die beiden aufmerksam. Ryu war wie erstarrt vor Angst. Zeraph stand regungslos da und verzog keine Miene.

„Ryu, verdammt! Lauf weg, die wollen uns umbringen!“, schrie Momo diesmal so laut das seine Stimme kratzte. Der Polizist lief langsam auf die beiden zu und rief per Funk um Verstärkung. Sein gut trainierter Körper und ein stählerner Blick, der sich hinter einer riesigen Sonnenbrille verbarg, potenzierten seine autoritäre Ausstrahlung.

„Wir haben hier zwei weitere Personen, die wir verdächtigen”, blubberte er in das Funkgerät. Ein Soldat verließ kurz darauf das Gebäude mit vier der anderen Kinder, die er mit einer Waffe vor sich hertrieb und sie anschließend in den Militärjeep einsperrte.

Der Soldat sah sehr jung aus, war sehr schmal, hatte ein pickliges Gesicht und so dünne Arme, dass man sich wunderte, wie er das schwere Gewehr überhaupt halten kann. Der Polizist näherte sich Zeraph und Ryu langsam. Zeraph schaute Ryu in die Augen und hob seine linke Augenbraue. Ryu krallte sich in Zeraphs Arm fest und fing an zu zittern. Der Polizist packte Ryu am Kragen, beugte sich zum ihm runter und zog ihn mit seinen kräftigen Fingern zu sich.

„Sind das deine Freunde?“, fragte ihn der Polizist auf eine sehr bedrohliche und furchteinflößende weise. Ryu nickte. Der Polizist zog ein Bild, auf dem Val verschwommen zu sehen war, aus der Tasche und hielt es ihm vor die Nase.

„Dann kennst du auch diesen Jungen, oder?“ Ryu nickte wieder. Zeraph schaute sich das Bild an.

„Hm, Val”, murmelte er. Der Polizist schubste Ryu in den Dreck und richtete sich zu Zeraph auf. Der grinste nur frech und schaute dem Polizisten tief in die Augen. Der Polizist zog seinen Schlagstock und drohte ihm damit.

„Du kommst auch mit aufs Revier” Er zog ihm eins mit dem Schlagstock über und legte ihm Handschellen an. Ryu hielt noch immer Zeraphs Hand und ließ sich mitschleifen.

„Oh, bis dahin schaffen sie es nicht, darauf wette ich”, sagte Zeraph und lachte, „Nicht wahr, Ryu?“, er lachte lauter.

Einen Augenblick später kam ein schick uniformierter Offizier aus dem Waisenhaus und schaute sich draußen um. Sein Gesicht war alt und verbittert. Seine Miene kalt und griesgrämig. Er trug schwarze Lederhandschuhe und hielt eine Pistole in der rechten Hand.

„Gefreiter Luis!“, schrie er.

„Jawohl!“, antwortete der schmächtige Soldat.

„Töte die restlichen und brenn den Schuppen nieder”, befahl er. Luis nickte und ging Richtung Waisenhaus. Noch ehe er die Tür durchschritt, schrie Ryu ganz laut.

„Nein!“ Luis blieb stehen, alle drehten sich zu ihm hin.

„Bitte nicht! Ich sag euch auch alles. Aber bitte, tötet sie nicht!“, flehte Ryu. Der Offizier ging zu ihm und der Polizist trat demütig zur Seite.

„Ach ja? Was weißt du denn? Weißt du wo der Junge ist? Weißt du, dass er hunderte Soldaten skrupellos getötet hat? Sag es mir!“, brüllte der Offizier.

„Ryu! Val ist unser Freund! Du sagst kein Wort. Und lauf endlich weg!“, schrie Momo.

„Aber sie werden euch alle töten!“, schrie Ryu zurück.

„Ryu”, schallte Zeraphs Stimme dröhnend in sein Ohr. Dann sah er zu Zeraph auf, der ihn mit seinen glühenden Augen anstarrte.

„Du bist jetzt einer von uns. Du brauchst keine Angst mehr zu haben” Ryu hielt kurz inne. Er fing an sich zu beruhigen und fühlte eine starke innere Kraft in seinem Geist. Er schaute zu dem Offizier auf und grinste.

„Du lässt sie jetzt gehen”, sagte er ruhig, aber sehr bedrohlich. Der Offizier wurde wütend und packte Ryu am Kragen. Er zerrte ihn grob in das Gebäude und schubste ihn zu Boden. Dann trat er die Tür zu dem Zimmer auf, in dem sich die anderen versteckten und richtete die Waffe auf die Kinder, die zitternd auf dem Boden hockten und sich bei den Händen hielten.

„Für diese Respektlosigkeit darfst du jetzt zusehen, wie ich jeden deiner Freunde persönlich umbringe” Doch Ryu war seltsam ruhig. Er stand wieder auf, starrte dem Offizier wütend in die Augen und trat ihn so heftig wie er konnte zwischen die Beine. Wütend richtete der Offizier die Waffe auf Ryu.

In dem Moment funkelten Ryus Augen rubinrot und die Waffe fing an zu glühen. Noch bevor der Offizier sie fallen lassen konnte, brannte sich der Griff durch den Lederhandschuh direkt in seine Haut. Es löste sich ein Schuss, doch die Kugel blieb im Lauf stecken und der Druck der Explosion riss den Schlitten vom Griff. Es schleuderte den schweren, heißen Metallklotz direkt in das Gesicht des Offiziers. Sofort brannte sich das glühende Metall in seine Haut und sein Auge.

Der Offizier schrie so fürchterlich, dass sich die anderen die Ohren zuhielten. Gepeinigt von schier unerträglichen Schmerzen quälte er sich mit letzter Kraft nach draußen. Der Gefreite Luis rannte sofort zu ihm und half ihm auf. Ryu verließ das Haus in einem Mantel aus roten Flammen und einem wuterfülltem Blick. Er sah zu den Beiden rüber und richtete seinen Arm auf sie. Um seine Hand bildete sich ein großer Feuerball.

„Bitte töte uns nicht! Wir tun alles!“, flehte Luis. Zeraph ging ungeniert zu dem Geländewagen und befreite Momo und die anderen.

 „Ryu!“, schrie Momo so laut er konnte. „Tu es nicht…“, er wurde von Zeraph unterbrochen der an seinem Ärmel zog und den Kopf schüttelte.

„Unser ganze Leben lang”, brüllte Ryu laut und wütend. „Habt ihr uns schikaniert, gejagt und misshandelt. Wir haben niemandem etwas getan. Wir haben gearbeitet, nein, geschuftet ohne dass wir etwas dafür bekommen haben. Wir haben alles versucht, doch wir wurden immer nur verachtet und erniedrigt”

„Töte ihn, Ryu!“, änderte Momo plötzlich seine Meinung, „Zeig ihnen, dass wir uns das nicht mehr gefallen lassen!“ In dem Moment hallte ein schriller, in den Ohren beißender Schrei durch die Straßen. Der Polizist hat sich eines der Mädchen geschnappt und drohte ihr das Genick zu brechen.

„Ich weiß nicht, wie du das machst”, rief der Polizist. „Aber wenn du nicht auf der Stelle damit aufhörst, töte ich das Mädchen!“ Ryu drehte sich zu ihm um und richtete seinen Arm auf ihn.

 „Wage es dir, kleiner Scheißer! Du wirst sie auch verbrennen! Und das willst du doch nicht, oder?“, sagte er angespannt. Dicke Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Das Mädchen weinte und krallte ihre Fingernägel in den Arm des Polizisten. Ryu starrte ihn konzentriert an. Dann erinnerte er sich an einen bestimmten Satz, den Zeraph vorhin sehr deutlich ausgesprochen hatte. Eine Wand aus rotem Feuer schoss aus seiner rechten Hand und beide versanken in einem Meer aus Flammen. Momo schrie entsetzlich.

„Ryu, nein! Was tust du da?“ Doch er reagierte nicht. Ein paar Sekunden später verschwand das Feuer. Vom Polizisten war nur noch ein kleines Häufchen Asche übrig, doch das Mädchen war vollkommen unversehrt. Sie stand auf, schaute sich um und klopfte sich panisch kreischend die Asche von den Kleidern. Dann war ein leises blechernes Geräusch auf dem Boden zu hören. Ryu drehte sich wieder zu den anderen und schaute auf seine Füße. Ein kleines, dosenförmiges Objekt lag da und zischte vor sich hin. Kurz darauf gab es einen lauten Knall und alles wurde in ein gleißend helles Licht getaucht, das alle für ein paar Sekunden blendete. Als es wieder vorbei war und er wieder einigermaßen sehen konnte, waren der Offizier und der Gefreite verschwunden. Von der angeforderten Verstärkung war auch keine Spur. Die Flammen um Ryu erloschen und er sackte schwer atmend auf die Knie. Momo lief zu ihm und hielt ihn im Arm.

Die roten Flammen verbrennen alles oder gar nichts. Sie sind ein Ausdruck deines Willens. – Das war der Satz, an den sich Ryu erinnerte.

„Du hast uns gerade alle gerettet, verstehst du?“, flüstere Momo ihm ins Ohr. Ryu nickte und legte seine Arme um Momos Hals. Momo half ihm auf und sie schauten zu Zeraph. Momo befreite ihn von den Handschellen und wollte gerade einen Satz mit „Wer bist du“ oder ähnlich, beginnen. Doch bevor er was sagen konnte, bemerkte er eine wunderschöne Frau, die hinter dem Polizeiwagen stand und das Schauspiel die ganze Zeit beobachtete.

Wie hypnotisiert von ihrer Anmut starrte Momo sie sekundenlang wie benommen an. Zeraph sah die Umrisse der Frau als Spiegelbild in Momos tiefbraunen Augen. Er dreht sich um, und während er das Tat, zog die Frau sich die Kapuze vom Kopf und ihr rabenschwarzes Haar fiel ihre Schultern hinab.

„Drache”, flüsterte sie, während ihre weiche, blasse haut in sanftes Dämmerlicht getaucht wurde. Zeraph starrte sie wie eingefroren an.

Kapitel 9

Lieder alter Völker

Einen Augenblick, nachdem Val Zeraph angegriffen hat und verschwand, fand er sich auf einer weiten Lichtung wieder, die umgeben war von einem dichten, dunklen Nadelwald. Inmitten der Lichtung stand eine einsame Eiche. In deren Schatten saß eine seltsame Gestalt, angelehnt an den Stamm. Sie trug einen sehr weiten und langen, grauen Mantel und einen spitzen Hut mit einer sehr breiten Krempe. Val konnte von der Gestalt nichts weiter erkennen als den unteren Teil ihres Gesichts. Es war das Gesicht einer älteren Dame, die lächelte.

„Willkommen Valfaris”, begrüßte sie ihn mit einer weichen, weiblichen Stimme.

Schüchtern und langsam lief er auf sie zu. „Wer bist du?“ fragte er zögernd.

„Das verrate ich dir noch nicht”, antwortete die Frau. „Viel eher solltest du dich fragen, wo du bist”

Val schaute sich um. Er konnte nur bis an den Waldrand sehen, dahinter schien es nicht weiterzugehen. Keine Berge, keine Wolken, nur die Lichtung und der Waldrand. In allen Richtungen. „Und wo bin ich?“

„Nirgendwo”, antwortete die Frau. „Ich werde es dir erklären, wenn wir uns wiedersehen. Denn ich weiß, dass du nicht hier bist, um die Geheimnisse des Universums zu entschlüsseln, sondern um jemanden wiederzusehen, nicht wahr? Sie war auch hier”

„Meinst du etwa … Milena? Wo ist sie? Bitte sag es mir!“

„Sie hatte sich verirrt. Aber sie war sehr entschlossen, dich zu finden. Doch ich konnte ihr nur den Weg zurück in eure Welt zeigen. Nicht den Weg zu dir. Du solltest ihr folgen” Ein Teil des Waldes verschwand und gab eine weite unendlich große dunkle Leere preis. „Das ist der Weg, den sie gegangen ist. Der Weg zurück in eure Welt. Geh ihn entschlossen, genau wie sie es getan hat. Vielleicht findest du sie”

Val lief los und näherte sich der klaffenden Dunkelheit. Sein Herz schlug schnell und seine Atmung wurde flach. Er blieb stehen und schaute hinab. „Soll ich springen?“, fragte er angespannt.

„Es ist nicht schlimm Angst zu haben”, sagte die Frau, die plötzlich direkt hinter ihm stand. „Wenn dein Mut nicht reicht, kann ich dir dieses eine Mal vielleicht helfen”

Val drehte sich zu ihr um. Wieder sah er nichts von ihr als ein breites Grinsen. Dann legte sie ihre Hände auf seine Schultern. Langsam hob sich ihre Hutkrempe und zwei blutrote, leuchtende Augen blitzten darunter hervor. „Denk daran”, sagte sie eindringlich. „Milena ist von selbst gesprungen” Dann schubst sie Val hinab. Als er fiel, sah er noch, wie sie sich umdrehte und dabei winkte.

Die Luft war dünn und eiskalt. Wie eine Klinge glitt sie über Vals Gesicht, der sich im freien Fall in zehntausend Metern Höhe befand. Ein paar Sekunden brauchte er, um sich zu orientieren, dann streckte er seinen Körper Richtung Boden und legte die Arme flach an die Hüften. Er wurde immer schneller und schoss wie ein Pfeil auf die Erde zu.

Wenige Sekunden vergingen, da entdeckte er Milena vor sich, die Panisch zappelte und in der Luft trudelte. Val schoss an ihr vorbei, drehte sich und streckte Arme und Beine aus. Als sie ihn vor sich sah, lächelnd und zuversichtlich, beruhigte sie sich und konnte sich ein wenig stabilisieren. Val fing sie auf und nahm sie in den Arm, während sie sich weiterhin mit hoher Geschwindigkeit auf den Boden zu bewegten.

 

Milena hatte immer noch Angst aber je fester sie sich in Vals Rücken krallte, desto weniger bedrohlich empfand sie diese Situation. Sie brachen durch die Wolkendecke und langsam wurde der Boden unter ihnen sichtbar.

Sie rasten auf eine Stadtruine mit sehr hohen, überwucherten Gebäuden zu. Irgendwie war ihr klar, dass er sie nicht sterben lassen würde auch wenn es scheinbar aussichtslos war. Sie nahm ihren Kopf von seiner Schulter und schaute ihm ins Gesicht. Der Wind wirbelte ihr die Haare ins Gesicht und schmerzte in den Augen. Kurz sah sie ihn konzentriert nach unten schauen, dann zog er sie fest an sich und hielt ihren Kopf. Vor dem Aufschlag sah Milena noch ein weiches, grünes Licht. Dann schloss sie ihre Augen, vernahm ein Donnern und Beben, als würden Häuser einstürzen.

Ein paar Minuten später kam sie wieder zu sich. Sie richtete sich langsam auf und schaute sich um. Val lag neben ihr und atmete etwas schwer. Beide lagen in einem Krater, um sie herum Trümmer und verbogene Stahlbewährungen.

Es fing langsam an zu regnen und die Staubwolke lichtete sich allmählich. Milena nahm Val auf die Schulter und trug ihn mühsam in eines der intakten Gebäude, wo sie vor dem Regen geschützt waren. Es war ein kleiner Schnellimbiss, dessen Einrichtung noch ziemlich gut erhalten war. Langsam kam Val wieder zu Kräften und Milena setzte ihn auf einen Hocker.

Val öffnete die Augen und schaute sich um. Als er Milenas Blick traf, die ihn lächelnd beobachtete, durchfloss eine angenehme Wärme seinen ganzen Körper. Sie war vollkommen unverletzt und gesund. Minutenlang schauten sie einander wortlos in die Augen. Dann fiel Val auf, dass er an einem Ort war, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er stand auf und schaute sich um.

An den Wänden hingen überall noch Plakate und Werbebanner. Auf einem Plakat war eine Einladung zu einer großen Ausstellung von vor sechzig Jahren zu sehen. Milena sah sich das gleiche Plakat an und stellte fest, dass diese Stadt eine war, die nach dem großen Krieg gebaut wurde. Der Name der Stadt war Celestis. Sie wurde von den Überlebenden auf dem amerikanischen Kontinent gebaut und wuchs über die Jahre zu einer Großstadt heran.

„Wo sind wir?“, fragte Val. Milena verschränkte die Arme und starrte auf das Poster.

„Celestis”, murmelte sie. „Aber ich weiß nicht, wie wir hierhergekommen sind” Val stand auf und ging zu ihr.

„Kennst du diese Stadt? Und was ist mit diesem Mann da passiert? Ist er krank?“, fragte er und zeigte auf einen Mann mit dunkler Haut. Milena schwieg kurz. Dann drehte sie sich zu ihm.

„Nein, er ist nicht krank. Er hat einfach nur dunkle Haut. Das ist keine Krankheit, sondern ganz normal. Wie eine Katze, die schwarzes Fell hat” Val dachte nach.

„Jetzt versteh ich das. In der Ecclesia steht, dass es dunkle Menschen gibt, die sind unrein und müssen ein bestimmtes Ritual bestehen, dann können sie wieder zurück. Ich wusste nicht, dass damit die Hautfarbe gemeint war”

Milena Mine wurde traurig. „Ich glaube es war so fünfhundert Jahre nach dem großen Krieg. Sie nannten es die reinigende Flut. Menschen mit so einer Hautfarbe wurde gefangen und zu heiligen Orten gebracht. In dem Buch von Han steht, dass man sie dort einfach gesammelt und getötet hat”

„Aber… wieso? Das kann man doch nicht einfach…“, stotterte Val verängstigt.

„Da Celestis die Ecclesia nicht anerkannte, konnten diese Menschen nur hier in Frieden leben” Milena hielt kurz inne. „Val. Was ist da vorhin passiert?“, fragte sie besorgt.

„Ich hab dich gesucht, aber da war dieser Typ. Er sagte, er sei ein Drache. Dann hat mich diese Ajuki angegriffen, aber das war mir egal. Plötzlich warst du hinter mir und bist wieder verschwunden”, sagte er hektisch. Milena starrte auf ihre Hand.

„Ich hab mir gewünscht, bei dir zu sein. Aber es war als würde ich abrutschen” Das Symbol auf ihrer Hand schimmerte. „Als ob man einen Berg erklimmt und der letzte Vorsprung, an dem man sich festhält, bricht weg. Dann bin ich nur noch gefallen. Bis du mich gefangen hast”, sagte sie und lächelte. Val kratzte sich verlegen den Hinterkopf.

„Naja, keine Ahnung. Ich wusste nicht was los ist also hab ich einfach irgendwas gemacht” Er ging wieder zu dem Poster und schaute konzentriert darauf.

„Du hast gesagt du kennst diese Stadt. Was weißt du darüber?“, fragte er.

„Han hat viele Bücher über sie geschrieben. Sie war die erste Stadt, der neuen Welt und alle überlebenden gingen dort hin. Nach wenigen Jahren erblühte sie zu einer Metropole. Das ganze Wissen der alten Welt wurde dort zusammengetragen und erneuert” Sie ging zu Val und starrte nachdenklich auf das Poster.

„Wie ging es weiter?“, fragte Val neugierig. Milena verschränkte die Arme.

„Der technologische Fortschritt der Stadt war beispiellos. Und so wandten sie sich auch von den Fanatikern ab. Die Weltregierung in Marista verurteilte die Arroganz der Bürger von Celestis. Doch das Klagen der Hauptstadt stieß auf taube Ohren”, zitierte sie aus Hans Buch.

„Haben sie sie Stadt angegriffen?“ Milena nickte und schaute Val in die Augen.

„Ja, aber ohne Erfolg. Die Stadt wurde Monate lang belagert und immer wieder versuchte die Armee einzudringen. Aber die Technologie von Celestis war deren weit überlegen. Also gab die Weltregierung die Stadt frei” Val schüttelte den Kopf.

„Aber wieso ist hier alles wie ausgestorben?“ Milena seufzte und zeigte auf das Poster.

„Der Höhepunkt ihrer Arroganz war die Weltausstellung. Sie wollten allen anderen ihre Überlegenheit unter die Nase reiben. Bis dahin hatte die Weltregierung die Machenschaften noch argwöhnisch akzeptiert aber die Ankündigung der Weltausstellung war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Zwei Tage vor Eröffnung versank die Stadt im Chaos”

„Das versteh ich nicht. Ich dachte die Weltregierung konnte nichts gegen sie ausrichten?“, fragte Val verdutzt.

„Militärisch nicht. Es wurde ein Virus freigesetzt, der den Ausbruch einer schrecklichen Seuche verursachte. So sagen es die Verschwörungstheoretiker. Die Regierung behauptet, dass die Wissenschaftler ein Wirkstoff entwickeln wollten, der ihnen dieselben Kräfte vermacht, die Shezzar besaß”

„Und was ist die wahre Geschichte?“, fragte Val und starrte sie mit großen Augen an.

„Das kam nie ans Licht. Anfangs hielt ich die Geschichte der Verschwörungstheoretiker für glaubhafter. Aber nachdem was mit den Leuten geschehen ist und dem was Han über dich und deine Kräfte erzählt hat, glaub ich jetzt eher, dass die Regierung die Wahrheit sagt” Val schaute verwundert auf seine Hände.

„Was ist denn mit den Menschen geschehen? Und was hat das mit mir zu tun?“ Der Regen legte sich, und langsam brach die Sonne durch die dicken Wolken hindurch. Draußen sah man, weit entfernt, eine Große, gläserne Kuppel, die nach dem Regen glänzte. Milena ging zur Tür.

„Ich hab gehört, die Weltausstellung wurde kurz vor der Katastrophe fertig gestellt. Lass uns doch mal schauen” Sie verließ das Gebäude und Val folgte ihr. Sie gingen Richtung Glaskuppel und Milena erzählte was damals passiert ist. „Da es kurz vor der Weltausstellung war, gab es viele Aufzeichnungen von dem was passierte.

Auf allen Bildern war ein grün leuchtender Nebel zu sehen der durch die Straßen zog. Jedes Lebende Wesen, dass er berührte löste sich auf und wurde zu einer grün leuchtenden Flüssigkeit, die sich wie von selbst überall ausbreitete, sogar Wände hoch und durch Wandfugen in Gebäude eindrang und noch mehr Nebel erzeugte” Val schaute wieder auf seinen Handrücken, wo das Symbol ebenfalls in einem satten Neon-grün leuchtete.

„Denkst du, das hat was mit mir zu tun?“

„Ich weiß es nicht. Jedenfalls war nach wenigen Tagen alles vorbei. Alle waren tot. Die ganze Stadt leuchtete noch Monate lang in diesem Grün und nach und nach fing alles an zu überwuchern. Sie wurde unter Quarantäne gestellt und seitdem nie wieder betreten” Der Anblick der Stadt wurde immer beeindruckender.

„Sechzig Jahre steht sie jetzt schon verlassen und unberührt an diesem Ort”, fuhr Milena fort. „Alle haben es live im Fernsehen erlebt, was mit den Menschen hier passiert ist. Keiner hat je wieder einen Fuß in diese Stadt gesetzt. Aber zerstört wurde nichts. Die Häuser verfallen mit der Zeit. Doch es ist alles weitgehend erhalten” Fasziniert schaute Val sich die beeindruckende Kulisse vor sich an.

„Ich kann es kaum glauben, dass diese Stadt schon nach sechzig Jahren so zerfallen aussieht und Aletria nach Tausend nicht. Warst du eigentlich auch dort?“ Milena nickte schweigend, doch bevor sie darauf antworten konnte, sahen sie, wie sich langsam die riesige Glaskuppel vor ihnen auftat.

Sie war gebaut auf einem Stahlgerüst, fast so hoch wie ein Wolkenkratzer und so breit wie mehrere Stadien. Sie war überzogen mit einer Fassade aus bruchfestem Panzerglas, umgeben von einer weiträumigen Freifläche, die von großen Bäumen und hohen Gräsern bewachsen war. Dort war auch überall noch die grüne Flüssigkeit, die sich durch viele kleine Spalten im Boden wie kleine Äderchen über das Gebiet ausbreitete. Milena blieb stehen und hielt Val an der Hand.

„Geh nicht weiter. Du wirst sonst genauso enden, wie die anderen Menschen”, sagte sie Ängstlich. Val zerrte sie entschlossen hinter sich her.

„Keine Angst. Ich will wissen, was hier wirklich passiert ist”, sagte er mutig. Milena gab nach und ließ von seiner Hand. Val lief allein weiter, bis er eine der kleinen Spalten erreichte in der die Flüssigkeit war. Er kniete sich herab und tauchte seinen Finger hinein. Milena wurde nervös.

Sie erinnerte sich an die Bilder, die Han ihr gezeigt hatte und den Beschreibungen in seinen Büchern darüber was, mit Menschen passierte, die damit in Berührung kamen. Doch es passierte nichts. Val stand wieder auf und verrieb sie auf seinen Fingern. Sie war sehr dünnflüssig und völlig geruchlos.

„Es ist in Ordnung!“, rief er ihr zu. „Lass uns weitergehen” Milena nickte und lief ihm mutig zu ihm.

„Ist Aletria nicht der Name der Stadt mit dem riesigen Turm, die schon seit tausend Jahren verlassen ist?“, fragte sie in einem leicht rhetorischen Ton. Val nickte.

„Ja, genau so ist es” Er schaute auf sein Handgelenk. „Der Armreif ist kaputt. Er hat den Aufprall wohl nicht überstanden” Milena schaute sich Vals Handgelenk an.

„So etwas hab ich doch schon gesehen. Ich glaub Han hat auch so eins. Wozu ist es gut?“ Val zuckte mit den Schultern.

„Wohl etwas was man braucht, um Aletria betreten zu können” Erstaunt und überwältigt schauten beide auf, als sie das riesige Tor durchschritten und das Innere des Gebäudes sehen konnten. Allein das Ausmaß der Kuppel war schon beeindruckend aber die Ausstellung an sich, war es ebenso. Die High-Tech Stadt Celestis trumpfte mit dem letzten Schrei des Technologischen Fortschritts auf, den sie zu bieten hatte.

Es waren unter anderem Prototypen für Nullpunkt-Energie, Kalte Fusion, künstliche Schwerkraft, Schwerelosigkeit und der geplante Wiedereinstieg in die Raumfahrt mit einer frühen Form der Warp-Technologie. Aber alles war zu großen Teilen verrottet oder mit Pflanzen überwuchert. An bestimmten Stellen wirkte es eher wie ein Treibhaus, in dem viele verschiedene Pflanzenarten gezüchtet wurden. Das Seltsame war, dass nicht alles gleichmäßig bewachsen war, wie es der Fall wäre, wenn sich die Flora in den 60 Jahren ganz natürlich ausgebreitet hätte. Sondern an manchen Stellen wuchs kaum etwas und an manchen sehr viel. Selbst auf Beton und Stahl wuchsen Pflanzen.

Alles zusammen ergab ein Muster wie eine Explosion, die sich vom Zentrum der Kuppel aus ausbreitete. Dort war auch der Höhepunkt der Ausstellung. Eine riesige Maschine, die bis an den höchsten Punkt reichte und ihr gleichzeitig als Hauptpfeiler diente.

Beide staunten, als sie den Fuß dieser Maschine, die so groß war wie vier Wolkenkratzer, die nebeneinanderstanden, erreichten. Sie wurde noch immer mit Energie versorgt und gab ein sehr leises summen von sich. Ein paar Lämpchen blinkten harmonisch, ein paar digitale Zahlen leuchteten und hier und da sah man ein Manometer, dessen Zeiger sich hin und her bewegte. Vor der Maschine stand eine elektronische Infotafel, die immer noch zu funktionieren schien.

Val und Milena schauten sich den Film an, der die Maschine beschrieb. Eine graphische Darstellung war zu sehen, die die Maschine im Ganzen zeigte. Dazu sprach ein Kommentator:

„Das Wunder der Neuzeit und die größte technologische Errungenschaft seit Menschen Gedenken: Die Stella Infinium ist in der Lage alle Energieprobleme der gesamten Menschheit auf einen Schlag zu lösen. Seit der Entdeckung der kalten Energie vor 100 Jahren, fieberten Celestis Wissenschaftler an einer Maschine, die uns diese Energie nutzbar macht” Val und Milena staunten.

„Kalte Energie?“, fragte Val, „Gibt es das wirklich?“ Milena zuckte mit den Schultern. Val tat ihr gleich und beide schauten wieder auf den Bildschirm.

„Die Kuppel, unter der sie sich gerade befinden, ist der Kollektor, der die Energie aus dem Äther extrahiert und sie für uns nutzbar macht. Diese Energie wird zunächst in eine Flüssigkeit umgewandelt, die so stark konzentriert ist, dass bereits ein Tropfen reicht, um eine Großstadt für ein Jahr lang mit ausreichend Energie zu versorgen”

Jetzt fiel den Beiden auf, dass überall um sie herum kleine Phiolen, teilweise zerbrochen, teilweise intakt auf dem Boden lagen. In denen, die nicht zerbrochen waren, befand sich eine hellgrüne, trübe Flüssigkeit. Etwa 5 Meter über ihnen, sahen sie sechs riesige, gläserne Rohrleitungen, die alle samt zerplatzt waren. Die Grafik auf dem Bildschirm, die die Maschine schematisch darstellte, zeigte dass sich in ihrem inneren Teil ein Modul befand, dass die Energie direkt in diese Flüssigkeit umwandelt. Wie das ganze funktionierte, war natürlich streng geheim und der Zugang dahin war abgesichert. Milena kratzte sich an der Schläfe.

„Was hast du jetzt vor?“ Fragte sie etwas angespannt. Val hob eine der intakten Phiolen auf und steckte sie in seine Tasche. Dann ging er zu ihr und schaute ihr mit ernster Miene ins Gesicht.

„Irgendetwas Wichtiges ist da oben. Etwas, nachdem ich suche” Milena sah sich ihre Hand an.

„Wir sind genau wie dieser Typ aus Hans Büchern. Wir haben auch diese Kräfte. Was ist, wenn alles nochmal passiert?“ Val nickte.

„Dann passiert es halt. Vielleicht ist dort oben eine Antwort”, sagte er etwas zynisch und ging in den Gesperrten Bereich, hinter der Maschine. Er fand eine Tür, die durch verschiedene Sicherheitseinrichtungen verschlossen war. Val hatte keine Lust, sich jetzt mit verschlossenen Türen herumzuplagen und ließ sein Schwert erscheinen. Er holte aus und rammte es einfach hinein. Das Schwert veränderte seine Form und sprengte die Tür aus den Angeln. Dann verschwand es wieder.

Entschlossen ging er hindurch und nach ein paar Metern, erreichte er einen Aufzug. Milena folgte ihm und beide gingen hinein. Die Tür schloss sich automatisch und ein handgroßes Display leuchtete auf, dass einen ID Pass verlangte.

„Ach, verdammt!“, Grunzte Val und trat gegen die Wand. Milena lächelte und legte eine kleine Karte aus Plastik darauf. Plötzlich bewegte sich der Aufzug. Aber nicht nach oben, wie sie es erwartet hatten. Val schaute verwundert und kratzte sich am Hinterkopf.

„Wieso fahren wir nach unten? Die Maschine sollte doch oben sein” Milena zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht ist das die falsche ID-Karte?“ Val verschränkte die Arme und schaute nachdenklich. Dann schüttelte er mit dem Kopf. Ein paar Minuten war es ruhig und beide schwiegen verhalten.

 „Ich glaube das was da ist, ist wichtiger als die Welt mit Energie zu versorgen”, sagte Val, kurz darauf öffnete sich die Aufzugtür. Es drang ein beißender Geruch von Alkohol und Desinfektionsmittel in den Aufzug. Vor ihnen befand sich ein langer, schmaler Gang, an dessen Ende eine Leiter nach oben führte. Milena verzog ihre Mine etwas angewidert.

Val nahm sie an der Hand und beide verließen zaghaft den Aufzug. Sie stiegen die Leiter hinauf. Als sie oben ankamen, befanden sie sich in einem großen Raum, der wie eine Schale gewölbt war. Im Zentrum des Raumes, weit über den beiden, befand sich eine gläserne Kugel, die zerborsten war.

Man konnte erkennen, dass sie mit der Flüssigkeit gefüllt war, da an der oberen, intakten Hälfte noch die Schläuche hingen und die Flüssigkeit noch immer herabtropfte. Der Boden des Raumes war mit einer besonderen Oberfläche ausgestattet, die scheinbar eine reflektierende Wirkung hatte und aus einzelnen Kacheln bestand. Es gab keine Lampen in dem Raum und dennoch war es sehr hell.

Das ganze Licht kam von der Flüssigkeit, die aus der Glaskugel tropfte. Fasziniert schauten sich die beiden um. Milena entdeckte eine Stelle, an der eine der Kacheln am Boden beiseite gerückt war und ein klaffendes Loch im Boden hinterließ. Zaghaft näherte sie sich und fand einen Schacht, der sehr weit nach unten führte. Für Val war klar, dass es keine andere Option gibt als herauszufinden was sich am Ende des Schachtes befindet.

„Was meinst du? Gehen wir da runter?“, fragte er mutig. Milenas Gedanken waren sehr durchwachsen. Sie machte sich Sorgen, Val könnte sie als nervigen Ballast empfinden, wenn sie sich ängstlich gibt. Sie wollte ihn unterstützen, ihm helfen zu finden was er sucht, doch allem voran wollte sie ihn beeindrucken.

Mutig und entschlossen nickte sie, dann stieg sie auf die Leiter und kletterte hinab. Val folgte ihr. Im Schacht waren zahllose Rohrleitungen und Kabel, die nach unten führten. Es war stockfinster und es roch modrig wie in einem Keller. Sie sahen nur noch mit dem Licht, das aus der oberen Öffnung hinab schien. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen sie unten an und folgten den Rohren durch einen Kanal, an dessen Ende sich eine offene Wartungsluke befand, aus der ein schwaches Leuchten hervordrang.

Auf der anderen Seite war ein großes Labor, ausgestattet mit vielen Elektronischen Geräten, Bunsenbrennern und schrankhohen Gläsernen Zylindern, die mit der grünen Flüssigkeit gefüllt waren. Das einzige Licht im Raum kam wieder nur von der leuchtenden Flüssigkeit, die überall an den Wänden klebte und aus Rissen hervorquoll.

Einer der großen Zylinder sah anders aus. Die Flüssigkeit darin leuchtete nicht und war sehr trüb. Man konnte kaum was erkennen. Ein seltsames Gefühl zog Val zu diesem Zylinder. Er wischte den Staub vom Glas, plötzlich fing das Symbol an seiner Hand an hellt zu leuchten und die Flüssigkeit in dem Behälter wurde klar wie Wasser.

Er konnte nun einen kleinen Jungen sehen, an dem zahlreiche Schläuche und Geräte angeschlossen waren. Auf seinem Kopf war ein seltsamer, elektronischer Stirnreif, auf dem zahlreiche Dioden leuchteten und blinkten. Wie versteinert starrte Val dem Jungen ins Gesicht und ihn überkam das Gefühl einen lang verschollenen Kameraden wiederzusehen.

Milena stand hinter ihm und sah wie das Symbol auf Vals Hand pulsierte und eine seltsame Energie abstrahlte, die mit der Flüssigkeit im Zylinder reagierte. Kleine, grün schimmernde Blitze zuckten durch die Flüssigkeit und der Junge schien darauf zu reagieren. Langsam kam er zu Bewusstsein und öffnete die Augen. Sie glühten Saphirblau und starrten Val durchdringend an.

„Das ist der Junge aus meinem Traum” Stammelte er und taumelte etwas zurück. Milena näherte sich dem Zylinder und starrte ihn ebenfalls an.

 „Er ist am Leben”, sagte sie, dann sah der Junge zu ihr. Kurz verlor sie sich in seinem Blick, dann fing er an panisch den Kopf zu verdrehen und sich von den Schläuchen loszureißen. Einige Lichter gingen an und ein Alarm ertönte.

Val schlug mit der Faust auf das zentimeterdicke Glas ein, doch es machte keine Anstalten nachzugeben. Er war so gestresst, er vergaß, dass er jederzeit sein übermächtiges Schwert beschwören und den Jungen ohne Mühen befreien könnte.

Dann beruhigte sich der Junge wieder und schaute Val gefasst in die Augen. Er streckte seinen Arm aus und berührte die Innenseite des Zylinders mit seinem Zeigefinger. Kleine Risse bildeten sich von seinem Finger aus und das Glas zerbarst. Die Flüssigkeit schwappte heraus und Val half dem Jungen sich zu befreien. Er zog sich einen langen, schleimigen Schlauch aus seinem Hals und holte tief Luft. Milena holte ein Handtuch, das sie in einem Umkleideraum nebenan fand und legte es dem Jungen über die Schulter.

Sie halfen ihm auf und setzten ihn auf einen Hocker. Wieder schaute der Junge Val in die Augen. Er war nicht größer als Ryu und hatte helle, blonde Locken, die durchnässt an seinem Kopf anlangen. Seine Haut war blass und auf seiner Hand befand sich ein ähnliches Symbol wie das von Val.

„Hey Shezz‘“, sagte er und musste ein paar Mal husten. „Was ist denn mit dir passiert?“ Dann lachte er. „Du siehst aus als wärst du in einen Jungbrunnen gefallen. Jetzt kann ich dich gar nicht mehr mit alter Knacker ärgern” Val schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht genau, wer du bist”, sagte er verlegen und schaute mit einem fragendem Blick zu Milena rüber. Wieder lachte der Junge.

„Jetzt nimmst du mich aber auf den Arm. Vor ein paar Wochen sind wir noch zusammen durchs Weltall geflogen und jetzt weißt du nicht mehr, wer ich bin? Das sieht dir gar nicht ähnlich, Shezzar” Wieder schüttelte Val verlegen den Kopf.

„Ich heiße Valfaris. Das ist Milena. Ich kenne keinen Shezzar und ich war auch noch nie im Weltall”, Val kratzte sich am Kinn, „Aber ich glaub ich weiß, wer du bist” Plötzlich erinnerte Val sich wieder an das, was Zeraph ihm erzählt hat.

„Du bist Bellami, oder? Und Shezzar war mein Name vor tausend Jahren” Der Junge schaute Val entsetzt ins Gesicht.

„Ja, das ist mein Name. Tausend Jahre? Ich kann doch nicht so lang hier drin gewesen sein? Was ist passiert?“ Er stand auf und lief nervös umher. Dann sah er sich um. „Ich kenne diesen Ort nicht. Wo ist mein Armreif? Wo sind meine Sachen?“ murmelte er.

Neugierig lief er durch die wenig beleuchteten, staubigen Gänge, mit nichts außer einem alten Handtuch um die Hüfte. Am Ende eines breiteren Gangs, erweckte ein schweres Metallschott seine Aufmerksamkeit. Val und Milena sind ihm die ganze Zeit gefolgt und waren ebenso fasziniert. Belami stemmte die Arme in die Hüfte.

„Soll ich dir diese Tür öffnen?“, bot Val an. Belami schüttelte den Kopf. Er streckte seinen Arm aus und berührte das Schott. Knackende und klickende Geräusche waren zu hören. Dann fing es an sich zu bewegen. Langsam und anmutig versank es im Boden und gab einen Raum frei, indem sich so etwas wie eine Galerie befand.

Ein Sammelsurium von Artefakten verschiedenster Arten. Vieles davon waren nur einfache, undeutbare Gegenstände, wie ein zerbrochenes Stück Tafelkreide, ein zerbeultes Metallblech mit seltsamen Inschriften, eine alte Uniform, wie die eines hohen Offiziers einer Armee, ein kleiner kristallener Splitter, der anfing grünlich zu pulsieren, als Val sich ihm näherte und zugleich verschwand.

Belami fand in einer Vitrine rechts von ihnen sein Armreif und seine Kleidung. Eine weit geschnittene, dunkelblaue Hose auf der ein goldenes Muster gestickt war. Ein tailliertes, schlichtes, hellblaues Hemd, eine dünne Weste mit den gleichen Mustern wie die auf der Hose. Und ein großer, schwerer Mantel, der bis fast auf den Boden reichte, mit breiten Schultern, Laschen und Knöpfen. Auf der Brust war ein verschnörkeltes, goldenes A gestickt.

Ohne auf Val und Milena Rücksicht zu nehmen, legte er das Handtuch ab und zog sich an. Val, dem das Wort Privatsphäre ebenso unbekannt gewesen schien wie Belami, störte sich wenig daran.

Milena verließ aus Anstand den Raum. Belami streifte sich den Armreif über das linke Handgelenk und schaute zu Val auf.

„Jetzt fühl ich mich wieder wohl. Kommt, wir müssen den Drachen finden. Kennt ihr ihn?“ Belami betrat den Raum hinter der Galerie, wo sich ein weiteres, noch größeres Labor befand.

„J-ja … irgendwie hab ich ihn umgebracht, glaub ich”, sagte Val klapprig. Bellami schaute ihn finster an und fing plötzlich an laut zu lachen.

„Du hättest mich fast drangekriegt”, schrie er und rang dabei nach Luft, „Wenn du es geschafft hättest, einen Drachen zu töten, dann wäre die Welt nicht mehr an diesem Ort, geschweige denn an einem Stück” Er drehte sich rum, lief los, blieb aber gleich wieder stehen und starrte fragend Löcher in die Luft.

„Wo sind wir überhaupt?“, fragte er emotionslos.

„Die Stadt heißt Celestis”, antwortete Milena. „Was das hier ist, wissen wir selbst nicht so genau. Wir wissen auch nicht, warum wir hier sind” Val zuckte mit den Schultern. Bellami drehte sich zu ihnen.

„Shezz ... Ich mein Val. So heißt du ja jetzt”, er holte tief Luft. „Du hast gesagt, es sind tausend Jahre vergangen. Und du kannst dich nicht mehr an die Zeit davor erinnern?" Val nickte. Plötzlich machte Bellami ein schrecklich trauriges und entsetztes Gesicht. „Wir waren doch immer Freunde, oder?“, sagte er leise.

„Ich glaub schon. Nach allem was Zeraph mir erzählt hat”, antwortete Val rücksichtsvoll.

„Dir muss etwas Schreckliches passiert sein” Milena schaute zu Val. Val starrte bedrückt auf den Boden.

„Er hat gesagt, dass ich nach dir gesucht habe. Und dabei fast die ganze Welt vernichtet hab. Han hat mich aufgehalten und ich hab Tausend Jahre nicht existiert, oder so” Alle starrten sich schweigend an.

„Kannst du dich erinnern, wie du hierhergekommen bist?“, fragte Val vorsichtig. Bellami schüttelte den Kopf.

„Es gab einen Ort, an dem ich gerne Zeit verbrachte. Es war sehr idyllisch und friedlich. Ich hab da gern ein paar Stunden gedöst und mich der Einsamkeit dieses Ortes hingegeben” Er lehnte sich an die Wand und starrte nach oben, „In der Nähe war eine Siedlung, die relativ abgeschottet von der Zivilisation war. Niemand dort hatte mich gesehen. Eines Tages sah ich Rauch aufsteigen und beschloss mir das anzusehen”

„Was ist passiert?“, fragte Milena aufmerksam.

„Das wusste ich nicht. Eines der Häuser brannte und in ein anderes führten mehrere Blutspuren. Dort waren alle Kinder an den Füßen hängend an die Decke geknüpft”

„Waren sie tot?“, fragte Milena entsetzt. Bellami nickte bedrückt.

„Ja. So wie sie aussahen wurden sie schrecklich gefoltert und verletzt” Milena atmete tief und schaute ihn mitfühlend an.

„Aber wieso?“, fragte sie.

„Ich kann mich nur noch dran erinnern, wie ich von etwas getroffen wurde und mich nicht mehr bewegen konnte. Dann haben sie mich in diesen Tank gesteckt und ich bin eingeschlafen” Val schaute sich um. Die ganzen Geräte in dem Raum waren verstaubt und mit Spinnenweben überzogen. Aber sie sahen nicht aus, als wären sie tausend Jahre unbenutzt. Bellami griff nach Vals Hand.

„Was ist mit dir? Irgendwas bedrückt dich doch”, fragte er ihn.

„Diese Stadt wurde nach dem großen Krieg gebaut. Wie kann es sein, dass du schon vorher hier warst?“

„Was für ein großer Krieg?", fragte Bellami bedrückt. "Ist es das, was deinen Schmerz auslöst? Was ist passiert?“ Val erzählte ihm alles, was er davon wusste. Von seinen Träumen, von Han, von seinem Leben in Marista und wie er Milena kennengelernt hat. Bellami sah interessiert zu ihr.

„Danke, dass du auf ihn aufgepasst hast. Er war schon immer ein Hitzkopf”

„Also bin ich doch eine Art Auserwählte, oder was?“ Bellami lachte laut und schüttelte den Kopf.

„Nein, das würde sie nicht tun. Und Shezzar auch nicht. Du hast dich selbst dafür entschieden, aus welchen Gründen auch immer” Plötzlich ging die Hauptbeleuchtung an und die elektronischen Anlagen fuhren hoch. In dem ganzen Komplex wurde es Taghell, die Belüftung sprang an und es erschienen überall Grafiken und Aufzeichnungen von Forschungsprojekten. Die Drei schauten sich alles genau an. Die leuchtende Flüssigkeit, die die Bewohner der Stadt vergiftet und getötet hat, ist reines Wasser. Es wurde mit einer unbekannten Energie angereichert, die sich in Bellamis Umgebung bildete, wenn er bestimmten Reizen ausgesetzt wird.

Er wurde in ein künstliches Koma versetzt, da er zu mächtig war und sich sonst befreit hätte. Dieses Koma war so wichtig, dass die Maschinen unter allen Umständen funktionieren mussten. Man entwickelte ein System, dass selbst dann noch arbeitete, wenn alles andere zerstört wurde. Als die Menschen die Einrichtung 500 Jahre nach dem Großen Krieg wiederfanden, funktionierte sie immer noch. Sie bauten Celestis um die Anlage herum und nutzten Bellami weiter als Energiequelle, ohne zu wissen wer er war. Milena erinnerte sich.

„Dieses Grüne zeug. Davon haben sie in dem Labor in Marista geredet”, sagte sie mit trauriger Stimme.

„Leben und Tod – Terra“, sagte Bellami. „Es ist überall dort, wo es Leben gibt. Es gibt sie im ganzen Universum aber am stärksten ist sie auf Planeten wie diesem. Du und Val habt die Fähigkeit diese Energie zu nutzen. Nein, stimmt nicht. Bei dir ist es anders” Bellami schaute Milena starr und nachdenklich an. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, bei dir ist es vollkommen anders. Aber ich weiß nicht, was” Val schüttelte den Kopf.

„Leben und Tod… Davon hat mir Zeraph auch was erzählt. Aber wieso sind alle daran gestorben?“

„Naja, wie soll ich das erklären. Es ist reine Energie, die mit allem reagiert. Es ist wie Elektrizität: Einerseits ist sie wichtig zum Leben. Aber wenn du zu viel davon abbekommst, tötet sie dich. Nur mit der Terra ist es etwas komplizierter”

„Du meintest, dass nur ich und Milena diese Energie kontrollieren können. Aber Zeraph sagte, du beherrschst eine andere Art von Energie. Astra hat er es genannt. Wie konnten sie dann dieses Terra von dir gewinnen?“, fragte Val skeptisch.

„So ganz kann ich mir es auch nicht erklären. Die großen Kräfte stehen alle in einer besonderen Verbindung zueinander. Genau wie bei Milena, umgibt mich Terra auch in einem höheren Maße und reagiert mit mir. Nur kann ich es nicht kontrollieren, so wie du”

„Also hat Milena auch diese Kräfte?“

„Nein, sie ist anders”, antwortete Bellami herablassend und schaute Milena an. „Es ist bei ihr nur leicht erhöht. Aber ich denke, dass liegt eher daran, dass sie mit dir zusammen ist” Bellami schaute Milena tief in die Augen. „Da ist noch etwas” Er kniff seine Augen zusammen und stieß ein kurzes Lachen aus. „Bist du zufällig mal einem Faarih begegnet?“ Milena zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Was ist denn das schon wieder?“ Bellami lachte.

„Ach nix. Passt schon. Ihr werdet es noch früh genug erfahren”

„Und was ist mit dir?“, fragte Val. „Zeraph meinte du bist der Stärkste von uns. Wie geht das, wenn du auch nur eine dieser großen Kräfte benutzt?“ Bellami schaute Val mit seinen glühenden, Saphirblauen Augen ins Gesicht.

„Wir sind nicht alle gleich. Zeraph ist ein Drache. Du bist ein Soldat. Ein Krieger, den sie rekrutiert hat, um ihre Macht zu demonstrieren. Eigentlich nichts Besonderes. Ich hingegen … Nun, Astra ist eine Kraft, die mit allem verbunden ist. Sie ist überall und sie ist unendlich stark. Sie ist zwischen den Welten und fließt durch alles und jeden. Ich kann nur einen kleinen Teil davon nutzen, aber das reicht, um mächtiger zu sein als alle anderen” Er schaute nachdenklich in die Luft. „Naja, nicht wirklich alle” Er lachte laut. „Was machen wir als nächstes?“

„Willst du nicht zurück nach Hause?“, fragte Milena. Bellami lächelte und nickte.

„Natürlich will ich das. Aber es gibt hier bestimmt noch ein paar interessante Sachen zu entdecken, oder nicht? Gehen wir erst Mal nach draußen” Sie durchquerten das Labor, vorbei an riesigen Lagerhallen, die alle mit Fässern der Flüssigkeit gefüllt waren. Alles war hell erleuchtet.

Ein paar Stockwerke höher durchquerten sie eine Etage mit weiteren Labors. Überall waren Käfige, in denen Pfützen der grünen Flüssigkeit befanden. Auf dem Boden ebenso. Der gleiche Anblick als sie durch die Büroetagen gingen. Als sie die Oberfläche erreichten, brach bereits der Abend herein und die Stadt erstrahlte nun in einer grünen Marmorierung, die sich über alle Häuser und Straßen zog.

Der Anblick war so fantastisch, dass sie beschlossen auf eines der hohen Häuser zu klettern, um sich das ganze anzusehen. Sie erreichten die Dachterrasse eines Luxuswohnhauses und setzten sich dort auf eine relativ gut erhaltene Hollywoodschaukel. Sie überblickten die ganze Stadt und vor ihnen war die riesige, gläserne Kuppel, die am hellsten leuchtete. Obwohl es seit Sechzig Jahren jede Nacht das gleiche Schauspiel war, waren sie wohl die ersten, die es je mit eigenen Augen gesehen hatten. Vals Schwert erschien in seiner Hand und pulsierte im gleichen Takt wie die Stadt.

„Sag mal, Bellami” Val hob es in die Luft. „Kannst du mir sagen was es damit auf sich hat? Ich mein; wieso ausgerechnet ein Schwert? Wozu überhaupt so eine Waffe, wenn ich auch ohne sie so mächtig bin?“ Bellami nickte.

„Ein Schwert…“, murmelte er „Anfangs war es das vielleicht. Ein zerbrechlicher Kristall aus Terra, in Form eines Schwertes. Es half dir wohl damals mit den Schmerzen umzugehen und dich zu befreien. Du hast es nachdem nicht mehr gebraucht, aber du wolltest dich auch nicht davon trennen. Du hast Monatelang damit experimentiert, wolltest es noch stärker und widerstandsfähiger machen.

Irgendwann konnte es keine mehr Energie aufnehmen ohne noch größer und unhandlicher zu werden. Zusammen haben wir nach einer Lösung gesucht, aber es wollte uns einfach nichts einfallen. Ich hab es dann aufgegeben, weil ich mich um die Stadt kümmern musste. Du aber nicht”

Val schaute sich die Klinge an. Im inneren pulsierte das Symbol für Terra und ein Kreis aus Schriftzeichen rotierte um es herum. Er ließ die Klinge zerbrechen und die Fragmente schwebten anmutig in der Luft. Er veränderte ihre Form und ließ die Splitter umherschwirren wie Glühwürmchen. Es tat immer genau das, was er sich vorstellte. Bellami fuhr fort.

„Du warst dann eine Weile sehr beschäftigt und wir haben uns kaum gesehen. Aber ein paar Monate später hast du es irgendwie geschafft. Du hast es um eine Raumdimension erweitert und konntest es nun mit unendlich viel Energie füllen, ohne dass es größer wird. Naja, nicht ganz. Es ist größer geworden, nur kann man es nicht sehen. Es ist wohl mittlerweile größer als die Erde. Was du hier siehst ist nur der winzig kleine Teil des Schwertes, dem du erlaubst in diesen Dimensionen zu erscheinen. Deswegen kann es auch seine Form verändern und an mehreren Orten gleichzeitig sein, wenn du es willst. Einfach weil es bereits überall ist”

„Eine höhere Raumdimension?“, fragte Val erstaunt.

„Ja, das ist möglich. Stell dir eine Kugel vor, auf der ein winzig kleiner Käfer läuft. Für den Käfer ist die Kugel Flach und zweidimensional, weil er so klein ist und nicht darüber hinwegsehen kann. Er kann die Kugel auch nicht verlassen, weil er zu schwach dafür ist. Für ihn ist die Welt eine gerade Fläche. Es gibt links und rechts, vor und zurück aber kein oben und unten. Aber du siehst die Kugel von weiter weg und siehst, dass sie rund und dreidimensional ist. Du kannst jeder Zeit an jeden Punkt der Kugel gelangen einfach weil du überall um sie herum bist. Naja, das ist sehr einfach ausgedrückt aber so in etwa funktioniert das mit den höheren Dimensionen”

„Das heißt, das Schwert ist überall. Und wenn ich es verschwinden lasse, verschwindet es nicht, sondern es rückt einfach nur eine Ebene höher und ich sehe es nicht mehr, richtig?“ Bellami lachte.

„Ja, so ist es. Die Drachen machen es auch so. Vielleicht hat dir Zeraph damals gezeigt, wie das geht. Ich bin erst später darauf gekommen und war schon etwas eifersüchtig, weil du es vor mir kapiert hast” Milena war schon auf Vals Schoß eingeschlafen und Bellami wurde auch langsam müde. Val spielte noch eine Weile mit dem Schwert herum, dann döste er langsam ein. Sie wachten erst am späten Nachmittag wieder auf. Bellami stand auf und streckte seine Gliedmaßen so sehr er konnte.

„WAAAH!“, brüllte er, „Fühlt sich das gut an” Val und Milena wachten ebenfalls auf. Die Mittagsonne brannte wie Feuer auf ihren Gesichtern. Es war sehr warm und die Kuppel reflektierte das Sonnenlicht genau auf sie.

„Jetzt muss ich aber meinen Drachen wiederfinden. Ihr wisst nicht zufällig, wo er ist?“, fragte Bellami, wohl wissend, dass er keine verwertbare Antwort bekommen würde. Die Beiden zuckten nur mit den Schultern. Bellami schaute auf seinen Armreif. Es war nichts zu sehen.

„Ist er auch kaputt?“, fragte Val.

„Nein. Es brauch nur eine Weile bis ich ihn gefunden hab, da die Konzentration von Terra hier so groß ist”

„Du kannst ihn mit diesem Ding finden?“

„Ja, kann ich. Aber nur weil er es zulässt. Diese Funktion ist sehr empfindlich, deswegen ist sie sehr eingeschränkt. Ich frage mich, warum er es überhaupt aktiviert hat” Val schaute zu Milena und dann wieder zu Bellami.

„Vielleicht will er gefunden werden” Bellami kratzte sich am Kopf.

„Nicht besonders typisch für ihn. Naja, vielleicht ist es auch nur ein falsches Signal oder er hat es irgendwo liegen lassen”

„Oder…“, sagte Milena zaghaft. „Er hat dich vermisst und es deswegen eingeschaltet” Bellami schaute nachdenklich auf den Armreif.

Hat er sich so stark verändert? Dachte er. „Naja, finden wir es heraus. Die Position ist nicht sonderlich genau, aber ich denke es wird wohl gehen” Bellami hielt seine Hand in die Luft. „Ich hasse das!“, brüllte er laut und die drei verschwanden.

 

Ein paar Minuten vorher in den Slums von Marista ...

 

Ajuki starrte Zeraph tief in Augen. Langsam lief sie zu ihm. Zeraphs Herz schlug in einer bedeutend höheren Frequenz als üblich. Sie lächelte ihn an und streckte ihre Hände nach seinem Gesicht aus. Zeraph versuchte sein kaltes Grinsen zu erhalten, aber das wurde immer schwieriger. Er zog ein Messer und hielt es ihr an die Kehle.

„Was hast du vor?“, flüsterte er drohend, „Ich bin nicht wie Val, der, ohne nachzudenken deinem hübschen Gesicht verfällt. Du weißt ja jetzt, wie es ist, zu sterben. Und ich glaub nicht, dass es dir gefallen hat” Ajuki schaute auf die Klinge herab.

„Töte mich, wenn es dir Freude bereitet. Ich werde immer wieder kommen. Nach tausend Jahren stehe ich nun vor dir” Sie zog seinen Kopf zu sich und küsste ihn. Die Klinge schnitt sich langsam und schmerzvoll durch ihre Haut. Doch sie hörte nicht auf. Zeraph ließ das Messer fallen. Nach ein paar Sekunden ließ sie wieder von ihm ab, schaute ihm in die Augen und lächelte, während ihr das Blut den Hals herabrann.

„Egal was ich getan habe, nichts blieb erhalten. Alles verendete, verkam und verlor sich in der Zeit. Alles”, sie kippte ihren Kopf leicht zur Seite, „Alles... außer dir” Beide sahen sich tief in die Augen. Plötzlich erschienen Val, Milena und Bellami hinter ihnen. Als Val Momo sah, ging er angespannt auf ihn zu.

„Val?“, fragte Momo zurückhaltend und ängstlich. Er rieb sich am Hals, wo er immer noch blaue Flecke von Vals angriff hatte. „Bist du“, er stotterte ängstlich, „wieder normal?“ Val kratzte sich am Hinterkopf. Er hatte das Gefühl er müsse ihm so schnell wie möglich alles erzählen, was ihm passiert ist. Dabei bemerkte er zwar, dass Ajuki auch bei ihnen war, aber er fühlte sich nicht mehr bedroht von ihr.

„Dieser eine Typ”, stammelte Val aufgeregt, „Er hatte Ryu. Ich hab ihn befreit, dann hatte er mich”, er lachte beschämt, „Dann hat er mich verkauft und ich war in einem Krankenhaus oder so. Da war diese unangenehme Frau und diese riesigen Soldaten”, er sprach immer schneller, „D-dann war ich ein einem Raumschiff und als ich aufgewacht bin, war ich bei ihr”, er sah zu Milena, „Dann war ich wieder in Marista und“, Val unterbrach sich selbst, als er sich erinnerte, wie er Momo fast getötet hat. „Ich … Ich wollte dir nicht weh tun”

Eine Eiseskälte fuhr durch seine Adern. Er hatte seinen besten Freund angegriffen. „Ich hatte diese Kraft und sie hat mich vollkommen eingenommen. Es tut mir so leid”, sagte er hastig und nervös. Momo schwieg und schaute traurig auf den Boden. Während sich die beiden anschwiegen schaute sich Bellami um.

„Ich seh' schon, ich seh' schon. Der Drache hat hier gewütet. Haha!“ Er ging zu Ryu, packte ihn an den Schultern und sah ihm in die Augen. Ryu war wie erstarrt vor Entsetzen, dass der Junge ihn einfach so packt und argwöhnisch mustert.

Zeraph, der mit dem Rücken zu ihnen stand, zuckte ein wenig nervös mit den Ohren. Diese Stimme kannte er nur zu gut. Aber er war fest an Ajukis Blick fixiert.

„Was hast du?“ fragte Ajuki vorsichtig. Doch er war wie eingefroren. Bellami musterte Ryu weiter.

„Also wirklich, hier hat sich ja alles verändert. Hast du etwa auch noch mal neu angefangen, wie Shezzar? Bin ich denn wirklich der Einzige, der noch so ist, wie früher? Zeraph? Was ist los? Antworte mir!“, sagte er immer lauter und schüttelte Ryu.

„A-aber“, stotterte er. „Ich bin nicht Zeraph, ich bin Ryu” Bellami schüttelte den Kopf.

„Nein, du bist Zeraph, du erinnerst dich nur nicht. Du bist doch ein Drache. Jetzt frag dein Herz wer ich bin. Ich helfe dir. Los, komm, wir gehen nach Aletria”, sagte er aufgeregt und zerrte an Ryus Hand.

„Aletria?“, stotterte Ryu wieder, der kaum Widerstand leisten konnte. „D-du meinst die Silberne Stadt?“

„Silberne Stadt?“ antwortete er herablassend, „Oh Man. Könnt ihr mal aufhören alles umzubenennen? Das nervt langsam”

„Aber ich bin wirklich nicht Zeraph!“, brüllte Ryu auf einmal mutig. „Der steht nämlich da drüben!“, und zeigte mit seiner freien Hand auf Zeraph und Ajuki. Langsam realisierte Zeraph, dass er sich die Stimme nicht nur einbildet und drehte seinen Kopf erwartungsvoll um.

Bellami blieb stehen und schaute rüber zu den beiden. Dann fing er an lauthals zu lachen. Er lachte so heftig, dass er auf die Knie ging, sich den Bauch festhielt und mit der Hand auf den Boden schlug. Als sich Bellamis Antlitz langsam in Zeraphs Blickfeld schob, grinste er so böse, dass selbst Superhelden sich in die Hose gemacht hätten. Bellami rang schon nach Luft.

„Ich glaub es nicht. Fast hätte ich dich mit diesem Jungen verwechselt” Zeraph lief wie hypnotisiert zu ihm. Bellami stand auf und ging ebenfalls auf ihn zu. Währenddessen musterten sie einander. Beide grinsten so argwöhnisch, dass jedem klar war: Hier bricht gleich die Hölle los.

„Hey Drache!“, brüllte Bellami laut. Zeraph knirschte mit den Zähnen.

„Hey, Kleiner” grummelte er. Sie blieben einen Meter voreinander stehen und schauten sich grimmig ins Gesicht.

„Wen nennst du hier kleiner”, sagte Bellami, „Du warst mal 30 Meter groß und jetzt? Pah!“

„So? 30 Meter? Wieso werde jedes Mal kleiner, wenn du meine Größe abschätzt? Ich kann dir gerne zeigen, dass ich noch genau so groß bin wie vorher” Alle starrten erschrocken zu ihnen. Es brach eine belastende, ernste Stille herein. Bellami versschränkte die Arme und fing an gelangweilt in die Luft zu schauen.

„Erklärst du mir, wieso dieser Junge das Drachenfeuer besitzt?“, fragte Bellami stumpf und gelangweilt.

„Nein”, antwortete Zeraph kalt. „Geht dich doch nix an”

„So so. Der Moderne Herr ist also heutzutage in seiner Menschlichen Form unterwegs, ja?“, sagte Bellami etwas spottend.

„Es hat gewisse ... Vorteile” Bellami überlegte kurz.

„Das brauchst du mir nicht zu sagen” Es trat eine bedrückende Stille ein, in der beide einander kalt in die Augen schauten. Doch die harten Mienen lösten sich urplötzlich und selbst dem grimmigen Zeraph entfuhr ein warmes Lächeln. Bellami kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

„Ich war ganz schön lange weg, was?“ Zeraph nickte nur. Ajuki ging zu den Beiden.

„Zeraph, wer ist das?“, fragte sie schüchtern.

„Hmmm ... Wie ich soll dich vorstellen?“, fragte er und schaute Bellami ahnungslos an.

„Wie wäre es mit..”, Bellami überlegte kurz. “Euer Gott? Der mächtige Herrscher Aletrias. Bellami Makalan!“

„Gott?“, fragte Ajuki entsetzt.

„Ja das mit dem Gott ist jetzt aber neu”, fügte Zeraph bestätigend hinzu. „Damals hatte es ihm gereicht, König genannt zu werden”, Bellami nickte.

„Ja klar. Da Keara und Shezz‘ kläglich versagt haben. Ich mein..”, er holte tief Luft. „Du wirst ein Mensch und Alexander..”, er hielt nachdenklich inne. „Was ist eigentlich mit ihm?“ Zeraph lachte laut.

„Lass uns nach Aletria gehen. Du wirst es nicht glauben. Es ist einfach zum Totlachen”

„Oh, man. Da ist man mal ein paar Tage nicht im Lande, schon geht alles den Bach runter”, sagte Bellami und schmunzelte. „Also dann. Gehen wir” Zeraph nickte und bestellte sich über seinen Armreif ein Shuttle. Aus einer finsteren Gasse lugten derweil zwei Typen hervor, die das Geschehen die ganze Zeit beobachtet haben. Ein kleiner Lichtblitz leuchtete am Himmel auf, dann donnerte es kurz und wenige Sekunden später landete ein Hausgroßes Flugzeug geschmeidig auf dem Platz vor dem Waisenhaus. Eine Schleuse öffnete sich und Zeraph stieg ein. Ajuki folgte ihm. Bellami drehte sich zu den anderen.

„Will sonst noch jemand mit?“ Fragte er in die Runde. Val schaute zu Momo, der die ganze Zeit kein Wort gesagt hat. Er reichte ihm seine Hand, doch Momo reagierte nicht. Val sah ihm traurig und schuldfühlend an.

„Wir gehen mit ihnen”, sagte Val leise. Momo reagierte wieder nicht. Val nahm Milena an die Hand und sie stiegen in das Schiff. Ryu lief ihnen nach, doch Momo hielt seinen Arm fest. Er kniete sich zu ihm herab und schaute ihm in die Augen.

„Willst du uns jetzt auch verlassen?“, fragte er bedrückt.

„Komm doch auch mit”, antwortete Ryu gelassen und lächelte. Momo schüttelte den Kopf.

„Ich kann nicht einfach gehen. Immerhin muss ich auf die anderen aufpassen” Bellami beobachtete die beiden und versuchte ein bisschen mitzuhören.

„Wie kannst du denen überhaupt vertrauen? Du kennst die gar nicht. Die könnten sonst was mit dir anstellen”, sagte Momo vorwurfsvoll. Ryu nickte.

„Das stimmt schon. Aber ich glaub mir geht es wie Val. Ich muss raus aus dieser ekelhaften Stadt. Und ich weiß, dass du es auch willst”

„Was ich will spielt keine Rolle. Es kommen ständig neue Waisen hier her. Ich kann hier nicht weg” Bellami ging zu ihnen.

„Ihr könnt alle mitnehmen. Wir haben genug Platz”, bot er ihm freundlich an. Momo schüttelte wieder den Kopf.

 „Das ist sehr nett von dir. Aber ich muss hierbleiben und mich um die anderen Kümmern. Dann geh halt mit ihnen, Ryu. Vielleicht findest du, was du suchst” Bellami runzelte die Stirn. Dann nahm er seinen Armreif ab.

„Damit kannst du jederzeit Kontakt zu uns und zur Stadt aufnehmen. Wenn du irgendwas brauchst, denk einfach nur daran. Du bekommst alles” Momo nahm es entgegen und legte es sich an.

„Ich hätte gern etwas zu essen” Sagte er einfach nur so. Bellami lachte und ging dann ins Schiff, ohne sich zu verabschieden. Kurz darauf hob das Schiff ab und verschwand in der Ferne. Momo wollte gerade wieder zurück ins Waisenhaus gehen, da donnerte es wieder und es landete ein anderes, kleineres Schiff direkt vor ihm und öffnete sich.

Mutig betrat er es und schaute sich um. Es war nichts weiter drin bis auf eine große Truhe, auf der Momos Name stand. Etwas misstrauisch schaute er sie an, dann lösten sich vier Klemmen, die die Truhe am Boden fixierten. Sie fing an zu schweben und bewegte sich langsam und elegant aus dem Schiff. Momo folgte ihr, bis sie letztendlich vor der Tür des Waisenhauses zum Stehen kam. Er tippte mit seinem Finger auf eine grün leuchtende, glatte Fläche und die Truhe öffnete sich. Sie war gefüllt mit Lebensmitteln und Leckereien. Aufgeregt inspizierte er alles und rief die anderen herbei. Alle waren aus dem Häuschen und brachten die Kiste zusammen in das Gebäude. Das Schiff stand noch immer mit offener Luke da.

Die Zwei seltsame Gestalten, die sich die ganze Zeit in der dunklen Gasse versteckten und das Treiben beobachtet hatten, zögerten nicht lang und versteckten sich im Frachtraum des kleinen Schiffes.

 

Während er das Shuttle Richtung Aletria steuerte, dachte Bellami an die Zeit in der er Zeraph, Shezzar und Alexander kennenlernte.

 

 

 Kapitel 10

Das Kind und der Drache

Vor sehr langer Zeit in einer anderen Welt…

Ein markerschütternder Schrei hallte durch die langen Flure eines großen Schlosses. Die Königin gebar gerade ihr zweites Kind. Wie ein wahnsinniger rannte der junge Prinz durch das Schloss, um zu erleben, wie ihm ein kleines Brüderchen oder Schwesterchen geschenkt wird. Ein fünf Jahre alter Junge, mit blonden, lockigen Haaren und seidenen Adelsgewändern. Der erstgeborene Sohn des Königs und somit Thronerbe, Bellami Makalan.

Seine smaragdgrünen Augen funkelten erwartungsvoll und aufgeregt. Auf seinem blassen Gesicht glühten die Wangen rot und sein breites, ausgelassenes Lächeln prahlte mit viel zu großen Zahnlücken. Er erreichte die Gemächer seiner Mutter, doch die Wachen ließen ihn nicht rein. Aufgeregt lief er den Flur auf und ab.

Nach einer Weile verstummten die Schreie. Langsam öffnete sich die schwere Holztür. Ein großer, fein gekleideter Mann mit einem vollen Bart und einem charakterstarkem Gesicht, verließ mit trauriger Mine das Zimmer und schloss die Tür wieder hinter sich. Es war sein Vater, Horim Makalan, König des Landes Calladria. Er kniete sich herab zu seinem Sohn und schaute ihn traurig an.

„Bellami”, sagte der König leise und hielt den Jungen fest an den Schultern. „Deine Mutter …“ Bellami schaute ihn sorgevoll in die Augen.

„Was ist mit ihr?“

„Sie ist…“, er holte tief Luft, „tot” Antwortete der König, stand auf und ging. Bellami war fassungslos und verstand die Welt nicht mehr. Er verlor sich in Erinnerungen an seine liebevolle und fürsorgliche Mutter und ertrank in dem Schmerz, dass es sie nun nicht mehr gibt.

Doch es riss ihn etwas wieder aus dieser Trance heraus: Die Schreie eines neugeborenen Kindes. Bellami stand auf, schlug die Tür auf und sah eine Zofe, die ein, in Decken eingewickeltes, neugeborenes Kind in den Armen hielt. Sie lächelte ihn an und kniete sich zu ihm herab.

„Mein Prinz, darf ich euch vorstellen: Eure kleine Schwester, Prinzessin Relia” Bellami war so aufgeregt und glücklich, dass er den leblosen Körper seiner Mutter auf dem Bett nicht einmal wahrnahm. Der König hingegen verfiel in eine tiefe Depression, die das ganze Land in eine dunkle Zeit mitriss.

Fünf Jahre vergingen. Bellami übernahm die Rolle seines unfähigen Vaters, seine Schwester groß zu ziehen und im Land für ein klein wenig Hoffnung zu sorgen. König Horim hingegen betrank sich den ganzen Tag und ließ seinen Frust an vermeintlichen Spionen aus, die er mit Freude und großer Grausamkeit folterte.

Bellami blühte auf in seiner Rolle als fürsorglicher großer Bruder und wurde mit seinen gerade einmal 10 Jahren schon als hoffnungsvoller Thronfolger gehandelt. Er hatte ein großes Talent, die Geschäfte in seinem Land zu organisieren, sich um die Bedürfnisse seines Volkes zu Kümmern und sogar diplomatische Angelegenheiten in Angriff zu nehmen.

Er genoss große Bewunderung und Anerkennung im Volk und sogar im Adelsstand. Relia gab ihm viel Kraft den Tod seiner Mutter zu überwinden und weiter vorwärts zu gehen. Mit dem König hingegen wurde es immer schlechter. Er widerrief viele Sachen die Bellami veranlasst hatte, weil er der Meinung war, es dürfe dem gemeinen Pöbel nicht zu gut gehen und ließ die meisten Gelder lieber in den Adel fließen, statt in die Modernisierung der Städte.

Trotz seiner Beliebtheit im Volk konnte Bellami sich keinesfalls gegen das Wort des Königs stellen. Denn auch wenn der Adel den Prinzen anerkannte, so war der König immer noch das saftigere Stück Fleisch, das diese Parasiten am Leben hielt. Ein falsches Wort an den König und man konnte seinen Stand verlieren und in der Gosse landen. Keiner von denen hätte das riskiert.

Widerwillig fügte sich Bellami diesen Idealen, versuchte aber immer wieder geschickt die Forderungen des Königs so ausführen zu lassen, dass es das Volk nicht allzu schwer traf. Doch diese Bemühungen waren wie ein Tropfen auf den heißen Stein.

In all der Zeit, die Bellami die letzten fünf Jahre auch mal für sich selbst hatte, verlor er sich gern mal in Studien über die mysteriösen alten Drachen, die von vielen Völkern als Symbol der Weisheit und Ewigkeit galten, von ihnen aber auch gefürchtet waren. Trotz der unzähligen Horrorgeschichten über Angriffe von Drachen, brachte Bellami ihnen eher Bewunderung entgegen als Angst.

Nur sehr selten bekam man einen Drachen zu Gesicht. Und wenn, dann war es meistens das letzte was man in seinem Leben sah. Es hielten sich Gerüchte, dass es Magier gab, welche die Drachen herbeirufen können. Andere Gerüchte besagten die Magier selbst seinen jene Drachen, die ihre Gestalt ändern können.

Dieser Mythos verschlang manchmal ganze Wochen seiner Zeit, in der er nichts anderes tat als in der Bibliothek zu sitzen und Bücher zu verschlingen. Er war so besessen davon, dass er heimlich Ritualen beiwohnte, die angeblich einen Drachen beschwören sollen. Doch nie passierte etwas. Bellami begriff, dass das meiste von dem was er las, ersponnen und erlogen war. Angebliche Augenzeugen berichteten, dass sie groß wie Städte sind und so schwarz, dass sie das Licht verschlingen.

Ihr Feuer brennt so heiß, dass sie ganze Landstriche in wenigen Minuten ausradieren können. Ihre gewaltigen schwingen können die Sonne verdunkeln und ein einziger Flügelschlag soll schon ganze Festungen aus dem Fels gerissen haben. Nur seine kleine Schwester war mit ihrem lieblichen Wesen dazu in der Lage, ihn zumindest eine Zeit lang von dieser Obsession zu befreien.

Ein weites Jahr verging. In der Nacht vor seinem elften Geburtstag sollte sein glückliches Leben mit einem Schlag ein jähes Ende nehmen. Der König trat eines Nachts lauthals die Tür zu seinem Zimmer ein und ging wutentbrannt nach nebenan in das Zimmer von Relia. Das Knallen der Tür holte Bellami sofort aus dem Schlaf.

Der König riss das hilflose Kind aus dem Bett, packte sie am Hals und erdrosselte sie. Bellami schrie vor Entsetzen und versuchte ihn aufzuhalten. Doch er wurde von seinen eigenen Wachen festgehalten und musste zusehen wie seiner geliebten Schwester grausam das Leben entrissen wurde.

„Du hast mir meine Geliebte Angelica genommen. Ich hasse dich!“, brüllte König Horim voller Zorn das Kind an, während er immer fester zudrückte, bis ihr Lebenslicht schließlich erlosch. Dann ließ der König los und ihr lebloser Körper fiel auf den Boden.

Bellamis Welt zerbrach erneut. Doch er verzog keine Miene. Er hatte gerade zum zweiten Mal den wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren und nun fühlte er den Schmerz nicht einmal mehr. Die Wachen ließen von ihm ab und der König verließ den Raum. Die Tür schlug hinter ihm zu und es war als wäre nichts passiert. Langsam stand er auf und ging ins Zimmer nebenan.

Er kniete sich vor dem Körper seiner Schwester herab, nahm sie hoch und legte sie aufs Bett. Er schloss ihre Augenlieder, zog die Decke über sie und legte eine Rose darauf ab. Eine einzelne Träne rann einsam seine Wange herab als er leise die Worte Auf Wiedersehen flüsterte. Etwa eine halbe Stunde lang saß er neben ihr und hielt noch ihre Hand.

Lange überlegte er ob er die Drachen in einem Gebet um Hilfe bitten solle. Doch das lehnte er ab. Er nahm die Petroleumlampe vom Nachttisch und zündete ihr Bett an. Dann ging er wieder in sein Zimmer und kramte in der Schublade nach einer Phiole mit einer grauen, trüben Flüssigkeit, die er sich im Heilkundeunterricht zusammengebraut hat. Gelassen verließ er das Zimmer und ging Richtung Gemächer des Königs. In einem langen Korridor traf er auf zwei Wachen.

„Wo willst du hin?“ Wurde er von einem der Wachen gefragt. „Wenn du dich am König rächen willst, werden wir dich töten” Bellami schüttelte den Kopf.

„Ich glaube es brennt”, sagte er gelassen. Der Wachmann hielt seine Nase in die Luft und bemerkte, dass es seltsam verbrannt roch. Die Beiden sahen sich an. Bellami wurde ungeduldig.

„Was ist wichtiger? Den König vor einem kleinen Jungen zu beschützen oder vor einer unerbittlichen Feuersbrunst?“, fragte er herablassend. Daraufhin liefen sie los. Bellami betrat das Schlafzimmer des Königs und schloss die Tür hinter sich ab.

Er stand ein paar Minuten regungslos vor seinem Bett und schaute ihm ins Gesicht. Er zog die Phiole aus seiner Tasche und träufelte die Flüssigkeit auf die Lippen des Königs. Wieder wartete er einige Minuten, dann stieg er aufs Bett und ohrfeigte ihn bis er aufwachte. Entsetzt und wütend richtete sich der König auf und packte Bellami am Hals.

„Ich wusste, du würdest versuchen mich zu töten. Aber ich dachte, du wärst schlauer”, grummelte der alte Mann, während er immer fester zudrückte. Doch Bellami grinste nur.

„Wieso lachst du?!“, brüllte der König und verlor plötzlich die Kraft in seinen Händen. Er fiel wie ein nasser Sack zurück aufs Bett.

„Ich… ich kann mich nicht mehr bewegen” Stotterte er. Bellami rieb sich kurz den Hals und stieg wieder vom Bett herab. Er grinste noch immer.

„Ich hab viel gelernt im Heilkundeunterricht”, er fing an zu lachen und zündete das Laken an. Er hielt ihm die Phiole vor das Gesicht. „Das ist eine Medizin, die deine Muskeln entspannt, damit dein Blut wieder ungehindert fließen kann. In deinem Falle dient es zu meinem Schutz, sodass ich in Ruhe mit dir sprechen kann während du verbrennst” Er machte eine kurze Pause damit der König realisieren konnte, was gerade mit ihm passiert. Währenddessen goss Bellami ein wenig Wasser über das Bett.

„So braucht das Feuer ein wenig länger zu dir und wir haben genug Zeit, alles zu besprechen” Bellami setzte sich auf einen Stuhl neben das Bett. „Wie du dir sicher denken kannst, fand ich es nicht besonders schön, dass du vor einer halben Stunde meine kleine Schwester umgebracht hast. Versteh das aber bitte nicht als Akt der Rache. Das hätte sie wirklich nicht gewollt. Der Grund, warum ich das tue ist viel mehr zu deinem eigenem besten. Du bist für das Leben nicht mehr stark genug. Du hast Mutters Tod nie überwinden können. Hättest du Relia so wie ich gesehen, wäre aus dir vielleicht noch etwas geworden. Stattdessen hast du dich in deinem Hass und deinem Selbstmitleid verloren und alles zu Grunde gerichtet”

Langsam verdampften die Flammen das Wasser in den Laken und fraßen sich immer weiter nach oben. „Nun mein lieber Vater” Er beugte sich anmutig über ihn. „Du sollst wissen, dass ich dich trotz alledem liebe und dir auch den Mord an meiner Schwester vergebe. Aber leider kann ich nicht zulassen, dass du dein Königreich weiterhin mit deinem Dasein tyrannisierst. Ich weiß, dass dein bevorstehender tot nicht unbedingt ein schöner sein wird. Das tut mir wirklich leid, aber ich muss sichergehen, dass du genug Zeit hast, über alles in Ruhe nachzudenken, während du dieser Welt entschwindest. Aber sei unbesorgt”

Bellami lehnte sich wieder zurück. „Ich werde dich auf diesem schweren Weg begleiten, so wie du Mutter damals beigestanden bist” Er stand auf und öffnete alle Fenster damit der Rauch abziehen konnte. Die Flammen reichten immer weiter hoch und fingen an des Königs Haut zu verbrennen. Er konnte sich weder bewegen noch schreien.

„Ich habe nicht die Absicht dir unnötig starke Schmerzen zu zufügen, so wie du es bei deinen Folterkandidaten immer gern getan hast. Deswegen habe ich der Tinktur etwas Blauwurzelsaft hinzugefügt, damit deine Schmerzen nicht ganz so unerträglich sind” Wenig später stand das Bett vollkommen in Flammen. Wieder rann Bellami eine einzelne Träne die Wange herab.

„Auf Wiedersehen mein lieber Vater”, sagte er demütig und verließ das Zimmer. Er nahm sich einen dicken Filzmantel, zog ihn sich über und verließ das Schloss. Er lief in die Stadt und verkroch sich in einer dunklen Gasse. Er hockte sich an die Wand, umschloss seine Beine mit den Armen und fing an entsetzlich zu weinen. Bellami wusste, dass er sehr stark sein musste, aber dies war ein Akt des Lebewohl-Sagens, den er sich nicht nehmen lassen wollte. Es befreite ihn ein wenig von seiner Sehnsucht, seine kleine Schwester lebendig in den Armen haben zu wollen und seinem Vater wieder Lebensfreude zu geben. Er akzeptierte, dass alles vorbei war und er sein Leben von nun an anders bewältigen musste.

„Willst du deine kleine Schwester nicht zurück?“, erklang eine weiche, weibliche Stimme. Bellami hob den Kopf und schaute auf. Vor ihm stand eine große Gestalt in einer langen Robe und einer Kapuze über dem Kopf. Er sah nur ihre weiß schimmernden Augen, die ihn anstarrten. Ein paar leichte Konturen an der Robe wiesen darauf hin, dass es sich um eine weibliche Gestalt handelte. Er schüttelte den Kopf.

„Man soll sich Tote nicht ins Leben zurückwünschen. Das ist eine Lehre der Drachen” Antwortete er leise und schniefte.

„Du bist sehr weise für ein Kind”, erwiderte die Frau. „Hast du sonst irgendeinen Wunsch, den ich dir erfüllen kann?“ Bellami überlegte kurz.

„Ich möchte so gern…“ er atmete tief ein. „…einen Drachen … sehen … oder … kennenlernen” Die Frau lachte laut.

„So einen Wunsch hab ich noch nie gehört” Eingeschüchtert vergrub Bellami den Kopf in seinen Armen.

„Also gibt es sie gar nicht. Das sind alles nur Märchen, stimmt‘s?“ Murmelte er. Wieder lachte die Frau.

„Natürlich gibt es sie. Sie haben diese Welt nur vor einer Weile verlassen” Bellami schaute auf.

„Die Welt verlassen? Wie soll das gehen?“ Die Frau verschränkte die Arme.

„Alle Welten sind miteinander verbunden. Die Drachen reisen gerne zwischen ihnen umher. Für sie hat Zeit keinerlei Bedeutung. Sie leben ewig. Nun“, sie machte eine Pause, „ist es wirklich dein innigster Wunsch einen Drachen zu treffen?“ Bellami nickte voller Erwartung.

„Das ist im Prinzip sehr einfach. Allerdings leben sie, wie ich bereits sagte, in einer anderen Welt. Das heißt, du musst diese Welt dafür verlassen und in eine völlig fremde reisen” Wieder nickte Bellami freudig. Er schaute noch einmal hoch zum Schloss, das gerade bis auf die Grundmauern niederbrannte.

„Es gibt nichts mehr, was mich noch an diese Welt binden würde”

„Nun denn”, die Frau legte ihre Hand auf Bellamis Kopf. „Ich hab da jemanden ganz spezielles für dich” Sagte sie und lachte wieder laut. Kurz darauf verlor Bellami das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, saß er immer noch an einer Wand in einer dunklen Gasse. Es war wohl doch nur das wirre Geschwätz einer seltsamen Frau, die nachts umherirrte und nichts mit sich anzufangen wusste, dachte er sich. Doch als er sich genauer umsah, fiel im auf, dass er sich nicht mehr in seiner Heimatstadt befand.

Die Häuser sahen anders aus, die Straßen waren nicht aus Pflasterstein, sondern aus einem seltsamen, glatten, schwarzem Belag. Es war Nacht und dennoch war es sehr hell. Viele Leute waren auf der Straße, hatten seltsame Kleidung an und redeten mit kleinen Kästchen, die sie sich ans Ohr hielten. Er lief umher und sah Pferdekutschen, die sich ohne Gespann bewegten, leuchtende Schilder und gläserne Gebäude, die viel höher in den Himmel ragten als der höchste Turm seines Schlosses. Er war tatsächlich in einer anderen Welt.

Er lief weiter und weiter, doch es dauerte mehr als zwei Stunden, bis er das scheinbare Ende der Stadt erreichte. Er hatte noch nie eine solch gigantische Stadt gesehen, mit so seltsamen Menschen und Vehikeln. Je näher er der Stadtgrenze kam desto dunkler wurde es. Die Frau hatte ihn nicht belogen und ihn tatsächlich in eine andere Welt gebracht. Doch von dem versprochenen Drachen war keine Spur. Wie sollte er ihn denn bloß finden? In dieser riesigen Welt.

Er erreichte ein verlassenes Fabrikgelände und versuchte dort rast zu machen, bis das Tageslicht ihm ein besserer Gefährte sei als die Dunkelheit. Doch er konnte nicht schlafen. Er fühlte sich beobachtet und hatte ein komisches Gefühl, dass irgendwas Riesiges in der Nähe ist. Wie aus dem Nichts ging in der Nähe plötzlich ein einzelner Blitzschlag nieder.

Für den Bruchteil einer Sekunde war das Gebiet um ihn herum hell erleuchtet und er sah die Umrisse des hausgroßen Kopfes, einer noch viel größeren Kreatur, etwa 10 Zentimeter vor seinem Gesicht, dessen Augen ihn konzentriert anstarrten. Dann war es wieder stockfinster. Bellami gefror das Blut in den Adern. Er hatte keine Ahnung, was er da vor sich hatte, aber er wusste, dass er es wohl bald auf unangenehme Weise erfahren würde.

Schließlich hatte er sich nur gewünscht einen Drachen zu treffen aber nicht, dass dieser gefälligst auch nett zu ihm sein sollte. Ein paar Sekunden, die sich wie Stunden anfühlten, starrte Bellami in die Dunkelheit mit der Hoffnung, dass das, was er gerade vor sich sah, nur eine ungeschickte Interpretation seiner Umgebung war.

Der Himmel war sternenklar und es war unmöglich, dass hier irgendwo ein Blitz nieder geht. Es war wohl nur sein übermüdeter Geist, der ihm einen Streich spielte. Natürlich könnte er einfach seinen Arm ausstrecken, um festzustellen ob es wirklich da war oder nicht. Doch die Motivation dafür verlor sich in dem erdrückenden Gefühl, dass es die Kreatur, sollte sie keine Einbildung sein, nur wütend machen könnte.

Vor ihm begannen Augen kirschrot zu glühen, die so groß waren, wie die Buntglasfenster der Kirche und er erahnte die erschreckenden Ausmaße dieser Gestalt. Dann verschwand sie urplötzlich und ein Mann in schwarzen, eng geschnittenen Lederklamotten und denselben rotglühenden Augen stand vor ihm.

„Du bist nicht von hier. Ich weiß, wer du bist”, sagte der Mann unvermittelt. Bellami brachte kein Wort über die Lippen.

„Wieso bist du hier? Wie bist du mir gefolgt?“, fragte der Mann grimmig.

„Ich … ich. Da war diese Frau mit den weißen Augen”, stammelte Bellami ängstlich.

„Was? Nicht die schon wieder”, brüllte der Mann. „Was hat sie gesagt? Was hast du dir gewünscht?“, fragte er eindringlich und starrte Bellami wütend in die Augen, während er ihm immer näherkam, bis seine Stirn, die von Bellami berührte.

„Ich … wollte … einen Drachen … kennenlernen. Sie sagte, die Drachen sind fort und dass sie mich in eine andere Welt bringt”, stotterte Bellami.

„Und du hast einfach so ja gesagt? Du hast deine Heimat einfach so verlassen, weil eine Frau mit weißen Augen dir gesagt hat, dass du dann die Drachen findest? Wie naiv bist du?“ Bellami drückte ihn mutig von sich weg.

„Aber es hat doch funktioniert. Der Drache steht doch genau vor mir” Der Mann konnte ihm gerade nicht mehr widersprechen.

„Wieso hast du der Frau einfach so vertraut?“, fragte er wieder etwas gelassener. Bellami zuckte mit den Schultern.

„Mir war das vollkommen egal. Ob sie die Wahrheit sagt oder nicht, spielte für mich keine Rolle. Ich wollte nur, dass irgendwas passiert” Bellami verbeugte sich vornehm. „Bitte, ehrenwerter Herr Drache. Würden sie mir ihren Namen verraten? Ich heiße Bellami Makalan, Prinz von Calladria”

„Ich weiß, wer du bist”, sagte der Mann herablassend. „Bis vor kurzem lebten wir noch in der Welt, aus der du kommst” Er beugte sich zu ihm herunter. „Mein Name ist Zeraph Darthas” Bellami schaute erschrocken auf.

„Den Namen hab ich schon mal irgendwo gelesen” Er dachte kurz nach. „Das meinte sie mit Ich hab jemand ganz spezielles für dich. Du bist nicht irgendein Drache. Du bist …“

„Der König der Drachen”, antwortete Zeraph. „Ganz richtig. Und ich bin ehrlich gesagt ein wenig entsetzt, dass du so viel über mich weißt” Bellami kratzte sich am Kopf.

„Naja, mehr weiß ich wirklich nicht. Aber es freut mich unglaublich dich kennenzulernen … Herr … Darthas” Bellami schwieg verhalten.

„Sag einfach Zeraph. Das ist schon okay. Wir sind hier in einer moderneren Welt. Da ist man nicht mehr höflich zueinander” Bellami lächelte erleichtert.

„Okay … Zeraph. Was ist denn das hier für eine Welt? Und wer war diese Frau? Du kennst sie, nehm‘ ich an” Zeraph schaute in den klaren Sternenhimmel.

„Diese Welt ist deiner sehr ähnlich. Nur sind die Menschen hier etwas weiterentwickelt. Sie benutzen Chemische und Elektrische Reaktionen als Energiequellen. Sie kommunizieren über elektromagnetische Signale, die sie über die Luft übertragen. Das bedeutet sie können überall auf der Welt zur selben Zeit miteinander sprechen” Begeistert hörte Bellami ihm zu.

„Und was hat es mit dieser Frau auf sich?“

„Keara“, sagte er leise, „sie ist eine andere Form von Existenz. Sie hat es sich scheinbar zur Aufgabe gemacht, Menschen Wünsche zu erfüllen. Sie hat große Macht in dieser Welt und wird von denen, die ihr begegnen als Gottheit verehrt. Für uns sind es eher lästige Geister, die wir Nyx nennen” Zeraph stand auf. „Naja. Ist das alles was du wolltest? Ich geh dann mal” Bellami lief ihm nach.

„Warte! Ich weiß doch gar nicht, was ich tun soll” Zeraph zuckte mit den Schultern.

„Du hast doch bekommen was du wolltest. Jetzt musst du damit klarkommen”

„Nein, hab ich nicht!“, brüllte er ihm wütend nach. Zeraph blieb stehen und funkelte ihm grimmig entgegen.

„Oh doch, dass hast du!“, schrie er. „Du wolltest einen Drachen kennenlernen, hier bin ich!“

„Du bist nur irgendein Typ, der sagt, er sei ein Drache. Aber gesehen hab ich keinen”, antwortete Bellami schnippisch. Zeraphs Blut kochte. Seine Augen glühten rot und er packte ihn am Kragen.

„Du willst also einen Drachen sehen?“, brüllte er ihm ins Gesicht. „Da hast du, was du willst!“ Plötzlich war da eine Fußballfeld-große, furchteinflößende Kreatur, die schnaufend und zähnefletschend vor ihm stand. Allein sein Kopf war so groß wie die Kirche in dem kleinen Dorf hinter seiner Heimatstadt.

Die Augen des Drachens glühten so hell, dass es die ganze Gegend ausleuchtete. Er stand auf vier Beinen, an deren Enden bedrohlich große Klauen hervortraten. Er könnte ohne Anstrengungen ein ganzes Reiterheer mit einem einzigen hieb in Stücke reißen. An den Zähnen, die elfenbeinfarbenen Bäumen glichen, loderten blutrote Flammen empor. Seine Haut war pechschwarz, matt und zäh. Er hatte keine Schuppen, wie es in vielen Büchern stand. Die Haut war warm und von sehr feinen, rotglühenden Äderchen überzogen. Sein langer Schweif reichte bis zum anderen Ende des Fabrikgeländes und mit seinen riesigen Flügeln, die hinter seinen Schultern waren, konnte er fast den gesamten Stadtteil überdecken.

Alles in allem schien es absolut unmöglich, dass so eine überdimensionale Kreatur, schon allein aus physikalischen und biologischen Gründen, weder existieren, geschweige denn leben könne. Aber genau das war der Fall. Es war genauso real wie die riesigen Gebäude, die pferdelosen Kutschen und der Boden unter seinen Füßen. Bellami bewegte sich keinen Millimeter, egal wie sehr ihn der Drache anbrüllte, schnaufte und stampfte, dass der Boden unter seinen Füßen bebte.

Er fing auf einmal an, erleichtert und fröhlich zu lächeln. Dann ging er in den Ausfallschritt, holte mit der Faust aus und schlug ihm mit aller Kraft auf die Nase. Bellami lachte laut. „Ein Ritter hat keine Angst”, schrie er. „Bellami kniet vor niemandem” Er ließ sich auf den Boden fallen und kicherte. Kurz darauf stand Zeraph wieder als Mensch vor ihm und schaute verwundert zu dem seltsamen Jungen herab. Langsam zeichnete sich eine Art lächeln auf seinem Gesicht ab. Dann fing Zeraph an laut zu lachen. Er ließ sich neben ihm in Gras fallen und schaute zu den Sternen auf.

„Hast du gar keine Angst vor mir in meiner echten Gestalt?“ Bellami streckte seinen linken Arm in die Luft und ließ ihn auf Zeraphs Stirn fallen.

„Ich hab mir fast in die Hose gemacht. Aber es war so beeindruckend. Außerdem war es mir auch egal. Ich hab niemanden mehr, weder hier noch in der anderen Welt. Und all meine Wünsche wurden erfüllt” Zeraph schwieg kurz.

„Du bist sehr mutig. Doch Gleichgültigkeit führt dich in den Wahnsinn”

„Du hast schon Recht, aber mir bleibt nichts anderes mehr. Jetzt sitze ich in einer Welt fest, in der ich mich nicht zu Recht finde. Ganz allein. Und ohne Antrieb”

„Dann such dir doch einen Antrieb. Du warst in deiner Welt ein Prinz, ohne etwas dafür getan zu haben. Jetzt kannst du in dieser Welt ein König sein und sie dir so gestalten, wie du es magst. Es liegt in deiner Hand” Bellami überlegte.

„Zusammen mit meinem besten Freund, dem Drachen”, sagte er und kicherte verlegen. Beide schwiegen. Zeraph richtete sich auf.

„Ich bin allein hierhergekommen. Ich wollte eigentlich die nächsten zweitausend Jahre schlafen und dann sehen, wie die Menschen diese Welt verändert haben. Aber ich glaub, ich werde meine Pläne ändern”

„Wie meinst du das?“, fragte Bellami und richtete sich ebenfalls auf.

„Ganz einfach: Ich werde dich begleiten, auf deinem Weg König zu werden und diese Welt nach deinem Sinne zu gestalten”

„Das freut mich. Aber wieso auf einmal?“

Zeraph grinste böse. „Normalerweise fresse ich Menschen. Die sind sehr Proteinhaltig und gut für die Haut”

„Was, echt jetzt? War das die Antwort auf meine Frage?“, fragte Bellami völlig entsetzt.

„Hmm, ja aber nur manchmal. Die machen dann immer gleich so einen Aufstand, weißt ja: Drachenjäger und so ein Humbug”, sagte er ernst und emotionslos.

„Na … Okay… Ich mein, solang du mich nicht fressen willst”

Zeraph lachte laut. „Oh je, du glaubst auch jeden Mist. Ich brauch nichts zu essen”

Bellami schaute ihn grimmig an. Er spannte seinen Zeigefinger hinter seinem Daumen und schnippte ihn gegen Zeraphs Stirn. „Das ist dafür, dass du mir Angst machen wolltest” Dann lächelt er wieder. „Aber du bist riesig, du brauchst doch Unmengen an Energie”

„Ich könnte das jetzt alles erklären. Aber dazu hab ich keine Lust. Stattdessen will ich dir ein Geschenk machen. Aber dazu musst du noch einmal auf deinen großen Mut zurückgreifen” Bellami schaute ihn mit großen Augen an und nickte. Wieder glühten Zeraphs Augen rot und eine Sekunde später stand er wieder als Drache vor ihm.

Er öffnete sein Maul und die roten Flammen loderten immer heftiger. Bellami versuchte ruhig zu bleiben und sein Vertrauen in Mut zu verwandeln. Der Drache hob seinen Kopf und spie eine Brunst aus blutroten Flammen auf ihn. Das alte Fabrikgebäude hinter ihm löste sich innerhalb von Sekunden zu Asche auf und der Boden unter Bellami verflüssigte sich. Das ganze Gebiet versank in einem Meer aus rotem Feuer und leuchtete so hell, dass man es von der Nachbarstadt aus sehen konnte. Nach einer Minute war alles vorbei. Bellami lag erschöpft auf dem Boden.

Zeraph war wieder in seiner Menschlichen Gestalt, ging mit den Händen in den Hosentaschen zu ihm und beugte sich über ihn. Er lächelte kurz, dann reichte er Bellami die Hand, um ihm auf zu helfen. Als Bellami ihm seine Hand reichte sah Zeraph etwas auf seinem Handrücken, was ihm nicht zu gefallen schien. Er half ihm Auf, lies seine Hand aber nicht los. Stattdessen schaute er sie sich genau an.

„Seit wann hast du das?“, fragte er in einem beängstigenden Ton.

„Seitdem ich hier bin. Du weißt, was das ist?“, antwortete Bellami. „Ich hab mir noch keine Gedanken darüber gemacht. Aber sag, was ist da eben passiert?“ Zeraph antwortete nicht. Er sah sich die ganze Zeit Bellamis Handrücken an. Es leuchtete ein blauer, schnörkeliger Ring darauf in dessen Zentrum sich ein großes, filigran verziertes Symbol befand, das im groben aussah wie ein eine wirre Mischung aus verschiedenen Schriftzeichen – unmöglich zuzuordnen. Außerhalb des Ringes waren weitere fremde Schriftzeichen. Zeraph schüttelte den Kopf. Sein Blick sagte nichts Gutes. Dann ließ er von ihm ab.

„Was hast du dir noch gewünscht?“, fragte er angespannt und packte ihn am Kragen.

„Ich hab nur gesagt, dass ich einen Drachen treffen will” Antwortete er ängstlich.

„Es geht nicht darum, was du gesagt hast, sondern was du wolltest”

„Ich … Ich”

„Sag mir einfach, was du dir davon erhofft hattest. Es ist egal, was der Grund ist, ich muss es nur wissen. Sei ehrlich!“

„Macht” Er schaute reumütig von ihm weg. „Ich wollte stärker werden, damit niemand mehr auf mir rumtrampeln kann!“, brüllte er ihn an. „Aber ich hab mir, dass nur erhofft, ich hab es mir nicht gewünscht” Zeraph beruhigte sich wieder. Dann grinste er und ließ von ihm ab.

„Ich weiß nicht, was sie vorhat, aber sie hat dir scheinbar auch einen Wunsch erfüllt den du dir nicht auszusprechen gewagt hast. Du wirst es schon bald erfahren” Bellami schaut sich das Symbol auf seiner Hand an.

„Was ist denn damit?“

„Es ist eine Insigne, die dich als ihren Besitz brandmarkt. Das Zeichen in der Mitte ist eine Kombination aus verschiedenen Symbolen. Es bedeutet Astra, Terra, Aeon und Solaris. Das Symbol für Astra ist das große und ist so etwas wie die Logik des Universums. Eine Energie, die von Gedanken und Bewusstsein erzeugt wird. Du wirst merken, dass sie sehr stark und zerstörerisch sein kann”

 „Und was haben die anderen Zeichen zu bedeuten?“, fragte Bellami und deutete auf die kleinen Symbole, die um den Ring herum angeordnet waren.

„Das sind Schriftzeichen der Drachensprache. Du solltest sie eigentlich lesen können. Ich will ja hoffen das ich das vorhin nicht umsonst gemacht hab” Wieder schaute Bellami konzentriert auf seine Hand und versuchte den Symbolen eine Bedeutung zu zuweisen. Und plötzlich verstand er es. Die Sprache der Drachen ist ausgesprochen kompliziert und teilweise mehrdimensional. Aber was er las verstand er noch nicht ganz.

Ich verfüge diese Kraft nach meinem Willen. Sie ist die Lehre der Weisen und der Schatz der Alten. Ich wache. Ich führe. Ich herrsche. Ich richte. Ich geschehe. Ich erschaffe. Ich verachte. Ich vernichte. Ich bin ein Werkzeug, ein Schöpfer und ein Geist. Nur der Ewigkeit verpflichtet und dem Bund der großen Kräfte.

„Wieso kann ich das lesen? Und was bedeutete das?“, sagte er und fing an nervös auf und ab zu laufen.

„Es ist ein alter Schwur. Aber darauf brauchst du keine Rücksicht zu nehmen. Du wirst schnell merken, was diese Kraft bedeutet und wie du damit umgehst. Und dann wirst du auch diesen Schwur besser verstehen”, erklärte Zeraph. Eine Explosion im Zentrum der Stadt erschütterte plötzlich das ganze Gebiet. Wenige Minuten Später hörte man Polizeisirenen und sah blaue Lichter durch die Häuserschluchten blitzen.

„Komm mit!“, sagte Zeraph, erschien in seiner Drachengestalt und flog davon. Er landete geschmeidig auf einem weit entfernten Hochhaus und schaute konzentriert nach unten. Bellami schaute ihm verwundert nach.

„Ehy! Wieso? Was? … Und wie soll ich jetzt dahin kommen? Das ist doch ewig weit weg”, rief er ihm pauschal nach, obwohl er wusste, dass ihn Zeraph unmöglich hören konnte. Der Drache war so riesig, dass Bellami ihn trotz der großen Entfernung immer noch gut erkennen konnte. Er dachte kurz nach. Dann sah er seine Hand an und schaute wieder zu Zeraph. Der drehte seinen Kopf zu ihm um und seine riesigen Augen begannen hell zu leuchten. Dann verschwand Bellami und tauchte im Zentrum der Explosion wieder auf. Er hustete und hielt sich den Bauch.

„Egal, was du gerade mit mir gemacht hast”, er hustete wieder. „Tu das bitte nie wieder” Er schaute sich kurz um: Um ihn herum Trümmer und Staub. Durch die Staubwolke blitzte wieder das blaue Licht der Rundumleuchten von mehreren Polizeiwagen. Man hörte Stimmen in einer fremden Sprache, die über Lautsprecher und Megafone ertönten. Dann noch das Klopfen von Hubschrauberrotoren, die sich näherten.

Vor Bellamis Füßen lag ein junger Mann, der konzentriert in den Himmel starrte. Er war vollkommen unverletzt und schien zu lächeln. Seine Kleider waren ein wenig lädiert aber zum Großteil noch intakt. Seine Augen glühten smaragdgrün und seine helle Haut war von einer Staubschicht bedeckt. Er war etwa so groß wie Zeraph und seine Kleidung war die der anderen Menschen, die Bellami hier gesehen hat, sehr ähnlich. Auf seiner linken Hand leuchtete ein ähnliches Symbol, nur war es Grün und das Schriftzeichen in der Mitte sah anders aus. Bellami reichte ihm die Hand.

„Willst du nicht aufstehen?“, fragte er freundlich. Der Mann starrte auf Bellamis Hand, dann wieder in den Himmel.

„Wieso?“, fragte er leise. „Wieso hast du das gleiche, leuchtende Dings auf deiner Hand wie ich? Und wieso sitzt ein riesiger … Drache … auf dem Hochhaus da und keinen scheint das großartig zu interessieren? Und was ist das für eine Sprache, die ich gerade spreche?“ Er nahm Bellamis Hand und ließ sich aufhelfen.

„Der Drache da. Er heißt Zeraph. Du sprichst meine Sprache. Wieso wundert dich das? Kommst du etwa nicht aus Calladria?“, sagte Bellami und schaute ebenfalls zu Zeraph auf, der wie ein König auf dem Dach des Hochhauses thronte und herablassend auf das Geschehen unter sich schaute. Dann lächelte Bellami und winkte ihm zu.

„Soso. Da ist also wirklich ein Drache. Ich dachte schon, ich hab Halluzinationen. Was ist Calladria?“ Plötzlich erschien Zeraph vor ihnen in seiner Menschengestalt. „Wer bist du?“, fragte der Mann angespannt.

„Ich bin Zeraph”, antwortete er.

„Der kleine Junge hat aber gerade gesagt, der Drache da sei Zeraph” Er zeigte mit dem Finger nach oben aber die riesige Kreatur war nicht mehr da.

„Da hat der kleine Junge die Wahrheit gesagt. Ich bin Zeraph, ich bin der Drache” Der Mann stemmte die Arme in seine Hüften und schaute Zeraph tief in die Augen.

„Dann kannst du dich also in einen Menschen verwandeln, oder was?“ Zeraph schüttelte den Kopf.

„Nein, das kann ich nicht. Das würde ich auch nie wollen. Ich bin immer noch ein Drache, ich sitze immer noch auf dem Dach. Was du hier vor dir siehst ist nur eine Puppe. Ein Avatar, wie man es in deiner Welt ausdrücken würde”

„Ah, verstehe”, antwortete der Mann.

„Hey! Ich bin auch noch da!“, fauchte Bellami. „Was ist ein Avatar?“

„Es ist so etwas wie eine Spielfigur, die man Steuert, um in einer Umgebung präsent zu sein, in die man sonst nicht hineingelangt”, antwortete Zeraph.

„Aber du kannst doch auch als Drache hier sein. Wieso brauchst du diesen Avatar?“, fragte Bellami jähzornig.

„Naja, das ist ganz einfach. Ich kann als Drache kaum etwas machen, ohne gleich die ganze Welt ins Chaos zu stürzen. Die Menschen würden mich Jagen und mich fürchten. So wie in deiner Welt. Außerdem bin ich viel zu groß, um mich hier wirklich frei bewegen zu können”

„Aber du hast doch auf dem Hochhaus gesessen und jeder konnte dich sehen”, fügte der namenlose Mann hinzu. „Und keiner hat sich für dich interessiert”

„Die Menschen sehen mich. Aber sie bemerken mich nicht”, antwortete Zeraph gelassen und etwas hochnäsig.

„Wie geht das denn?“, fragte Bellami aufgeregt. Zeraph tätschelte herablassend Bellamis Kopf.

„Die Menschen sehen nur das, was sie kennen und woran sie glauben. Und da bin ich schnell aus dem Schneider. Außerdem ist mein Körper die meiste Zeit in der Phase verschoben. Das heißt, dass ich in diesem Zustand keinen Kontakt mit den Physikalischen Wechselwirkungen dieser Welt habe. Also reflektiert mein Körper auch kein Licht” Bellami schlug wütend Zeraphs Hand von seinem Kopf.

„Als neuer König dieser Welt, sage ich dir, dass du das in Zukunft zu lassen hast!“, fauchte er wütend. Der fremde Mann lachte.

„Phasenverschiebung … Avatare … Neuer König der Welt” Er machte eine kurze Pause. „Das gefällt mir!“, fügte er hinzu und lachte wieder. „Ich glaub da bin ich dabei. Die Frau mit den Weißen Augen meinte, dass ich den Drachen suchen soll. Aber ich dachte das sei nur eine Metapher” Bellami starrte rüber zu Zeraph.

„Die Frau mit den Weißen Augen war bei ihm”, flüsterte er. Zeraph grinste mit böser Miene.

„Du könntest uns wenigstens mal sagen, wie du heißt. Und was du dir von ihr gewünscht hast. Und wehe du sagst, dass du einen Drachen treffen wolltest”

„Ich heiße Shezzar” Antwortete er. „Die Frau stand einfach vor mir und meinte sie spürt einen tiefen Schmerz in mir und das Verlangen, eine neue Welt zu erschaffen. Aber so richtig weiß ich das nicht mehr. Mir war es aber recht. Egal was sie mit mir vorhat, Hauptsache es passiert irgendwas. Und ihr seid?“ Reflexartig und instinktiv verbeugte sich Bellami vornehm, so wie es ihm schon seit er klein war antrainiert wurde.

„Mein Name ist Bellami Makalan, Prinz von Calladria. Und der komische Kautz neben mir ist Zeraph Darthas, seines Zeichens Drache und manchmal ein Arsch” Zeraph lachte laut.

„Nenn mich Zeraph. Aber dein Name passt irgendwie so gar nicht in diese Welt, besonders nicht in dieser Gegend”

„Ihr könnt mich Shezz‘ nennen”, antwortete Shezzar. „Ich dachte mir, wenn ich schon neu anfange, dann richtig. Mein alter Name ist belanglos. Aber eure Namen sind auch nicht unbedingt … passend”

„Das liegt selbstverständlich daran, dass wir tatsächlich nicht von dieser Welt sind. Die Frau mit den Weißen Augen ist übrigens Keara. Ihr ist wahrscheinlich gerade langweilig” Das klopfende Donnern der Hubschrauber wurde immer lauter und wie aufs Stichwort wehten ihnen die Rotoren den Staub ins Gesicht, während zwei schwarze Blackbird Helikopter zur Landung am Rand des Kraters ansetzten. Sechs schwer bewaffnete Soldaten stiegen aus und gingen langsam, mit der Waffe im Anschlag, auf sie zu. Zeraph lachte kurz.

„Mal sehen was ihr euch da so zugemutet habt”, sagte er und verschränkte sie Arme vor der Brust.

„Stehenbleiben! Keine Bewegung!“, brüllten die Soldaten abwechselnd. Shezzar zuckte nur mit den Achseln und tat das, was er die ganze Zeit lang tat: Nichts. Bellami verstand deren Sprache nicht. Er konnte nur an der Art, wie sie redeten interpretieren, dass sie ihnen scheinbar nichts Gutes wollten.

Als die Soldaten etwa einen Meter vor ihnen zum Stehen kamen und ihre Waffen nervös auf sie richteten, passierte eine Weile nichts. Ein weiteres Donnergrollen näherte sich von hinten. Zwei gepanzerte Einsatzfahrzeuge fuhren in den Krater und blieben hinter den dreien stehen. Wieder stiegen schwer bewaffnete Spezialeinheiten aus dem Fahrzeug und nahmen ihre Gewehre in Anschlag. Aus dem anderen Panzerwagen stiegen drei Männer in weißen Schutzanzügen, mit elektronischen Geräten in den Händen. Sie wurde von zwei der Soldaten begleitet und näherten sich Zeraph, Bellami und Shezzar.

Sie begannen vor ihnen mit ihren Geräten herum zu fuchteln und Notizen auf Klemmbretter zu schreiben. Wortlos ließen die Drei alles über sich ergehen. Dann zogen sich die Männer zurück und man hörte nur noch das Wort: Festnehmen, in einer Sprache, die nur Shezzar verstand, dann gingen die Soldaten auf die drei los und schlugen sie Bewusstlos.

Zeraph ließ sich nur aus Spaß zu Boden fallen. Er wollte zu gern dabei sein, und sehen wie die Beiden reagieren, wenn sie in Bedrängnis geraten. Ihnen wurden Hände und Augen verbunden und ein seltsamer Kragen um den Hals gelegt. Dann wurden sie weggebracht.

Kapitel 11

Das silberne Königreich

Zeraph öffnete die Augen seines menschlichen Abbildes und fand sich in einer dunklen Zelle wieder. Ein kleiner Lichtkegel, der mutig durch den Spalt der Zellentür drang, ließ den abscheulichen Zustand dieser unbequemen Räumlichkeiten erahnen. Für Zeraph wäre es kein Problem gewesen die Zelle zu verlassen, ganz gleich aus welchen undurchdringlichen Materialien sie gebaut ist. Dennoch blieb er da. Er setzte sich auf die rostige Pritsche mit der modrigen Matratze und wartete.

Bellami wachte in einem Raum auf, der hell erleuchtet und sehr sauber war. Es war wie ein Kinderzimmer: Bunte Bilder an der Wand, Plüschtiere, Spielzeug und ein Bett in Form eines Rennwagens. Nur das kaltweiße, flackernde Licht und der verdächtig große Spiegel, der die komplette Fläche der Wand einnahm, erzeugten ein verstörendes Gefühl.

Als Bellami seinen Kopf bewegte, spürte er den Kragen um seinen Hals, der unangenehm eng anlag. Er sah sich selbst im Spiegel an und erst da stellte er fest, dass er vollkommen andere Kleidung trug. Seine Königlichen Gewänder und der dicke Filzmantel waren verschwunden. Stattdessen trug er eine Jeans, Turnschuhe und einen Kapuzenpullover mit albernen Zeichentrickfiguren. An dem Kragen blinkten mehrere kleine, rote Lämpchen rhythmisch. Er war aus einem massiven Material, sehr schwer, kantig und unangenehm.

Bellami versuchte ihn von seinem Hals abzuziehen, doch es gelang ihm nicht. Er schaute wieder in den Spiegel und sah sich sein Gesicht an. Immer weiter näherte er sich dem Spiegel und je genauer er sich betrachtete desto mulmiger wurde ihm. Anfangs war er sich nicht sicher, doch je mehr er darüber nachdachte desto klarer wurde ihm, dass nicht nur die Welt, in die er geraten ist, eine andere war, sondern auch er selbst.

Das deutlichste Merkmal für diese Schlussfolgerung waren seine Augen. Die sonst grüne Farbe seiner Iris war nun blau. Er lief eine Weile im Zimmer auf und ab und versuchte zu verstehen was genau er mit seinem Wunsch auslöste und was genau der Grund war, warum sie ihn überhaupt erfüllt hat.

Etwa zwei Stunden passierte nichts, dann flog plötzlich die Tür des Zimmers auf und drei weiß gekleidete Leute betraten es. Ein Mann packte ihn am Kopf, brabbelte etwas in einer seltsamen Sprache und schloss ein Kabel an Bellamis Kragen an. Der andere kniete sich zu ihm herab, griff ihm ins Gesicht, spreizte seine Augenlieder und schaute sie sich durch ein metallenes Gerät an. Die dritte Person, die einzige Frau, bereitete eine Spritze vor. Einer der Männer hielt Bellamis Arme fest, der andere drückte seinen Kopf zur Seite.

Die Frau näherte sich langsam mit der Spritze, die sie bereits auf die freie Stelle über Bellamis Halsband richtete. Doch bevor die schmale Nadel seine Haut berührte blieb sie stehen. Bellami konnte seinen Arm befreien und packte die Frau am Handgelenk, um sie von ihrem Tun abzuhalten. Egal wie sehr sie es versuchte, sie schaffte es nicht gegen die kleinen, schmächtigen Hände eines elfjährigen Kindes anzukommen.

Sie stand auf, lies von ihm ab und gab den anderen mit einem nicken zu verstehen, dass sie ebenfalls von ihm ablassen sollen. Die Männer taten es, die Frau zog einen kleinen Apparat aus der Tasche und drückte auf einen Kopf. Dieser aktivierte das Halsband und verabreichte Bellami schmerzvolle Stromschläge. Er sackte zuckend auf die Knie. Wieder näherte sich die Frau mit der Spritze und wieder hielt Bellami sie davon ab ihm die Spritze in den Hals zu rammen. Er stand wieder auf und drückte ihre Hand so fest zusammen, dass ihr die Knochen in den Fingern brachen. Sie schrie entsetzlich und fiel auf die Knie.

Sie befahl den Männern irgendwas in dieser fremden Sprache, dann hielten sie Bellami fest und versuchten ihn von ihr los zu reißen. Die Frau zog mit ihrer anderen Hand wieder das kleine Gerät aus der Tasche und drückte auf den Knopf. Erneut zuckten stärkere Stromstöße durch Bellamis Körper. Diesmal aber ohne ihm weh zu tun.

Stattdessen wurden sie zu der Frau und den zwei Männern weitergeleitet. Sie schrien vor Schmerz und ließen von ihm ab. Bellami packte die Frau bei den Haaren und hob ihren Kopf hoch. Er sah ihr tief in die Augen.

„Du nimmst mir jetzt sofort dieses Ding von meinem Hals!“, befahl er, doch die Frau verstand seine Worte nicht. Wieder schlug die Tür auf und es stürmten fünf schwer bewaffnete Soldaten ins Zimmer. Scheinbar dieselben, die ihn vorher im Krater festgenommen hatten.

„Keine Bewegung!“ Brüllten sie und richteten ihre Waffen auf ihn. Diesmal verstand Bellami, was sie sagten. Unbeeindruckt ließ er von der Frau ab und riss an dem Halsband bis es auseinanderbrach. Er schaute die Soldaten an und seine Augen begannen zu glühen.

„Tötet ihn!“, brüllte der Kommandant, aber Bellami verschwand noch bevor ihn eine der Kugeln traf. Im selben Moment stand er auf einer Wiese am Waldrand, weit von irgendwelchen Städten entfernt.

„Du bist hier, oder?“, flüsterte er. Dann setzte er sich an einen Baum und döste in der Morgensonne. Zeraph konnte ihn hören, doch er antwortete nicht und wartete weiter geduldig in seiner Zelle. Etwa eine Stunde verging, da vernahm er ein lautes Poltern und Türen aufschlagen. Die Zellentür öffnete sich und vor ihm stand ein Mann in Uniform, der mit vielen Auszeichnungen behangen war, dahinter zwei einfache Soldaten.

„Das ist der Gefangene mit den roten Augen?“, fragte der scheinbar höhere Offizier und betrat neugierig die Zelle.

„Jawohl, Herr General. Er hat sich widerstandslos festnehmen lassen und die ganze Zeit gelacht, selbst als wir ihn verprügelt haben”

„Was ist das für ein Arschloch?“, grummelte der General. Zeraph grinste frech und herablassend.

„Verstehst du mich nicht?“, fragte der General. Zeraph neigte seinen Kopf ein wenig.

„Deine Sprache verstehe ich”, antwortete er. „Aber deine Worte sind mir zu dümmlich” Wütend schlug ihm der General mit der Faust ins Gesicht.

„Du glaubst wohl, du kannst hier das Großmaul markieren. Ich sag dir, da legst du dich mit dem Falschen an”

Zeraph hob seinen Kopf und fing an zu lachen. Wieder schlug ihm der General ins Gesicht. Doch Zeraph lachte weiter. Beim dritten Mal wich er gekonnt aus und konterte mit einen kurzen Kniestoß. Der General röchelte und sackte zusammen. Die zwei Wachen richteten ihre Waffen auf ihn. Wieder lachte Zeraph, trat aus der Zelle heraus und schlug die Tür mit hinter sich zu. Seine Handschellen und das Halsband fielen einfach durch ihn durch, als wäre er ein Geist.

Die Soldaten erstarrten vor Angst und Zeraph lief einfach an ihnen vorbei. Er folgte einem langen, schmalen Gang bis er eine Treppe erreichte, die nach oben führte. Er durchquerte ein Stockwerk indem sehr viele Labors waren, unter anderem auch das, in dem Bellami vor wenigen Minuten noch war. Er lief weiter und weiter. Niemand bemerkte ihn. Nicht weil er unauffällig war oder sich versteckte, sondern einfach, weil er es so wollte. In dieser Gestalt konnte er selbst bestimmen, wie er von Anderen wahrgenommen wird.

Am Ende eines hell erleuchteten Ganges stand er vor einer großen Doppeltür, auf der die Zahl 243 in fett gedruckten Ziffern stand. Sie war fest verschlossen, aber Zeraph war überzeugt davon, dort etwas Interessantes zu finden. Er ging einfach hindurch ohne sich weiter um die Gesetze der Physik zu kümmern, die ihn eigentlich daran hindern sollten.

Auf der anderen Seite war ein riesiger, runder Saal. In dessen Zentrum befand sich ein Operationsraum und rings herum eine Zuschauertribüne. Zeraph stand am Fenster und schaute in den OP hinein. Dort lag Shezzar nackt auf einem Tisch und um ihn herum wuselten Ärzte und Wissenschaftler. Sie schnitten ihn immer wieder auf aber seine Wunden verheilten auf der Stelle. Er befand sich in einem Dämmerzustand und fühlte den Schmerz die ganze Zeit.

Zeraph beobachtete das Treiben eine Weile, dann sah er eine seltsam gekleidete Person den Raum betreten. Ein schmächtiger Mann mit einem schwarzen Zylinder auf dem Kopf, einem langen Frack Anzug, Hosen mit Bügelfalte und weißen Samthandschuhen. Er blieb neben Shezzar stehen, schaute sich ihn kurz an und seufzte. Dann verließ er den Saal wieder. Zeraph verschränkte nachdenklich die Arme und neigte der Kopf ein wenig zur Seite.

Ein paar Minuten Später betrat eine Frau mit langen silbrig weißen Haaren den Saal.

„Was haben sie herausgefunden?“ Fragte sie den leitenden Chirurgen.

„Es ist faszinierend”, antwortete er begeistert, „Er regeneriert seine Zellen mit übermenschlicher Geschwindigkeit. Selbst ganze Gliedmaßen. Und das in Sekundenschnelle. Auch lebenswichtige Organe werden sofort wiederhergestellt. Wir wissen nicht, wie er das macht. Es hat scheinbar mit dieser schimmernden Energie zu tun, die seine Adern durchzieht. Es scheint ein Bestandteil seines Blutes zu sein, deswegen nehmen wir auch ausreichend Proben davon”

„Habt ihr versucht seinen Kopf abzutrennen?“, fragte die Frau mit kalter Stimme.

„Noch nicht aber das steht als nächstes auf dem Plan. Wir waren nicht sicher ob es ihn töten könnte, deswegen haben wir auf ihre Genehmigung gewartet”

„Tut es!“ Befahl sie und ging in den Zuschauerraum. Sie stellte sich direkt neben Zeraph und verfolgte das Geschehen mit ebenso kalter Miene wie er. Einer der Chirurgen nahm ein Skalpell und setzte es an Shezzars Hals an. Langsam glitt die Klinge durch die Haut und arbeitete sich um seinen Hals herum. Doch er war nicht schnell genug.

Das Gewebe verheilte wieder bevor er fertig war. Shezzars Augen waren geschlossen, doch man sah wie seine Pupillen schnell und gepeinigt hin und her zuckten, als wären sie das einzige was er noch bewegen konnte. Die Chirurgen fingen an nervös zu tuscheln. Einer verließ den Saal und kam mit einer Machete wieder zurück.

Er holte aus doch bevor er zuschlagen konnte, begann er stark zu husten und sackte zu Boden. Er spuckte viel Blut und fing an zu röcheln. Die anderen gerieten in Panik und wollten den Saal verlassen doch die Frau, die neben Zeraph stand, veranlasste den Saal abzuriegeln.

„Lady Haidenberg, bitte lassen sie und raus”, flehte der leitende Chirurg. Die Frau schüttelte wortlos den Kopf. Plötzlich bewegte sich Shezzars Hand. Er drehte seine Handfläche nach oben und seine Adern begannen grün zu leuchten. Der hustende Chirurg richtete sich auf und packte sich am Hals. Sein schmerzverzerrtes Gesicht begann sich aufzulösen und wurde zu einer Flüssigkeit, die genauso leuchtete wie Shezzars Hand.

Die Flüssigkeit verdampfte kurz darauf und löste sich in der Luft auf. In Shezzars Handfläche entstand ein hölzern wirkendes, längliches Gebilde, das sich immer weiter zu einer erkennbaren Form entwickelte. Panisch standen die anderen Chirurgen mit dem Rücken an der schweren Metalltür und beobachteten das Geschehen mit blanken Schrecken in ihren Gesichtern. Zeraph bleckte erwartungsvoll die Zähne und ein kindliches lächeln formte sich sehr subtil.

Nun begann ein weiterer Chirurg zu husten und zu röcheln. Auch seine Haut löste sich extrem schmerzvoll auf und er schrie unsagbar laut. Das Gebilde in Shezzars Hand ähnelte nun immer mehr dem Heft eines Schwertes, nur als wäre es wie eine Pflanze gewachsen und nicht hergestellt worden. Am Ende des Hefts bildeten sich grün leuchtende Kristalle, die immer größer wurden. Die Körper der beiden Chirurgen waren nun gänzlich verschwunden und Shezzar gelangte wieder zu Bewusstsein.

Er umklammerte das Heft, riss seinen rechten Arm von der Manschette und richtete sich auf. Er öffnete die Augen und hielt sich das Schwert vor das Gesicht. Er starrte es minutenlang konzentriert an.

„Ich hab es aus meinem Traum mitgebracht”, flüsterte er, dann ging ein ohrenbetäubender Alarm los. Er befreite sich von den restlichen Restriktionen und stand auf.

Die kristallene Klinge des Schwertes war jetzt schon eineinhalb Meter lang und begann eine scharfe schneide zu formen. Die drei übrigen Chirurgen klopften panisch gegen die Tür und schrien um ihr Leben. Shezzar holte aus und schleuderte das Schwert auf sie. Es wirbelte durch die Luft und durchstieß den leitenden Chirurg und die Tür dahinter als wären sie aus Butter.

Er näherte sich der Tür und packte das Schwert am Heft. Er riss es heraus und dabei schnitt die scharfe Klinge den Mann in zwei Hälften. Wieder holte Shezzar aus und stach die Klinge noch einmal durch die Tür. Der tote Chirurg löste sich, genau wie die beiden anderen, ebenfalls in eine grün leuchtende Flüssigkeit auf und verdampfte.

Die Klinge des Schwertes wurde breiter und sprengte die Tür aus den Angeln. Herumfliegende Schrapnelle töteten den anderen Chirurg und der letzte wurde schwer verwundet. Lady Haidenberg floh als sie Shezzar den Saal verlassen sah. Zeraph sah noch kurz den Mann mit dem schwarzen Zylinder, der mit Shezzar zu reden schien, dann hörte er wieder Bellamis Stimme und verschwand.

„Ich kann dich sehen, auch wenn du unsichtbar bist, Drache”, murmelte Bellami vergnügt vor sich hin, während er die warmen Sonnenstrahlen genoss. „Und was hast du so getrieben? Die haben versucht eine Metallspitze in meinen Hals zu stecken aber die Rechnung haben sie ohne den unbesiegbaren Bellami gemacht”

Zeraph erschien direkt vor ihm und sein gigantischer Körper ragte selbst im Liegen soweit über den Wald, dass man ihn für einen Berg gehalten hätte. Sein Kopf war anmutig auf Bellami gerichtet und seine riesigen Augen waren so einehmend und hypnotisch wie ein Feuerwerk. Bellami stand auf und lief nachdenklich vor ihm auf und ab.

„Ich weiß jetzt alles. Ja, alles”, jauchzte er fröhlich. Zeraph schwieg und entblößte seine furchterregend großen Zähne.

„Jaja mein lieber Herr Drache. Ich kann alles wissen was ich will. Das ist so herrlich. Dieses Drachenherz ist wirklich praktisch” Zeraph schwieg weiter vor sich hin.

„Hast du Shezzar gefunden?“ Zeraph senkte sein Kopf zu einem anmutigem nicken. „War er auch an diesem traurigen Ort?“ Er nickte wieder. Der Drache verschwand und Zeraph stand wieder als Mensch vor ihm.

„Wieso kommt er nicht zu uns?“, fragte Bellami besorgt. Zeraph setzte sich zu ihm an den Baum.

„Er braucht wohl noch ein wenig länger. Er ist bereits auf dem Weg. Es ist sehr weit weg von hier, also wunder dich nicht, wenn es länger dauert. So, jetzt halt die Klappe und genieß den Tag”, antwortete Zeraph gelassen. Bellami schaute ihn grimmig an.

„Das eine Mal verzeih ich dir deine Unhöflichkeit noch. Aber nur dieses eine Mal”, sagte er und lachte. Er legte sich ins Gras und beide dösten weiter in der Mittagssonne.

Etwa zwei Stunden später näherten sich zwei Männer. Einer von ihnen war Shezzar, der von oben bis unten in Blut getränkt war und erschöpft ein riesiges Schwert hinter sich herzog. Der andere Mann stützte ihn. Sein Aussehen war etwas ungewöhnlich. Er trug sehr feine Kleidung. Einen eng geschnittenen Frack mit großen, weißen Manschetten, weiße Samthandschuhe, feine Stoffhosen mit Bügelfalte, Lederschuhe und als Krönung des ganzen einen großen, schwarzen Zylinder als Kopfbedeckung. Es schmerzte einen schon fast zu sehen, dass diese schönen und sicher teuren Sachen überall von Shezzar mit Blut beschmiert wurden. Doch das was Zeraph und Bellami als erstes auffiel, war dass er ebenso weißglühende Augen hatte wie Keara.

Als sie bei ihnen ankamen, legte der Mann Shezzar behutsam ins Gras und tupfte sich vornehm den Schweiß mit einem feinen weißen Stofftaschentuch von der Stirn. Bellami sprang auf und setzte sich zu ihm.

„Wieso hat das so lange gedauert? Und wen hast du da mitgebracht?“, fragte Bellami aufgeregt. Shezzar drehte, auf beängstigend langsame Art und Weise, seinen Kopf zu Bellami und starrte ihn nur mit dem linken Auge an, da das rechte Augenlied mit Blut verklebt war.

„Naja“, er räusperte sich, „Ich musste mir den Weg frei kämpfen”

„Wieso das denn? Das hättest du nicht tun müssen” Dann sah ihn Zeraph an und durch das Drachenherz konnte er seinen Schmerz fühlen. Resignierend aber mitfühlend schaute er Shezzar an. „Hast du alle umgebracht?“

„Alle, die mir in die Quere kamen. Naja, bis auf ihn, der war zu stark”, antwortete Shezzar und schaute den fremden Mann an. „Er heißt übrigens Han. Netter Kerl. Hat mir die Türen auf gemacht”

„Also…“, stieg der Mann in das Gespräch mit ein. „Ich heiße gar nicht Han. Das steht nur auf dem Namensschild und bedeutet Harmonisch Anthropomorphe Naturgewalt. Mein richtiger Name ist Alexander“

„Was ist eine Harmonisch Anthropomorphe Naturgewalt?“, fragte Shezzar ungläubig. Han zuckte nur mit den Schultern.

„Ich hab mir das nicht ausgedacht. Das hab ich noch von früher. Lange Geschichte”

„Und wieso trägst du es dann noch?“

„Es hat einen großen emotionalen Wert für mich” Shezzar atmete tief durch und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Seine Wunden waren längst verheilt, aber er war der Meinung, er müsse noch ein wenig den erschöpften Helden spielen.

„Wir hatten noch gar nicht die Gelegenheit uns richtig kennenzulernen”, sagte er freundlich. „Ich heiße Shezzar und ich habe vor nicht mal einem Tag diese beiden Wirrköpfe da drüben kennengelernt” Er kippte seinen Kopf leicht zur Seite und schaute rüber zu Bellami und Zeraph. Er lächelte dabei gelassen, fing sich für diesen Spruch aber wenig Begeisterung ein.

„Von mir gibt es nicht sonderlich viel zu erzählen”, antwortete Han mit lockerer Stimme. Doch man merkte, dass sich dahinter ein Geheimnis verbarg. „Obwohl ich kein Versuchsobjekt war, war dieses Labor lange Zeit wie ein Gefängnis für mich”

„Haben sie dich gezwungen, dort zu arbeiten?“, fragte Shezzar. Han kratzte sich am Kopf und lachte verlegen.

„Nein, eigentlich nicht. Ich hab mich irgendwie selbst dazu gezwungen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Dann stand plötzlich dieser junge Herr vor mir und hielt mir dieses riesige Schwert vor die Nase” Shezzar lachte amüsiert.

„Ich hab ihn gefragt ob er versucht mich aufzuhalten. Doch er hat mich nur gebeten ihn mitzunehmen. Der Kerl ist echt seltsam”

„Ich musste eine Entscheidung treffen, die mein Leben verändert. Das erste Mal seit langem”, sagte Han und wurde etwas melancholisch. Er zog sich den Seidenhandschuh von seiner linken Hand ab und betrachtete das Symbol, das schwach weiß schimmerte. Bellami bemerkte es sofort.

„Du hast es auch? Darf ich es sehen?“ Fragte er aufgeregt. Han lief etwas widerwillig zu ihm und streckte Bellami seine Hand entgegen. Sorgsam musterte er das Symbol.

„Es sieht ganz anders aus als das von mir und Shezz”, bemerkte er. „Das ist auch nicht die Sprache der Drachen. Was bedeutet es?“ Doch Han antwortete nicht. Zeraph kannte die Sprache und verstand sofort um was es sich handelte. Ein argwöhnischer Blick entfuhr ihm, aber er behielt es für sich, da er sah wie unangenehm es Han zu sein schien.

„Is‘ doch egal, man”, fuhr Shezzar in das peinliche Schweigen. „Er ist hier, wir sind hier. Er hat mir geholfen also wird es schon okay sein” Hans Gesichtszüge entspannten sich. Der Argwohn in Zeraphs und Bellamis Gesicht legte sich ebenfalls zu einem gleichgültigem lächeln. Zeraph lehnte sich wieder zurück, vollkommen sorglos und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

„Wo hast du dieses Schwert her?“, fragte Bellami neugierig. „Du hattest es noch nicht, als wir uns kennenlernten” Die milchig weiße, leicht transparente Klinge war durchzogen von winzigen, grünlich schimmernden Äderchen, die gleichmäßig pulsierten und aussahen wie Ranken mit Blättern, die sich über die ganze Fläche der Klinge ausbreiteten. Das Heft war im Inneren der kristallartigen Klinge verschmolzen und der Griff war sah aus wie eine geflochtene Baumwurzel.

„So etwas ist mir schon seit Ewigkeiten im Kopf herum gespuckt. Und es war das einzige, an dem ich mich während meiner Folter festhalten konnte” Shezzar stand auf und zog es aus dem Boden. Der feuchte Schmutz glitt an der Klinge herab, als würde sie es nicht zulassen, dass ihr wunderbares Antlitz von irgendwas anderem besudelt würde, außer dem Blut ihrer Opfer. Dasselbe Symbol, das Shezzar auf der Hand hatte, war auch im Kern der Klinge, nahe dem Heft eingraviert.

„Kannst du mir erklären, was dieses Symbol zu bedeuten hat?“ Seine Frage war an Zeraph gerichtet, doch Bellami antwortete prompt darauf.

„Das Hat mit deiner Kraft zu tun. Der Schriftzug um den Kreis ist ein Schwur, der in der Sprache der Drachen geschrieben ist. Das in der Mitte kenne ich aber nicht”

„Es bedeutet Terra”, antwortete Zeraph. „Die Kraft des Lebens und der Veränderung. Und genau wie bei Bellami ist es eine Bindung an Keara”

„Was ist Keara eigentlich genau?“, fragten Shezzar und Bellami fast synchron. Zeraph rieb sich nachdenklich das Kinn.

„Sie ist eine Nyx”, antwortete Zeraph. „Eine Anomalie, die entsteht, wenn die Astra verschiedener Bewusstsein auf bestimmte Art harmoniert. Diese formt sich dann zu einer eigenständigen Entität, dessen Persönlichkeit sich nach dem stärksten Bewusstsein entwickelt. In diesem Falle war es wohl mal ein Mensch. Sie sind in der Lage Astra und Terra zu beherrschen und können Menschen wie dich für ihre Zwecke einspannen. Dieses Symbol auf deiner Hand ist ein Indiz dafür, dass ihr ihrer Macht untersteht”

„Und du unterstehst ihr nicht?“, fragte Shezzar pauschal, doch er ahnte schon, was gleich kommt. Bellami lächelte amüsiert über Shezzars offensichtlich naive Frage. Zeraph lachte nur leicht belustigt.

„Wir Drachen sind keiner Macht unterstellt”, antwortete er überheblich und vorlaut. „Seit der Revolution gegen die Faarih, sind wir Drachen frei. Weder sie und schon gar nicht die Nyx sind noch in der Lage uns zu kontrollieren oder zu versklaven. Wir sind nun stärker und mächtiger als sie und alle anderen” Han zuckte nervös mit den Wimpern und senkte seinen Kopf fast unmerklich. Doch etwas schien in ihm vor zu gehen, etwas, dass ihn nachdenklich stimmte.

„Faarih?“, fragte Shezzar und rammte sein Schwert wieder in den Boden.

„Im Moment spielt das keine Rolle”, sagte Zeraph grimmig. „Du wirst noch genug über sie erfahren. Aber vorher muss ich noch etwas wichtiges Wissen”, er schaute musternd zu Han. „Was gedenkst du zu tun?“ Han hob seinen Zylinder und seine Kinnlangen schwarzen Haare fielen herab. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, fuhr dann durch seine Haare und setzte den Zylinder wieder auf. Er seufzte leise.

„Ich denke, ich werde wohl eine Weile bei euch bleiben müssen. Wenigstens so lang, bis ich wieder einen Sinn in meiner Existenz finde. Ihr seid ja auch ein interessanter Haufen” Zeraph schnaufte beleidigt.

„So? Was bringt dich zu dieser Annahme?“

„Ich hab es noch nie beobachten können, dass ein Drache sich mit Menschen abgibt” Zeraph zuckte mit der Augenbraue.

„Die haben mit Menschen nicht mehr viel gemein, wie du ja wissen solltest. Und der Junge hat ein paar interessante Ideen. Außerdem bin ich müde. Ich werde sowieso die ganze Zeit schlafen und euch in meinen Träumen beobachten” Shezzar stand auf und zog sein Schwert aus dem Boden.

„Ein Kind” Er zeigte mit der Spitze des Schwertes auf Bellami. „Ein Drache” Er richtete es auf Zeraph. „Und ein … Typ der den Sinn des Lebens sucht” Er zeigte auf Han. „Also wenn das nicht eine lustige Zeit wird, die wir vor uns haben, dann weiß ich auch nicht” Er lachte laut. „Aber mal Klartext: Was habt ihr denn nun vor?“ Bellami kratzte sich am Kinn.

„Also ich nehme mir jetzt meinen Drachen” Er betonte das meinen sehr stark. „Und baue mir ein neues Schloss” Er schaute zu Zeraph rüber, der ihm fiese Grimassen schnitt.

„Also, mein Drache”, fuhr Bellami fort. „Du hilfst mir doch dabei, oder?“ Zeraph schüttelte den Kopf.

„Ich habe dir schon mehr gegeben als du dir hättest wünschen können”, antwortete er launisch. „Jetzt liegt es an dir, die Zukunft dieser Welt zu gestalten” Solange Zeraph als Mensch unterwegs war, befand sich sein Körper in einer anderen Dimension und schlief. Diese Fähigkeit erlaubt es den riesigen, furchteinflößenden Kreaturen andere Welten ungestört zu beobachten, ohne sie durch ihre bloße Existenz zu beeinflussen. Die Drachen waren schon immer eine sehr wissbegierige Spezies, die es liebt durch verschiedenste Welten zu reisen und das Treiben dort zu studieren.

„Na toll”, grummelte Bellami. „Da hat man schon seinen eigenen Drachen und kann nicht mal mit ihm spielen”

„Ich kann dich trotzdem noch fressen. Ich muss dich nur vorher zubereiten”, sagte Zeraph und bleckte sich auffällig die scharfen Schneidezähne. Bellami bekam kurz Gänsehaut. Dann lachte er verlegen.

„Ah! Ruhe jetzt!“, brüllte Shezzar. „Ich will jetzt was Cooles machen” Er fuchtelte wild mit seinem Schwert herum. „Du”, sagte er und zeigte mir dem Schwert auf Bellami. „Ich helfe dir mit deinem Schloss. Ich kümmere mich um die Verteidigung. Eine, die sogar Drachen abwehren kann” Er legte das Schwert auf seine Schulter und lief nachdenklich auf und ab.

„Ich denke da an eine große Mauer, die mit Waffen bestückt ist, die sich selbst dem Gegner anpassen und sich weiter entwickeln können” Nachdenkend kniff Shezzar seine Augen zusammen.

„Und wie soll das bitte einen Drachen aufhalten?“, sagte Zeraph zynisch.

„Soweit kommst du gar nicht”, antwortete er und lachte böse. „Ich denke da an ein Kraftfeld, eine undurchdringliche Barriere, die in allen Dimensionen wirkt und alles Abhalten kann” Shezzar hielt kurz inne. „Und eine riesige Kanone im Zentrum der Stadt, die gleichzeitig das Kommandozentrum ist” Bellami applaudierte.

„Das klingt auf jeden Fall interessant. Sollte auch alles kein Problem sein. Aber ich weiß noch nicht, wo wir sie bauen sollen” Shezzar schaute sich um. Sie befanden sich auf der Lichtung eines gemischten, mitteleuropäischen Waldes, der immer wieder von kleinen und großen Lichtungen durchsetzt war.

„Warum nicht hier?“ Bellami schaute sich ebenfalls um.

„Naja. Hmmm” Er grübelte.

„Mach’s einfach!“, herrschte ihn Zeraph an, „Du solltest in der Lage sein alles zu erschaffen was du dir vorstellen kannst. Die Macht des Astra zusammen mit dem Drachenherz ist die beste Kombination für dein Vorhaben”

„Was?!“, fuhr Han dazwischen. „Ein Drache, der sein Herz einem Menschen schenkt?“ Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Das ich das noch erleben darf”

„Wir sind nun mal die besten Freunde”, sagte Bellami überzeugt.

„Ist das hier ein Verhör?“, fragte Zeraph in einem aggressiven Ton. „Ich tue was ich will. Du kannst gern versuchen, mich davon abzuhalten” Er hob seine Hand und blutrote Flammen stiegen empor.

„So war das wirklich nicht gemeint” Han verbeugte sich vornehm. „Bitte verzeiht, ich bin einfach nur fasziniert davon. Tut was immer euch beliebt. Ich sage nur was ich denke” Bellami fügte seine Hände zu einem Kelch zusammen, indem sich ein kleiner Kristall bildete. Er blitzte und funkelte blau wie ein Saphir und drehte sich geschmeidig. Bellami schloss seine Augen und verfiel in eine Trance. Minutenlang verharrte er regungslos und der Kristall veränderte immer wieder seine Form.

Ein weiches, blaues schimmern umgab Bellami, dass sich aber kaum mit dem Licht der Sonne messen konnte. Weitere zehn Minuten später kam er wieder zu sich und öffnete seine Hände. Der Kristall schwebte zu Boden und versank darin. Bellami kam wieder zu Bewusstsein und stand auf.

„So, das Fundament ist gelegt. Der Rest wird sich zeigen”, sagte er fröhlich und klatschte in die Hände. Daraufhin schoss ein blauer Lichtstrahl vom Himmel und drang in den Boden ein. Überall breiteten sich blau leuchtende Adern auf den Boden aus und er begann sich langsam zu verändern. Bellami spreizte seine Arme aus. Seine Augen glühten saphirblau. „Und so möge es beginnen. Das Sagenumwobene Reich Aletria mit seinem sagenumwobenen Herrscher: König Bellami, seinem besten Freund dem Drachen Darthas und zwei anderen Typen, die ihm immer zur Seite stehen werden und ihm ihre ewige Treue schwören” Shezzar klatschte in die Hände.

„Die zwei Typen. Das sind wir. Hehe”, sagte er leicht sarkastisch und stupste Han mit dem Ellenbogen.

„Ewige Treue?“, murmelte Han nachdenklich. Dann lächelte er. „Ach was soll’s”, sagte er und klatschte ebenfalls in die Hände.

Um sie herum fingen Säulen an aus dem Boden zu wachsen, die dabei ihre Form veränderten. Alles nahm langsam Gestalt an und wuchs immer weiter. Lokale Hindernisse wie Städte, Wälder lösten sich in der blauen Energie auf und verschmolzen mit dem Rest der Stadt. Shezzar und Han kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Fasziniert von der Macht und der Kreativität dieses unscheinbaren, frechen Jungen, den sie vor nicht einmal einem Tag erst kennengelernt hatten.

Der riesige Hauptturm nahm nach wenigen Stunden seine heutige Form an und wurde von Stunde zu Stunde immer filigraner und imposanter. Bellami lief wie wild hin und her, deutete auf Gebäude und Architekturen, die sich daraufhin wie von Geisterhand veränderten und andere Formen annahmen.

Ein paar Tage lang ging das so und dann begann auch Shezzar an Bellamis unermüdlichen Schaffen mitzuwirken. Die Stadt wuchs und wuchs. Unaufhaltsam und vollkommen gleichgültig darüber, wem dieses Land gehörte und wem sie den Lebensraum wegnahmen. Ganze Dörfer und Städte fielen den Bauwerken und Landgewinnungsmaßnahmen der beiden erbarmungslos zum Opfer.

Selbst das Militär des Landes konnte dieser Macht nicht standhalten, und selbst wenn sie es versuchten, hat sie Shezzar mit seinem blutdurstigen Schwert einfach zerschlagen, als wären sie eine Horde neugieriger Kühe, die man einfach nur davon scheuchen braucht.

Nach wenigen Tagen war dieses Ereignis in allen Medien der Welt das Thema Nummer Eins und es wurde, wie bei einer Katastrophe, fortlaufend davon berichtet. Spendenaufrufe und Hilfsaktionen für die flüchtenden Menschen wurden in Gang gesetzt.

Ein gewaltiger Exodus um das ganze Gebiet folgte. Nach einem Monat hatte der Stadtkern den stolzen Durchmesser von 25 Kilometern, die Mauer von der Shezzar sprach, wurde von den Menschen nur Die Bestie genannt und breitete sich langsam und gefräßig aus bis sie einen Durchmesser von 50 Kilometern erreichte.

Ab da hörte sie auf zu wachsen und Bellami begann einige der Flüchtlinge aufzunehmen. Zu seiner eigenen Sicherheit lud er aber nur Waisenkinder ein, denn er hatte keinerlei Vertrauen in ältere Menschen, besonders nicht denen aus dieser Welt gegenüber.

Im Laufe der nächsten 50 Jahre entwickelte sich die Stadt zu der, die sie heute ist. Es lebten sehr viele Menschen da und es passierte einiges in dieser Zeit. Angefangen von technologischen Durchbrüchen, Kolonialisierung entfernter Sternensysteme, bis zum Beginn des Baus eines Netzwerkes von Schnellreise-Portalen im Weltraum, dass eine einfache Verbindung zu selbst entlegensten Kolonien ermöglichte.

Zurück in der Gegenwart, saß Bellami in Gedanken versunken am Steuer des Shuttles, als Zeraph das Cockpit betrat.

„Woran denkst du?“, fragte Zeraph und setzte sich auf den Copiloten Sitz neben Bellami.

„An damals”, antwortete er etwas bedrückt. „Es ist einfach kaum zu glauben, dass 1000 Jahre einfach so dahin sind” Zeraph lachte.

„Für mich ist das gar nichts. Und passiert ist auch nicht viel… naja bis auf. Na, du hast es sicher schon gehört”

„Shezzar…“ Bellami fing an zu lächeln. „Irgendwie war es zu erwarten. Er war ein Hitzkopf wie aus dem Bilderbuch. Nun ist er tot”

„Val ist ganz anders als Shezzar” Zeraph lehnte sich zurück und stieß einen nachdenklichen Seufzer aus. „Also kann man durchaus sagen, dass Shezzar tot ist”, bestätigte er. „Aber du kennst ja die alte Weisheit der Drachen. Man soll sich tote nichts ins Leben zurückwünschen

„Da hast du wohl Recht” Bellami schaute Zeraph merkwürdig an. „Sag mal…  was hatte es mit dem Jungen auf sich? Und wo ist deine Drachengestalt gerade?“

„Ich schlafe gerade seelenruhig in Aletria. Das heißt du wirst noch eine Weile mit meinem Menschlichen Antlitz auskommen müssen” Zeraph lachte vergnügt. „Oder willst du einen schlafenden Drachen wecken? Ich habe nämlich die letzten tausend Jahre lang nicht geschlafen” Bellamis Gesichtszüge verhärteten sich.

„Wieso das?“, fragte er angespannt. „Hast du nach mir gesucht?“

„Das war vergeblich. Außerdem musste ich auf jemanden aufpassen und dein Königreich bewachen”

„Du meinst doch nicht etwa diesen Jungen, der wohl auch bald zu einem Drachen wird”, fragte Bellami und schaute nach hinten.

„Oh nein. Er ist erst seit kurzem in meiner Obhut. Es war sein Wunsch und er hat mich gefunden”

„Und warum hat Shez..”, er unterbrach sich selbst. „Ich meine Val, ... auch ein Drachenherz?“ Zeraph verschränkte die Arme. Er war zu stolz, Bellami von seiner Einsamkeit zu erzählen. Also schwieg er sich aus. Bellami spürte, dass Zeraph Shezzar wohl genau so sehr vermisst hat, wie ihn. Aber er verstand auch, dass Zeraphs stolze, von Äonen Zeitaltern geprägte, unerschütterliche Autorität, auf keinen Fall von so einfachen Gefühlen erschüttert werden durfte. Bellami schwieg freudig lächelnd und entspannt. Der Hauptturm Aletrias war bereits in Sicht.

Kapitel 12

Das Ende der Welt

Nach der kurzen Reise landete Bellami das Shuttle und sie machten sich auf den Weg zum Hauptturm. Am Fuß angekommen wurde einem erst bewusst, wie unglaublich dieses Gebäude war. Bei wolkigem Wetter vermochte man nicht einmal die Kommandozentrale am Ende des Turms zu sehen. Die klaffende Leere im Zentrum der Pfeiler war verdächtig. Wie eine Startrampe für Weltraumraketen, könnte man vermuten. Jede der vier Pfeiler war größer als ein Wolkenkratzer und hatte einen riesigen Eingangsbereich, indem sich unzählige Aufzüge befanden. Fasziniert folgen sie Bellami und Zeraph.

„Ähm, Zeraph”, sagte Bellami verlegen. „Du bist der einzige, der noch einen Armreif hat, wärst du so nett?“ Genervt rollte dieser mit den Augen und rief einen Aufzug herbei.

„Wieso verschenkst du auch immer dein Zeug an Andere?“ Die Tür öffnete sich und alle betraten den Aufzug. Oben angekommen trafen sie dann auf Han und die Zwillinge. Ein bedrückendes Schweigen entstand.

Selbst der sonst so redselige Bellami wusste nicht wirklich was er sagen sollte. Eine wohlklingende Melodie kündete von Eintreffen eines weiteren Aufzugs. Das kleine Mädchen, dass sie damals unfreundlich und traurig im Hauptturm empfangen hat, stieg aus dem Aufzug, diesmal in einen dicken Pullover mit hohem Kragen gehüllt, blieb sie erstaunt und mit einem weichen Lächeln vor der Meute stehen. Ihre Wangen röteten sich und in ihrem Gesicht erkannte man den misslungenen Versuch sich das Weinen zu verkneifen.

„Bist du das, Schwester?“, fragte das Mädchen schüchtern und schniefte. „Hast du“, sie schniefte wieder und ihre Stimme wurde brüchig. „Deinen Drachen gefunden?“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Ajuki lächelte und ging zu ihr. Sie kniete sich herab und nahm sie in den Arm.

„Hast du die ganze Zeit hier auf mich gewartet, Kumiko?“ Flüsterte sie ihr ins Ohr. Kumiko nickte nur leicht.

„Gewartet… Das ich nicht lache”, krächzte Maria zynisch. „Die Stadt war versiegelt. Kein Mensch war hier, die letzten tausend Jahre” Ajuki stand auf und funkelte Maria böse an. Doch bevor sie was sagen konnte, sah sie Han und erkannte ihn. Ihre Mine erstarrte urplötzlich. Zeraph ging zu ihr und schaute ihr tief in die Augen.

„Er wird euch nichts tun”, flüsterte er.

„Das hättest du auch netter sagen können”, schimpfte Lili. Maria seufzte darauf hin nur herablassend.  

„Laber mich nicht voll”, fuhr sie mit Wut geschwängerter Stimme fort, „Wir sitzen hier seit drei Tagen rum und müssen uns mit ansehen, wie unser Meister am Rand des Wahnsinns herum schlittert, und das wichtigste für diese blöde Göre ist ihre Schwester, die die letzten tausend Jahre geschlafen, und keinen einzigen Gedanken an sie vergeudet hat” Maria stand wütend auf und ging zu Han. Lili schaute ihr entsetzt nach.

„Hör bitte auf, Maria”, sagte Han gelassen und legte seine Hand auf ihre Schulter.

„Was ist denn mit Han?“, fragte Milena Lili.

„Seine Erinnerungen”, Sie lief zum Fenster, „Sie wurden manipuliert und durcheinandergebracht. Seitdem er wieder in Aletria ist, hat er nichts anderes getan als euch die ganze Zeit zu suchen wie ein Wahnsinniger. Tag und Nacht… ununterbrochen”

„Drei Tage?“, fragte Milena, „Aber wir waren doch nur zwei Tage in Celestis”

„Vielleicht ist es uns nicht so lang vorgekommen? Oder wir haben länger geschlafen als wir dachten”, versuchte Val zu erklären. Milena lächelte und nickte. „Ist ja auch egal, Hauptsache wir sind wieder zusammen” Val lächelte verlegen und wurde rot im Gesicht. Lili stellte sich vor die beiden.

„Genug rumgeturtelt”, sagte sie laut und schaute wieder zu den anderen. „Die Götter sind seit Vals Amoklauf wieder sehr aktiv. Wir sollten uns eher damit beschäftigen. Das geht jetzt schon seit zwei Tagen so”

„Wart mal, wart mal … ganz ruhig”, sagte Bellami angespannt. „Was meinst du mit Götter? Wer soll das sein? Zeraph?“ Alle schauten zu ihm.

„Das sind die, die meine Erinnerungen manipuliert haben”, sagte Han. Zeraph nickte.

„Die sogenannten Götter sind Menschen, die sich etwa sechshundert Jahre nach dem großen Krieg aus Celestis erhoben haben. Sie hatten die höchste Technologie, aber das war nicht der einzige Vorteil, den sie gegenüber den anderen Menschen hatten. Bin ich wirklich der einzige, der das weiß?“

„Ich hab davon gehört”, stieg Ajuki ein und kam schüchtern hinter Zeraph hervor. „Es gab Berichte, dass drei riesige Flugmaschinen von Celestis gestartet sind und den Planeten vor vierhundert Jahren verlassen haben. Danach passierte in Celestis nicht mehr viel. Bis zu der Katastrophe bei der Weltausstellung”

„Ja, das stimmt so weit”, fuhr Zeraph fort. „Celestis Elitewissenschaflter verließen die Erde. Danach stand die Stadt still”

„Und was meintest du mit: Aber das war nicht der einzige Vorteil?“, fragte Val.

„Sie waren unsterblich. Nicht ganz so wie ihr, nur alterten sie nicht mehr” Zeraph schaute zu Val und Milena. „Ihr habt Bellami doch in Celestis gefunden, richtig?“ Beide nickten ahnungslos. „Ich denke die Bewohner von Celestis waren zum Großteil nachkommen der Wissenschaftler, die Shezzar damals in ihrem Labor gefoltert haben. Sie konnten mit seinem Blut wohl etwas entwickeln, mit dem sie unsterblich werden können. Und das Gleiche haben sie mit Bellami gemacht”

„Wie, was haben sie bekommen?“, fragte Bellami wütend. „Was haben die von mir?“

„Sie haben einen kleinen Teil deiner Kräfte und deine Unsterblichkeit. Und da sie sich seitdem für höhere Wesen halten, nennen sie sich die Götter”, erklärte Zeraph weiter.

„Und ihre Anführerin heißt Isabelle!“, platzte Maria rein. Han ging langsam zu Zeraph und Ajuki. Zeraph schaute ihm fordernd in die Augen. Kumiko versteckte sich ängstlich hinter ihm.

„Bitte Ajuki”, sagte Han und verbeugte sich vornehm. „Bitte sag mir, was ich dir angetan hab. Ich weiß es nicht mehr, also sag es mir bitte. Was ist damals passiert?“ Ajuki strich mit der Hand ihre pechschwarzen, seidigen Haare hinter ihr linkes Ohr und schaute angespannt auf den Boden. Zeraph wandte sich von ihnen ab.

„Bin mal gespannt, was jetzt kommt”, sagte Zeraph herablassend. Ajuki nickte schüchtern lächelnd und die anderen setzten sich auf die weichen Ledersofas oder blieben interessiert stehen.

„Ich lebte damals mit meiner Schwester Kumiko allein in einem kleinen, leblosen Dorf, nahe der Stadt Marista, die damals noch ihren alten Namen hatte. Wir sind vor unseren Eltern aus Japan geflohen, da sie in Yakuza Kreisen agierten und wir ständig Gefahren ausgesetzt waren. Wir kannten jemanden in diesem Land, der mir Arbeit, und Kumiko einen Platz an einer Schule vermitteln konnte.

Unser Leben war nicht besonders aufregend, aber das war uns gerade recht, da es in meiner Heimat ständig Aufregung und Besorgnis gab. Kumi machte sich ganz gut in der Schule und lernte die Sprache auch sehr schnell. Mir fiel das nicht so leicht, aber ich bin trotzdem ganz gut klargekommen.

Das wir so nah bei Aletria wohnten, war uns gar nicht bewusst. Eines Abends kam Kumi, völlig aus dem Häuschen, zu mir und rief ständig „Schwester, Schwester! Komm mit, das musst du dir ansehen” Widerwillig folgte ich ihr ein Stück in den Wald und zu meinem Entsetzen hatte sie jemanden gefunden, den wir bisher nur aus Geschichtsbüchern und Erzählungen über Aletria kannten: Es war Shezzar, der Anführer der Streitkräfte von Aletria und einer der meistgefürchteten Massenmörder und Kriegsverbrecher der Welt. Er saß da, die Arme um die Beine geschlagen, mit einem erbärmlichen, verheulten Gesicht, wie ein kleines Kind, dem man seinen Lutscher weggenommen hatte.

Seine weiße Uniform war makellos sauber und unbefleckt. Seine Abzeichen funkelten im Mondlicht und sein mächtiges Schwert, mit dem er ganze Armeen auslöschte, steckte tief im Boden neben ihm. Ich hatte schreckliche Angst und wollte weglaufen, doch Kumi ging zu ihm und schaute ihm mitfühlend ins Gesicht. „Der Mann ist traurig”, sagte sie immer, obwohl sie, genauso gut wie ich wusste mit wem sie es zu tun hatte. Sie packte seinen Arm und zog an ihm. „Komm mit zu uns, wir machen dir einen leckeren Tee, dann geht’s dir wieder besser” Sagte sie in ihrer kindlichen Fröhlichkeit. Ich war wie erstarrt vor Angst, doch ich sah mehr Menschlichkeit in seinen Augen als bei allen anderen, die ich kannte. Ich resignierte und dachte mir: Wenn er uns hätte töten wollen, hätte er es längst getan.

Wir hätten uns ihm sowieso nicht widersetzen können. Irgendwann gab er Kumi nach und wir brachten ihn in unser Haus. Wir achteten darauf, dass uns niemand sieht, denn wenn ihn jemand erkannt hätte, hätte er wahrscheinlich gleich das Militär gerufen und die hätten alles mit Atombomben vernichtet. Nun war er bei uns im Haus und sprach kein Wort. Er nahm den Tee von Kumi an, nippte kurz an der Tasse und stellte sie wieder auf den Tisch. Er war wie gefangen in einer seltsamen Welt, hinter seinen Augen. Immer wieder liefen ihm Tränen die Wangen herab. Er aß nichts, er trank nichts. Er musste auch nie auf die Toilette. Sein Atem war sehr flach und kurz. Nach zwei Tagen fing er wieder an zu sprechen. Stück für Stück erfuhren wir, dass sein bester Freund verschwunden ist und er sich schreckliche Vorwürfe macht und glaubt, dass sein Freund genauso gefoltert wird wie er damals.

„Hast du ihn gesucht?“, fragte ich und er schaute mir tief in die Augen.

„Ja, hab ich. Aber niemand wird mir Auskunft geben, ohne dass ich ihnen mein Königreich überlasse”, antwortete er niedergeschlagen. „Und selbst der Drache kann ihn nicht mehr spüren”

Ein Drache ist bei ihnen? Dachte ich mir, aber das war nicht so wichtig. Ich hatte noch nie für jemanden so ein tiefes und ehrliches Mitgefühl empfunden. Letztendlich verliebte ich mich in ihn”

Verliebt? Dachte sich Kumiko, als sie sich daran erinnerte. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. So war das doch gar nicht. Sie beschloss ihr weiter zuzuhören, wurde aber zunehmen skeptischer.

„Die nächsten Tage redeten wir ununterbrochen und erzählten uns Geschichten aus unseren verschiedenen Welten. Seine Geschichten von Bellami und dem Drachen, Aletria und den Kriegen, die es brachte. Ich erzählte von meinem Leben in einer Yakuza Familie und meiner Bürde als erstgeborene Tochter des Oberhauptes. Wir lachten viel und Kumi sah in ihm wohl eine Art Vaterfigur. Eines Abends sagte ich ihm, dass er seinen Freund weitersuchen soll, egal wer sich ihm in den Weg stellt. Was ich bis heute bereue, denn am nächsten Morgen war er verschwunden.

Der Fernseher lief die ganze Nacht auf einem Nachrichtenkanal. Als ich aufwachte, waren bereits fünf Großstädte in verschiedenen Ländern zerstört. Alles war voller Berichte über Katastrophen und eine Weltweite Panik schien sich auszubreiten. Aus meinem Dorf waren die meisten schon geflohen. Nur verwackelte Videos von Mobiltelefonen zeigten Shezzar mit seinem Schwert, das um ihn herumflog und immer wieder in tausende Splitter zerbrach. Explosionen und Erschütterungen folgten. Autos flogen durch die Luft, Feuerwalzen rollten über das Land.

Seine Augen leuchteten hellgrün, genau wie das Symbol auf seiner Hand. Sein Gesicht war voller Wut und Hass. Ein Dunst aus leuchtendem Nebel umhüllte ihn und ließ Menschen auf der Stelle tot umfallen, die mit ihm in Berührung kamen. Sechs Tage später stand er plötzlich in unserem Wohnzimmer. Noch immer traurig und verzweifelt.

„Ajuki”, sagte er hektisch. „Ich weiß jetzt, wo er ist. Er muss dort sein. Doch ich habe ein komisches Gefühl” Er nahm seinen Armreif ab und legte ihn mir an. Ich war schon immer neidisch auf dieses wunderschöne Schmuckstück. Und nun gab er es mir, wie ein Beweis seiner Liebe.

„Das wird dich beschützen. Du musst den Drachen finden” Ich verstand seine Worte anfangs nicht. Dann gab er mir einen zweiten Armreif, den er aus seiner Tasche zog.

„Der ist für Kumiko. Sorg dafür, dass sie ihn auch immer angelegt hat. Es ist sehr wichtig” Seine Stimme war besorgt und aufgeregt. Es klang so als wäre es ein Abschied für immer. Mein Herz wurde kalt und ich fühlte mich leer und verlassen. Dann legte er seine Hände auf meine Wangen und küsste mich. Seine Lippen schmeckten salzig, von seinen Tränen getränkt.

„Ich liebe dich, Ajuki”, sagte er noch. Ich wiederholte seine Worte, dann verschwand er einfach. Die Tür fiel zu und ich war wieder allein. Er kommt wieder. Hab ich versucht mir einzureden, doch das Gefühl der Endgültigkeit umschloss mein Herz mit kaltem Griff. Als Kumi aus der Schule wiederkam, merkte sie sofort, dass er da war. Sein Geruch lag noch deutlich in der Luft, doch verraten hat es wohl mein verheultes Gesicht. Ich legte ihr den Armreif an und setzte mich mit ihr aufs Sofa. Kumi schaltete aus Gewohnheit den Fernseher ein und was wir sahen war ein Live-Bericht auf einem Notfallsender, der in alle intakten Gebiete der Welt ausgestrahlt wurde”

Ajukis Blick schweifte über die gierigen Gesichtsausdrücke der Meute, die ihr fasziniert und mit teilweise feuchten Augen begeistert lauschten. Nur Kumiko war nicht dabei. Sie saß einsam in einem Raum nebenan an einer Wand, umschloss ihre Beine mit den Armen und schluchzte traurig. Aus irgendeinem Grund schüttelte sie die ganze Zeit mit dem Kopf. Er war nur einen Tag bei uns und sie hat ihm eingeredet, dass er seinen Freund nur wiederbekommt, wenn er die Menschen versklavt oder vernichtet. Erinnerte sie sich.

Ajuki erzählte weiter. „Die Aufnahmen stammten aus einem Militärhubschrauber und waren verwackelt und ein bisschen unscharf. Shezzar war zu sehen, der langsam auf die letzte große Stadt zulief. Eine Frau mit silbernen Haaren, die neben der Kamera im Hubschrauber stand, fing an Befehle in ein Funkgerät zu brüllen. Sekunden später schlugen tausende Geschosse, Raketen und Bomben auf ihn ein. Doch er lief weiter als wäre es nur eine seichte Frühlingspriese.

Bataillone von Soldaten und Kriegsgerät wurden auf ihn losgelassen. Alle feuerten aus sicherer Entfernung und hinterließen auf seinem Weg ein Feld der Verwüstung. Doch er lief unaufhaltsam weiter. Sein Schwert wirbelte wie von Geisterhand um ihn herum und bildete eine undurchdringbare Barriere. Zwei Stunden lang wurde das gesamte verbleibende Militär der Welt auf ihn losgelassen und zerschellte wie eine Holzschaluppe in einer stürmischen Brandung. Dann blieb er plötzlich stehen. Die Frau bellte wieder unablässig Befehle in ihr Funkgerät und plötzlich verstummten die Kanonen. Der Staub legte sich und man sah dich”

Ajuki schaute Han ins Gesicht. Alle anderen taten ihr gleich. „Wie du vor ihm stehst und mit ihm geredet hast. Mehrere Hubschrauber umkreisten euch, aber ihr habt sie nicht beachtet. Shezzar hielt sein Schwert in der Hand und fuchtelte wütend damit herum. Han versuchte ihn zu beruhigen. Man konnte natürlich nicht hören was ihr sagtet, geschweige denn eure seltsame Sprache verstehen. Aber die Gestik war eindeutig.

Anfangs war es noch ruhig, doch dann wurde es zu einem heftigen Streit. Wild gestikulierend standet ihr euch gegenüber und habt euch angeschrien. Plötzlich stürmte Shezzar mit seinem Schwert auf dich los. Die Kamera wurde plötzlich nach unten gedrückt und man sah nur noch den Boden des Hubschraubers.

Wieder donnerte die Frau, von der man immer nur ihren Hinterkopf sah, befehle in ihr Funkgerät. Sekunden später brach ein erneuter Hagel aus Geschossen, Raketen und Bomben auf euch nieder. Eine große Staubwolke umhüllte das Gebiet und ihr wart nicht mehr zu sehen. Stattdessen zeigten sie Bilder von Panzerbataillonen, deren Kanonen unablässig Feuer spuckten bis sie glühten. Soldaten, die mit ihren Gewehren schossen und Fliegerstaffeln, die ihre totbringende Bombenlast abwarfen. Raketen und Artilleriekanonen wurden aus weiter Entfernung abgefeuert und trafen mit erschreckender Präzision ihr Ziel.

Der Feuersturm schien endlos, als hätten sie Munitionsfabriken, die sie unablässig mit Nachschub versorgten. Dann sah man wie Shezzars Schwert hoch in die Luft flog und das reflektierende Sonnenlicht blitzte in die Kamera. An seinem Scheitelpunkt blieb es kurz stehen und fiel mit der Spitze voraus wieder nach unten. Dann verebbte der Bombenhagel und der Staub legte sich langsam. Die Frau brüllte nun nicht mehr und schien sich zu beruhigen. Wieder verstummten die Kanonen und man hörte nur noch das Klopfen der Rotoren. Als Rauch und Staub sich legten, gaben sie ein Bild frei, das mein Herz zu Eis erstarren ließ. Shezzar lag leblos auf dem Rücken und sein eigenes Schwert steckte tief in seiner Brust. Die Kamera schwenkte kurz zu Han, der mit gesenktem Haupt langsam davon schlurfte. Sofort wurde wieder zu Shezzar geschwenkt. Die Worte der Frau mit den Silbernen Haaren werde ich nie vergessen:

An Alle: Ziel wurde eliminiert. Ich wiederhole: Ziel wurde eliminiert. Bergung umgehend einleiten! Shezzar ist tot. Aletria ist gefallen. Die Menschheit hat gesiegt. Kumi weinte schrecklich, genauso wie ich. Ein weiterer Militärhubschrauber landete und zwei Soldaten befestigten eine Kralle an Shezzars Schwert. Der Hubschrauber gewann langsam wieder an Höhe und zog es nach oben. Sein Körper hob sich leicht, bevor ihn die Klinge frei gab und an dem Seil hin und her baumelte.

Shezzars Körper löste sich zu einer grünen Flüssigkeit auf, die im Boden versank. Sekunden später schossen Gräser, Blumen und sogar Bäume aus der aufgewühlten Erde, wie in einer Zeitraffer Aufnahme. Die Frau drehte sich zum ersten Mal um und schaute direkt in die Kamera. Ihr makelloses Gesicht, mit einem feinen Teint, lächelte froh und erleichtert. Ihr Name war Isabelle Haidenberg und sie war General der vereinigten Streitkräfte der Welt.

Das Bild schaltete wieder um und man sah jubelnde Soldaten, die aus ihren Fahrzeugen sprangen, singend und tanzend einander umarmten. Diese sechs Tage werden bis heute gefeiert. Der Krater wurde zu einem Mahnmal erklärt und Die Haidenberg Scharte genannt. Ein weiches, buntes Schimmern geht noch immer von ihr aus”

Mit einem tiefen Atemzug erklärte Ajuki die Geschichte für beendet. Tränengetränkte Augen starrten sie an. Ein bedrücktes Schweigen durchfuhr den Raum. Ajuki starrte mit eiskaltem Blick zu Han.

„Verstehst du jetzt, warum ich dich hasse? Du hast mir den einzigen Menschen genommen, den ich je geliebt habe” Kumis kleines Herz zerbrach in diesem Moment mit einem stechenden Schmerz. Sie fühlte sich so schrecklich einsam, dass sie es kaum ertragen konnte. Sie konnte sich bestens an die wahren Geschehnisse erinnern und sie konnte nicht verstehen wieso Ajuki ihnen eine Geschichte erzählte, die bestenfalls für einen billigen Groschenroman geeignet war. Sie wollte etwas sagen; die Wahrheit, dass Shezzar in ihr nichts weitersah als ein einsames Kind und er ihnen den Armreif nur gab, weil er hoffte sie seien in Aletria in Sicherheit.

„Aber er hätte sonst die ganze Welt vernichtet”, sagte Milena.

Ajuki schüttelte den Kopf. „Nein!“, sagte sie laut und aufgewühlt. „Er hätte ihn gefunden. Er war kurz davor. Doch dann hat er ihn einfach umgebracht” Bellami stand auf und wollte gerade ein machtvolles Wort sprechen da erschienen überall im Kontrollraum rote Meldungen und eine weibliche Computerstimme ertönte: Achtung! Gravimetrische Verschiebung im nahen Orbit entdeckt. Richte Scanner aus.

Kapitel 13

Wir sind die Guten. Sind wir die Guten?

Bellami ging zu einem Kontrollpult in dem Raum, in dem Kumi sich versteckte. Ein Hologramm der Erde war zu sehen und daneben ein pulsierender, roter Punkt. Val folgte ihm.

„Was ist das?“, fragte Val.

„Weiß noch nicht, warte auf den Scan”, antwortete Bellami.

Scan Auswertung: ertönte wieder die Stimme. Masse des Objekts: 2 Millionen Tonnen. Energiesignatur: 1500 Grad, Frequenzfarbe: 9,5 Blau. Val hörte fasziniert zu.

„Was bedeutet das?“

„Warte noch ein bisschen. Wie es aussieht ist es ein Raumschiff”, antwortete Bellami.

Abgleich der Datenbanken, fuhr die Stimme fort. Massereiches Objekt klassifiziert als schwerer Schlachtkreuzer. Herkunft: Batyr, Bewaffnung: Mehrere große Strahlenemitter. Kleine Punktverteidigungssysteme, Nahverteidigung. Schilde: 2-Phasen-Vektorkrümmungsfelder und Magnetfeldemitter mit einer Flussdichte von 2,755 Tesla.

„Ähhh… Ist das nun ein Raumschiff?“, fragte Val wieder. Bellami nickte.

„Ist aber nicht wirklich bedrohlich. Zumindest nicht für uns”

Achtung! Starker Energieanstieg im Objekt. Einsatz einer Massenvernichtungswaffe wahrscheinlich.

Hologramme in der Luft zeigten nun schematisch Bilder des Objekts und dass es sich langsam ausrichtete. Kurz darauf waren live-Bilder von mehreren Überwachungssatelliten zu sehen: Es war ein großes, schlankes Raumschiff, glänzend weiß, umgeben von einem silbrig glänzenden Vorhang aus Energie.

„Massenvernichtungswaffe?“, fragte Milena entsetzt. Weitere Hologramme wurden projiziert. Sie zeigten Aletria und die Mauer darum.

Verteidigungssysteme werden angeglichen – DEATH System auf 1,2% Effizienz ausgerichtet. SHELL Phasenanpassung nicht notwendig. Bedrohungspotenzial bei unter Ein Prozent. DHC System Einsatz wird nicht empfohlen.

„Greifen die uns etwa an?“, fragte Val. Bellami schaute sich die Daten genauer an.

„Nein, das Schiff richtet sich auf Celestis aus”

„Was ist DEATH? Und das andere Zeug?“, fragte Val wieder, ohne groß auf eine Antwort zu hoffen.

Du hast dir diese Sachen ausgedacht” Bellami lachte. „Du meintest wir brauchen coole Abkürzungen dafür” Er drehte sich zu Val und fuchtelte mit den Händen in der Luft. „DEATH bedeutet Defensive Evolution Anti Threat Halo

Val kratzte sich an der Schläfe. „Hast du gerade Celestis gesagt?“

„Ja, wieso? Eine verlassene Stadt. Es war mal ihre, also sollen die sie doch zerstören, wenn sie wollen”

„Aber…“ Val holte die Phiole, die er aus der Stadt mitgenommen hat aus der Tasche. „Da ist überall dieses Zeug. Der Typ in dem Film sagt, dass einer dieser Fläschchen genug Energie enthält, um eine Stadt für ein Jahr mit Strom zu versorgen” Bellami nahm die Phiole und hielt sie in die Luft.

„Analyse, bitte”, sagte er und träufelte ein bisschen von der Flüssigkeit auf eine glatte Fläche auf dem Bedienpult. „Berechne bitte das Potential der Zerstörung, wenn, angenommen zehn Kubikmeter dieser Flüssigkeit von dem Energieimpuls getroffen werden”, befahl er. Einige Sekunden war Stille.

Zerstörungspotential bei 89%, sprach der Computer. Vollständige Vernichtung des Nordamerikanischen Kontinents bis durch den Erdmantel. Eine Geologische Kettenreaktion folgt, die die gesamte Erdoberfläche unbewohnbar macht. Es werden sofortige Gegenmaßnahmen vorbereitet. Einsatz des DHC Systems erforderlich.

„Was ist das DHC System?“, fragte Val wieder.

„Das bedeutet Death’s Hadron Collector. Das ist eine große Partikelkanone”, antwortete Bellami genervt. Wieder ertönte eine Warnung.

Achtung. Weitere Gravimetrische Verschiebungen. Zwei weitere Schlachtkreuzer richten sich auf Celestis aus. Gefahrenpotenzial bei 99%.

„Hmmm” Bellami überlegte. „Wir können nur einmal Feuern. Und die Schiffe sind zu weit voneinander entfernt, um sie alle mit einem Schlag zu zerstören”

„Aber wir sind doch sicher hier?“, fragte Milena, die gerade zu ihnen kam.

„Schon” Bellami tippte nachdenklich auf dem Pult herum. „Das Dumme ist, dass sie den gesamten Planeten zerstören. Im Prinzip sind wir sicher, da wir die Stadt…“ Der Computer unterbrach ihn.

Analyse der Flüssigkeit vollständig. Das Wellenmuster der DHC wird angepasst. Verfahren wird gestartet.

„HA!“, lachte Bellami. „Der Computer war schneller”

„Ich verstehe”, sagte Han und ging zu ihnen. „Wir zerstören Celestis, bevor die es tun” Im Zentrum des Turms öffnete sich eine riesige Schleuse und aus dem Boden schoss eine metallene Apparatur, die sich an den Innenseiten der Pfeiler emporzog. Sie blieb genau auf Höhe der ringförmigen Kontrollplattform, in der sich alle befanden, stehen und diese wurde kurz darauf etwa dreißig Meter nach unten gefahren.

Am oberen Ende des Turms angekommen, fuhren im Zentrum drei längliche Balken aus, die sich dann leicht schräg ausrichteten. Diese waren umgeben von beweglichen Kacheln, die wie ein Parabolspiegel nach oben ausgerichtet waren. Die untere Hälfte bestand aus mehreren nach unten ausgerichteten Platten, die kreisförmig um das Zentrum angeordnet waren. Dort befand sich etwas was wie ein großer Kristall aussah, der wie ein perfekt geschliffener Edelstein von einer glänzenden Fassung gehalten wurde.

Berechnungen abgeschlossen, Ertönte wieder der Computer. Bereit zum Feuern. Val schaute skeptisch.

„Aber wenn wir Celestis zerstören, passiert doch das Gleiche, oder?“ Han schüttelte den Kopf.

„Die Waffe ist so eingestellt, dass sie das Wellenmuster der Energie in der Flüssigkeit umkehrt und neutralisiert”

„Ganz recht”, übernahm Bellami, „Das Problem ist nur, dass wir nicht genau wissen, wie viel dieser Flüssigkeit sich dort befindet. Deswegen könnten die Berechnungen auch leicht danebenliegen. Aber selbst im schlimmsten Fall, wäre es nicht mal annähernd so schwerwiegend, als wenn die anderen vor uns feuern”

„Dennoch müssen wir auch die Schiffe zerstören”, erwiderte Han.

„Die sind mir eigentlich egal. Meiner Stadt können die nichts, selbst mit ihren besten Waffen” Bellami hob den rechten Arm und ballte seine Hand zur Faust. „Feuer!“, brüllte er laut und schlug auf das Pult ein. Aus dem Zentrum des Turms schoss ein Schwall schwarzer Energie, die den Kristall zum Glühen brachte.

Die Platten, die um den Kristall angeordnet waren, begannen sich leicht zu bewegen und fingen ebenfalls an in einem dunklen lilafarbenen ton zu leuchten. Zwischen den Balken auf der oberen Seite der Waffe entstand nun eine Kugel aus dieser Energie, die von einem Kraftfeld fixiert wurde. Die Kacheln darunter richteten sich neu aus und um die Kugel bildeten sich mehrere Ringe, die sich wie Wellen bewegten. Das Leuchten der Kugel wurde immer stärker, dann richteten sich die Ringe plötzlich gerade und parallel zur Konstruktion aus und ein langer, heller Energiestrahl schoss in den Himmel. Dort traf er auf einen speziell dafür platzierten Satelliten. An dessen oberen Teil waren sogenannte Empfänger Module, die mithilfe eines fein kalibrierten Energiefeldes die Partikel auffangen und neu ausrichten konnten. Der Satellit befand sich im Orbit direkt über Celestis und der Partikelstrahl wurde punktgenau ins Ziel geleitet.

Zur selben Zeit feuerte der Schlachtkreuzer seine Strahlenwaffe ab. Der schwarze Strahl schlug nur wenige Millisekunden vor dem anderen ein und die Stadt versank in einem Meer aus blauen Flammen. Als der andere einschlug, blitzte ein helles Licht auf, das auf dem ganzen Kontinent zu sehen war.

Eine extreme Hitze verbrannte alles innerhalb von einhundert Kilometern umkreis. Es folgten schwere Erdbeben und Druckwellen pulsierten über das Land, die ganze Landstriche einebneten. Nach wenigen Minuten war es vorbei. Auf den Live-Bildern des Satelliten war nun ein zehn Kilometer breiter Krater zu sehen. Alles andere war verbranntes, karges Ödland.

„Der Krater ist nur einen Kilometer Tief. Keine Staubwolke und keine nennenswerten Veränderungen der Tektonik”, sagte Bellami gelassen.

„Aber das ganze Gebiet um Celestis wurde ausgelöscht. Das war doch bewohnt, oder?“, sagte Milena entsetzt. Val schaute ihr mitfühlend in die Augen. Bellami zuckte nur mit den Achseln.

„Das Land wird sich schnell wieder erholen. Und die Bevölkerung auch”, sagte er kalt.

„Was machen wir jetzt mit den drei Schlachtkreuzern?“, fragte Han. „Sie richten sich auf Marista aus”

„Marista?“, fragte Val entsetzt.

„Momo!“, setzte Ryu nach.

„Wenn du deine Freunde retten willst, dann hol sie hier her”, sagte Bellami und verschränkte die Arme.

„Heißt das, du willst die Schiffe nicht zerstören?“, fragte Ryu. „Aber du hast doch gerade eben auch eingegriffen” Zeraph lachte laut.

„Du weißt schon, dass wir die Bösen sind, richtig?“, sagte er zynisch. Ryu schüttelte den Kopf.

„Aber ich dachte wir haben gerade die Welt gerettet” Bellami grinste und schaltete eine Übertragung ein, die auf einem öffentlichen Kanal weltweit gesendet wurde. Es war eine simple Nachrichtensendung. Die Sprecherin:

„Vor wenigen Minuten ereignete sich eine Katastrophe, wie sie schlimmer nur vor tausend Jahren stattfand. Wieder wurde die Menschheit von den skrupellosen Militärs des silbernen Reiches angegriffen. Der halbe nordamerikanische Kontinent wurde innerhalb weniger Sekunden von einer Orbitalen Massenvernichtungswaffe attackiert und vernichtet. Die geschätzte Zahl der Opfer liegt im zweistelligen Millionenbereich.

Aufnahmen von Überwachungssatelliten zeigen, dass der Angriff direkt von der Silbernen Stadt ausging und auf die verlassene Stadt Celestis abzielte, die scheinbar als Katalysator für eine enorme Kettenreaktion herhalten sollte. Gründe für diesen Angriff sind nicht bekannt. Experten vermuten, dass es sich um einen Test ihrer Massenvernichtungswaffen handelte. Wir halten sie auch weiterhin auf dem Laufenden” Bellami schaltete die Übertragung wieder ab.

„Wir waren schon immer die Bösen” sagte er wieder mit kalter Stimme. „Und je nachdem, wie du es siehst, sind wir es auch”

„Aber können wir das nicht irgendwie klarstellen?“, fragte Ryu.

„Und wozu? Sollen wir uns mit denen etwa anfreunden?“, sagte Bellami herablassend.

„Naja … vielleicht” Ryu geriet ins Stocken. Ihm viel keine Antwort darauf ein. Zeraph legte seine Hand auf Ruys Schulter und grinste ihn an.

„Du solltest das selbst entscheiden. Immerhin bist du bald ein Drache mit unendlicher Macht. Wir werden dich nicht aufhalten. Aber wir werden keinesfalls irgendeine Stadt retten, nur um uns einen guten Namen bei denen zu machen”

„Aber meine Freunde wohnen dort”, sagte Ryu wieder etwas schüchtern.

„Wie Bellami bereits sagte, sie sind hier herzlich willkommen und sie werden hier alles bekommen was sie sich wünschen”

„Und die anderen Menschen?“ Ryus Augen funkelten Zeraph erwartungsvoll an. Zeraph schüttelte den Kopf.

„Warum nicht?“, fragte Ryu eindringlich. Zeraph kniete sich zu ihm herab und starrte ihm fest in die Augen.

„Du kennst diese Menschen, Ryu. Du hast selbst erlebt, wie sie sind. Diese Wesen, die gerade dabei sind Marista zu zerstören, sind ebenfalls Menschen. Sie scheuen keine Mühen und Opfer, allen ihre Überzeugungen aufzuzwingen” Ryu lief zu Bellami und packte ihn entschlossen am Arm.

„Bitte rette meine Freunde!“ Bellami lächelte.

„Sie sind bereits hier”

„Alle?“, fragte Val plötzlich.

„Ja, alle. Sie haben selbst beschlossen die Stadt zu verlassen. Ach ja, und noch zwei andere”, sagte Bellami.

„Was meinst du mit zwei Andere?“

„Zwei blinde Passagiere, die mit einem Transporter reingekommen sind”

„Und wer sind die?“, fragte Ryu.

„Woher soll ich das wissen? Vielleicht kennst du sie?“, sagte Bellami und schaltete auf eine Kleine Überwachungsdrohne, die die Beiden die ganze Zeit verfolgte. Es waren zwei etwa 15 Jahre alte Jungs, die zwei gleiche, schmutzige Overalls trugen. Einer der Beiden hatte zwei rote Armbinden am rechten Arm, der andere hatte zwei blaue Armbinden am Linken arm. Sie saßen erschöpft an einer Wand und unterhielten sich. Beide sahen sich ziemlich ähnlich: Kurze braune Haare, helle Haut und schmutzige Gesichter. Der Junge mit den roten Armbinden lachte verwegen und der andere schaute ihn wütend an.

„Man eh, was hast du dir dabei gedacht?“, sagte der Junge mit den blauen Armbinden.

„Was willst du? Wir haben es doch geschafft. Die haben es nicht mal bemerkt”, antwortete der Junge mit den roten Armbinden.

„Und was jetzt? Was hat der geniale Anführer Maru als nächstes vor? Weißt du wo wir was zu essen herbekommen? Oder wo wir die Nacht schlafen sollen?“, sagte der Junge mit den blauen Armbinden mürrisch.

„Lass mich jetzt erst mal meinen Erfolg genießen. Immer denkst du an Morgen und Übermorgen, das nervt doch. Du bist doch Haru das Supergenie, also lass dir was einfallen. Ich verlass mich auf dich”, fauchte Maru zurück und schlief sofort ein. Haru schaute ihn noch grimmiger an.

„Immer muss ich deinen Blödsinn ausbaden! Und du pennst währenddessen. Aber diesmal haben wir überhaupt keinen Anhaltspunkt, was wir machen könnten” Maru vergrub sein Kopf in seinen Armen und winkte abweisend mit der Hand.

„Es wird schon jemand kommen und uns vollquatschen. Da kannst du dir sicher sein” Ein paar Minuten schwiegen beide.

„Die Stadt ist riesig und seit tausend Jahren verlassen”, sagte Haru und wurde sehr sarkastisch. „Natürlich kommt dann zufällig jemand daher und gibt uns Obdach und Essen. Du bist so ein Dummkopf, Maru” Maru reagierte nicht, er schlief schon tief und fest. Haru überkam auch langsam die Müdigkeit und er nickte ein. Als er wieder aufwachte, schaute er auf und sah die Umrisse einer seltsamen Gestalt vor sich.

„Maru was machst du? Hast du jemanden gefunden?“ Dann sah er sich um. Maru lag noch immer neben ihm und schlief. Wieder schaute er nach vorn. Die Gestalt schien näher zu kommen. Er schaute wieder zu Maru um wirklich sicher zu gehen, dass er noch da ist. Dann schaute er wieder auf und erkannte Ryu vor sich, der ihn freundlich anlächelte. Haru tippte nervös auf Marus Schulter rum.

„Lass mich in Ruhe!“, fauchte Maru ihn an.

„Aber … das ist … der Feuerteufel von letztens”, sagte Haru verängstigt.

„Hallo ihr beiden”, begrüßte Ryu sie freundlich. Maru rappelte sich auf und schaute zu Ryu. Dann schaute er zu Haru. Dann rieb er sich die Augen und schaute wieder zu Ryu. Ein paar Sekunden passierte nichts. Dann sprang er auf und stellte sich in Angriffshaltung vor Haru.

„Wir gehen hier nicht mehr weg, da musst du uns schon umbringen”, brüllte er mutig. Ryu kratzte sich am Kopf.

„Ich habe nicht vor, jemanden umzubringen, aber hier bleiben könnt ihr auch nicht”, sagte er schüchtern.

„Niemals!“, brüllte Maru lauter. „Wir haben es endlich bis hierher geschafft und jetzt lassen wir uns nicht wieder rauswerfen” Haru stand auf und zog resignierend an Marus Overall.

„Gib auf. Die haben scheinbar nicht genug Platz in ihrer riesigen, hoch entwickelten Stadt, für zwei Waisen” Ryu lächelte.

„Doch, das haben wir”, sagte er freundlich.

„Und wieso können wir dann nicht bleiben?“, fragte Maru zornig. Beklemmt schwieg Ryu eine Weile und starrte nachdenklich Löcher in die Luft. Dann lächelte er und schnippte mit den Fingern.

„Weil das eine Transitstation für Waffenbatterien und Frachtcontainer ist. Außerdem erkältet ihr euch, wenn ihr draußen schlaft”, antwortete er und kratzte sich wieder am Kopf. „Ich hab schon eine Wohnung für euch ausgesucht. Oder zwei, wenn euch eine nicht reicht. Ganz oben in einem der großen Gebäude da drüben” Er zeigte mit dem Finger zum Stadtzentrum. „Eine Mahlzeit ist auch schon vorbereitet und ein paar frische Sachen zum Anziehen” Haru und Maru waren sprachlos.

„Folgt mir einfach”, sagte Ryu gelassen und ging um die Ecke, wo ein kleines Shuttle wartete. Marus Zähne tropften vor Hunger und er wollte gerade loslaufen, da packte Haru ihn am Kragen.

„Bist du bescheuert?“, sagte Haru wütend.

„Hast du nicht gehört, wir bekommen doch noch Essen und Obdach”, antwortete Maru.

„Nochmal: Bist du vollkommen bescheuert?“, sagte er nachdrücklich. „Wann hat uns das letzte Mal jemand einfach so Essen und Obdach angeboten?“ Maru zuckte mit den Schultern. Ryu kam wieder um die Ecke zurück und winkte den beiden zu. Sie starrten sich eine Weile wütend in die Augen und sagten keinen Ton. Bis Harus Bauch anfing zu knurren.

„Aber …“, stammelte Haru. „Ich hab Hunger. Ich hab seit drei Tagen nichts gegessen. Und du auch nicht” Maru schüttelte den Kopf.

„Wir können denen nicht einfach vertrauen. Wer weiß was die mit uns machen wollen? Immerhin ist das der Feuerteufel. Der hat den Polizisten einfach so“, er schnippte mit den Fingern, „plattgemacht. Und diesen Militärheini schwer verletzt”

„Ja, aber das Mädchen hat er gerettet. Und wenn er uns was Böses wollte, hätten wir eh keine Chance”, erwiderte Haru, packte Maru am Arm und schleifte ihn in Richtung Shuttle. Er winkte Ryu zu und lächelte. Haru wehrte sich, aber Maru war viel stärker. Sie stiegen in das Shuttle. Mit einem flauen Gefühl im Magen schauten sie auf die Majestätische Stadt herab, bis es wieder landete und sich die Schleuse öffnete. Zaghaft stiegen sie aus und fanden sich auf dem Dach eines großen Hochhauses wieder, von dem aus man die ganze Stadt überblicken konnte.

Das einzige Gebäude das höher war, war der Hauptturm. Ryu führte sie in eine Wohnung, die größer war als ein Einfamilienhaus. Es war angenehm warm, wohnlich und gemütlich. Die Fassade war verglast und man konnte rings herum die ganze Stadt bewundern. Es roch nach einer leckeren, frisch gekochten Mahlzeit. Haru viel sofort in Trance und steuerte mit tropfenden Zähnen Richtung Esszimmer. Er stürzte sich wie ein hungriges Tier auf seine Beute und schlug sich den Wanst voll.

Haru schaute ihm noch kurz nach, streckte die Hand aus, um wenigstens versucht zu haben ihn fest zu halten, resignierte aber im selben Moment und begab sich ebenfalls zu Tisch.

Gegen Abenddämmerung verließen alle den Turm und bezogen ihre Unterkünfte. Alle wohnten in den großen Wolkenkratzern dicht beieinander. Han teilte sich ein Mehrstöckiges Apartment mit Lili und Maria. Val und Milena hatten eine große Wohnung direkt gegenüber. Zeraph besaß ein eigenes Gebäude, das damals speziell für seine Bedürfnisse als Drache gebaut wurde. Es ist etwa doppelt so groß wie ein Fußballstadion. Ajuki staunte als sie das Gebäude vom Turm aus ansah, indem der Drache gerade friedlich schlief, verborgen in einer anderen Dimension.

„Es gefällt dir ein Mensch zu sein, nicht wahr?“, fragte sie fröhlich. Zeraph zuckte, von seinem Stolz gebändigt, nur emotionslos mit den Schultern. Ajuki zog an seiner Hand.

„Du kannst mit bei mir wohnen” Sagte sie erwartungsvoll. Wieder zuckte er gleichgültig mit den Schultern und ließ sich von ihr davon zerren. Fröhlich lächelnd schaute Ajuki in Zeraphs Augen und ignorierte ihre kleine Schwester, die immer noch traurig an der Wand hockte.

Bellami blieb im Turm und schaute sich die Aufzeichnungen über das Weltgeschehen der letzten tausend Jahre an. Kumiko blieb ebenfalls da. Sie setzte sich hinter das Kontrollpult und beobachtete Bellami. Er war vollkommen konzentriert als er auf dem Bedienfeld herum tippte und sich unzählige Berichte und Fernsehreportagen anschaute.

Schon zweihundert Jahre nach dem großen Krieg wuchs das Niveau der Weltbevölkerung wieder auf über eine Milliarde an. Einhundert Jahre später waren es schon fast zwei Milliarden. Das lag daran, dass all die technologischen Errungenschaften der 2100er Jahre zu großen Teilen erhalten blieben. Da die Bevölkerung aber auf unter 300 Millionen gefallen war, waren die Ressourcen wieder großzügig nutzbar und die Menschheit vermehrte sich explosionsartig.

Das ging 500 Jahre gut, dann brach eine Zeit an, die in den Geschichtsbüchern als zweites Mittelalter geführt wurde. Es war eine Zeit blutiger Kriege, Folter, Seuchen, religiöser Allmacht und ethnischer Unterdrückung. Technologischer Fortschritt wurde zunichte gemacht, um einem höheren Ziel und der Erlösung näher zu kommen. Es wurde streng behauptet, dass der große Krieg dadurch verursacht wurde, weil die Arroganz und die technologische Eitelkeit Gott erzürnt hätten.

Die Menschen glaubten das ohne jegliche Skepsis, da es unzählige Aufzeichnungen von Shezzars Amoklauf gab, die seine unbändige Kraft und damit seine Göttlichkeit, zweifelsohne untermauerten. Sie hatten Gott gesehen. Und nicht einmal die cleversten Wissenschaftler konnten ihm seine Macht aberkennen. Diese dunkle Zeit ist bis heute unverändert.

Drei Tage lang rührte sich Bellami nicht von der Stelle. Ohne eine Miene zu verziehen verschlang er alle Aufzeichnungen, Reportagen und Dokumentationen, die er fand. Kumi traute sich nicht, diesen Fremden Jungen, der angeblich der Herrscher dieser Stadt war, anzusprechen. Er stand direkt vor ihr, so traurig und so allein, und dennoch war er so weit weg.

Sie versuchte immer wieder sich aufzurappeln und sich Mut zu machen. Aber es war als wäre eine Wand in ihrem Kopf, die sie nicht überwinden konnte. Am Morgen des dritten Tages, als sich die hellen Sonnenstrahlen endlich einen Weg durch die Wolkendecke bahnten und den Hauptturm in seiner vollen Pracht erstrahlen ließen, strahlte Bellami wieder ein bisschen Leben aus. Das Licht sank weiter sein Gesicht herab und traf seine Augen. Er blinzelte und eine einzelne Träne rann ihm über die Wange.

Als Kumi das sah, verflogen ihre Angst und ihre Zurückhaltung schlagartig. Sie stand auf und ging zu ihm. Doch bevor sie irgendwas sagen konnte stürmte Zeraph herein und packte Bellami am Kragen.

„Es ist soweit!“, sagte er grinsend aber angespannt, „Du bist jetzt an der Reihe!“ Bellami nickte. Auf einem Tisch erschien ein Dreidimensionales Hologramm. Aletria war schematisch zu sehen. Und etwas weiter östlich eine große Streitmacht.

„Die können uns doch gar nichts. Selbst wenn sie wollten”, sagte er gelangweilt.

„Ich weiß”, antwortete Zeraph und ließ von ihm ab. „Aber das ist der perfekte Moment deine Macht zu demonstrieren” Er machte eine dramatische Pause. „Lasse sie an DEATH zerschellen und mach dir die Menschheit Untertan. Oder rette sie, indem du ihnen ihrer Waffen entledigst” Noch eine Pause. „Sein ein guter Gott oder ein böser. Nur sei endlich einer! So wie du es mir versprochen hast” Wieder nickte Bellami. Zeraph verließ den Hauptturm. Bellami drehte sich um und schaute Kumi konzentriert und angespannt in die Augen. Kumi schaute ihn verängstigt ins Gesicht.

„Ich … ich heiße Kumiko”, stotterte sie ängstlich. Ein angespanntes Schweigen trat ein. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor und zerrte an ihrer Seele.

Es war ein spürbarer Schmerz, der wie eine Giftwolke durch ihre Adern fuhr und ihren Mut verschlang. Doch plötzlich lächelte Bellami. Er streckte seine Hand aus und fühlte mit den Fingerspitzen über ihre Wange. Kumi war wie paralysiert. Die Angst war weg, aber sie war so unendlich verwirrt, dass sie keinen einzigen Gedanken fassen konnte. Dann ließ er wieder von ihr ab, kippte seinen Kopf ein wenig zur Seite und zwinkerte.

„Wir sehen uns, Kumiko”, sagte er, dann verließ er den Raum. Sein Lächeln war wie Balsam für ihr kleines, verletztes Herz. Sie fühlte sich wie benommen, voller Wärme und Hoffnung.

 

Ein tiefes, lautes Brummen raunte durch die Stadt. Val und Milena standen auf dem Dach des Gebäudes, in dem sie wohnten und beobachteten ein seltsames Geschehen. Auf einer großen Freifläche vor dem Hauptturm öffnete sich eine entsetzlich große Falltür langsam und gab ein großes, klaffendes Loch frei.

Wenig später schwebten große, metallische Teile heraus und wurden von einer Art Kraftfeld zusammengesetzt. Wie bei einem Puzzle wurde das Bild erst nach und nach verständlich und man erkannte die grobe Form und Milena glaubte schon zu wissen, was es ist.

„Sieht wie ein Raumschiff aus”, sagte sie und legte den Kopf schräg. Val schaute kurz zu ihr. Sie sah sich sehr sicher aus.

„Denkst du, Bellami sitzt da drin? Oder der Drache? Hab beide lang nicht mehr gesehen”

„Ja, mag sein. Sie haben bestimmt vor, diese großen Schiffe zu zerstören. Ich wundere mich, warum sie Marista noch immer nicht angegriffen haben, obwohl Bellami sich so sicher war”, sagte sie nachdenklich.

„Vielleicht ging es ihnen gar nicht darum”, antwortete Val. „Vielleicht, wollen sie, dass Bellami sie angreift. Könnte doch ein Hinterhalt sein oder so” Milena starrte wie aus Stein gemeißelt in die Luft. Man sah beinahe wie die Zahnräder in ihrem Kopf heiß liefen. Dann drehte sie sich um und sah Val besorgt an.

„Du hast Recht”, sie geriet ins Stottern. „Die werden ihn töten” Val streichelte tröstend ihren Rücken, denn er wusste nicht, wie er helfen konnte. Milena nahm Vals Hand und nahm ihn mit nach unten zum Aufzug.

Bellami saß etwas angespannt vor einer Kontrolltafel im Kern des Schiffes. Um ihn herum waren dutzende Dreidimensionale Hologramme und Bildschirme. Seine Hände lagen auf zwei kristallenen Halbkugeln am Ende jeder Armlehne. Auf einem Bildschirm vor sich, sah er graphisch wie weit der Zusammenbau des Schiffes vorangeschritten war.

Das letzte Teil wurde am Rumpf angebracht und die Antriebssysteme wurden gestartet. Das Kraftfeld, das aus dem Schacht kam, erlosch und das Schiff sackte etwa einen Meter nach unten, dann wurde es von einem eigenen Feld gefangen und anmutig in der Luft gehalten. Nun waren alle Systeme aktiv. Die komplette Umgebung wurde auf der Oberfläche der Wände im Kontrollraum dargestellt. Bellami sah nun alles um das Schiff herum, ohne das Schiff selbst. Er drehte seinen Kopf einmal komplett von rechts nach links und schaute konzentriert auf die Stadt unter sich.

„Adrastea”, sagte er laut. Ein kurzes Piepsen bestätigte Bereitschaft.

„Systemkonfiguration. A-20, Kreuzer. Schwere Waffen” Mehrere Hologramme erschienen, die die Konfiguration darstellten. Weitere Bauteile erschienen im Schacht und bewegten sich anmutig und gleichmäßig auf das Schiff zu. Dann verschmolzen sie nahtlos damit. Bellami legte seinen Kopf in die Kopfstütze und startete die Triebwerke.

Urplötzlich schoss das Schiff los und verschwand im Himmel. Sekunden später stand er vor den drei Schlachtkreuzern. Die Adrastea war schon ein beeindruckend großes Schiff. Doch im Vergleich zu denen war sie winzig. Sie wurde sofort von den feindlichen Schiffen erfasst und unter Beschuss genommen. Eine gewaltige Flut von Geschossen und Partikelstrahlen hämmerte unablässig auf dem Schild ein, der aber keinerlei Anstalten machte, auch nur ein wenig nachzugeben.

Bellami schüttelte herablassend den Kopf und richtete die Scanner aus. Er hatte es weder auf den Reaktor noch auf die Steuersysteme abgesehen. Die zwei Punkte, die er anvisierte, waren die Brücke und das Kommunikationssystem. Das rechte Schiff drehte sich von der Erde weg und nahm langsam Geschwindigkeit auf. Bellami störte das wenig.

„Hast du sie erfasst?“, ertönte Zeraph über das Kommunikationssystem.

„Die Markierungen sind gesetzt. Ich kümmere mich um die Schilde. Aber sag, warum zerstören wir sie nicht?“

„Weil wir die Daten brauchen. Du darfst auf keinen Fall den Zentralcomputer beschädigen. Du kümmerst dich nur um die Schilde, sonst nichts” Noch immer hämmerten die Geschosse auf die Adrastea ein, als ob es ihnen egal wäre, dass ihre immense Feuerkraft einfach so verpufft. Bellami näherte sich den Schiffen so weit, dass er nur noch von den kleinen Punktverteidigungen bekämpft werden konnte.

Nun wurden Jäger gestartet und auf Bellami losgelassen. Mehrere Staffeln umkreisten und beschossen ihn. Doch genau wie die großen, verloren die kleinen Waffen der Jäger ihre Wirkung vollkommen. Er näherte sich auf etwa 5 Kilometer und stoppte. Noch immer umkreisten ihn die Jäger und feuerten alles, was sie hatten.

„Bist du bereit?“, fragte er.

„Jap” Antwortete Zeraph, der auf einer Lichtung stand, mit einer riesigen Waffe auf den Schultern. Er hielt sie fast senkrecht in den Himmel und schaute auf den Bildschirm des Feuerleitsystems.

„Okay. Ich gleiche jetzt die Feldlinien und die Krümmungsfelder an. Du hast nur einen kleinen Korridor, aber das sollte reichen. Beeil dich bitte. In dieser Zeit kann ich meinen eigenen Schild nicht halten und muss mich auf die Panzerung verlassen”

„Du langweilst mich. Mach endlich”, antwortete Zeraph harsch. Bellami schüttelte beleidigt den Kopf und startete die Sequenz. Und wie er es gesagt hatte, brach der Schild der Adrastea zusammen und die Geschosse trafen nun direkt auf die Außenhaut. Mehrere starke Energieimpulse gingen von der Adrastea ab und zerstörten die kleinen Jäger allesamt mit einem Schlag. Eines der großen Schiffe richtete eine riesige Partikelkanone die Adrastea aus.

„Beeil dich, verdammt! Wenn die mit dem Ding jetzt auf mich feuern, war's das!“, brüllte Bellami nervös.

„Vor was hast du Angst? Das du sterben könntest? Ich lach mich tot”, antwortete Zeraph und feuerte seine Waffe ab. Ein silberweißer Strahl schoss in den Himmel und schlug in den Rumpf des mittleren Schiffes ein.

Wie durch Butter bahnte sich ein faustgroßes Geschoss seinen Weg durch die zwanzig Meter dicken Panzerplatten und fräste sich durch den Bauch des Schiffes. Es drang in die Brücke ein und detonierte in einer hochfrequenten Impulswelle, die das Zellgewebe von Lebewesen kollabieren lässt und somit alle in der nahen Umgebung tötete. Das rechte Schiff startete seinen Sternenantrieb und verschwand in der schwarzen Leere. Das Linke Schiff richtete ebenfalls eine Partikelkanone auf die Adrastea.

„Das dauert alles zu lange!“, brüllte Bellami. „Die Partikelkanone hat mich gleich erfasst. Tu was!“ Zeraph schmiss die Waffe auf den Boden und tippte auf seinem Armreif herum. Bellami zappelte nervös in seinem Sitz herum.

 „Für die DHC ist es zu spät. Ich kann die Sequenz nicht abbrechen. Das war ja mal ein toller Plan”, fauchte er wütend und schlug mit der Faust auf die Armlehnen. Doch dann durchfuhr ihn ein seltsames Gefühl. Als würde gerade eine riesige Welle durch das ganze Universum fahren und es zu vibrieren bringen.

„Was ist…?“

Das linke Schiff feuerte die Partikelkanone ab, aber anstatt die Adrastea zu zerstören, explodierte sie in einer weiß leuchtenden Plasmawolke. Die Explosion riss ein großes Loch in den Rumpf und er brach auseinander.

Sequenz beendet –Schilde wiederhergestellt, ertönte der Computer. Bellami schaute immer noch fasziniert auf das Schiff, dass nur noch von einem kleinen, metallenen Steg in der Mitte zusammengehalten wurde. Dann fing es an, sich aufzulösen. Bellami schüttelte den Kopf.

„Alles klar bei dir?“, erkundigte sich Zeraph über das Kommunikationssystem.

„Es ist einfach so zerbrochen und dann hat es sich aufgelöst”, flüsterte er demütig.

„Wie hoch die Wahrscheinlichkeit wohl sein mag, dass so etwas passiert? Aber das andere ist noch intakt, ja?“

„Sag, weißt du, was da eben passiert ist?“, fragte Bellami verwundert.

„Ja klar. Und jetzt geh an Bord des Schiffes. Töte die Crew und repariere die Schäden an der Hülle. Ich hab schon einen neuen Plan”

Ohne weiter zu fragen stieg er in eine kleine Kapsel und flog damit durch das Loch, das Zeraphs Waffe hinterlassen hat, bis zur Brücke und stieg aus der Kapsel aus. Sie versigelte gleichzeitig den Bruch und stellte den Innendruck wieder her. Bellami sah sich um und rümpfte angewidert die Nase. Überall lagen die Leichen der Offiziere, die zu einer gallertartigen, undefinierbaren Substanz zerfallen waren, nur noch erkennbar an ihren Uniformen.

Er schaltete alle Lebenserhaltungssysteme ab. Jedes Crewmitglied trug einen biometrischen Chip, der permanent die Lebenszeichen der Besatzung an den Zentralrechner sendete. So sah Bellami jeden einzelnen der 450 Menschen sterben. Erst schickte er die Adrastea wieder nach Aletria. Dann öffnete er einen Kommunikationskanal und sah Zeraph an einem Kontrollpult im Hauptturm.

„Ich frag mich wie du das gemacht hast. Das mit dem Schiff meine ich”, sagte Bellami und setzte sich.

„Oh, ich war das nicht”, antwortete Zeraph, grinste und brach die Kommunikation ab. Bellami schüttelte genervt den Kopf. Er speiste einen Virus in das Sattelitennetzwerk der Erde ein und gewann so innerhalb weniger Minuten die Kontrolle über alle extraterrestrischen Kommunikationswege. Sein grinsendes Konterfei war nun auf jedem Bildschirm, überall auf der Welt zu sehen. Er faltete die Hände vor seinem Gesicht zusammen und legte sein Kinn darauf.

„Hallo” Sagte er mit seiner kindlichen Unschuld und einer engelsgleichen Stimme. Sein Grinsen war nun ein ausgelassenes Lächeln und er schwieg eine Weile. Zeraph schaltete sämtliche Bildschirme Aletrias auf Bellamis Übertragung.

Seit Tagen plante er die Inszenierung mit allen Hilfsmitteln die Aletria ihm bot. Wie ein Dirigent ließ er seine Hände über das tastenlose Bedienpult tanzen und wirkte alle denkbaren Effekte und Tricksereien in einer lange geübten Symphonie. Alle sahen es. Auch die Waisenkinder, die mittlerweile in Aletria lebten, Val und Milena, Han, Lili und alle anderen.

„Ich heiße Bellami Makalan und bin ab jetzt euer Herrscher”, sagte er fröhlich und heiter. Die Rede wurde überall in die lokale Sprache übersetzt. Jeder hörte ihn, jeder verstand ihn. „Eine große Streitmacht ist gerade auf dem Weg, meine Stadt zu zerstören” Ein Bild der Streitkräfte wurde eingeblendet. „Also ich bewundere euren Enthusiasmus. Sogar nachdem ihr gesehen habt, wie ich einen halben Kontinent ausgelöscht hab, habt ihr noch den Mut mich anzugreifen” Zeraph sprach jeden einzelnen Satz synchron mit als hätte er das Drehbuch auswendig gelernt.

„Selbst eure Götter waren kein Problem für mich. Ich hab zwei ihrer mächtigsten Schiffe vernichtet und das dritte habe ich erobert. Also macht euch keine Mühe, es überhaupt erst zu versuchen” Bellami richtete die Massenvernichtungswaffe des Schiffes auf die anrückende Armee aus. „Ihr könnt mich nennen, wie ihr wollt. König, Gott oder einfach nur Bellami. Das ist vollkommen egal, solange ihr wisst, dass ihr nun alle meine Sklaven seid” Er legte die Füße auf das Kontrollpult und feuerte die Waffe ab.

Ein heller, weißer Energiestrahl fuhr vom Himmel herab und verdampfte alles im Umkreis von einem Kilometer. Die komplette Streitmacht wurde innerhalb von 2 Sekunden ausradiert.

„Als meine erste Amtshandlung, werde ich euch von eurem Kapital befreien. Ihr werdet von mir mit Lebensmitteln, Nahrung und Obdach versorgt. Eure Regierung wird abgeschafft und durch eine künstliche Intelligenz ersetzt. Fabriken und Geschäfte werden ebenfalls von ihr gesteuert. Es ist euch nicht mehr erlaubt selbständig Energie zu produzieren. Die bekommt ihr von mir. Das silberne Königreich wird nun die gesamte Welt beherrschen, denn ihr hab immer noch nicht begriffen, dass sie wertvoller ist als ihr”

Milena sah sich die Übertragung mit Val zusammen an. Aus irgendeinem Grund war sie sehr entspannt und saß sorglos auf dem Sofa. Sie hielt seine Hand und es sah so aus, als wäre ihr gerade ein riesiger Stein vom Herzen gefallen. Val schaute zu ihr.

„Denkst du er ist komplett wahnsinnig geworden?“ Milena schüttelte den Kopf.

„Ich denke, es ist sehr vernünftig, was er da tut” Val schaute sie entsetzt an.

„Aber er versklavt gerade die ganze Welt” Milena nickte.

„Da hast du Recht, aber schau mal genauer hin. Er versucht einfach einen Weg zu finden, die Menschen davon abzuhalten alles zu zerstören, ohne sie gleich auszulöschen, wie du es damals getan hast. Dafür muss man bestimmte Veranlagungen unterdrücken”

„Und die wären?“

„Gier, Neid und Macht”

„Du meinst, dadurch dass alle Sklaven sind gibt es keine Klassenunterschiede mehr?“

„Genau. Und alle haben einen gemeinsamen Feind” Val nickte als habe er nun alles verstanden.

„Die Menschen können also nicht frei sein”, sagte er bedauernd.

„Ja, das ist vollkommen unmöglich. Und es war wohl schon immer so” Han und die Zwillinge saßen im Wohnzimmer und schauten ebenfalls bei Bellamis Machtübernahme zu.

„Wie will er das machen?“, fragte Lili, die sich grad über einen Teller Spaghetti her machte.

„Er setzt sicher seine Macht ein. Immerhin ist er der stärkste von allen. Nach dir natürlich Meister”, antwortete Maria. Han schmunzelte und tätschelte Marias Kopf.

„Ich denke er macht es wie sonst immer. Mit seiner Technologie. Er hat riesige Fabriken die Lebensmittel produzieren und eine weit verzweigte Infrastruktur”

„Aber haben es die Menschen vorher nicht auch so gemacht?“, fragte Lili wieder mit dem Mund voll Spaghetti.

„Das ist richtig. Aber seine Technologie ist sauber und ökologisch verträglich”, antwortete Han. Bellamis Übertragung war vorbei und er war gerade dabei das Schiff nach den Daten zu durchsuchen, auf die Zeraph so scharf war.

„Für die Göttin!“, brüllte der Admiral des dritten Kreuzers plötzlich über einen offenen Kommunikationskanal.

Der riesige Kreuzer tauchte völlig unvermittelt aus den dunklen Tiefen des Alls auf und war bereits auf Kollisionskurs. Er schlug direkt in den anderen Schlachtkreuzer ein. Bellami wurde wie ein Gummiball durch die Kommandozentrale geschleudert, dessen Wände sich verbogen und der ganze Raum sich unter funken und donnern verformte, bis er in sich zusammenbrach.

Der Aufschlag des anderen Schiffes erzeugte so viel Reibungsenergie, dass die Hüllen zu glühen begannen und schlussendlich miteinander verschmolzen. Das Sicherheitssystem der Kreuzer schaltete sich nur wenige Sekunden später ein und beide Schiffe lösten sich in einer glühenden Staubwolke auf. Zeraph schlug wie wild auf der Kontrolltafel herum und brüllte.

„Was für eine Scheiße geht hier wieder ab?“ Mehrere Warnungen tauchten auf.

Massereiche Objekte im nahen Orbit entdeckt. Klassifizierung: Schlachtschiffe. Gefahrenpotenzial: 12%. Erste Verteidigungsmaßnahmen: Schilde werden auf 6 Lagen verstärkt. Val und Milena betraten den Hauptturm. Zeraph drehte sich zu ihnen.

„Die haben das alles geplant!“, brüllte er lauthals. Milena wurde wieder ein bisschen angespannt.

Das war es also gar nicht. Dachte sie sich.

„Was haben die geplant?“, fragte Val aufgeregt.

„Bellami ist verschwunden. Und ich weiß nicht, wo er ist”, sagte Zeraph angespannt.

„Er war doch in diesem Schiff. Vielleicht ist er tot”, sagte Milena unbekümmert. Ein Alarmsignal ertönte.

Angriff steht bevor. Berechne schwere Partikel- und Projektilwaffen. Meldete das System. Sekunden später spürte man ein leichtes vibrieren des Bodens und ein hämmern war zu hören.

„Die Schilde werden nur an der ersten Lage leicht durchschlagen. Kein Grund zur Panik”, sagte Zeraph. „Und nein, Bellami kann nicht einfach so sterben. Aber nun ist..”, Zeraph verstummte und sein Blick gefror, als ihm plötzlich etwas klar geworden zu sein schien. „Sie hat mich benutzt und ich hab es zugelassen”, flüsterte er in sich hinein. Dann verschwand er.

Der riesige Drache war nun unten in der Stadt zu sehen. Er spreizte seine mächtigen Schwingen, schlug sie einmal heftig und hob ab. Die hauchdünnen Membranen seiner Flügel fingen an hellrot zu leuchten und einen langen roten Schweif hinter sich herzuziehen. Mit glühenden Augen schoss er am Hauptturm vorbei und zog einen hellen, purpurroten Lichtschweif hinter sich her.

Er glitt, ohne die Flügel zu schlagen, auf dem roten Licht fast senkrecht nach oben. Er war kaum noch zu sehen, da gab es einen Lichtblitz und er verschwand im Himmel.

Val schaute Milena an. Sie schüttelte nur den Kopf. Noch immer hämmerten die Geschosse und Partikelstrahlen auf die Stadt ein. Ein mulmiges Gefühl machte sich zwischen den beiden breit. Milena griff nach Vals Hand und hielt sie ganz fest. Sie schaute ihm besorgt ins Gesicht.

„Ich hab Angst”, murmelte sie. Val schaute auf die Bildschirme.

„Wie es aussieht können sie uns nichts anhaben”, sagte er und versuchte sie zu beruhigen. Doch das war es nicht, was sie so nervös machte.

Kapitel 14

Helden und ihre Abenteuer

Alle anderen standen auf dem Dach des großen Wohngebäudes und schauten sich das Spektakel fasziniert an. Die Projektile prallten vom Schild ab oder explodierten darüber. Energiestrahlen wurden absorbiert ohne irgendwelche Wirkungen. Der Schild würde nicht nachgeben, selbst wenn nochmal tausend Schiffe feuern würden. Doch Han wurde unruhig. Er schien sich an irgendetwas zu erinnern. Er schüttelte den Kopf.

„Sie weiß genau, was sie tut”, flüsterte er. Maria und Lili schauten ihn fragend an.

„Was hast du? Ist dir irgendwas eingefallen?“, fragte Lili. Han schaute zu ihr. In seinen Augen konnte man erahnen was gerade in seinem Kopf vorging. Er packte die Beiden an den Schultern und schaute konzentriert in ihre Augen.

„Ihr müsst hier weg” Mehr sagte er nicht, dann zog er ein Stück Kreide aus seiner Tasche und zeichnete einen Kreis um sie. Schweigend und nervös scheuchte er alle in den Kreis. Auch die Waisenkinder aus Marista. Dann nahm er die Kreide zwischen die Finger und zerbrach sie. In diesem Moment fing der Kreis an hell zu leuchten und alle darin verschwanden. Han machte sich auf zum Hauptturm. Lili, Maria und die Kinder erschienen urplötzlich auf einer Lichtung am Stadtrand von Marista. Lili streckte ihren Arm aus.

„Nein, bitte verlass uns nicht! Nicht noch einmal!“, brüllte sie voller Angst und Traurigkeit.

„Hey, ihr da! Was ist hier los?“, sagte Maru, der sich gerade an den anderen vorbei drängelte. Haru folgte ihm. Die Mädchen antworteten nicht und schauten nur nachdenklich in die Ferne. Wütend zerrte Haru an Lilis Hand, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.

„Hey, jetzt sagt doch”

Lili packte seine Hand, schleuderte ihn geschickt zu Boden, zog ihr Schwert und holte zu einem tödlichen Schlag aus. Doch in den wenigen Sekunden, die sie ihm gestattete, ihr in die Augen zu schauen, veränderte sich ihre Gesinnung schlagartig.

Ein fremder Junge, der sie ansah als würde er all ihre Sorgen und Ängste verstehen. Solch einen Blick kannte sie nur von Han. Ihr Zorn und ihre Zweifel lösten sich auf und sie ließ das Schwert fallen. Ihre Pupillen sausten blitzschnell hin und her als könnte sie sich nicht entscheiden welches seiner Augen ihr besser gefällt. Sie hielt noch immer Harus Hand, doch aus dem Kontrollgriff ist eine zärtliche Berührung geworden.

„Was ist mit dir los?“, fragte Maria. „Jeden anderen hättest du für so eine Frechheit aufgeschlitzt”

Lili schwieg und half Maru auf. Ihre Blicke verloren sich die ganze Zeit kein einziges Mal. Marus Wangen glühten rot als er versuchte etwas zu sagen.

Der normalerweise so wortgewandte, charismatische und selbstbewusste kleine Frechdachs brachte keinen verständlichen Satz über die Lippen. Und auch Lili, die normalerweise einen bodenlosen Hass auf die gesamte Menschheit aus Ihrer Gefangenschaft in der Kirche entwickelte hatte, war plötzlich zahm wie ein Reh und ihre Wangen glühten mindestens genauso rot wie Marus.

Mit einem Mal vergas sie den unerträglichen Hass aus dem Schmerz von siebzehn Jahren Folter und Vergewaltigung. Die Mädchen waren Opfer ihrer Schönheit und ihrer Unsterblichkeit, die die Priester dazu veranlassten, unaussprechliche Dinge mit ihnen zu machen. Ihre zerbrechlichen Körper verlieren ihre übermenschliche Stärke in Hans Abwesenheit, sodass sie keine Chance hatten sich zur Wehr zu setzen.

Deswegen war es für Maria unbegreiflich warum dieser Junge, der es wagte, sie einfach so anzufassen, noch immer am Leben war. Sie zog ebenfalls ihr Schwert und stach auf Maru ein. Die blutgetränkte Klinge blieb einen halben Millimeter vor Marus Kehle stehen. Lili lächelte noch immer obwohl sie gerade unerträgliche Schmerzen hatte.

Maru schaute an der Klinge entlang und stellte fest, dass sie aus Lilis Brust ragte und nur zum Stehen gekommen ist, weil sich das Stichblatt des Schwertes in Lilis Wirbelsäule verkeilt hatte. Sie sackte auf die Knie. Maru hielt sie fest und schnitt sich dabei die Wange an der Klinge auf. Maria ließ entsetzt das Schwert los.

„Wieso hast du das getan?“, stotterte sie als sie feststellte, dass Lili sich in die Klinge ihrer Schwester warf, um Maru das Leben zu retten. Lili lächelte noch immer. Maru schaute sie mit unendlicher Traurigkeit an. Seine Hände zitterten und das Blut lief langsam seine Wange herab. Kein einziges Mal verloren sich ihre Blicke und aus irgendeinem Grund verflog Marus Traurigkeit. Haru war wie versteinert. Ganz gleich welch schreckliche Dinge er zusammen mit Maru auf den Straßen Babels erlebt hatte, das war zu viel für ihn.

„Ma… Maria”, flüsterte Lili. „Bitte… zieh… es”, sie hustete und drückte Maru von sich. Dann packte sie die Klinge und schob sie zurück. Dabei schnitt sie sich noch weiter ins Fleisch, was unsagbar schmerzvoll war. Doch sie lächelte. „Maria… bitte”, flüsterte sie wieder.

Vorsichtig nahm Maria das Heft in die Hand und zog die Klinge mit einem schnellen hieb aus Lilis Körper. Lili hob ihre blutgetränkte Hand und legte sie auf Marus Wange.

„Ich muss mich kurz hinlegen” Lili schloss die Augen und fiel in Marus Arme. Er spürte ihr Herz hastig schlagen und wie sich die Wunde auf seiner Wange verschloss. Maria nahm Lilis Arm und half ihnen auf.

„Es tut mir leid”, sagte sie. Lili drehte ihren Kopf und gab ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange.

„Ist schon gut. Ich bin dir nicht böse”, flüsterte sie ihr liebevoll ins Ohr. Die anderen Kinder waren längst weggerannt. Maru nahm Lili Huckepack und lief mit ihr in Richtung Marista. Haru stand immer noch versteinert da.

Maria hob die Schwerter auf und folgte den Beiden. Dann blieb sie kurz stehen und drehte sich um. Harus blick war fest auf die Blutlache fixiert. Er atmete schwer und taumelte ein bisschen mit dem Kopf. Maria schaute eine Weile zu ihm rüber. Sie wusste nicht was sie mit dem Jungen anfangen sollte. Er war ihr egal, aber irgendwie auch nicht. Als ob sie in seinem, von Angst und Grauen erfüllten Gesichtsausdruck ein wenig Mitleid fand.

„Hey! Junge!“, rief sie unbeholfen, da sie nicht wusste, wie sie ihn ansprechen sollte. „Komm jetzt, los!“

Haru drehte seinen Kopf zu ihr und schaute sie an. Er sollte besser tun was sie sagt, sonst wird sie ihn töten, dachte er sich. Der Anblick dieses Mädchens war sehr verstörend. Sie hatte überall Blutspritzer im Gesicht und auf der Kleidung. Ihr Gesichtsausdruck war kalt und musternd, als würde sie sich gerade eine Strategie ausdenken, mit der sie ihn auf möglichst effiziente Weise umbringen kann. Dazu hielt sie noch die zwei entsetzlich bedrohlichen japanischen Katanas in der linken Hand.

Haru war wie hypnotisiert. Einerseits hatte er schreckliche Angst vor ihr, andererseits konnte er sich ihrer Souveränität nicht entziehen. Maria drehte sich um und lief den anderen hinterher.

„Los, komm schon. Oder willst du hier allein im Wald verrotten?“, befahl sie ihm und er gehorchte.

„Wie heißt du?“ Fragte sie diesmal aber in einer weichen und vertraulichen Stimme.

„Ich heiße Haru” Antwortete er schüchtern.

„Und der Typ da vorne? Ist er dein Bruder?“ Haru schüttelte den Kopf.

„Er ist mein bester Freund. Sein Name ist Maru” Maria lachte laut.

„Na klar: Haru und Maru, das ist mehr als unglaubwürdig”

„Naja, das ist nicht Sein richtiger Name. Als wir uns kennengelernt haben, konnte er sich an nichts mehr erinnern. Er hat sich dann einfach so genannt, weil ihm nichts Besseres einfiel” Maria schaute zu ihm nach vorn. Lilis Blut lief seinen Rücken herab und tränkte seine gesamte Kleidung. Ihr Kopf lag friedlich in seinem Nacken und ihre Arme baumelten an seinen Hüften herunter. Maria seufzte.

„Oh man. Da hat sich dein Freund echt was vorgenommen” Haru schaute sie ungläubig an.

„Ist sie tot?“ Wieder lachte Maria.

„Nein. Ihr geht’s gut. Wie’s aussieht pennt sie gerade und lässt es sich gut gehen”

„Aber wie kann das sein? Du hast ihr gerade ein Schwert in den Rücken gerammt. Das kann sie doch unmöglich überlebt haben” Maria zog ihr Schwert aus der Scheide und legte ihren Unterarm auf die Klinge.

„Wa… warte. Bitte nicht”, stotterte Haru. Doch Maria hörte nicht. Sie zog ihren Arm über die Klinge und schnitt sich tief ins Fleisch. Das Blut tropfte herab und Maria verzog schmerzvoll das Gesicht. Sie streckte den Arm zu Haru aus und er sah wie sich die Wunde langsam wieder schloss, ohne eine Narbe zu hinterlassen.

„Wie ist das möglich?“, fragte Haru entsetzt.

„Das ist schwer zu erklären”, antwortete Maria. „Seitdem wir Han kennen sind wir irgendwie unsterblich. Ich weiß auch nicht warum, aber das ist schon fast hundert Jahre her. Damals haben wir noch in Celestis gelebt. Han war ein Wissenschaftler und musste auf einen kleinen Jungen aufpassen, den sie in einem großen Glaszylinder gefangen hatten. Aber das ist eine lange Geschichte”

Allmählich verlor sich Harus Angst und die beiden unterhielten sich über das, was sie erlebt haben und was sie noch vor sich hatten. Etwa zwei Stunden liefen sie durch den Wald, Richtung Marista bis Maru erschöpft stehen blieb und es gerade noch schaffte Lili am Waldrand sanft ins Gras zu legen. Er setzte sich zu ihr und keuchte erschöpft. Maria und Haru schlossen zu ihnen auf und blieben stehen.

„Und, lover-boy? Was hast du als nächstes vor?“, frage Maria abfällig. Maru machte ein trauriges Gesicht.

„Ich will sie zu einem Arzt bringen aber”, er keuchte wie eine Dampflock, „Ich schaffe es nicht. Es ist noch so unendlich weit bis nach Marista. Und ich weiß nicht, wo wir sonst einen finden können” Seine Stimme wurde immer trauriger. „Ich kann sie nicht retten. Es ist genau wie damals”

„Ja stimmt das kannst du nicht. Du solltest sie gleich hier vergraben. Aber mindestens zehn Meter tief, nicht das sie aufersteht und dich als Monster heimsucht”, sagte Maria und lachte hämisch.

„Also echt, jetzt wirst du gemein. Du bist doch nur eifersüchtig”, sagte Lili die sich gähnend und streckend im Gras wälzte. Sie stand auf und lächelte Maru fröhlich ins Gesicht. „Soll ich dich jetzt tragen?“, fragte sie und lachte laut. Marus Gesicht verlor jegliche Farbe als würde das Blut aus ihm herausgesogen.

„Du warst doch tot”, stotterte er.

Haru ging zu ihm und schüttelte den Kopf. Er verschränkte die Arme und ließ ein vorlautes seufzen von sich. „Irgendwas total Krankes geht hier ab. Irgendwie sind die wohl unsterblich so wie die Typen aus Aletria” Maru schaute Lili angespannt in die Augen.

„Du hast mich dich den ganzen Weg tragen lassen obwohl es dir wieder gut ging?“ Lili reichte ihm die Hand und half ihm auf.

„Deswegen biete ich dir auch an, dich von jetzt an zu tragen. Du musst mir nur sagen, wo hin du willst” Stolz verschränkte Maru die Arme vor der Brust und drehte seinen Kopf zur Seite.

„Wir sollten erstmal nach Marista. Dort können wir…“ Maru wurde unterbrochen als sich ein gleißend helles Licht über die ganze Region legte, gefolgt von einem leichten Erdbeben. Nach ein paar Sekunden ließ es wieder nach und hinter sich konnten sie eine weiße Lichtsäule sehen, die langsam wieder verblasste.

„Das kam aus Aletria”, sagte Maria und schaute auf ihren Armreif. Signal verloren zeigte er an. Lili schaute sich ihren an. Sie sah genau das Gleiche.

„Heißt das…“ Maria nickte.

„Was ist da los?“, fragte Maru verängstigt. Lili lächelte und nahm Marus Hand.

„Los, lass uns nach Marista gehen”, sagte sie und zerrte ihn hinter sich her. Haru und Maria folgten ihnen. Sie liefen noch etwa fünf Stunden durch den Wald, bis sie die riesigen Stadtmauern Maristas vor sich sahen.

Die zwanzig Meter hohe, stählerne Mauer, die Marista umgab war schon seit hunderten von Jahren ein Symbol dafür, dass die Stadt stillstand. Sie hielt erfolgreich jeglichen Schrecken aus der Außenwelt zurück, genauso wie jeglichen Fortschritt und das Streben nach höherem. Am Stadttor angekommen blieb Lili stehen und schaute nach oben.

„Die werden uns nicht einfach rein lassen. Schon gar nicht so wie ich aussehe”

„Und was hast du vor?“, fragte Maru.

„Maria, hast du…?“, noch bevor Lili die Frage fertig stellen konnte, warf Maria ihr das Schwert zu. Lili fing es auf und legte es auf den Boden. Dann riss sie sich ihre blutgetränkten Kleider vom Leib, knüllte sie zusammen und warf sie hinter ein Gebüsch. Den Jungs fiel die Kinnlade bis auf den Boden als sie Lili völlig nackt vor sich sahen.

„Die Nummer also”, sagte Maria gelangweilt.

„So geht es am einfachsten”, sagte Lili und zwinkerte ihnen zu. Dann hob sie ihr Schwert auf, zog es aus der Scheide und stellte es neben einer Tür ab, die sich neben dem großen Tor befand. Sie klopfte fest an der Tür und ein großer, grimmig dreinschauender Mann machte ihr auf.

Er war wie hypnotisiert als er den blutverschmierten, makellosen, nackten Körper des jungen Mädchens vor sich sah, die, seiner Annahme nach, wohl gerade so einem Überfall entkommen ist. Nach kurzem Überlegen ließ er sie rein. Lili schaute ihn zitternd und ängstlich mit großen Augen an und schmuggelte ihr Schwert geschickt an ihm vorbei. Sie hielt es hinter ihrem Rücken versteckt, bereit diesen Mann ohne Skrupel umzubringen, sobald er sie anfassen würde. Doch anstatt wie ein wilder Stier über sie her zu fallen, nahm er einen großen Mantel vom Haken und zog ihn ihr über.

„Du hast echt Glück gehabt, dass du ausgerechnet bei mir an der Tür geklopft hast. Die anderen hätten wohl sonst was mit dir angestellt”, sagte er mit einer väterlichen Art.

Lili versteckte das Schwert geschickt unter dem Mantel. Hinter jedem der 24 Stadttore befand sich eine Kaserne, in der normalerweise um die 50 Wachmänner stationiert waren. Doch die Mittel wurden knapp und vor etwa einem Jahr wurden alle Wachmannschaften halbiert und an den Toren, an denen wenig Betrieb war, wurden sie auf 10 Soldaten reduziert.

Vor ein paar Tagen wurden alle bis auf zwei Wachposten abgezogen und dem Heer übergeben. Die Wachmänner lebten vollkommen isoliert und allein in diesen Gebäuden. Ohne Kontakt zu Freunden oder Familie.

„Weißt du…“, sprach der Mann weiter. „Ich habe eine Tochter, etwa in deinem Alter. Allein schon bei dem Gedanken, dass ihr etwas Schlimmes zustoßen könnte wird mir schlecht” Er drehte Lili den Rücken zu. „Normalerweise sind wir hier zu viert. Aber da alle, die entbehrlich waren, in den Krieg geschickt worden, blieben nur noch ich und Stan hier” Lili hustete gespielt.

„Und wo ist er jetzt?“

„Er hat gerade Pause und schläft oben. Dir scheint es nicht besonders gut zu gehen. Wie wär's, wenn ich dir einen Tee mache?“, fragte er und lächelte freundlich. Lili nickte und der Mann ging in die Küche. Sie nutzte die Zeit und öffnete die Tür. Sie gab den anderen ein Zeichen herein zu kommen. Dann schaute sie kurz zu ihnen und hielt den Zeigefinger über ihre Lippen. Leise und behutsam schloss Maru die Tür.

„Tut mir leid, dass ich mich nicht vorgestellt habe” Rief der Mann aus der Küche. „Ich heiße Markus”

Dann lugte er kurz am Türrahmen vorbei, um sich zu vergewissern, das Lili nicht schon wieder geflohen ist. Als er die drei anderen sah, schaute er kurz verwundert, lächelte aber gleich wieder. „Sind das deine Freunde?“, sagte er und ging langsam zu ihnen. Schweigend nickte Lili und machte sich zum Angriff bereit.

„Das ist kein Problem, ich hab genug Platz und Lebensmittel für euch alle. Wenn ihr wollt könnt …“, noch bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, schlug ihm Lili ihre Klinge in den Hals. Gurgelnd und röchelnd ging der Mann in die Knie und Lili sah ihm die ganze Zeit zornig in die Augen. Langsam und leise zog sie die Klinge wieder heraus. Marcus lebloser Körper fiel wie ein nasser Sack zur Seite.

„Oben ist noch einer, seid still”, flüsterte Lili und ging die Treppe rauf. Aus einem der Zimmer hörte sie schon ein vergnügliches Schnarchen. Leise öffnete sie die Tür und schlich sich rein. Es war ein alter Mann, der auf dem Rücken lag und mit offenem Mund schnarchte.

Er sah sehr abgemagert und schwächlich aus. Er stellte nicht im Geringsten eine Bedrohung dar. Auf dem Nachttisch neben dem Bett standen viele Bilderrahmen mit Fotos von Angehörigen. Er wurde langsam wach.

„Markus, bist du das? Ist schon wieder Schichtwechsel?“, murmelte er schlaftrunken.

Lili zögerte nicht lang und sprang auf das Bett. Sie stemmte ihren Fuß in den Hals des Mannes und rammte ihm das Schwert in die Brust. Konzentriert schaute sie ihm ins Gesicht während er starb. Dann suchte sie penibel alle anderen Zimmer ab.

Marcus hatte nicht gelogen. Es waren wirklich nur die Beiden hier. Schweigend kam sie die Treppe runter, riss dem toten Wachmann ein Stück Stoff von seinem Hemd und streifte damit das Blut von der Klinge. Dann warf sie das Schwert zu Maria und ging in die Küche. Haru und Maru setzten sich an den Esstisch. Maria führte die Klinge in die Scheide ein und stellte die Schwerter an die Wand.

Lächelnd kam Lili mit einer Kanne Tee und vier Tassen aus der Küche und stellte sie auf den Tisch. Sie zog den Mantel aus und warf ihn auf die Leiche des Wachmannes. Dann setzte sie sich zu Maru. Er war keineswegs schüchtern und hatte auch schon die ein oder andere Freundin. Sie war also lang nicht das erste Mädchen, das er nackt sah. Aber angesichts dieser bizarren Situation und dieser seltsamen Mädchen, fiel es ihm diesmal nicht so leicht, seine coole und gelassene Art zu erhalten.

„Denkst du, wir hätten die Beiden auch am Leben lassen können?“, fragte Maru vorsichtig. Lili schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es nicht und ich hatte auch nicht genug Zeit darüber nachzudenken. Es ist eben manchmal besser kein Risiko einzugehen. Verurteile mich ruhig dafür, ich handle manchmal eben mehr nach meinen Instinkten als nach reiner Logik”, sagte sie kaltherzig. Maria setzte sich neben Haru.

„Und was ist mit uns? Wartest du wenigstens bis wir schlafen, bevor du uns genauso kaltblütig umbringst wie diesen netten Mann da?“, fragte Haru ängstlich und wütend. Maru schwieg und schaute eingeschüchtert auf den Tisch.

Ein angespanntes Schweigen trat ein. Maria goss sich etwas Tee ein und gab die Kanne zu Lili. Sie tat ihr gleich und beide nippten fast synchron an der Tasse.

„Nun” Lili räusperte sich. „Ich bin alt genug, um zu wissen wer eine Bedrohung für mich ist und wer nicht. Ihr seid noch Kinder. Außerdem hab ich mit dir noch was vor also mach dir keine Sorgen” Sie funkelte Maru böse an und leckte sich die Oberlippe.

„Es wird schon nicht weh tun. Ich will mir nur die Zeit vertreiben bis wir wieder mit unserem Meister zusammen sind”

„Du kannst dir trotzdem was anziehen”, sagte Maria genervt. Lilli lächelte und stand auf.

„Aber vorher geh ich duschen” Sie nahm Marus Hand und zog ihn hinter sich her.

 

Etwa zur selben Zeit erreichten Momo und die anderen Kinder einen anderen Teil der Stadtmauer. An dieser Stelle befand sich eine kleine Öffnung, durch die sie in die Stadt gelangten. Alle blieben davorstehen und Momo zählte durch. Da fiel ihm auf, dass zwei fehlten.

„Hey, wo sind Ryu und Marleen?“, rief er in die Gruppe. Keiner antwortete. Besorgt kratzte er sich am Kopf. Er hatte keine Erklärung für ihr Fortbleiben und keine Zeit, nach ihnen zu suchen. Als er genauer darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass die Beiden schon in Aletria nicht mehr bei ihnen waren.

Kapitel 15

Der Plan ging auf

Mehrere Stunden vorher…

Ryu ist in den unteren Ebenen Aletrias unterwegs. Alle Gänge sind in einem hellen Neonweiß beleuchtet und alles ist sauber wie in einem OP-Saal.

Er lief vorbei an riesigen Lagerhallen und Fabriken. Er war nicht ohne Grund hier: Vor einer Weile bemerkte er, dass Marleen sich heimlich davonstahl, als die anderen das Bombardement beobachteten. Es war nicht schwierig ihr auf den Fersen zu bleiben, denn sie hinterließ eine Spur aus einer grün schimmernden Flüssigkeit.

Er war etwas ängstlich, aber auch sehr neugierig. Und seit einer Weile versuchte er erfolglos mit Marleen über die Geschehnisse am Waisenhaus zu reden. Sie war seitdem etwas verschlossen und schweigsam. Ryu war der Meinung, sie hatte Angst vor ihm, auch wenn er sie vor dem Polizisten gerettet hat. Es war selbst für ihn nicht leicht zu verstehen, wie diese roten Flammen sie komplett unversehrt ließen den Mann hingegen sofort zu Asche verwandelten.

 

Währenddessen im Hauptturm:

 

Die einzigen, die noch da waren, waren Val, Milena und Kumi. Keiner von ihnen wusste etwas mit den ganzen Instrumenten anzufangen. Die Situation erforderte auch kein Eingreifen, da der Energieschild, der die Stadt schützte, nicht zu durchdringen war. Etwas hektisch betrat Han den Kontrollraum und schaute auf die Projizierten Bilder. Er versuchte irgendwie daraus schlau zu werden.

„Warum werden wir angegriffen?“, fragte Val gelangweilt.

„Weil sie Aletria zerstören will”, antwortete Han.

„Aber hätte sie das nicht machen können, als die Stadt noch verlassen war? Jetzt wo sie wieder aktiv ist kann sie uns ja nichts mehr anhaben”

„Das konnte sie vorher auch nicht. Und das weiß sie genau. Wieso greift sie an? Sie führt irgendwas im Schilde. Aber ich weiß nicht was”, Han wurde Zusehens nervöser.

„Aber…“, setzte Milena ein. „Wieso feuern wir nicht zurück? Haben wir nicht diese seltsame Mauer, die mit Waffen bestückt ist, welche sich selbst weiterentwickeln?“

„Nun, diese Schiffe haben ebenfalls Schilde. Wir können sie von hier aus nicht durchbrechen. Außer…“, Han dachte kurz nach, „dieses Schiff… Es hatte eine Sequenz, die …“ Er hielt ein und ging zu einem anderen Pult. Dort suchte er nach dem Schiff.

„Weißt du…“, setzte Milena wieder zaghaft ein, „dieses eine Schiff, das in der Mitte zerbrochen ist. Das war…“

„Ich hab was!“, unterbrach sie Han. „Die Adrastea. Ein leichter Angriffskreuzer. Er hat ein modulierbares Schild, das eine Sequenzanpassung vornehmen kann, um dadurch die Schilde andere Objekte zu neutralisieren. Wir können versuchen diese Technologie auf DEATH zu übertragen und somit die Schiffe zerstören”

„Falls ich was dazu sagen dürfte”, meldete sich Kumi. „Es gab wohl einen Grund, weswegen Bellami das nicht schon vorher getan hat”

Han überlegte kurz. „Du hast Recht. Wenn die Sequenz aktiv ist, wird der eigene Schild ebenfalls aufgehoben”

„Richtig. Außerdem entsteht eine hochenergetische Impulswelle, die Aletria stark beschädigen würde. Ich habe Bellami dabei beobachtet, als ihm das ebenfalls klar wurde. Deswegen ist er mit dem Schiff zu ihnen geflogen”

„Und was ist mit dieser Großen Kanone?“, schlug Val vor.

„Wir können DHC nur zweimal hintereinander abfeuern. Dann ist der Kristall verbrannt und es dauert eine Stunde ihn zu erneuern. Es sind aber zwölf Schiffe. Aber wenn wir zwei oder drei zerstören, fliehen die anderen vielleicht” Han unterbrach sich selbst. „Aber was ist, wenn sie genau das will?“ Er schüttelte immer wieder den Kopf.

„Was könnte denn passieren, wenn wir die abfeuern?“, fragte Val wieder.

„Wegen der Großen Energiemenge müssen wir dazu einen Teil des Kuppelschildes öffnen, wodurch eine bedeutende Schwachstelle entsteht”

Ein Alarmsignal ertönte. Achtung: Massereiches Objekt im Orbit entdeckt. Identifizierung: Kommandoschiff, Thor-Klasse. Gefahrenpotenzial: 27%

„Was ist denn das? Das Ding ist ja fünf Mal so groß wie die anderen”, stellte Val fest.

„Das ist ihr Flaggschiff. Sie ist wohl höchstpersönlich zugange”, antwortete Han. Das Bombardement der Schlachtschiffe verstummte. Eine Stunde lang war Waffenstille. Han versuchte irgendwas rauszufinden, doch er hatte keinen Erfolg.

„Ich könnte…“, sagte Milena.

„Drohnen!“, wurde sie wieder von Han unterbrochen. Milena beschloss von nun an nicht mehr zu versuchen, etwas vorzuschlagen. Verletzt in ihrem Stolz, verschränkte sie die Arme vor der Brust und schwieg.

„Was meinst du?“, fragte Val, der Han die ganze Zeit beobachtete.

„Mit einem Schwarmschild könnten wir die Schwachstellte, die entsteht, während wir DHC abfeuern, versiegeln” Wieder ertönte ein Signal vom Computer.

Waffenscan abgeschlossen: System meldet: Mehrere schwere Hadronenwaffen am Kommandoschiff lokalisiert. Klassifizierung: Vergeltungswaffe. Geschätzter Wirkungsbereich: 27 Kilometer. Energieleistungspotenzial: etwa 11,5 Pentawatt.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Kumi.

„Das Leistungspotenzial interessiert uns nicht, da der Schild jede Art von Energie absorbieren kann. Aber würden sie uns ohne den Schild treffen, wäre die Stadt verloren”

„Das bedeutet, dass der Schwarmschild nicht mehr in Frage kommt, richtig”, sagte Kumi. Han nickte.

„Das ist korrekt. Egal wie viele Drohen wir schicken, der Hadronenstrahl würde sie einfach auflösen” Das Bombardement setzte wieder von neuem ein.

„Versuchen sie uns zu zermürben?“, fragte Milena.

„Ich wüsste nicht was das bringen sollte. Die vier Null-Punkt-Emitter erzeugen mehr Energie als die Sonne. Die kommen niemals hier durch, solange die Emitter aktiv sind”

Wieder ein Alarmsignal:

NPE 1 – offline.

„Jetzt weiß ich es”, sagte Han, als würde es ihm wie Schuppen von den Augen fallen. „Wir müssen hier weg!“

„Das ist doch nicht dein Ernst?“, sagte Val zynisch. „Du hast doch jetzt nicht wirklich gesagt, dass wir vier Null-Punkt-Emitter haben, die uns schützen, und kaum hast du den Satz beendet, fällt der erste aus?“

„Okay, drei sind immer noch mehr als genug. Ich denke, wir haben noch ein bisschen Zeit”

NPE 2 – offline.

„Wer hat das Autorisiert?“, fragte Han laut.

Das System antwortete: Deaktivierung genehmigt von Bellami Makalan.

Wieder ein Alarmsignal: Schilde stabil. Auslastung NPE 3 und 4 bei 0,71%

Han schüttelte nervös mit dem Kopf. „Wir müssen hier weg!“

„Wieso zur Hölle fallen diese Dinger alle aus? Und das gerade jetzt? Das ist ja wie in einem schlechten Film!“, fauchte Val.

NPE 3 – offline.

„Das ist doch nicht zu glauben”, Val raufte sich vor Wut die Haare. „Irgendjemand muss das doch geplant haben”

„Wenn der letzte Emitter ausfällt…“, murmelte Han.

Und wieder ein Alarmsignal: Unbekannte Subraumstrahlung identifiziert: Sensoren blockiert. Kommunikation ausgefallen. Subraum-Materietransport unmöglich.

„Oh nein. Es sollte doch Gegenmaßnahmen dafür geben”, seufzte Han.

„Was bedeutet das?“, fragte Kumi.

„Wir können nicht weg. Es ist ein Elektronischer Stör-Angriff. Wenn wir uns teleportieren landen wir sonst wo”

„Ist doch egal, wo wir landen, Hauptsache nicht hier!“, brüllte Val.

„Wenn es euch egal ist, ob ihr im Zentrum eines Sterns landet, von mir aus. Aber…“

„Was denn noch alles? Als nächstes explodiert wohl gleich die Sonne. Oder noch besser: Das ganze Universum wird einfach so ausgelöscht”, Val wurde immer aggressiver.

NPE 4 – offline. Umschaltung auf Fusionsreaktor. Auslastung: 245%, Schildstatus: Instabil.

Nun durchdrangen die Geschosse zum Teil den Schild und schlugen überall in der Stadt ein.

„Zu spät. Mir bleibt nichts anderes übrig”, sagte Han und holte wieder ein Stück Kreide aus seiner Tasche. „Kommt alle zu mir, schnell!“

Er zeichnete einen Kreis um alle und hob die Kreide in die Luft. In dem Moment, indem er es zerbrach, schlug ein Geschoss in den Turm und riss ein Loch in den Boden. Milena wurde von dem Sog aus dem Kreis gezogen. Val packte ihre Hand und hielt sie fest.

Die Ganze Plattform kippte ab und Milena baumelte über dem Abgrund. Val hielt immer noch ihre Hand, doch als sich das Siegel schloss, wurde sie einfach abgetrennt und Milena fiel in die Tiefe. Val wollte ihr hinterher springen, doch das Siegel versperrte ihm den Weg. Er schlug darauf ein und fluchte wie ein wahnsinniger. Doch es war zu spät. Der Schild der Stadt brach zusammen und ein heller Energiestrahl schlug im Zentrum ein.

Val, Han und Kumi verschwanden inmitten des Kreidekreises, noch bevor das Licht die Stadt vernichtete. An derselben Stelle, an der die Anderen vorher ankamen, erschienen Han und Kumiko. Val war nicht dabei und Kumi rannte sofort los, in Richtung Marista.

 

Etwa eine Stunde vorher in den unteren Ebenen der Stadt ...

 

Ryu war unermüdlich und verfolgte Marleen durch die Wirren der Maschinenräume. Sie war eine Weile unterwegs, bis sie ihr Ziel erreichte: Das Kontrollzentrum der Nullpunkt-Emitter. Ryu wusste nicht, für was diese Geräte gut waren und erst recht nicht, was Marleen da wollte.

Er kannte sie schon lange. Sie ist eines der älteren Mädchen im Waisenhaus und sie war immer eine sehr lebensfrohe und fürsorgliche Person. Er beobachtet sie eine Weile und ihm fiel auf, dass sie eine seltsame Manschette am rechten Unterarm trug, von der aus diese grün schimmernde Flüssigkeit herabrann, die über ihre Hand floss und auf den Boden tropfte.

Sie hob ihre rechte Hand und legte sie auf das Bedienpult. Auf der Manschette leuchteten ein paar kleine Lämpchen und ein holographischer Bildschirm tauchte über dem Bedienpult auf. Er war kurz ein bisschen verzerrt und verschwand immer mal für eine Sekunde. Doch dann ertönte ein Signal: Benutzer erkannt: Bellami Makalan. Autorisierung erteilt.

Nun gingen, auf sämtlichen Bedientafeln, die Steuerfelder an. Wie ferngesteuert tippe sie auf den Tasten herum. Sie war wie ausgewechselt. Ein vollkommen anderer Mensch.

NPE – Manueller Service Override freigegeben, ertönte eine Stimme. Vier größere Zylinder fuhren aus dem Pult. Marleen packte den Griff des ersten Zylinders, drehte ihn eine Viertel Umdrehung gegen den Uhrzeigersinn und zog ihn heraus. Dasselbe tat sie mit dem Zweiten.

Dann trug sie die Beiden Zylinder in den Raum, in dem sich zwei der vier Emitter befanden. Es war eine riesige Halle in der zwei große, gläsern wirkende Kugeln standen, die von einem filigranen Metallgestell gehalten wurden.

Im Inneren der Kugeln war eine Art Strudel aus Energie, der in der Mitte hell leuchtete. Große Apparate standen davor und daneben. Marleen nahm einen der Zylinder und schob ihn in eine dafür vorgesehen Öffnung. Dann legte sie ihre Hand auf ein Bedienfeld und der Zylinder wurde in den Kern gezogen. Der Strudel löste sich auf und die Kugel wurde schwarz.

Phasenfeld kollabiert. NPE 1 – offline. Sie ging zu dem zweiten Emitter und tat das Gleiche nochmal.

„Marleen, was tust du da?“, machte Ryu auf sich aufmerksam. Sie drehte sich zu ihm um.

„Ryu? Wieso bist du hier?“, fragte sie.

„Ich bin dir gefolgt, weil ich mir Sorgen gemacht hab” Marleen lächelte.

„Das ist lieb von dir, aber das brauchst du nicht. Bald ist alles gut”, sagte sie und legte ihre Hand wieder auf das Feld.

Phasenfeld kollabiert. NPE 2 – offline. Marleen lächelte und fuhr Ryu mit ihrer linken Hand durchs Haar.

„All unsere Träume werden wahr, kleiner Drache”, sagte sie Heiter.

Kleiner Drache war Ryus Spitzname, schon bevor er auf Zeraph traf. Sein Name Ryu bedeutet Drache in einer alten, längst vergessen Sprache. Außerdem erzählte er immer wieder Geschichten von einem riesigen Drachen, den er ab und zu in der Nähe vom Waisenhaus sah. Nur sah ihn sonst kein anderer, deswegen wurde er immer für seine blühende Fantasie belächelt.

„Was meinst du?“ Marleen ging zurück in den Kontrollraum und holte die beiden übrigen Zylinder. Ryu folgte ihr.

„Weißt du denn überhaupt, was du da tust?“, fragte er.

„Na logisch” Sie ging in den anderen Raum, mit den beiden übrigen Emittern, und führte wieder einen der Zylinder ein. „Das hier“, sie legte ihre Hand wieder auf das Bedienpult, „sind Massenvernichtungswaffen. Ich zerstöre sie und rette die Welt”

Phasenfeld kollabiert. NPE 3 – offline.

„Woher weißt du, dass es welche sind?“, fragte Ryu skeptisch.

Marleen stellte den letzten Zylinder neben NPE 4 ab und ging zwei Räume weiter. Ryu folgte ihr. In diesem Raum befand sich eine Zweigstelle der Künstlichen Intelligenz, die die Stadt verwaltete. Im Zentrum des Raumes war ein riesiger, elektronischer Kubus, der von einer rötlichen Kühlflüssigkeit umgeben war.

„Das ist doch logisch. Alle wissen, dass Aletria damals für die Zerstörung der Welt verantwortlich war und nicht irgendein Typ mit Superkräften. Das ist ja wohl klar. Wir werden berühmt, wenn wir das schaffen”

„Aber das sind doch unsere Freunde”, sagte Ryu.

„Ach ja? Das glaub ich nicht. Die haben uns nie irgendwie geholfen. Aber die Götter. Die waren für uns da. Und jetzt revanchiere ich mich dafür”

Wieder legte sie ihre rechte, tropfende Hand auf das Bedienpult. Wieder wurde sie als Bellami Makalan erkannt und eingeloggt. Sie schaltete den Computer ab und verließ den Raum danach.

„Weißt du, ich habe keine Ahnung, was das alles genau ist. Aber scheinbar funktioniert es, wenn ich es so mache, wie sie es mir erklärt hat. Sie hat mir diese Manschette gegeben. Zugegeben, es ist ein bisschen eklig, aber man gewöhnt sich dran”, sagte Marleen und ging wieder in den Raum mit dem zwei Emittern. Sie hob den letzten Zylinder auf und schob ihn in die Öffnung.

„Wen meinst du mit Sie?“, frage Ryu neugierig.

„Die große Göttin Isabelle. Sie ist so stark und so wunderschön. Ich durfte sie persönlich kennenlernen. Das war… wie in einem Traum. Sie hat damals die Welt gerettet und ist dafür unsterblich geworden”, sagte Marleen als wäre sie verliebt.

„Das klingt toll aber…“

„Ich freu mich schon so. Dieses ganze Bombardement ist nur dazu da, sie von uns hier unten abzulenken. Sonst hätten sie bemerkt, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht”, erklärte Marleen.

„Ich hab irgendwie ein komisches Gefühl”

„Mach dir keine Sorgen, kleiner Drache. Ich bin dir immer noch sehr dankbar, dass du mein Leben gerettet hast, mit deinen seltsamen Kräften. Ich werde dich nicht vergessen, wenn ich als Heldin in die Geschichte eingehe. Sie kann uns auch unsterblich machen, weißt du?“, sagte sie und legte ihre Hand auf das Bedienfeld.

Phasenfeld kollabiert. NPE 4 – offline. Umschalten auf Fusionsreaktor.

„Okay, nun sollte das Bombardement aufhören und die Soldaten die Stadt erobern”, sagte Marleen in freudiger Erwartung. Ryu schüttelte den Kopf.

„Ich hab immer noch ein komisches Gefühl. Ich werde bald zu einem Drachen, weißt du. Aber ich weiß nicht, wann” Die Erde bebte und die Lichter gingen aus. Es war stockfinster.

„Was, wieso? Das sollte doch ganz anders laufen. Ryu?“, klagte Marleen unruhig. Eine rote Flamme leuchtete in Ryus Hand.

„Komm, lass uns gehen. Die hören nicht auf zu schießen. Die haben dich betrogen”

„Nein, wir müssen hier warten! Sie werden uns abholen” Die Manschette fiel von ihrer Hand und die Flüssigkeit färbte sich rot.

„Was? Das tut weh”, brüllte Marleen und fing an zu weinen. Die Flüssigkeit verbrannte ihre Haut wie eine Säure.

Noch immer bebte die Erde und man Spürte wie die Geschosse einschlugen. Sie schrie immer lauter und krümmte sich vor Schmerzen. Auf Ryus Haut bildeten sich kleine, rot leuchtende, Äderchen. Er schaute fasziniert auf seine Hände und spürte, wie ihn etwas wegzuzerren schien.

Die Decke stürzte ein und begrub die Räume unter sich. Wenig später schlug der weiße Energiestrahl ein und alles löste sich in hellen Licht zu Staub auf. Die ganze Stadt versank bis zu den weit entfernten Stadtmauern in einem gleißend weißen See aus purer Energie. Nach nur wenigen Sekunden erlosch alles und gab einen gewaltigen Krater frei.

Isabelle saß entspannt in ihrem Sessel auf der Brücke des Kommandoschiffes und beobachtete, wie sich ihre Pläne Stück für Stück vervollkommnen. Ihre großen, braunen Augen funkelten böse in den Bildschirm vor sich. Ihre silbernen Haare ergossen sich über ihre schwarze Uniform wie ein eisiger Bergfluss.

„Bericht!“, brüllte sie.

„Die Stadt wurde vollkommen ausgelöscht. Bis auf …“, antwortete ein Offizier.

„Was?“, brüllte sie wütend.

„Da ist ein kleines Fragment im Zentrum des Kraters übriggeblieben. Es ist eine Art Kristall”

„Können wir es bergen?“

„Ich … fürchte nicht. Es ist verzerrt und wahrscheinlich außerhalb dieser realen Raumzeit” Isabelle machte eine kurze Pause und beobachtete das Fragment nachdenklich. Es schimmerte blau und verschwand hin und wieder für kurze Zeit.

„Was ist mit den Knoten?“, fragte sie wieder.

„Sämtliche Signaturen sind erloschen. Wir haben keine Anzeichen von Störungen mehr. Selbst der Drache ist weg” Isabelle lehnte sich zurück.

„Scannt jeden einzelnen Bereich erneut. Ich will absolut sicher sein” Die Offiziere befolgten ihre Befehle.

„Scanne nach roter Signatur”, sagte ein anderer Offizier. „Negativ. Der Drache ist nicht mehr in dieser Realität”

„Scanne nach blauer Signatur”, sagte wieder ein anderer. „Bis auf die kleinen Überreste aus Celestis und dem blauen Fragment im Krater, erhalte ich keine Resonanz. Bellami ist nicht mehr in dieser Realität”

„Scanne nach grüner Signatur”, sagte der vierte Offizier. „Negativ. Shezzar befindet sich nicht mehr in dieser Realität” Isabelle stand auf. „Bleibt nur noch einer übrig”

„Scanne nach transparenter Signatur”, sagte der erste wieder. „Leichte Ausschläge auf der gesamten Planetenoberfläche. Ein Knoten ist nicht lokalisierbar”

„Sehr gut. Er ist zwar noch da aber viel zu schwach, um mir etwas entgegen zu bringen”, sagte Isabelle.

„Somit bin ich die Mächtigste Entität in diesem Universum. Niemand macht mir meinen Status als Gott noch streitig” Sie stand auf und ballte ihre Hand zur Faust.

„Endlich haben wir es geschafft! Wir haben unsere Unterdrücker besiegt” Alle jubelten begeistert. „Endlich können wir wieder auf unserem Heimatplaneten Leben, ohne permanent vor der Vernichtung zu stehen. Lasst uns vorweg gehen und der Menschheit wieder eine Zukunft geben”

Mehrere Flotten, kleinerer Transporter wurden von den Schlachtschiffen abgedockt und traten in die Atmosphäre ein. Überall auf der Erde schauten die Menschen auf und sahen fasziniert in den Himmel.

Han war ebenso fasziniert davon. Es machte sich zwar ein seltsames Gefühl in ihm breit aber er dachte in erster Linie daran, dass das alles vielleicht gar nicht die schlechteste Entwicklung war. Seit Aletria existierte, wurde die Welt von Angst regiert. Auch wenn nie wirklich etwas passierte, wurden die Menschen mit der Angst vor der großen Macht dieser Stadt gefügig gemacht.

Han wollte sich gerade auf den Weg nach Marista machen, doch das Siegel, mit dem er hergekommen ist, war immer noch aktiv und er konnte es nicht verlassen. Er zog das Stück Kreide aus der Tasche, aber es zerfiel sofort zu Staub und wurde vom Wind davongetragen. Verträumt schaute er in die Ferne und ließ seine Arme baumeln.

„Habe ich versagt?“, fragte er sich nachdenklich. Das Siegel unter seinen Füßen wurde größer und vor ihm erschien eine Hausgroße, wolfähnliche Kreatur mit goldenem Fell und anmutigen, großen, schwarzen Augen. Han schaute bewundernd zu ihr auf.

„Habe ich die Faarih verärgert?“, fragte er unterwürfig.

„Du hast deine Strafe verbüßt”, antwortete die Kreatur. „Du wirst bereits erwartet”

„Meine Strafe?“ Er schaute nachdenklich auf den Boden. Plötzlich erinnerte er sich wieder an alles. „Ich darf wieder nach Hause?“

„Ja”, antwortete die Kreatur, „Wir haben entschieden, dich wieder bei uns aufzunehmen. Du hast uns große Sorgen bereitet, doch der Schmerz deiner Abwesenheit war größer” Han lief eine Träne über die Wange. Das Symbol auf seiner Hand erlosch. Er las es noch einmal und erinnerte sich an seine Strafe.

Gebunden an Erde wandle ich ziellos in einer fremden Welt. Ich gehöre nun zu Anderen und werde mich fügen. Ich werde klein sein, bescheiden und unterwürfig. Mein Stolz ist versiegelt und mein Mut im Dunkel versteckt.

„Kronos. Bevor ich gehe, möchte ich noch eine Sache sicherstellen”

„Tu was auch immer du tun willst, Alexander. Du bist wieder frei und wir werden auf dich warten”, sprach die Kreatur und verschwand. Han dachte über die letzten tausend Jahre nach. Ein Name drängte sich in den Vordergrund seiner Gedanken: Isabelle. Dann verschwand er.

Kapitel 16

Märchen und andere Wahrheiten

„Was sind diese Faarih, von denen du vorhin gesprochen hast?“, fragte Haru während, er an seiner Tasse Tee nippte. Maria schlug die Hände hinter dem Kopf zusammen und lehnte sich nachdenklich zurück.

„Ich hab es nie so richtig verstanden. Han hat sie immer als Kreaturen einer anderen Dimension erklärt, die unseren Tieren sehr ähnlichsehen. Sie waren in der alten Welt auch als Urgewalten, Fabelwesen oder Monster bekannt” Haru hörte fasziniert zu. Lili kam mit einem Handtuch um die Brust die Treppe runter und setzte sich zu ihnen. Haru schaute sie verängstigt an.

„Wo ist Maru? Hast du ihn etwa auch umgebracht?“

„Alles klaro, alter. Bleib mal locker”, sagte Maru, der kurz darauf auch die Treppe runterkam. Er ging in die Küche. „Oh man, hoffentlich haben die hier etwas Gescheites zu fressen”

Er fing an alle Schränke zu durchwühlen. Lautes polten und klirrendes Geschirr war zu hören. Haru beruhigte sich wieder. Lili lachte.

 „Du machst dir Sorgen um deinen besten Freund. Dabei ist er es, der sich normalerweise sorgen um dich macht”

„Was? Hat er dir das erzählt? Dieser blöde Arsch!“, fluchte Haru. Lili lachte wieder.

„Nein hat er nicht. Aber das sieht man euch an. Nimm‘s mir nicht krumm, aber es ist doch so, oder?“ Maru kam lachend aus der Küche mit einem großen Teller voller Essen.

„Lass gut sein, Haru. Sie hat mich schon längst durchschaut” Er setzte sich zu ihnen und schlug sich den Bauch voll.

„Von was habt ihr gerade gesprochen? Ich hab gehört, wie du seinen Namen erwähnt hast”, sagte Lili.

Maria nickte. „Ich hab ihm von den Faarih erzählt. Aber viel wissen wir darüber nicht”

„Ja”, sagte Lili. „Er hat uns nie besonders viel von ihnen erzählt. Nur das es sehr mächtige Kreaturen sind. In etwa wie die Drachen aber irgendwie anders. Sie bevorzugen eine nicht-physische Existenz”

„Und was hat er mit ihnen zu tun?“, fragte Haru fasziniert.

„Das darf ich dir nicht sagen”, antwortete Maria. „Nur das, immer wenn er etwas mit diesem Stück Kreide machte, kamen sie und halfen ihm. Er hat mal gesagt, dass diese Beschwörungen einen Tribut fordern. Und dass sie irgendwann kommen und etwas sehr Wertvolles einfordern würden”

„Kreide?“, murmelte Maru mit vollem Mund, „So wie das hier?“, sagte er und zeigte mit dem Finger darauf. Lili und Maria lachten.

„Du Dummkopf. Doch kein normales Stück Kreide, dass du irgendwo geklaut hast”, sagte Maria herablassend.

„Aber das hab ich gar nicht geklaut. Es lag auf einmal hier. Es ist mir erst aufgefallen, als du davon gesprochen hast” Maria und Lili schauten es sich genauer an. Es war genau dasselbe, wie das von Han. Maria schaute besorgt in den Raum.

„Ich möchte euch für alles danken”, erklang Hans Stimme. Er trat aus einem Schatten hervor und verbeugte sich höflich. „Doch hiermit verabschiede ich mich von euch” Maria stand auf und ging zu ihm. Sie schaute traurig zu ihm auf und legte ihren Kopf auf seine Brust.

Han streichelte ihr sanft übers Haar. Eine Träne lief ihm über die Wange und tropfte auf ihre Stirn. Lili stand ebenfalls auf und ging zu ihm. Han nahm beide in die Arme und streichelte sie liebevoll.

„Gehst du zu ihnen zurück?“, sagte Maria und schniefte.

„Ja”, antwortete Han bedrückt. „Ich gehe wieder nach Hause. Zurück zu meiner Art. Ich kann leider nichts mehr für euch tun, es sei denn ihr beschwört mich in meiner wahren Gestalt”

„Ich freue mich für dich”, sagte Lili und lies von ihm ab. „Wir wussten, dass sie dir irgendwann verzeihen würden” Han lächelte.

„Ich werde euch nie vergessen. Passt gut auf diese Welt auf. Und auf eure Freunde” Er schaute zu den Jungs rüber, die ihn wie festgenagelt anstarrten und lächelte entspannt.

Er trat einen Schritt zurück und verbeugte sich. Dann erschien wieder ein Siegel unter seinen Füßen. Er zog seinen Zylinder vom Kopf, richtete sich wieder auf und lächelte. Lili und Maria lächelten mit tränenden Augen zurück und streckten ihre Arme nach ihm aus.

Dann verschwand er. Maria setzte sich an den Tisch und legte ihren Kopf in die Arme. Sie fing an zu weinen und zu schniefen. Lili setzte ebenfalls sich wieder neben Maru und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

„Er war wie ein Schutzengel für uns. Er hat uns vor Isabelle gerettet und uns unsterblich gemacht. Doch wir wussten, dass er uns irgendwann verlassen wird. Ich dachte wir würden besser damit klarkommen aber sieh uns an”, sagte Lili mit leiser, trauriger Stimme. Maru lächelte sie mitfühlend an und hielt ihr das Stück Kreide vors Gesicht.

„Ich denke nicht, dass er das versehentlich hier vergessen hat” Lili lächelte und küsste ihn auf den Mund. Maria hob ihren Kopf vom Tisch und riss ihm das Stück Kreide aus der Hand. Dann stand sie auf und ging nach draußen. Haru schaute ihr nach und folgte ihr. Sie Stand vor der Mauer und hob ihr Schwert in die Luft.

„Ich kann’s nicht, hörst du?“, schrie sie in die Ferne. Sie ging auf die Straße und zeichnete einen Kreis um sich. „Ich kann nicht! Ich kann nicht wieder allein sein!“, schrie sie wie verrückt. „Ich brauch keine Unsterblichkeit, wenn es keinen Grund zum Leben gibt” Sie hob ihren Arm mit der Kreide in der Hand, genau wie es Han immer getan hat. Doch kurz bevor sie sie zerbrach, schubste Haru sie aus dem Kreis. Das Siegel schloss sich und Maria sah wie Haru mittendrin stand. Sie stand wieder auf und schlug mit der Faust dagegen.

„Wieso hast du das getan?“, schrie sie ihn an. „Mit dir wird jetzt sonst was passieren!“ Haru schaute sie traurig an.

„Ich habe schon mal einen lieben Freund verloren. Ich möchte das nicht noch einmal erleben” Maru und Lili stürmten raus und rannten zu ihnen.

„Haru, was tust du da?“, brüllte Maru. „Komm da sofort wieder raus!“, befahl er ihm.

„David Hammond”, antwortete Haru. „Das ist dein richtiger Name”

„Was laberst du für einen Scheiß? Komm endlich da raus!“

„Ich hab ihn für dich recherchiert, als wir in dieser schönen Stadt waren”, sagte Haru traurig und schaute auf seine Hände. Überall auf seiner Haut entstanden gelb-orange leuchtende, eckige Linien, die zu pulsieren begannen.

„Haru, verdammt nochmal!“, befahl Maru und schlug mit der Faust gegen das Siegel. „Hör mit diesem Scheiß auf und komm da raus!“ Doch Haru reagierte nicht.

In seinem Gesicht erschienen Symbole und seltsame Schriften. Das hielt eine Weile an und er war in Trance. Dann schlug ein orange-gelb leuchtender Blitz in seiner Brust ein. Das Siegel verlosch. Die Symbole in seinem Gesicht ebenfalls. Nur die Linien wurden schwarz und verblieben dort. Haru fiel bewusstlos zu Boden. Maria fing ihn auf und brachte ihn in die Kaserne zurück. Sie legte ihn in ein Bett im oberen Geschoss und setzte sich neben ihn. Maru und Lili liefen ihr nach.

„Was ist da passiert? Was hat der Kerl da wieder angestellt?“, fragte Maru wütend.

„Er wollte mir das Leben retten. Aber ich wusste selbst nicht, was passieren würde, wenn ich Alexanders Macht einsetze”, antwortete Maria und streichelte Harus Hand. „Ich hab es erst nicht verstanden, aber ich glaub jetzt …“

Haru wachte auf. Er sah erst zu Lili, die vergnügt lächelte, dann sah er rüber zu Maru, der ihn grimmig und mit den Armen vor der Brust verschränkt anstarrte. Dann sah er Maria, die neben dem Bett saß und ihn sorgenvoll in die Augen schaute. Als er fühlte, dass sie seine Hand hielt, nahm er mit der anderen Hand eine der Armbinden ab und gab sie ihr.

„Die hat unserem Freund Marcel gehört. Er wurde von einem Wahnsinnigen getötet, als wir auf der Straße gespielt haben. Bitte nimm sie und versprich mir, dass du dir nichts mehr antun wirst” Als er wieder zu Maru und Lili sah, fiel ihm auf, dass sie die zweite rote Armbinde von ihm trug.

„David, was?“, sagte Maru. „So heiß ich doch niemals. Oder? Ist das cool?“, fragte er und starrte zu Lili.

„Ziemlich uncool, wenn du mich fragst. Aber immer noch besser als der Name, den du dir ausgedacht hast”, sagte sie und fing an zu lachen. Haru schaute sich seine Arme an. „Was ist nur mit dieser Welt passiert? Was war das alles? Seid ihr überhaupt Menschen. Und was sind diese Faarih?“

„Das würde mich auch mal interessieren”, fügte Maru hinzu. Lili setzte sich.

„Es gibt viele verschiedene Wesen im Universum. Pflanzen, Tiere und Menschen kennt ihr ja. Aber es gibt noch viel mehr. Wächter, Götter, Faarih und die Drachen”

„Das klingt wie eine Märchengeschichte”, sagte Maru. Maria schüttelte den Kopf.

„Wir haben viel gelernt als wir mit Han zusammen waren. Es gibt zum Beispiel höhere Kräfte. Eine heißt Terra, die Kraft des Lebens. Dann gibt es noch Astra, die Kraft des Seins. Und das Drachenfeuer. Darüber weiß ich aber nichts. Aber es soll noch mehr geben. Die Wächter verfügen über die Fähigkeit, Terra und Astra zu lenken. Die Götter können durch alle Welten reisen und Menschen oder andere Wesen zu Wächtern machen. Die Faarih stehen über den Göttern. Es sind uralte, mystische Wesen mit unvorstellbaren Kräften”

„Und dieser Typ war so einer?“

Lili nickte. „Ja. Aber sie hatten ihn verstoßen. Er war in diese Frau verliebt. So sehr, dass er ohne zu zögern alles tat was sie verlangte”

„Sie haben ihn verstoßen, weil er sich verliebt hat? Aber wie kann sich ein Gott in einen Menschen verlieben?“, fragte Haru skeptisch. „In allen Büchern, die ich gelesen habe, heißt es, Liebe ist etwas, das von Chemikalien im Gehirn verursacht wird” Maria lächelte etwas spöttig.

„Was liest du denn für Bücher? Jedes fühlende Wesen, egal ob Gott, Drache oder Mensch kann Liebe empfinden”, sagte sie etwas abfällig. „Die Faarih haben sehr strenge Regeln. Eine Beschwörung hat immer einen Preis, der unter allen Umständen getilgt werden muss. Ein Mensch wie Isabelle könnte selbst mit ihrem Leben die Beschwörung eines Faarih nicht begleichen. Dennoch beschwor sie ihn, weil sie genau wusste, dass Han alles für sie tun würde. Und genau das ist passiert: Er hat Shezzar getötet aber den Tribut nicht eingefordert. Deswegen wurde er von Ihnen verstoßen”

„Und was hat es mit diesem Stück Kreide auf sich?“ Maria kratzte sich an der Stirn.

„Soweit ich es verstanden hab, ist es so etwas wie eine Antenne. Er kann damit die Macht seiner Art beschwören und sich auch in seine urtümliche Gestalt verwandeln. Doch für jedes Mal, wenn er sie einsetzt, verliert er einen Teil seiner Erinnerungen. Außerdem wird seine Strafe verlängert, da er sich nicht an die Regeln seines Exils hält.

So ähnlich ist es auch, wenn ein Mensch einen Faarih beschwört. Er geht einen Vertrag mit ihnen ein. Sie werden ihre Macht einsetzen, um seinen Wunsch zu erfüllen. Solange ein Preis dafür gezahlt wird” Plötzlich funkte Lili dazwischen.

 „Wir müssen jetzt gehen. Ich weiß nicht, wann die das letzte Mal berichtet haben also kann es sein, dass hier gleich Soldaten auftauchen werden”, sagte sie unruhig. Haru war immer noch etwas geschwächt und Maria half ihm aus dem Bett.

Sie verließen das Gebäude und liefen in die Stadt. Es war seltsam zu sehen wie überall Frachtschiffe landeten und aus ihren Bäuchen viele Güter entladen wurden. Zögernd gingen sie zu einem der Schiffe und ließen sich etwas Neues zum Anziehen geben. Als sie wieder gehen wollten, wurden sie von einem Mann in einer seltsamen Uniform angesprochen.

Er fragte sie, ob er sie nach Hause bringen soll und als sie ablehnten, befahl er einem anderen, sie mitzunehmen. Zwei der Soldaten packten die Mädchen und nahmen ihre Schwerter. Ein weiterer packte die beiden anderen und schleifte sie in eines der Frachtschiffe. Sie wurden grob in eine dunkle Zelle geschmissen und eingesperrt. Was mit den Mädchen passierte, bekamen die beiden nicht mit. Sie spürten wie das Schiff abhob und davonflog. Es war ein langer Flug und der Boden war sehr hart.

Kapitel 17

Einsamkeit

Als Val wieder zu Bewusstsein kam, war er umgeben von vollkommener Dunkelheit. Es war als bestehe er nur noch aus seinen Gedanken, die frei in einem großen Nichts umherirren.

Eine beklemmende Einsamkeit durchzog ihn und er erinnerte sich langsam wieder an seinen Körper. Er fühlte allmählich wieder Gliedmaßen und einen Herzschlag. Er öffnete seine Augen, doch er sah nichts.

Dann erinnerte er sich an die Schwerkraft und dass er doch irgendwo stehen muss. Dann umschloss sie ihn und zog ihn langsam auf einen weichen Boden. Er begriff, dass seine Gedanken einen Einfluss auf diese Welt haben. Er stand auf und lief ziellos in der Dunkelheit umher. Doch wie sehr er sich auch darauf konzentrierte er war nicht in der Lage, seine Heimatwelt wiederherzustellen. Er fühlte sich nicht stark genug und hielt eine solche Aufgabe für schlichtweg unmöglich.

Erschöpft legte er sich wieder hin. In Gedanken resignierte er und machte seinen Frieden mit dem Gefühl das nichts schönes mehr in seinem Leben, sollte er überhaupt noch am Leben sein, passieren würde.

Lange lag er in der Finsternis und hörte sich selbst beim Atmen zu. Er konzentrierte sich auf seine schönen Erinnerungen mit Milena und stellte sich vor, wie er mit ihr auf einer Lichtung im Wald durch das Gras tobte und die warme, wohlriechende Waldluft über sein Gesicht streifte. Er ließ sich fallen und döste im Gras, während Milena neben ihm Blumen pflückte und eine wohlklingende Melodie summte.

Er konzentrierte sich so stark auf seine Erinnerungen, dass er das Gras und die warme Luft fühlen konnte. Er öffnete die Augen und sah einen blauen Himmel, kleine Quellwolken und Baumkronen. Er hob seine Arme und schaute sich seine Hände an. Beide waren da und voll funktionstüchtig. Er richtete sich auf und sah Milena vor sich im Gras. Sie schaute zu ihm und lächelte so süß, dass ihm eine Träne die Wange herablief. Ihm war klar, dass hier rein gar nichts real war. Milena schaute ihn sorgenvoll an.

„Was ist mit dir? Gefällt es dir hier nicht?“, frage sie bekümmert. Val wischte sich die Träne vom Gesicht und schüttelte den Kopf. Er streckte seinen Arm nach ihr aus und streichelte ihr über die Wange.

„Auch wenn es nur ein Traum ist. Von mir aus kann er ewig dauern” Er legte sich wieder ins Gras. Milena legte sich neben ihn.

„Ein Traum also. Heißt das, ich existiere gar nicht?“ Val überlegte kurz.

„Wahrscheinlich. Oder ich existiere nicht. Eins von beidem oder beides”

„Aber dennoch sind wir beide hier” Ein seichter, lauer Wind trug Milenas vertrauten, angenehmen Geruch zu ihm herüber.

„Wenn ich aufwache, bist du wieder weg” Seine Stimme klang ernst und verzweifelt. Milena legte ihren Kopf auf seine Brust.

„Wieso glaubst du, dass du schläfst?“

„Weil ich in der Realität sowohl dich als auch meine Hand verloren hab” Sie nahm seinen rechten Arm und legte seine Hand auf ihre Wange.

„Deine Hand ist hier und ich bin es auch”

„Ja, also muss das ein Traum sein”

„Weißt du” Sie hob ihre linke Hand und hielt sie mit dem Handrücken vor Vals Gesicht.

„Das hab ich seitdem du mich in der Stadt über den Haufen gerannt hast”

Val erkannte ein Symbol auf ihrem Handrücken. Er konnte es nicht deuten. Es war nicht die Drachensprache oder irgendetwas, das er kannte. Es war verzerrt und undeutlich. Der Ring aus Schriftzeichen darum, war noch schwerer zu erkennen. Val gab sich große Mühe, aber er konnte es nicht entziffern. Es war weder Terra noch Astra, Aeon oder Solaris.

„Seitdem ich es habe“, fuhr sie fort, „passieren Dinge zufällig immer so wie ich es will. Das erste Mal hab ich das gemerkt als mich der Soldat erschießen wollte. Aber da wusste ich noch nicht, wie es funktionierte”

„Was meinst du?“, fragte Val.

„Als wir in Celestis waren passierten ständig solche Sachen. Und letztens habe ich es bewusst ausprobiert”

„Was hast du denn gemacht?“

„Erinnerst du dich als eines der Schiffe, das Bellami angegriffen hat, einfach zerbrochen ist?“

„Ja, glaub schon”, erklärte Val, „Es wollte gerade seine Waffe auf ihn abfeuern. Dann ist es explodiert und hat sich aufgelöst. Du warst das?“ Milena nickte.

„Ja. Es ist zufällig ein Riss in der Brennkammer des Partikelbeschleunigers entstanden und die austretende Hitze hat ein Kabel angeschmort. Dadurch entstand ein Systemfehler der veranlasste, dass sich die Schotten für die Brennstoffzufuhr öffneten und der Schuss sozusagen nach hinten losging” Val dachte nach.

„Partikelbeschleuniger? Brennkammer? Systemfehler? Wieso kennst du dich so gut damit aus?“, fragte er skeptisch.

„Tue ich gar nicht. Ich hab aber genau gewusst, was passieren wird. Es ist mir auch egal. Du bist nicht hier, weil du träumst, sondern weil du hier bist und ich auch”

„Aber du bist doch von der Plattform gefallen”

„Ja, das ist wahr. Aber ich wollte dich nicht verlieren”, sie schniefte. „Ich wollte nicht mehr alleine sein. Ich sah diesen weißen Blitz und auf einmal war die ganze Welt verschwunden. Ich war mir sicher, dass ich tot war” Val richtete sich auf. Er packte ein Büschel Gras und riss es heraus.

„Es scheint alles so real. Hab ich das gemacht?“

„Nein, Dummkopf. Das war schon immer hier” Sie lachte verlegen. „Wieso glaubst du, du hättest das gemacht?“

„Na, ich war auch in der Dunkelheit. Und alles, was ich mir vorgestellt hab wurde real. Also hab ich mir das hier erschaffen, weil ich verzweifelt war. Aber es ist nicht echt, oder?“

Milena stand auf und lachte. Sie zog an Vals Hand und zerrte ihn hinter sich her. Etwa eine Stunde lang liefen sie durch den Wald, Hand in Hand. Trotz Milenas heiterer und fröhlicher Art, war Val immer noch betrübt. Er könnte jeden Moment aufwachen und wäre wieder allein in der Dunkelheit gefangen in seinen Gedanken. Sie erreichten einen Abhang, hinter dem eine endlos weite Talsohle klaffte. Ein Zaun versperrte ihnen den Weg.

„Wo sind wie hier?“, fragte Val fasziniert.

„Du kennst diesen Ort. Hier war einst Aletria”, antwortete Milena.

„Aber wieso ist hier alles schon so stark verwachsen? Das ist doch vor ein paar Stunden erst passiert” Milena schüttelte den Kopf.

„Es sind schon zwei Jahre vergangen” Erst jetzt fiel ihm auf, dass Milena sich verändert hat. Sie ist etwas größer und sieht mehr nach einer jungen Frau aus als nach einem Mädchen. Sie hatte zwar immer noch ihr rotes Kleid an, aber es sah aus als wäre es sehr oft umgearbeitet worden.

„Wieso zeigst du mir das?“, fragte Val wieder.

„Um dir zu beweisen das du nicht träumst”

„Es ist mir egal ob ich träume oder nicht. Du bist hier und ich auch” Milena schaute ihm tief in die Augen.

„Es ist dir nicht egal. Du glaubst es nicht und es macht dich traurig” Val lächelte und nahm sie in die Arme.

„Ich glaube dir, dass du echt bist. Alles andere ist mir egal”

„Komm mit mir”, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Ich kenne einen schönen Ort in Marista, den du noch nicht kennst und ich beweise dir, dass du diese Welt nicht erschaffen hast. Danach gehen wir wieder in meine kleine Hütte und ich mache dir wieder ein leckeres Gulasch” Val schaute ihr in die Augen.

„Aber das ist so weit weg. Wie kommen wir dahin?“ Milena schaute verstohlen in die Luft.

„Es gibt eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, dass wir einfach verschwinden und an dem Ort wieder auftauchen an den wir wollen”

„Was?“, fragte Val und nach einem Zwinkern stand er plötzlich zusammen mit ihr im Stadtzentrum von Marista. Die Stadt hat sich stark verändert. Alles ist viel sauberer und moderner. Die beiden befanden sich auf einem riesigen, gepflasterten Platz, der umgeben war von großen, prachtvollen Regierungsgebäuden. Vor ihnen war ein großer Brunnen, auf dem die Statue einer Frau stand, die Ajukis Beschreibungen der Generalin sehr nahe kam.

Es waren viele Leute auf dem Platz die sich einfach nur unterhielten und den Tag genossen. Keiner musste arbeiten. Milena erklärte Val, dass die Menschen auf der ganzen Welt von den Göttern versorgt werden. Dass es keine Kriege und keine Armut mehr gibt. Menschen arbeiten nur noch, um sich zu verwirklichen. Alle haben genug zu essen und Obdach. Val beeindruckte das sehr. Er dachte daran, dass es Momo und den anderen Kindern endlich besser geht und sie nicht mehr auf der Straße leben müssen.

„Meine Freunde”, sagte Val und schaute Milena erwartungsvoll in die Augen. „Weißt du, wo sie sind?“, fragte er voller Enthusiasmus. Milena schüttelte den Kopf. Val schaute auf seine Hände.

„Okay, dann suchen wir sie”, sagte er und streckte seinen Arm in die Luft. Milena riss ihn panisch wieder runter.

„Nein!“, sagte sie ängstlich. „Du darfst deine Kräfte nicht einsetzen” Val schaute sie verwundert an.

„Warum nicht?“, fragte er.

„Sie haben eine Technologie, um Menschen mit deinen Kräften aufzuspüren. Und wenn das passiert greifen sie uns an”

„Aber du hast deine Kräfte doch auch benutzt. Und es ist nichts passiert”

„Ich habe keine Kräfte wie du. Ich kann nur Ereignisse erzwingen, die auch so passieren können. Nur mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit. Ich weiß nicht, wie ich das mache, aber ich schaue einfach nur ins Universum und sehe, was alles passieren kann. Aber das ist nicht so einfach”

„Also können wir nichts tun, um die anderen zu finden?“ Milena zuckte mit den Schultern.

„Wo wart ihr denn früher?“

„In dem alten Waisenhaus, von dem ich dir erzählt hab. Aber das ist weit weg”

„Wir gehen dahin. Aber wie ganz normale Menschen, okay?“ Val nickte. Es gab unzählige öffentliche Verkehrsmittel, die jeder frei nutzen konnte. Die Menschen wirkten auch viel glücklicher und ausgelassener. Es war eine perfekte Welt.

Isabelle kümmerte sich hingebungsvoll um sie. Nach etwa zwanzig Minuten erreichten sie das Waisenhaus. Das Gebäude sah noch genauso aus wie früher. Doch niemand war zu sehen. Dahinter war eine Baustelle, wo gerade alles abgerissen wurde. Es arbeiteten dort fast nur selbstständige Maschinen. Davor stand ein Kerl mit einem Tablet-PC in der Hand, der ziemlich beschäftigt aussah. Val beschloss zu ihm zu gehen.

„Entschuldigen sie”, sagte er höflich.  Der Mann drehte sich zu ihm.

„Ja, bitte?“

„Können sie mir sagen, wo die Kinder sind, die hier früher gelebt haben?“, fragte Val.

„Kinder?“ Der Mann überlegte kurz, „Nein, weiß nicht. Ich habe nur den Auftrag das Gebiet hier in einen Park zu verwandeln. Aber wenn es Waisenkinder waren, sind sie bestimmt bei Pflegefamilien. Seitdem die Göttin hier ist, gibt es ein Gesetz, dass Waisenkinder in Familien integriert werden müssen” Val bedankte sich und ging wieder zu Milena.

„Der Mann sagte sie sind in Pflegefamilien”

Sie nickte. „Ja, das ging vor einem Jahr los. Da wurden alle Waisenkinder von den Straßen geholt. Es gibt auch nicht mehr so viele Menschen auf der Welt. Und nur noch drei große Städte: Babel, Marista und Anshino”

„Was machen wir jetzt?“, fragte Val.

„Hey!“ Rief der Mann von der Baustelle plötzlich und lief zu ihnen. „Ihr seht noch ziemlich jung aus. Wie alt seid ihr?“, fragte er.

„Siebzehn”, antwortete Milena.

„Tut mir leid, aber ich muss euch der Jugendschutzbehörde Melden. Keine Angst, sie bringen euch nach Hause” Val ballte seine Hand zur Faust. Milena griff nach seiner anderen Hand und schüttelte subtil mit dem Kopf. Nach wenigen Minuten kam ein Polizeifahrzeug und hielt vor ihnen. Ein Polizist stieg aus und ging zu dem Mann.

„Sind das die Beiden?“, fragte er. Der Mann nickte der Polizist und ging zu ihnen.

„Ihr seid nicht registriert. Laut Jugendschutzgesetz muss ich euch mitnehmen” Er drehte sich kurz um und nuschelte etwas in eine Art Funkgerät, das an seinem Kragen befestigt war. Dann drehte er sich wieder zu ihnen und zog Milena zu sich.

„Du kommst in das Mädchenwohnheim bis wir eine Pflegefamilie für dich gefunden haben” Val wurde immer wütender.

„Ihr werdet sie mir nicht schon wieder wegnehmen”, flüsterte er. Ein weiteres Polizeifahrzeug tauchte auf. Ein Polizist stieg aus und packte Val am Handgelenk.

„Ich bringe ihn ins Jungenwohnheim, wie befohlen”, sagte er knapp. Milena sah Val besorgt an. Seine Iris färbte sich langsam grün. Milena schüttelte den Kopf.

„Tu es nicht“, flüsterte sie. Doch sie wünschte sich, dass er es tut. Der Polizist drückte Milenas Kopf nach unten und wollte sie gerade in das Fahrzeug schubsen, da ertönte ein Alarm.

Gefährliche Strahlung entdeckt! Dröhnte es aus dem Fahrzeug. Milena hob ihren Kopf und sah Val mit seinem riesigen Schwert, wie er gerade den Polizisten in zwei Hälften teilte. Die Tonnenschwere Klinge schlug auf dem Boden auf und zerbrach in tausende messerscharfe Splitter, die wie ferngesteuert auf den anderen Polizisten zuflogen und ihn zerfetzten. Milena lief zu Val.

Drei große, schwebende Kampfschiffe tauchten vor ihnen auf. Eines feuerte einen Flugkörper ab, der über den beiden zerplatzte und eine grün leuchtende Flüssigkeit regnete auf sie ab. Vals Schwert zerfiel zu Staub und er konnte sich nicht mehr bewegen. Milena machte es nichts, doch Val schien wie paralysiert zu sein. Die Schiffe landeten und öffneten ihre Ladeluken. Achtzehn bewaffnete Soldaten stürmten heraus und liefen auf die beiden zu. Milena nahm Val in den Arm, schloss ihre Augen und konzentrierte sich. Plötzlich stolperte einer der Soldaten und es löste sich ein Schuss aus seiner Waffe.

Der Energiestrahl durchschlug das Cockpit des mittleren Kampfschiffes und tötete den Schützen. Seine Leiche fiel auf das Steuergerät des Bordgeschützes und feuerte eine Salve ab, die vier Soldaten tötete.

Einer von ihnen verlor eine Granate, die zu dem mittleren Kampfschiff rollte und durch einen Verarbeitungsfehler im Material ungewollt detonierte. Es war aber keine gewöhnliche Granate, sondern eine elektronische Impulsgranate. Sie detonierte direkt unter dem rechten Triebwerk des Schiffes und aktivierte es dadurch.

Die rechte Seites hob ab und das ganze Schiff rollte nach links über. Der Pilot des linken Schiffes geriet in Panik und versuchte an Höhe zu gewinnen. Während er abhob, riss es das Triebwerk des mittleren Schiffes aus seiner Verankerung, machte sich selbständig und flog direkt in das linke Schiff.

Dieses Trudelte nun über das rechte und bevor es abstürzte, lösten sich zwei Flugkörper aus der Halterung und fielen herab. Noch während sie fielen, wurden sie durch einen elektronischen Fehler, der von der Störgranate ausgelöst wurde, scharf gemacht und detonierten etwa einen Meter über dem rechten Schiff.

Das trudelnde Schiff wurde von der Druckwelle nach oben gerissen, stürzte etwa zweihundert Meter weiter ab und zerschellte auf dem Boden. Das rechte Schiff wurde in der Mitte zerrissen; das Cockpit flog als Trümmerteil nach vorn und tötete weitere fünf Soldaten. Zwei Flugkörper des rechten Schiffes lösten sich ebenfalls aus der Halterung. Bei einem zündete der Antrieb und er flog auf das mittlere Schiff zu, das auf dem Rücken lag.

Die Rakete schlug in das noch immer scharfe Bordgeschütz aber ohne zu detonieren. Dadurch fing das Geschütz wieder an zu feuern und tötete nochmal fünf Soldaten. Während es feuerte drehte sich das Geschütz nach rechts, ein Querschläger traf den Zünder des zweiten Flugkörpers und brachte ihn zur Detonation. Dieser lag sehr nah am Reaktor des rechten Schiffes und beschädigte ihn so stark, dass ein Riss in dessen Außenhaut das Energiereiche Kondensat mit hohem Druck ausströmen ließ.

Dieses wurde durch den Sauerstoff in der Luft verunreinigt, entzündete sich und explodierte. Messerscharfe Trümmer regneten herab und töteten drei weitere Soldaten. Sie verfehlten Val und Milena nur um wenige Millimeter.

Ein Soldat wurde direkt enthauptet, einer vom Fahrwerk erschlagen und dem dritten schlug ein keilförmiges Stück von einem Metallträger in den Rücken. Der einzige überlebende war der Soldat, der am Anfang gestolpert war.

Er stand auf, sah um sich herum die entstellten und zerstückelten Körper seiner Kameraden. Es war ein Schlachtfeld von brennenden Fracks, zerfledderten Leichen und stinkenden Rauchwolken.

Er drehte sich um, lief weg und stolperte wieder. Er fiel mit dem Gesicht in die Mündung seiner Waffe, löste einen Schuss und richtete sich selbst hin. Val schaute auf und sah das Chaos vor sich. Dann sah er zu Milena, die ihn fest in den Armen hielt.

„Es ist vorbei”, flüsterte er. „Alle sind tot” Milena hob ihren Kopf, stand auf und schaute sich um. „Wir sind hier nicht willkommen”, sagte sie. Val nickte.

Ein Augenzwinkern später standen sie wieder vor dem Krater, der vorher Aletria war. Diesmal standen sie auf der anderen Seite des Zauns und sie stiegen den Abhang hinab. Alles war schon mit einem dichten Laubwald bewachsen. Sie liefen etwa fünf Stunden in Richtung Zentrum. Dort schwebte ein Kleinbus großer, blauer Kristall, etwa zwanzig Meter über dem Boden. Er war wie verzerrt und verschwand hin und wieder.

„Wie ist das möglich, dass die Bäume schon so groß sind?“, fragte Val, „Es sind doch erst zwei Jahre vergangen”

„Das liegt irgendwie an diesem Ding. Es strahlt eine Energie aus”, sagte Milena und zeigte mit dem Finger auf den Kristall. „Kannst du mich irgendwie da hochbringen?“ Val überlegte kurz. Er ließ sein Schwert erscheinen und es flach über dem Boden schweben. Milena stieg auf die Klinge und es schwebte langsam mit ihr nach oben. Sie streckte ihre Hand nach dem Kristall aus und für einen kurzen Moment konnte sie ihn berühren. Sie schaute ihn fasziniert an und schwebte wieder zu Val herab.

„Und, was ist es?“, fragte er aufgeregt.

„Es ist ein Datenspeicher”, antwortete sie, „Alles ist gespeichert. Ganz Aletria befindet sich da drin” Fasziniert schaute Val auf.

„Und wo gehen wir jetzt hin?“, fragte er. Milena schaute sich um. Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl, dass sich irgendetwas anbahnte.

„Da lang!“, sagte sie und streckte den Arm aus. Val sah, dass sie mit dem Arm auf das westliche Ende des Kraters zeigte.

„Aber das ist so weit weg”, sagte er mürrisch.

„Da hast du recht”, sagte Milena, „Es wird bald dunkel. Vielleicht sollten wir die Nacht über hierbleiben und uns ein wenig ausruhen. Und morgen gehen wir zum anderen Ende des Kraters”

Val stimmte zu und die Beiden setzten sich an den Baum unter dem leuchtenden Kristall. Bald wurde es dunkel und ein wunderschönes, weiches, farbenfrohes Licht ging von den Pflanzen aus. Das blaue schimmern des Kristalls trug ein Übriges zur dieser atemberaubenden Atmosphäre bei. Val breitete seine weiße Jacke auf dem Boden aus und die beiden legten sich nebeneinander darauf.

Es war sehr mild, aber nicht zu warm. Die Luft roch sehr angenehm nach Wald und Wiese. Milena legte ihren Arm um Val und kuschelte sich an ihn. Val küsste sie sanft auf die Stirn, dann hob sie ihren Kopf und küsste ihn auf den Mund. Beide schlangen die Arme umeinander und küssten sich leidenschaftlich.

Kapitel 18

Der Richter

In dem Moment, in dem Milena den Kristall berührte, wachte Bellami auf. Er lag im Bett eines Kinderzimmers, dass ihm sehr bekannt war. Er stand auf, ging zur Tür und legte seine Hand auf die Klinke.

„Wo willst du hin?“, fragte eine vertraute Stimme. Bellami drehte sich um und bemerkte Keara, von der man nichts weiter sah außer ihrer weißen, leuchtenden Augen unter der Kapuze eines dicken Mantels, der ihren schmalen Körper vollständig verhüllte.

„Wieso bin ich hier?“, fragte er zornig.

„Weil ich dich aus dem Verkehr gezogen hab. Es war ein Fehler, dich zum Wächter zu machen. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass der Drache dich tötet”

„So? Und wieso kommst du erst jetzt auf die Idee?“ Bellami zerrte wie verrückt an der Klinke.

„Niemand legt sich mit einem Drachen an. Selbst die Faarih haben das eingesehen. Aber jetzt hat er dich verlassen und ich kann mit dir machen was ich will”, sagte sie und lachte. Bellami richtete seinen linken Arm auf sie. Doch das Symbol war nicht mehr da. Wieder lachte Keara.

„Du hast deine Kräfte nicht mehr. Und selbst wenn, könntest du mir nichts anhaben” Bellami grinste.

„Das ein Wesen deiner Art nur so unglaublich dumm sein kann”, sagte er böse. Keara streifte den Mantel ab. Unter ihm kam eine dünne, zerbrechlich aussehende Frau mit enganliegenden, mittelalterlichen, schwarzem Kleid zum Vorschein. Ihr Gesicht war eingefallen und zum Kinn hin spitz. Ihre Nase war kurz und sehr dünn. Sie ging zu ihm und packte ihn mit ihren knorrigen Fingern am Hals.

„Du kleines, arrogantes Arschloch”, fauchte sie, „Der Drache wird dich nicht mehr beschützen und dennoch besitzt du die Frechheit, so mit mir zu reden” Bellami blickte ihr tief in die Augen und grinste.

„Der Drache hat mich nie beschützt. Das war gar nicht nötig” Keara drückte seine Kehle immer fester zu.

„Ich werde dich zurück auf die Erde verbannen. Im Zentrum derer, die dich am meisten hassen. Du wirst weiterhin unsterblich bleiben, sodass sie dich für alle Zeiten quälen können” Sie hob ihn hoch und warf ihn unsanft gegen die Bettkannte. Bellami streichelte über seinen schmerzenden Hinterkopf.

„Darf ich dir noch eine Frage stellen, bevor ich gehe?“ Wütend schaute sie ihm ins Gesicht.

„Was?“, fauchte sie wieder.

„Wieso hasst du mich so sehr?“ Sie ging zu ihm und drückte ihren sehnigen Zeigefinger auf seine Brust.

„Du hast es”, sagte sie wütend. „Die Drachen freunden sich niemals mit Wesen an, die ihrer nicht würdig sind. Nicht mal mit uns Nyx. Selbst die Faarih können sich nur selten mit den Drachen anfreunden. Und du kleiner Mistkerl bekommst alles von ihm. Ich habe es geschafft, ihn von dir wegzulocken und jetzt herrscht endlich wieder Gleichgewicht”

„Das ist alles?“, fragte er außerordentlich herablassend. „Du bist einfach nur eifersüchtig?“

„Du hast auch noch unzählige Menschenleben auf dem Gewissen. Deine Machtgier ist schlimmer als ihre und du bist von Grund auf böse” Bellami lachte.

„Du warst auch mal ein Mensch, hab ich recht? Wie könntest du sonst so dumm sein” Keara fing an lauter zu lachen. Sie bleckte ihre gelben Zähne und ihre Augen glühten weiß. Ein heller, blauer Blitz erleuchtete das Stadtzentrum Maristas. Überall in den Kontrollstationen gingen Alarme an. Isabelle saß in einem großen Wintergarten an ihrem Schreibtisch. Ein Offizier näherte sich ihr.

„Meine Göttin”, sagte er untertänig.

„Ich will nicht gestört werden!“, antwortete sie genervt.

„Meine Göttin. Es ist ein Notfall. Wir haben zwei Impulse aufgezeichnet. Einen gestern Nachmittag im Stadtteil Noma und einen zweiten vor fünf Minuten direkt hier im Regierungsviertel” Isabelle stand auf.

„Was für eine Farbe?“

„Der erste war grün, der zweite blau, meine Göttin”

„Wie stark sind sie?“

„Nicht sonderlich. Sie sind auch schon wieder verstummt. Aber sie wollten über jede Aktivität Meldung haben, meine Göttin. Leider konnte ich sie gestern nicht Auffinden. Deswegen habe ich eigenmächtig einen Säuberungstrupp losgeschickt. Der wurde aber vollständig zerstört”

„Wie kann das passieren?“, schrie Isabelle wütend. „Wir haben genug Gegenmaßnahmen, um die Kräfte dieser Wahnsinnigen zu neutralisieren”

„Ja, das hat laut den Aufzeichnungen auch wunderbar funktioniert. Dennoch”, der Offizier geriet ins Stocken und rieb sich nervös die Hände.

„Dennoch was?“, schrie Isabell wieder.

„Es passierten sehr merkwürdige Dinge, die hätten niemals so passieren können”

„Was willst du mir damit sagen?“ Der Offizier machte ein paar Gesten vor einem Holographischen Bild. Daraufhin wurde die Szene abgespielt.

„Bitte sehen sie es sich selbst an” Sie sahen Val und Milena, zusammengekauert auf dem Boden. Um sie herum spielte sich dieses unglaubliche Geschehen ab. Isabelle setzte sich wieder und stieß einen langen Seufzer aus.

„Untersucht die Anomalie im Zentrum und macht Satellitenbilder vom Krater. Bringt alle Schiffe der Alpha-Flotte in Sprung-Reichweite”

„Zu Befehl, meine Göttin”, sagte der Offizier und verließ den Raum.

Nur in einem Kinder-Schlafanzug bekleidet, lag Bellami nun vor dem großen Stadtbrunnen im Zentrum Maristas. Einer der Leute ging zu ihm und half ihm auf.

„Alles okay, kleiner?“, fragte er besorgt. Bellami schaute ihm schweigend ins Gesicht.

„Wo sind deine Eltern?“, fragte der Mann wieder. Bellami antwortete wieder nicht.

„Verschwindet ihr Monster!“ Schmettere eine schrille Mädchenstimme über den Platz. Sie rannte zu Bellami und trat dem Mann in die Lenden. Mit schmerz verzogenem Gesicht entfernte er sich von ihnen und rief nach der Polizei. Das Mädchen wollte Bellami wegzerren, doch er blieb wie angewachsen auf seinem Platz.

„Kumiko?“, fragte er. Er erkannte ihr Gesicht, aber es hat sich ebenfalls verändert. Das Mädchen drehte sich zu ihm und lächelte.

„Du erinnerst dich an mich?“ Bellami lächelte freundlich.

„Ja, aber du siehst anders aus. Was ist denn los?“ Kumiko sah sich nervös um. Nicht weit von ihnen näherte sich ein Trupp aus fünf leicht bewaffneten Soldaten und zwei Typen mit seltsamen Messgeräten.

„Da kommen sie”, murmelte Kumi. „Wir müssen hier weg, bitte” Bellami streckte ihnen seinen Arm entgegen. Doch nichts passierte. Er schaute seine Hand an. Das Symbol war weg.

„Sie hat also nicht gelogen”, flüsterte er. „Kumiko” Sagte er plötzlich laut und schaute ihr tief in die Augen.

„Ja?“, fragte sie erwartungsvoll.

„Hast du noch deinen Armreif?“, fragte Bellami gelassen. Der Mann, der Bellami vorher helfen wollte ging zu den Soldaten und zeigte mit dem Finger auf die Beiden.

„Ja, hab ich, aber…“

„Bitte ruf mir die Adrastea”

„Was? Ich … weiß nicht, wie”, fragte sie nervös.

„Oh. Das weißt du nicht? Dann bitte fordere ein Transport nach Aletria an, ja?“ Kumi schüttelte den Kopf.

„Aletria existiert nicht mehr” Sie war viel zu aufgeregt, um irgendwie klar denken zu können. Die Soldaten standen nun direkt vor ihnen. Einer der anderen Typen richtete das Messgerät auf ihn.

„Da ist der Ursprung der Anomalie”, sagte er.

„Kumi”, sagte Bellami sehr gelassen und versuchte sie so ein bisschen zu beruhigen. Die Soldaten richteten die Waffen auf die Beiden. „Würdest du mir den Armreif bitte geben?“ Kumi nahm den Armreif ab und reichte ihn zu Bellami rüber.

Doch einer der Soldaten erkannte was es ist und riss ihn aus Ihrer Hand, noch bevor Bellami ihn greifen konnte. Zwei andere Soldaten legten ihnen Handschellen an. Ein großes Fahrzeug kam auf den Platz gefahren und es öffnete eine große Klappe am hinteren Teil. Die Beiden wurden grob in das Fahrzeug gestoßen und die Klappe schloss sich wieder. Es war stockfinster und sie spürten wie sich das Fahrzeug bewegte. Man fühlte schmerzlich jede Unebenheit der Straße auf dem harten Metallboden. Wieder erschienen die zwei leuchtenden, weißen Augen.

„Jetzt hast du nicht mehr so die große Fresse. Du weißt, dass sie dich nun an einen Ort bringen, wo du den Rest deiner Existenz gefoltert wirst. Und da du nicht sterben kannst, können sie mit dir machen was sie wollen. Zu allem Übel darfst du dich auch noch mit der Gewissheit rumärgern, dass deiner kleinen Freundin hier genau das Gleiche passieren wird, obwohl sie vollkommen unschuldig ist” Es war wirklich stockfinster und dennoch wusste Keara das Bellami noch immer arrogant grinste.

„Wer ist das?“, fragte Kumi entsetzt.

„Mach dir keine Sorgen. Sie ist viel zu dumm, um zu wissen, was hier gerade passiert”, sagte Bellami extrem trocken. Wieder lachte Keara.

„Du denkst immer noch, du könntest hier irgendwas retten”, sagte Keara abwertend.

„Der Beweis für deine Dummheit ist, dass du glaubst, ich würde nach zweihundert Jahren mit einem Drachen als meinem besten Freund, noch immer auf diese lächerlichen Wächter-Kräfte angewiesen sein”, sagte er und nahm Kumis Hand.

„Haha!“, lachte Keara, „Dein bester Freund hat dich verlassen, weil er sich in einen Menschen verliebt hat. Du bedeutest ihm gar nichts. Er hat nach deinem Verschwinden, vor tausend Jahren, nicht einmal nach dir gesucht”

Kumis Handschellen fielen plötzlich ab. Das Fahrzeug blieb stehen und öffnete die Klappe. Bellamis Handschellen fielen ebenfalls ab und er verließ mit Kumi das Fahrzeug. Nirgendwo waren aggressive Polizisten oder Soldaten zu sehen. Sie waren vollkommen allein auf einer Lichtung, nahe dem Krater von Aletria.

„Du hast komplett versagt, Keara”, sagte Bellami hochnäsig, „Dein Plan, mich loszuwerden, ist gescheitert” Keara lachte laut und erschien vor ihm wieder in einer festen Gestalt. Sie packte Bellami im Genick und drückte ihn auf den Boden.

„Ich kann dich fertig machen, so oft und so hart ich will”, sagte sie laut und aggressiv. „Du kannst mir gar nichts, du elende, kleine Made. Ich kann deine Existenz hier und jetzt auslöschen, wie es mir beliebt” Kumi schlug verzweifelt auf Keara ein und brüllte sie an. Doch es war zwecklos. Keara schaute kurz zu ihr und Kumi wurde von einer Druckwelle weggeschleudert. Sie knallte mit dem Kopf gegen einen Baum und wurde bewusstlos. Keara drückte Bellamis Gesicht immer fester auf den Boden.

„Ich lasse dich verschwinden”, flüsterte sie ihm ins Ohr, „Du wirst nicht einmal im Astra weiter existieren können. Alle Erinnerungen an dich werden ebenfalls verschwinden” Mit letzter Kraft kämpfte er gegen Keara an und hob seinen Kopf ein Stück. Er sah Kumi, die bewusstlos am Waldrand lag und den riesigen Krater, in dem sich einst sein Königreich befand.

„Weißt du“, stammelte Bellami kraftlos, „egal wie erbärmlich ich im Moment auch sein mag”, er holte tief Luft, „du bist noch viel erbärmlicher” Keara wurde nur noch wütender und ein weißes Licht drang unter ihrer Hand hervor.

„Ich hab endgültig die Schnauze voll von dir”, brüllte sie ihn an, „Stirb endlich!“

Doch plötzlich war sie wie eingefroren. Sie ließ mit zittrigen Händen von Bellami ab und stand langsam auf. Ihr Blick versteinerte, als sie der riesigen Kreatur, die auf einmal vor ihr stand, ins Antlitz schaute.

Noch nie hatte sie einen Drachen in seiner vollen Pracht gesehen. Seine pechschwarze Haut war überzogen von eckigen Linien, die rot leuchtend pulsierten. Es war gleichermaßen faszinierend wie beängstigend für sie.

Bellami stand auf und klopfte sich den Dreck von den Sachen. Keara versuchte zu fliehen, doch scheiterte in einem Gewirr aus roten Energiefäden, die ihr die Flucht in eine andere Dimension versagten.

Val und Milena näherten sich dem Ort und sahen schon von weiten die riesigen Schwingen des Drachens, die über den ganzen Wald ragten, wie ein Segel über ein Schiff.

Sie waren noch fast einen Kilometer von ihm entfernt und dennoch spürten sie bereits die unglaublich intensive Energie, die von dem Drachen ausging. Er war nicht nur physisch unsagbar groß, auch mental hatte er eine erdrückende, selbst einen Gott niederschmetternde Größe. Es fühlte sich an als würde man im Geiste von dem Gewicht eines ganzen Berges auf die Knie gezwungen. Totale Machtlosigkeit und eine überfordernde Präsenz aber auch ein überwältigendes Gefühl von Göttlichkeit durchströmte alle Kreaturen in der Nähe. Seine Schwingen warfen einen riesigen Schatten auf das ganze Gebiet als er sie flach absenkte.

Als Val und Milena die Stelle erreichten, sahen sie Kumi bewusstlos am Baum Liegen. Milena nahm sie auf den Arm und hob sie hoch. Sie spürte das klebrige, halb geronnene, Blut in ihrem Genick, doch die Wunde war bereits wieder verheilt.

Val ging zu Bellami und Milena folgte ihm. Bellami sah sie, lächelte und winkte ihnen zu. Der Drache drehte interessiert seinen riesigen Kopf zu ihnen. Seine Augen, die so groß waren wie Parabolantennen von Radioteleskopen, blickten sie so durchdringend an, dass sie sich vollkommen nackt vorkamen. Seine Pupillen waren kreuzförmig und seine Iris leuchtete in einem wunderschönen, purpurnen Rot. Um seine Iris herum leuchteten Schriften in der Sprache der Drachen, die seine Königlichkeit wiedergaben und seine Millionen Jahre alte Geschichte erzählte. So hatten sie Zeraph noch nie gesehen.

„Keine Angst, kommt ruhig her!“, rief Bellami heiter, „Es ist immer noch nur Zeraph”

Sie gingen zu ihm und Milena legte Kumi sanft vor Bellami auf den Boden. Bellami kniete sich zu ihr herab, nahm ihre Hand und streichelte sanft über ihre Stirn. Sie kam langsam wieder zu Bewusstsein und fiel Bellami sofort um den Hals.

„Bitte verlass mich nicht“, wimmerte sie und krallte sich immer fester an ihn, „Ich hab niemanden mehr. Bitte lasst mich nicht mehr allein” Bellami lächelte und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Okay, ich verspreche es”, sagte er und half ihr aufzustehen. Val sah rüber zu Keara, die auf dem Boden kniete und ihren Blick nicht von dem Drachen lösen konnte.

„Wer ist das?“, fragte er und musterte sie.

„Das“, Bellami verschränkte die Arme vor der Brust, „ist die amtierende Herrscherin dieses Universums. Naja“, er räusperte sich, „war

„Bitte töte mich nicht”, flehte Keara. Bellami ignorierte sie und schaute zu dem Fahrzeug, mit dem sie hergekommen sind. Er winkte mit seinem Arm und kurz darauf öffnete sich die Fahrertür. Ein Soldat stieg aus und reichte Bellami den Armreif, den er ihm vorher weggenommen hatte. Dann ging er wieder zum Fahrzeug und fuhr davon. Kumi schaute Bellami ungläubig an.

„Wie hast du das gemacht?“, fragte sie und schaute dem Fahrzeug hinterher, „Hast du deine Kräfte eingesetzt und seinen Verstand manipuliert?“ Bellami schüttelte den Kopf.

„Ich hab keine Kräfte mehr. Sie“, er zeigte mit dem Finger auf Keara, „hat sie mir genommen”

„Und jetzt willst du sie dir wieder zurückholen, oder?“

„Nein“, sagte Bellami und zerbrach den Armreif, „Ich brauche sie nicht mehr. Eigentlich hatte ich schon von Anfang an bereut, mich darauf eingelassen zu haben. Doch sie erwiesen sich als unglaublich praktisch für den Bau Aletrias. Man konnte die Materialien, die man brauchte, einfach so erschaffen. Man muss nur die Anordnung der Atome ändern und schon hat man ein neues Material, dass es auf der Erde gar nicht geben kann”

Ein paar Tropfen einer schwarzen, schleimigen Flüssigkeit tropften auf seine Hand. Sie wurden nach wenigen Sekunden von seiner Haut absorbiert und Bellami warf den kaputten Armreif weg.

„Ich hab anfangs darüber nachgedacht, Zeraph darum zu bitten, den Schwur mithilfe des Drachenfeuers wieder zu entfernen. Diese Kräfte bedeuten nichts Gutes”, sagte Bellami mit ernsterer Stimme. „Sie können deinen Verstand korrumpieren und dich zu einem Arschloch machen” Er schaute urteilend zu Val. Dann lächelte er wieder. Auf seiner Handfläche erschienen plötzlich Schriftzeichen der Drachensprache.

„Pira“, flüsterte Bellami, während er auf seine Hand starrte, „Orh, Deh”

„Was tut er da?“, fragte Milena vorsichtig.

„Das sind Zahlen”, sagte Val, „Nur in der Sprache der Drachen. Aber ich kann es dir nicht erklären”

„Wieso nicht, wenn es nur Zahlen sind?“, fragte Milena wieder. Bellami drehte seinen Kopf zu ihnen.

„Er kann es nicht erklären, weil es diese Zahlen bei den Menschen nicht gibt”, er hob seine Hand. „Die ganze Mathematik der Menschen ist total überholt. Sie mag für die einfachen Dinge, wie ihre Waffen und Maschinen funktionieren. Sie funktioniert sogar um damit zu Arbeiten. Aber um das Universum zu verstehen oder gar andere Dimensionen, Multiversen und Phasenraumverdrängung, ist diese Logik viel zu unterentwickelt. Mit der Sprache der Drachen kann man sich das Universum gefügig machen. Die Nyx tun nichts weiter als uns ein Stigma dieser Sprache aufzuerlegen und uns damit zu ihren Sklaven zu machen”

Ein lautes Donnern, als wäre gerade ein starker Blitz in der Nähe eingeschlagen, grollte und eine leichte Druckwelle streifte über ihre Köpfe. Dann schoss die Adrastea vom Himmel und landete elegant vor ihnen.

„Wie machst du das alles, ohne deine Kräfte?“, fragte Kumi. Bellami schaute zu Zeraph. Dann schaute er zu Kumi.

„Alles ist Magie, wenn man nicht genau weiß, wie es funktioniert”, er lachte und schaute wieder auf seinen Arm, über dem ein Hologramm erschien.

Es war ein seltsames Gebilde, was im Groben aussah wie zwei Räder, die hintereinander auf einer Achse montiert worden. Er lächelte kurz, dann verschwand es wieder. „Ich wollte nicht mehr auf den Armreif angewiesen sein, deswegen hab ich diese winzig kleinen Maschinen entwickelt, die sich jetzt in meinem Körper befinden”

Bellami ging zu Keara und setzte sich neben sie.

„Ich danke dir für all das”, sagte er freundlich. „Du wolltest mich zwar in erster Linie umbringen, weil du nicht damit gerechnet hast, dass ich mich mit dem Drachen anfreunde”, er machte eine Pause und sah sie neckisch an. „Aber am Ende ist das alles ziemlich gut gelaufen, für mich“, er starrte in den Himmel, „denke ich”

„Willst du dich an mir rächen?“, fragte Keara wütend.

„Nein, nein. Keine Angst”, sagte Bellami und kratzte sich am Kopf. „Wobei ich das eigentlich nicht entscheide, sondern Zeraph” Keara schaute wieder entsetzt zu dem Drachen. Plötzlich stand Zeraph in seiner Menschenform vor ihr und schaute nicht sonderlich wohlwollend auf sie herab. Es war das erste Mal, das man den Drachen und Zeraph gleichzeitig sah.

„Von deiner Sorte habe ich schon unzählige getötet”, sagte er mit einer niederschmetternden Boshaftigkeit, „Wieso sollte ich bei dir eine Ausnahme machen?“ Keara spürte das Drachenfeuer.

„Du bist noch sehr jung”, sagte Zeraph etwas weniger bedrohlich, „Du hast vorher als Mensch gelebt” Keara schaute demütig zu ihm auf. Zeraph schaute zu Bellami, der gerade sehr beschäftigt mit irgendwas war. Dann schaute er wieder zu Keara.

„Wo ist er? Wenn du ihn getötet hast, werde ich dich auslöschen”, sagte Zeraph wütend. Keara wurde wieder mutig, da sie scheinbar etwas hatte, was der Drache will und dadurch wieder ein bisschen Kontrolle zurückgewann.

„Das sage ich dir, im Austausch gegen ihn”, antwortete Keara frech und schaute zu Bellami, „Er ist nur ein machthungriger Massenmörder, der dich die ganze Zeit manipuliert” Bellami schaute kurz zu ihnen, zuckte mit den Schultern und lachte. Dann ging er wieder zu Val und Milena. Zeraph beugte sich zu ihr herab und schaute ihr tief in die Augen.

Ris“, sagte er und die Melodie dieses kleinen Wortes schwang in einer faszinierenden Klangart sehr lange durch den Raum.

Zeraph verschwand und der Drache streckte seinen Kopf in die Höhe. Die roten Fäden um Keara schlangen sich enger und sie verzog gequält ihr Gesicht. Hinter ihrem Rücken hielt sie ein winzig kleines Stück Kreide und kritzelte ein merkwürdiges Symbol auf das untere Ende ihres schwarzen Kleids.

 

Zur selben Zeit in Marista …

 

Diesmal stand Isabelle höchst persönlich im Kontrollraum als die gemessenen Werte alle Skalen brachen.

„Meine Göttin!“, meldete ein Offizier.

„Ich sehe es, der Drache ist wieder da”, antwortete Isabelle genervt.

„Das ist es nicht“, stotterte der Offizier, „Es ist eine neue Signatur. Die habe ich noch nie gesehen” Isabelle ging zu ihm und schaute auf den Monitor. Fraya betrat ebenfalls den Raum. Als sie sah, was die Scanner anzeigten, durchströmte sie ein seltsames Gefühl der Freude.

Isabell drehte sich zu ihr um und sah, wie ihre Organgenen Augen freudig funkelten. Dann stürmte sie heraus.

Der Drache senkte seinen Kopf wieder zu Keara, mit einer Brunst aus roten Flammen in seinem Maul. Er war kurz davor sie über sie zu ergießen, da schlug ein goldenes Licht in der Nähe ein und aus ihm erhob sich eine Hochhausgroße, teils mechanisch, teils organische Gestalt und richtete eine Arm-ähnliche Gliedmaße, die eine Waffe zu sein schien, auf den Drachen.

Sie sah aus wie ein Riese, in einer viel zu großen, vergoldeten Ritterrüstung. Mit viel Fantasie erkennt man eine Art Kopf aus Metall, der einem Helm ähnlich war. Bestückt mit mehreren Edelsteinen, die in verschieden Farben leuchteten. Eine Schockwelle schoss aus seinem Arm, traf Zeraph am Kopf und schlug ihn so nach hinten.

„Du wirst sie nicht töten!“, donnerte die Kreatur so laut, dass der Boden vibrierte. Fast unbeeindruckt dafür umso wütender warf Zeraph seinen Kopf wieder nach vorne und musterte die Kreatur mit seinen riesigen Augen. Bellamis Sorglosigkeit war wie weggefegt.

„Sofort in das Schiff, los!“, schrie er nervös und alle rannten zur Adrastea. Bellami zerrte Kumi an der Hand hinter sich her, Val und Milena folgten ihnen und das Schiff startete kurz nachdem sie es betraten. Es flog zum Zentrum des Kraters und sammelte den blauen Kristall ein. Dann umkreiste es den Drachen und die andere, riesige Kreatur in großer Höhe.

„Was ist das?“, fragte Kumi angespannt.

„Ich weiß es nicht genau“, antwortete Bellami, „Aber ich glaube, es ist ein Faarih” Der Drache senkte seinen Kopf und blutrote Flammen loderten aus seinem Maul.

„Ich kenne diesen Geruch”, brüllte Zeraph und der Boden vibrierte gleichermaßen, „Nicht einmal Oscha, der unter deinesgleichen als Drachentöter bekannt ist, konnte mir etwas anhaben”

„Ich bin nicht hier, um dich zu töten”, donnerte die Kreatur wieder, „Aber ich werde es, wenn du sie nicht gehen lässt”

„Ayum-Efnagaar Denyiar, oder soll ich dich lieber Alexander nennen, so wie dein Mythos dich in dieser Welt besingt?“, brüllte der Drache und näherte sich der Kreatur.

„Der einst so stolze Richter und Deus Ex Machina, verstoßen von seiner Art, weil er sich in einen Menschen verliebt hat” Die Kreatur packte Zeraphs Kopf und schlug ihn auf den Boden.

„Du verdammter Drache!“, donnerte Alexander wütend. „Sie hat mich beschworen also werde allein ich über ihr Schicksal bestimmen. Und ich sage, dass sie nicht schuldig ist. Du kannst dieses Urteil nicht anfechten” Zeraph hob seinen Kopf wieder und lachte so laut, dass die Erde bebte.

Er biss in Alexanders Arm und riss ihn mit einem kräftigen Hieb heraus. Dann breitete er seine Schwingen so weit aus, dass es den Himmel verdunkelte. Über seinen ganzen Körper pulsierten rotglühende Äderchen und ein riesiger Kreis mit Symbolen der Drachensprache erschien unter Alexander.

Genau wie bei Keara umschlang ihn ein Gewirr aus roten Fäden, die seine Bewegungen einschränkten. Kumi krallte sich an Bellamis Hüfte fest und kniff die Augen zu.

„Bitte beschütze den Drachen, Bellami”, wimmerte sie. „Sonst kommt meine Schwester nie wieder zurück“

„Ajuki ist verschwunden?“ In dem Moment wurde ihm alles klar. „Endlich verstehe ich es” Aber ich kann es ihr unmöglich sagen. Dachte er noch.

„Was verstehst du?“, fragte Milena. Bellami schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Zeraph wusste es die ganze Zeit”, flüsterte er. „Aber wieso hat er nichts gesagt? War es ihm egal? Das Symbol!“, stieß er laut auf.

„Ja, Han hat auch so eins wie wir”, sagte Val.

„Nein, das stimmt nicht ganz”, fuhr Bellami fort und schaute besorgt auf die Kämpfenden Kreaturen hinab. „Ich hab es nie lesen können. Es war nicht in der Sprache der Drachen geschrieben, sondern in der Sprache der Faarih. Er war es die ganze Zeit”

„Was meinst du?“, fragte Milena.

„Das ist Han, der mit Zeraph kämpft” Bellami drehte sich wieder zu den anderen. „Er hat sich uns damals auch als Alexander vorgestellt. Doch wegen seines komischen Namensschilds haben wir ihn immer Han genannt”

„Der Drache soll ihn töten!“, schrie Kumi. „Der hat damals Shezzar umgebracht” Bellami sah Kumi angespannt in die Augen.

„Du wusstest das die ganze Zeit?“

„Ja”, antwortete Kumi. „Ajuki hat euch nicht die Wahrheit erzählt. Wir waren die ganze Zeit bei ihm. Auch bei seinem Kampf gegen dieses Ungetüm. Er sah genauso fürchterlich aus wie jetzt. Am Ende des Kampfes rangen beide um die Kontrolle über das Schwert. Es wirbelte durch die Luft und traf Alexander am Kopf.

Dann flog es hoch in den Himmel und fiel senkrecht herab. Es schlug mit der Spitze direkt in Shezzars Brust. Die Waffen der Menschen waren schon längst verstummt. Als Ajuki begriff, dass Alexander den Kampf gewonnen hat, nahm sie meine Hand und zerrte mich weg. Als ich mich das letzte Mal umdrehte, war Alexander verschwunden dafür kniete dieser Han neben Shezzar und schien ihm irgendwas zu sagen” Milena schüttelte traurig den Kopf.

„Aber er ist doch unser Freund. Er war wie ein Bruder für mich. Er war so nett und hat sich immer um mich gekümmert. Der Drache darf ihn nicht töten!“

„Wir können hier nichts mehr tun”, sagte Bellami resignierend. „Egal wer von beiden den Kampf gewinnt, sie werden dabei den gesamten Planeten vernichten” Val packte Bellami an den Schultern und schaute ihn angespannt an.

„Können wir sie nicht irgendwie zur Vernunft bringen?“ Bellami schüttelte den Kopf.

„Du hast vorhin doch gehört wie Zeraph von Oscha, dem Drachentöter, gesprochen hat?“ Val nickte. Bellami fuhr fort.

„Er hat mir einmal von ihm erzählt. Oscha ist ein Faarih der unzählige von Zeraphs Brüdern und Schwestern umgebracht hat. Ob aus purem Hass oder aus Spaß, weiß keiner. Dieses Wesen bestand aus einer schwarzen Substanz und konnte jede Form annehmen. Es lauerte den Drachen auf und riss ihnen die Köpfe ab. Das tötet einen Drachen nicht, deshalb hat er sich verflüssigt, ist in dessen Körper eingedrungen und hat ihn vollständig absorbiert”

Kumi stieß ein verächtliches Ihh aus.

„Zeraph wusste davon und er wusste auch, dass Faarih nur in der physischen Welt auftauchen, wenn sie beschworen werden. Es gibt da Ausnahmen, aber die sind selten. Also fand er den Beschwörer und wartete bis er Oscha erneut zu sich ruft. Da Zeraph nun wusste wann und wo Oscha auftauchen würde, war dessen Vorteil hinüber und er konnte ihn so letztendlich vernichten. So wurde er von seinen Artgenossen zu ihrem König gewählt. Allerdings wurde diese Welt durch Oschas tot vollkommen vernichtet. Das ist aber schon über eine Million Jahre her”

„Also ist es egal“, sagte Val traurig, „Wir werden alles verlieren. Unsere Freunde, unsere Heimat. Wir haben nur noch dieses Schiff hier. Und das alles, weil uns die Menschen hassen”, er schaute Bellami grimmig an, „Wieso konntest du nicht in Frieden mit den Menschen leben und deine Technologie mit ihnen teilen? Wäre das denn so schwer?“ Bellami schaute Val nachdenklich an.

„Weißt du, was ein Null-Punkt Emitter ist?“, fragte er. Val nickte.

„Ja das ist eine Art Energiegenerator, mit dem du Aletria mit Strom versorgt hast”, sagte er angeberisch.

„So?“, fragte Bellami, „Weißt du wie genau er funktioniert und was für Energie er erzeugt?“

„Nein”, murmelte Val, „Wie sollte ich auch. Ich weiß noch nicht, wie ich das Drachenherz richtig einsetzen muss.

„Da ist der Punkt. Du weißt nicht, was genau es ist und was es kann”, sagte Bellami auf eine altkluge Art, „Um es einfach zu machen, er erzeugt ein Phasenfeld indem eine Singularität entsteht, die immense Mengen an Energie ausstößt. Und das für scheinbar unbegrenzt lange Zeit”

„Und wieso erklärst du mir das?“, fragte Val abfällig.

„Als ich diese Technologie entwickelt hab, wollte ich sie sehr gern mit den Menschen teilen. Ein einziger NPE erzeugte damals schon das Tausendfache der Energie, die die Menschen weltweit benötigten. Ich dachte das führt zu einem neuen Bewusstsein und es würde endlich Frieden einkehren”

„Was ist passiert?“, fragte Milena.

„Millionen von Menschen, die in Kraftwerken, Kohleminen und auf Ölbohrplattformen arbeiteten, verloren ihre Existenzgrundlage. Und trotz der Tatsache, dass es nun unendlich viel Energie gab, schossen die Preise für Elektrizität und Wärme in die Höhe”

„Wie kann denn das passieren?“, fragte Val.

„Das konnte ich mir anfangs auch nicht erklären. Ich hab dann herausgefunden, dass die Konzerne, die damals die Kraftwerke betrieben, all ihr Geld dafür investierten, den NPE entweder zu zerstören oder ihn für sich allein zu beanspruchen. Letzteres wurde Wirklichkeit. Ein einzelner Konzern kontrollierte nun die Energieversorgung der gesamten Welt”

„Ja aber“, stotterte Val, „Wieso hat niemand was dagegen gemacht?“

„Das haben sie“, sagte Bellami bedrückt, „Es brachen unzählige Kriege aus, die den gesamten Planeten hätten zerstören können, wenn ich ihnen nicht ihre Massenvernichtungswaffen weggenommen hätte. Dennoch war es ein Massaker. Zeraph hat mich einen ganzen Tag lang für meine Naivität ausgelacht”

„Verstehe”, lenkte Val ein. „Doch wir dürfen nicht zulassen, dass die Beiden den Planeten zerstören” Bellami nickte.

„Aber ich weiß nicht wie. Selbst deine Kräfte reichen nicht um irgendetwas auszurichten. Wenn wir nur Ajuki finden könnten. Aber ich hab keine Ahnung wie” Bellami lief angespannt umher und dachte nach.

Es geht ihm gar nicht um Ajuki, sonst hätte er sie wohl kaum … aber um wen geht es dann? Er erinnerte sich an den Jungen am Waisenhaus, den er erst für Zeraph hielt. Ryu! Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Er war die ganze Zeit mit uns in Aletria. Und er hatte das Drachenfeuer. Wenn ich mich nur fest genug konzentriere kann ich ihn vielleicht …

Alexander konnte sich nur schwer bewegen, da er von rotglühenden Fäden festgehalten wurde.

„Wieso greifst du mich an?“, brüllte Zeraph, „Ich habe dich die ganze Zeit in Ruhe gelassen. Ich wusste von deinem Exil und habe dich ohne Widerstand bei uns aufgenommen. Das ist nun der Dank dafür?“, er öffnete sein Maul und biss Alexander in den Kopf. Mit letzter Kraft konnte er seinen intakten Arm befreien und schlug Zeraph von sich weg.

Dabei zerriss es die Hälfte von Alexanders Gesicht. Maschinenteile fielen herab und eine blutähnliche Flüssigkeit rann seinen Körper hinunter. Zeraph hob seinen Kopf und schleuderte den Teil von Alexanders Kopf weg, den er ihm gerade abgerissen hat. Dann bereitete er sich darauf vor, ihn in einem Meer aus Flammen zu versenken, doch plötzlich erschien ein großer, Gold leuchtender Ring unter Alexander.

„Du wirst jetzt nicht einfach abhauen!“, brüllte Zeraph und wurde immer wütender. Doch eine Wand aus Energie erhob sich und trennte die beiden voneinander. Alexander versank langsam in einem Portal unter ihm. Keara wurde von einer unsichtbaren Kraft aufgenommen und mit ihm hinuntergezogen. Immer wieder schlug Zeraph mit der rechten Kralle auf das Siegel ein. Rote flammen peitschten umher und ein markerschütterndes Krachen donnerte über das ganze Land. Immer stärker schlug er darauf, bis sich seine Krallen hindurch bohrten und tief in Alexanders Körper versanken.

„Drache!“, forderte Alexander, „Lass mich gehen!“

„Sonst was?“, erwiderte Zeraph.

„Verstehst du es nicht? Ich will dich nicht töten. Ich will nun verhindern, dass du sie tötest. Sie hat mich beschworen also muss ich es tun. Sie wird ihren Preis dafür Zahlen, aber das liegt nicht in deiner Gewalt” Zeraph zog ihn immer weiter aus dem Portal und streckte ihm sein Maul entgegen.

„Ihr seid so abhängig von euren Traditionen. Einmal beschworen müsst ihr eure Pflicht erfüllen”

„Das ist nicht der Grund! Sie hat diese Strafe nicht verdient also wirst du sie gehen lassen. Was auch immer du dir davon erhoffst, du wirst es nicht bekommen, wenn du sie tötest” Rote Flammen stiegen aus Zeraphs Schlund.

„Du bist töricht zu glauben, dass du mich damit aufhalten kannst” Brennender Speichel tropfte von seinen Zähnen. Die Flammen stiegen immer höher.

„Doch. Und das weißt du ganz genau. Du wirst nur noch von deinem Stolz geleitet und bist verblendet von deiner Arroganz”

„Stirb!“, brüllte Zeraph, doch bevor er seine Flammen spuckte irritierte ihn etwas.

„Zeraph!“, schrie Bellami, der sich im freien Fall auf ihn herabstürzte. „Ich weiß es jetzt! Die Beiden haben nichts damit zu tun. Vertrau mir bitte und lass sie gehen” Die Flammen verloschen und Zeraph schaute zu Bellami auf.

Sein rechtes Auge blitzte rot und Bellami viel in einen Nebel aus roter Energie, der seinen Sturz bremste. Er landete sanft auf dem Boden vor dem Drachen.

Zeraph ließ von Alexander ab und das Portal verschwand zusammen mit ihm und Keara. Der Drache verschwand ebenso und die Sonne schien nun auf eine zerfurchte, vom Kampf zweier riesiger Ungeheuer entstellte Landschaft. Alexanders abgetrennte Körperteile lagen noch immer in den Wiesen und Wäldern verteilt. Dennoch kehrte langsam wieder Ruhe ein und die Welt schien für den Augenblick mal nicht komplett aus den Fugen geraten zu sein.

Zeraph lag, wieder in seiner Menschenform, im Gras und tat so, als wäre nichts gewesen. Bellami saß neben ihm an einem Baum und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Die Adrastea landete ein Stück weiter. Die anderen stiegen aus und liefen zu ihnen.

„Weißt du noch“, sagte Bellami entspannt, „als wir Shezzar kennenlernten?“ Val und Milena setzten sich neben Zeraph ins Gras. Kumi setzte sich im Schneidersitz zwischen Bellami und die Anderen. „Es war genauso ein aufregender Tag“, fuhr Bellami fort, „und am Ende haben wir alle zusammen im Gras gelegen und Pläne geschmiedet” Zeraph stieß ein kurzes Lachen aus.

„Und hast du denn schon einen Plan?“

„Nein” Antwortete Bellami bedrückt. „Aber ich hab vorhin einen kurzen Puls gespürt. Er war sehr schwach. Du hast es wahrscheinlich nicht bemerkt, weil du dich auf Alexander konzentriert hast. Vielleicht können wir …“

„Ist schon gut”, unterbrach ihn Zeraph. „Kümmert euch erst Mal um eure Angelegenheiten” Zeraph drehte seinen Kopf zur Seite und starrte mit leerem Blick in den Himmel. Bellami lachte und schaute Milena interessiert auf die linke Hand.

„Darf ich das mal sehen”, fragte Bellami sie sehr höflich. Milena reichte sie ihm und er schaute sie sich genau an. Das Symbol darauf kannte er nicht. Es war ein einfacher Kreis in dem zwei kleine Dreiecke waren, die mit der Spitze aufeinander zeigten.

„Ist dir in letzter Zeit mal was Seltsames passiert?“, fragte er naserümpfend.

Milena sah zu Val, der nickte ihr zu und sie erzählte, wie sie sich mit dem Universum unterhalten würde. Bellami war sehr fasziniert davon und sein Forscherdrang zwang ihn geradezu, wilde Experimente mit ihr durchzuführen. Doch er kam schnell wieder zur Besinnung und beschloss, dass der Tag schon aufregend genug war und es für Heute gut sein zu lassen.

Kapitel 19

Die Hexe mit den roten Augen

Milena legte sich entspannt gegen Vals Schulter und genoss den Frieden und die Harmonie, mit der der Moment geschwängert war. Endlich war das anstrengende umherirren und suchen in der Leere nach Val vorbei, dass sie fast in den Wahnsinn getrieben hat. Doch ein kleiner, schwarzer Fleck trübte ihre Glückseligkeit immer weiter.

Sie erinnerte sich an die Geschehnisse nach ihrem Sturz vom Turm und ihrer Zeit in der unendlichen Einsamkeit der Leere. Sie erinnerte sich an Alexanders Worte, dass jeder der einen Faarih beschwört, einen Preis dafür zahlen muss und sie womöglich genau das getan hat, um Val wieder zu bekommen.

Ihre Erinnerungen waren noch klar, aber sie wusste nicht genau mit wem sie es damals zu tun hatte. In der Leere ist Zeit bedeutungslos und praktisch nicht existent. Dennoch formt sich das Bewusstsein seine eigene Idee von Zeit und eine gefühlte Stunde ist und bleibt eine Stunde, ganz gleich wie viel Zeit woanders vergangen ist.

Eine Suche ohne Aussicht auf Erfolg oder wenigstens Erlösung ist selbst über kurze Zeit eine extreme Belastung. So gab sie schließlich auf und forderte ihren Tod. Sie hegte keinen Wunsch nach Göttlichkeit, wie jene, die nach der Leere suchen um sich hier eine Welt erschaffen können, die ihren Vorstellungen von einem Paradies gerecht wird. Nein: Es interessierte sie nur die Rückkehr in die Welt, aus der sie gekommen war, genau diese und keine andere oder der Tod.

Sie verstand die Leere zwar, da sie nicht das erste Mal hier war, und dass sie alles könne real werden lassen, wenn sie es nur stark genug mit ihren Gedanken fixieren konnte. Aber ihre Traurigkeit versagte es ihr, eine schöne, neue Welt zu erschaffen. Immer wieder brach sie auseinander und sie verlor sich immer mehr in der Dunkelheit.

Sie versank so stark in Zweifel um ihre eigene Existenz, dass sie kurz davor war zu erlöschen, da tat sich ein seltsamer Gast vor ihr auf. Er hatte keine greifbare Gestalt, dennoch war er spürbar und zweifellos real. Schon einmal hatte sie diese große, einehmende Präsenz gespürt. Es war nicht vor ihr, hinter, über oder unter ihr.

„Du bist es, nicht wahr?“, fragte sie zögerlich in die Unendlichkeit. Ein weiches Raunen hallte um ihre Ohren, dass sich erst nach und nach zu einer verständlichen Sprache formte.

„Ich hatte gehofft, du kehrst zu mir zurück. Doch du bevorzugst es wohl, allein zu sein” Milena überlegte kurz.

„Nein, ich möchte nicht mehr allein sein” sagte sie traurig.

„Aber das bist du doch gar nicht”, raunte die Stimme wieder. „Du bist hier am göttlichsten Ort überhaupt”

„Aber ich will wieder zurück. Zu ihm zurück”, sagte sie etwas weinerlich. Die Stimme stieß ein verhaltenes Gelächter aus.

„Du bist unfreiwillig hier? Mir scheint es, als würdest du deine Fähigkeiten nicht richtig verstehen”

„Ich bin eben etwas tollpatschig”, sagte sie und drehte verlegen den Kopf zur Seite. „Kannst du mir noch einmal helfen?“ Wieder lachte die Stimme. Herzlich, aber auch etwas herablassend.

„Du bist wahrlich ein amüsantes Geschöpf. Ich hoffe du kommst mich eines Tages wieder in der Leere besuchen. Aber nur wenn du es willst und nicht wieder hineinstolperst, wie beim letzten Mal” Milena lächelte verlegen aber auch erleichtert.

„Ich verspreche es, Nakasch. Bitte hilf mir, ihn zu finden” Vor ihr erschien ein Tellergroßes Auge, das kirschrot glühte, mit einer kreuzförmigen Pupille, die durchdringend auf sie herabblickte.

„Ich bringe dich wieder zurück, wenn du es wünschst. Und deinen kleinen Freund werde ich auch finden. Mach dir keine Sorgen. Und übe dich in Geduld. Bis bald, kleines, tollpatschiges Menschlein”

Das Auge verschwand wieder und plötzlich stand sie vor ihrer Hütte im Wald. Sie war schwer beschädigt und völlig heruntergekommen. Das Dorf im Tal hingegen wurde wiederaufgebaut und war lebhafter denn je.

Als sie dort ankam wurde sie von den Dorfbewohnern herzlich empfangen und in der Familie aufgenommen, die jetzt in Hans Haus lebte. Als sie nach dem Datum fragte, stellte sie fest, dass sie über vier Monate in der Leere verbracht hatte. Die Zeit vergeht dort anders aber sie vergeht.

Sie erfuhr, dass die Götter den Menschen alles schenken, was sie brauchen. Und ein paar wenige Auserwählte werden in ihr Himmelreich, in einer fernen Welt, eingeladen und dort Vollkommenheit und Unsterblichkeit erfahren. Das Symbol auf ihrer Hand hielt sie so gut es ging verdeckt.

Sie machte sich einen sehr persönlichen Kleidungsstil zu eigen, den sie mit Erfolg als Vorwand benutzte immer Handschuhe zu tragen. Ihre Pflegeeltern gaben ihr schnell nach und nannten es eine pubertäre Marotte, wie sie so häufig bei Jugendlichen vorkommt. Ihr rotes Kleid und die Schleife bewahrte sie sehr sorgsam auf, da sie es auf jeden Fall anhaben wollte, wenn sie Val wiedersieht.

 

Ein Jahr verging und sie musste es immer wieder umnähen, da es immer kleiner zu werden schien. Tatsächlich war es Milena, die langsam zu einer Frau heranwuchs und an bestimmten Stellen etwas mehr zu wachsen schein als an anderen. Sie hoffte jeden Tag, dass Nakasch ihn ihr zurückbringt, doch nichts geschah.

Fast jeden Tag machte sie lange Spaziergänge durch den Wald und versuchte irgendwie Kontakt aufzunehmen. Erfolglos.

Acht Monate später feierte sie ihren siebtzehnten Geburtstag, zusammen mit ihrer Pflegefamilie. Der Sohn der Nachbarn machte ihr immer wieder schöne Augen. Anfangs lehnte sie jeden Gedanken daran, irgendeinen anderen Kerl als Val in ihr Herz zulassen, ab, doch die Hoffnung, ihn je wieder zu sehen, schwand Monat für Monat.

Der Nachbarsjunge war in ihrem Alter, nicht unattraktiv und auch immer sehr nett zu ihr. Er war ihr nicht egal aber das was sie mit Val erlebt hatte und die ganze Last, die sie dadurch mit sich herumtrug, wollte sie niemandem aufbürden, also lehnte sie ihn und jeden anderen immer wieder ab.

Seitdem fing sie an, sich mit ihren seltsamen Kräften auseinander zu setzen. Sie schloss die Augen und blickte in ein Gewirr aus unendlich vielen Möglichkeiten und Ereignissen, die sie nur fixieren brauchte, um sie auszulösen. Das totale Chaos aller möglichen Wahrscheinlichkeiten überforderte sie anfangs, doch sie lernte schnell, wie sie nur die für sie wichtigsten filtern konnte und begann immer wieder damit zu experimentieren.

Wollte sie zum Beispiel schnell an einen anderen Ort gelangen, brauchte sie nichts weiter zu tun als eine Wahrscheinlichkeit zu fixieren mit der sie verschwinden und an einem anderen Ort wiederauftauchen würde. Es war mit das einfachste, weil das auf Atomarer Ebene ständig passierte und sehr leicht zu erkennen war.

Sie konnte nur keinen Weg finden, in die Leere zurück zu gelangen, da sie nicht genau wusste, was diese überhaupt war. Hin und wieder ging Milena zu ihrer alten Hütte und nahm sich mehrere Stunden Zeit sie wiederherzurichten, um Val ein Zuhause bieten zu können, wenn er wieder da ist.

Als sie an einem schönen, warmen Frühlingstag die Hütte erreichte, fand sie dort einen seltsamen, aber vertrauten Gast. Es war eine ältere Frau in einem langen, braunen Filzmantel, die auf dem Brunnen saß und Milena mit einem weichen Lächeln empfing. Ihn ihren Gesichtszügen sah man Erfahrung und Weisheit, ihre Augen wirkten Klug und schimmerten in einem satten rubinrot.

Doch sie sah keineswegs alt und vergraut aus. Ihre Haut war glatt, hatte einen leichten Teint und sah sehr jugendlich aus. Die schwere Kapuze ihres Mantels verdeckte ihre schlohweißen Haare und ein großes Amulett zierte, die vom dicken Mantel verborgenen Konturen ihrer Brust.

Als Milena ihr sich weiter näherte stand sie auf und senkte zur Begrüßung ihren Kopf. Milenas Herz raste. Sie hatte eigentlich schon fast nicht mehr damit gerechnet, sie wieder zu sehen.

„Guten Tag”, begrüßte die Frau sie freundlich und hob ihre Augenbrauen. Milena blieb ein wenig verdutzt vor ihr stehen und blickte ihr erwartungsvoll in die Augen.

„Bist du es, Nakasch?“ Milenas Hände zitterten. Ein Besuch von ihr bedeutete entweder sehr gute oder sehr schlechte Nachrichten.

„Ja, ich bin es. Und ich freue mich, dich wieder zu sehen, Milena”, antwortete sie weich und lächelte wieder. Milena lief eine Träne über die Wange. Sie war so überwältigt, dass sie es kaum noch aushielt, sie über ihre Suche nach Val zu Fragen. Doch sie hatte große Ehrfurcht vor ihr und wollte sie nicht überrumpeln.

„Du hast dich verändert”, sagte Nakasch nach einem längeren Schweigen. Verlegen schaute Milena an sich herab, vorbei an ihrer etwas üppigeren Oberweite und ihrer schmalen Taille. Die Schamesröte schoss ihr in die Wangen und sie schloss behände ihre Jacke und starrte verlegen auf den Boden. Nakasch lachte neckisch.

„Du bist ein wahrlich faszinierendes Geschöpf, meine Liebe. Aber genug des albernen Geplänkels. Sicher brennst du darauf zu wissen ob ich deinen Freund gefunden habe” Milena nickte schweigend und schaute ihr erwartungsvoll in die Augen.

„Ich habe ihn gefunden. Aber leider reicht meine Macht nicht weit genug in die Leere hinein, um ihn zurück zu holen. Das tut mir sehr leid” Sie seufzte angespannt. „Er scheint so tief in Angst und Zweifeln gefangen. Die Leere hat ihn so weit in die Dunkelheit gezerrt, dass ich ihn nicht mehr erreichen kann”

„Heißt das, ich werde ihn nie wiedersehen?“, fragte Milena ängstlich.

„Nein, heißt es nicht” antwortete Nakasch schnell. „Aber es wird sehr schwierig ihn aus seiner Situation zu befreien. Allerdings kannst das nur du allein” Entschlossen stemmte Milena ihre Arme in die Hüften.

„Egal was es ist, ich werde es tun. Aber lass mich bitte noch eine Sache erledigen” Milena lief in die Hütte, die sie mittlerweile wieder in den Zustand gebracht hatte, in dem sie war, als Val bei ihr übernachtet hatte. Als sie wieder herauskam, trug sie ihr rotes Kleid und die rote Schleife in ihren Haaren. „Ich bin soweit”, sagte sie Mutig.

Nakasch nahm Milenas Hand. Ihre Roten Augen glühten, dann verschwanden beide und erschienen am Rand einer Lichtung, etwas weiter südlich. Als Milena Val auf der Lichtung liegen sah, stürmte sie sofort los und lief zu ihm. Seine Augen sahen Leer aus und er schien auf nichts zu reagieren. Milena konnte ihn weder berühren noch ansprechen. Es war als wäre er von einem unsichtbaren Kraftfeld umgeben. Nakasch ging zu ihr.

„Genau das habe ich gemeint. Er ist schon sehr lange hier. Ich versuche seit einem Jahr ihn aus dieser Situation zu befreien, doch ich vermag es nicht. Er ist eine Art Verbindung zwischen der Leere und dieser Welt. Die Verzweiflung in ihm scheint diese Konvergenz hervorzurufen und ich weiß nicht wie ich sie lösen soll” Milena wurde nervös. Er lag genau vor ihr und dennoch waren sie Lichtjahre voneinander getrennt.

„Aber was soll ich tun?“, fragte sie traurig und hoffnungslos. Nakasch streifte ihre Hand über Milenas Haare.

„Du hast etwas Besonderes an dir, dass wirst du sicher schon bemerkt haben, nicht wahr?“ Milena schaute auf ihre Hand.

„Ich kann das Universum ... fühlen”, sagte sie und machte sich schon darauf gefasst, ausgelacht zu werden.

„Es ist deine einzige Chance. Ab hier kann ich dir nicht mehr helfen. Aber wir werden uns wiedersehen und dann reden wir über dein Versprechen” Sie zwinkerte noch mit dem linken Auge, dann verschwand sie. Milena näherte sich Val und setzte sich zu ihm ins Gras. Der angenehme Duft von Wald und Wiese war sehr beruhigend und Milena konnte sich sehr gut konzentrieren.

Nach wenigen Stunden fand sie die Konvergenz. Ihr fiel sofort auf, das die Wahrscheinlichkeit so unglaublich gering war, dass es wesentlich einfacher gewesen wäre, mehrere Planeten durch Zufall mit einem Stecknadelkopf zu zerstören, als die Konvergenz zu lösen.

Die Leere ist selbst für die weisesten Kreaturen im Universum ein großes Mysterium. Sie hat keinen Ort, keine Zeit und keine Substanz. Sie ist etwas, das Alles und Nichts zur selben Zeit ist, obwohl Zeit wiederum auch Alles und Nichts ist, was die Suche nach Verständnis dafür so unendlich schwierig macht.

In Gedanken fuhr Milena durch sämtliche Verbindungen und Wechselwirkungen, die mit der Konvergenz einhergingen. Es war alles nur ein Gefühl, keine direkte Wahrnehmung. Nur selten konnte sie die Wahrscheinlichkeiten so direkt berechnen, wie sie es Tat als Val bei ihr abgestürzt ist.

Die Konvergenz war so stark und so filigran mit unendlich vielen Aspekten verwoben, dass Milena beinahe den Verstand verlor. Immer wieder musste sie sich besinnen und von vorne anfangen. Die Mühsal war schier endlos, doch sie spürte wie sie Stück für Stück löste und mit ihrem Eifer, Val wieder in den Armen halten zu können, gewann sie immer mehr die Oberhand über dieses verwirrende Zusammenspiel von Wahrscheinlichkeiten. Es zehrte unglaublich an ihrem Verstand. Sie stand den ganzen restlichen Tag und die ganze Nacht regungslos da und schaute ins Leere.

Am Morgen darauf fiel sie erschöpft auf die Knie. Die Sonne streichelte mit ihrer wohligen Wärme über Milenas Kopf und sie begann zu lächeln. Sie beugte sich herab und pflückte eine Blume. Sie stand wieder auf und fing an leise eine Melodie zu summen. Die unsichtbare Barriere um Val löste sich und er kam langsam wieder zu Bewusstsein. Milena wusste, dass sie sehr vorsichtig mit Val umgehen musste, da er seit über zwei Jahren in der Dunkelheit seiner eigenen Gedanken gefangen war.

Als Milena aus ihren Erinnerungen wieder in die Gegenwart zurückfand, saß Bellami vor ihr und musterte sie mit großen Augen. Dann setzte er sich im Schneidersitz vor sie und verschränkte die Arme.

„Ihr beide seid echt ... LANGWEILIG”, sagte er gähnend und ließ sich rückwärts ins Gras fallen. „Also hat jemand eine Idee, was wir jetzt machen oder bleibt wieder alles an mir hängen?“

„Können wir die Stadt wiederaufbauen?“, fragte Milena. „Ich habe gesehen, dass sich alles über sie in dem Kristall befindet” Bellami starrte leer in den Himmel.

„Ja, das ist schon möglich. Aber da ich meine Kräfte nicht mehr hab, weiß ich nicht, wo wir die Energie dafür herbekommen sollen. Außerdem würde der Bau diesmal länger als ein Jahr dauern. Und so lang ist die Stadt sehr empfindlich und würde sofort wieder angegriffen und zerstört werden” Val schaute auf seine Hand.

„Ich könnte dir doch mit meinen Kräften ..”

„Ja, das könntest du”, antwortete Bellami unvermittelt. „Aber erstens kannst du sie kaum kontrollieren und wer soll dann bitte schön die Stadt beschützen, während sie sich in der kritischen Phase befindet?“ Val schaute zu Zeraph.

„Wäre er nicht dazu in der Lage?“ Zeraph lachte spottend.

„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mich herablasse eure langweilige Stadt zu beschützen. Mich geht dieses kleinweltliche Gehabe überhaupt nichts an” Bellami zuckte nur mit den Achseln.

„War nicht anders zu erwarten”

„Aber du hast Bellami doch gerade vor Keara beschützt”, sagte Milena. Zeraph schwieg. Bellami stand auf und schaute Milena wieder musternd an.

„Sag mal” Er kniff die Augen zusammen. „Könntest du versuchen Ajuki zu finden?“ Kumi stellte sich dazu und schaute Milena traurig ins Gesicht.

„Bitte”, sagte sie und krallte sich an Bellamis Arm. Milena schaute in den Himmel. Ihr Blick wurde leer und ihr Atem schwer und langsam. Val schaute sie besorgt an und hielt ihre Hand. Ein paar Minuten später kam sie wieder zu sich und schüttelte traurig den Kopf.

„Es gibt keine Wahrscheinlichkeit, dass sie wiederauftaucht. Es ist als wurde sie vollständig ausgelöscht. Selbst wenn sie tot wäre hätte es Spuren hinterlassen. Aber da ist Nichts. Als würde ich nach jemanden suchen, der nie existiert hat und von dem es nicht einmal Erinnerungen gibt. Es tut mir leid”

Für Bellami war das der endgültige Beweis, dass Zeraph sie getötet haben muss. Nur das Drachenfeuer ist in der Lage eine Existenz bis zu ihrer Wurzel auszulöschen. Kumi lief eine Träne über die Wange. Zeraph stellte sich auf. Missbilligend und grimmig schaute er zu Val und Milena. Alle schauten zu ihm auf. Es sah aus als würde er gleich austicken. Bellami versuchte ihn zu beruhigen.

„Es gab wohl einen Grund dafür…“ Er wusste nicht, wie er die Situation entschärfen sollte.

„Ich werde deine Stadt beschützen”, herrschte Zeraph in einer harten und unzähmbaren Stimme. „Doch dafür wirst du mir was schulden” Val stand auf und beschwor sein Schwert.

„Ich kümmere mich um die Energieversorgung”, sagte er mutig, doch dann passierte etwas.

Vals Symbol leuchtete hell und seine Augen strahlten grün. Wie von Sinnen stand er da und holte mit dem Schwert aus. Er schwang es Bellami entgegen, der ihm gerade so noch ausweichen konnte. Der Baumstamm hinter ihm zerbarst und die Klinge seines Schwertes streifte Milenas rechte Schulter. Wieder holte Val aus. Zeraphs Augen glühten und er bereitete sich vor, Val auszulöschen, wenn es sein müsse.

Doch bevor Val zuschlagen konnte löste sich sein Schwert zu Staub auf und er fiel auf die Knie. Seine Augen wurden wieder braun und er fing sich wieder ein. Er fühlte wie Milena ihre Hand auf seiner Schulter hielt.

„Was ist passiert?“, fragte Val. Bellami stand auf und holte tief Luft.

„Du stehst immer noch unter Kearas Kontrolle. Also werden uns deine Kräfte nicht weiterhelfen. Außerdem bist du eine große Gefahr” Val schaute bedrückt auf den Boden. Milena schaute ihn mitfühlend an.

„Gibt es noch eine andere Möglichkeit, die Stadt wiederaufzubauen?“ Bellami nickte.

„Ja. Aber es ist zu gefährlich ihn bei uns zu haben. Tut mir leid, Val. Das ist alles meine Schuld. Ich habe Keara verärgert und Zeraph daran gehindert, sie zu töten. Aber ich werde eine Lösung finden. Bis dahin werden wir dich aber ruhigstellen müssen. Es geht nicht anders”, sagte Bellami traurig und eine kleine Nadel mit einer gelben Spitze erschien in seiner Hand.

„Nein!“, fauchte Milena und plötzlich waren die beiden verschwunden. Bellami schaute verwundert auf die Stelle an der Val und Milena eben noch standen.

Hoffentlich passt sie gut auf ihn auf. Dachte er sich noch, dann leuchtete eine Nachricht auf seinem Arm. Ein holographisches Bild erschien in der Luft, auf dem ein junger Typ zu sehen war, der freundlich lächelte.

„Du hast dich kein bisschen verändert”, sagte er und lachte.

„Sam!“, brüllte Bellami.

„Der einzig wahre”, antwortete Sam und lachte wieder.

„Wo bist du?“

„Direkt über euch” Bellami schaute nach oben und entdeckte ein riesiges Gebilde am Himmel. Es sah in etwa aus wie zwei Räder, die hintereinander auf einer großen Mittelachse angebracht waren und sich langsam in entgegengesetzte Richtungen drehten. Es war unglaublich weit weg und dennoch sehr gut zu erkennen. In etwa wie der Mond bei Tag, doch war es näher und wirkte größer.

„Forschungsstation Relia meldet Einsatzbereitschaft. Wir sind sofort hergekommen als wir von Aletrias Zerstörung hörten. Wir waren leider sehr weit draußen und die einzigen, die noch in direkter Verbindung zu Aletria stehen. Deswegen hat es etwas länger gedauert. Zwei flotten der Weißen und der Schwarzen Brigade sind bereits auf dem Weg und werden in weniger als zwei Tagen hier eintreffen. Ich bin wirklich froh dich wiederzusehen, Bellami. Es ist viel Zeit vergangen und es hat sich viel getan in deinem Königreich”

Bellami hätte am liebsten im Kreis gelächelt, wenn er könnte, so froh war er. Zeraph ging mit den Händen in den Hosentaschen Richtung Adrastea. Bellami schaute ihm kurz nach, dann lief er zu ihm.

„Wieso hast du das getan?“, fragte Bellami verwundert. „Ich dachte du liebst sie” Zeraph blieb stehen.

„Ich wollte es nicht sagen, solang ihre Schwester bei uns ist”

„Ich verstehe. Erzählst du mir, was passiert ist?“ Beide stiegen in das Schiff ein und Zeraph setzte sich auf den Pilotensitz.

„Ajukis einziges Ziel war es, Aletria zu zerstören und Shezzar an die Menschen auszuliefern. Keara bot ihr ihre Unterstützung an. Warum solltest du ja bereits wissen. Zusammen mit den Menschen hat sie einen Plan ersonnen, uns beide zu trennen, damit Keara dich in ihre Finger bekommt, ohne sich um mich sorgen zu müssen. Ihr ursprüngliches Ziel war dich mit der Vernichtung Celestis aus deinem Schlaf zu holen und Ajuki sollte mich davon ablenken” Bellami nickte.

„Aber da war ich schon wieder zuhause. Dank Val und Milena”

„Keara konnte alles vorhersehen, nur Milena war der X-Faktor. Ohne Sie wäre es ihnen vielleicht sogar gelungen”

„Deswegen haben sie Marista nicht angegriffen. Sie wollten sichergehen, dass ich vorher angreife, damit Milena sich nicht einmischt”, erkannte Bellami.

„Ja”, fuhr Zeraph fort. „Als das Schiff mit dir zusammen explodiert ist, hatte ich nur die Spur von Ajuki und hab sie durch die halbe Galaxie verfolgt. Somit konnte Keara mit dir machen, was sie wollte. Und nun konnten die Menschen Aletria angreifen und Shezzar gefangen nehmen. Doch Milena funkte ihnen wieder dazwischen. Sie hat eine Verbindung zum Universum, die nur schwer zu erklären und selbst für Keara unberechenbar ist. Somit landeten sie und Val in der Leere und Aletria wurde zerstört. Als ich Ajuki getötet hab, war schon zu viel Zeit vergangen”

„Sie hat sich als Köder geopfert, nur um sich an Shezzar zu rächen? Sie wusste doch, dass sie keine Chance gegen einen Drachen hat, oder nicht?“

„Sie wollte sich nicht rächen. Sie wollte ihn wieder zurück und das um jeden Preis. Keara hat sie ebenfalls zu einem Wächter gemacht, mit denselben Kräften wie du, und ihr eingeredet, sie könnte damit Shezzars Persönlichkeit wiederherstellen, wie sie vorher war” Bellami schüttelte den Kopf.

Man soll sich tote nicht ins Leben zurückwünschen” Flüsterte er.

Kapitel 20

Der weiße Drache

Milena und Val erschienen wieder vor ihrer Hütte. Val stand auf und schaute ihr traurig in die Augen.

„Bellami hat Recht. Ich bin eine Gefahr für alle, auch für dich” Er lief zum Brunnen, schnappte sich einen großen Stein und legte seine linke Hand auf die Kante. Dann schlug er wie wild mit dem Stein darauf. Schmerzschreie ließen die Vögel im Wald panisch ihre Nester verlassen. Blut spritzte ihm ins Gesicht und überall umher. Wie ein wahnsinniger schlug er immer wieder zu und schrie vor Schmerz auf.

Die Knochen zersplitterten und seine Haut riss auf, bis seine Hand nur noch ein matschiger Brei war. Milena lief zu ihm und versuchte ihn zu beruhigen. Doch es war hoffnungslos. Nach wenigen Minuten war die Hand wieder vollständig verheilt und das Symbol schimmerte wie eh und je. Wieder schlug Val darauf ein. Wieder brüllte er vor Schmerz.

„Hör bitte auf, das bringt nichts!“, schrie Milena panisch und entsetzt.

Sie schlang ihre Arme um ihn und zerrte ihn vom Brunnen weg. Sie riss ihn zu Boden, hielt seinen Arm und schlug ihm den Stein aus der Hand. Sie schrie ihn an und fluchte mit tränenden Augen. Dann setzte sie sich auf ihn und ohrfeigte ihn zwei Mal so stark sie konnte. Val atmete schnell und schwer.

„Ich bin eine Gefahr”, flüsterte Val. Tränen liefen aus seinen Augen. „Ich bin ein Monster. Mein Leben lang war ich ein Außenseiter. Alle hatten Angst vor mir und ich wusste auch warum. Auch in meinem letzten Leben habe ich versagt und in meiner Wut die ganze Menschheit ausgelöscht”

Milena legte sich auf ihn und schlang ihre Arme um seinen Kopf. Sie rieb ihre Wange an seiner und Val fühlte Milenas Tränen, die über ihre beiden Gesichter rannen.

„Ich liebe dich Milena und ich habe Angst davor, dass ich dir wieder wehtun werde. Ich kann das nicht zulassen. Ich ertrage das nicht” Milena schlang ihre Arme noch fester um ihn.

„Bitte gib nicht auf! Ich war so lange allein. Bitte ..”, flüsterte sie immer wieder. Ihr warmer Atem, ihre weiche, warme Haut und die zärtlichen Küsse, die sie ihm immer wieder auf die Wange gab, ließen seine Angst und seine Panik langsam wieder abklingen. Er legte seine Hand auf ihren Hinterkopf und streichelte sie sanft. Langsam hob sie ihren Kopf wieder und schaute Val mit ihren feuchten, verheulten Augen lächelnd ins Gesicht.

„Ich liebe dich auch”, flüsterte sie und stand von ihm auf. Sie reichte ihm die Hand und half ihm aufzustehen. „Ich hab dir ein Gulasch versprochen”, sagte sie und führte ihn in ihre Hütte. Val lächelte und half ihr beim Kochen.

Sie erzählte ihm lange und ausführlich von der Leere, Nakasch und ihrer Suche nach ihm. Er erzählte ihr von der Dunkelheit und seinen Versuchen der Leere zu entkommen.

Das Essen schmeckte beiden vorzüglich und der Tag verstrich sehr schnell. In der Nacht gingen sie ihrer Liebe mit viel Zärtlichkeit und ebenso viel Wildheit auf den Grund und lebten ihre Gefühle füreinander lange aus.

Am nächsten Morgen wachten beide mit dem Gesicht zueinander gleichzeitig auf und lächelten sich liebevoll an. Milena stand auf und ging in Unterwäsche ins Wohnzimmer.

Val errötete peinlich als er sich dabei erwischte, wie er ihr nachstierte. Sie streifte ihr Kleid über und richtete sich die Haare. Dann ging sie nach draußen. Val zog sich ebenfalls an und folgte ihr. Er fand sie vor der Tür wieder.

Sie stand aber nur regungslos und ängstlich da und schaute zu einer Frau, die den blutbespritzen Brunnen untersuchte. Als sie Milena bemerkte, richtete sie sich auf und lächelte.

„Hallo und guten Morgen, meine Lieben”, sagte sie warm um freundlich.

„Die Hexe”, flüsterte Val. Milena drehte sich zu ihm. „Du kennst sie auch?“

„Ja, sie hat mir damals gesagt, dass ich dich retten soll. Das war bevor wir über Celestis abgestürzt sind” Milena schaute Val besorgt an. „Dann schuldest du ihr auch was. Hast du ihr etwas versprochen?“ Val überlegte kurz.

„Nur dass ich sie wiedersehen werde” Milena schaute wieder zu der Frau.

„Ich bin sehr froh, dass du es geschafft hast, ihn zurück zu holen”, sagte Nakasch und ging zu den beiden. Milena schreckte ein wenig zurück.

„Wirst du uns jetzt beide in deine Welt entführen und uns fressen?“, fragte Milena als hätte sie zu viele von Grimms Märchen gelesen. Val schaute entsetzt zu ihr.

„Tut sie sowas wirklich?“, flüsterte er.

„Ich weiß es nicht. Aber ich weiß auch nicht, was sie ist. Sie könnte eine Faarih sein. Und wenn man sie beschwört, verlangen sie einen hohen Preis dafür, dass sie einem helfen”, flüsterte Milena.

„Ich bin doch keine Faarih!“, sagte Nakasch entrüstet. „Und ich verlange ganz bestimmt keinen Preis für einen freundschaftlichen gefallen. Was denkt ihr nur Schreckliches von mir?“

„Was willst du dann von uns? Du hast gesagt, wenn ich ihn zurückgeholt hab, reden wir über mein Versprechen. Genau das würden Faarih auch sagen”, fauchte Milena ängstlich. Nakasch lachte.

„Ach deswegen hast du so viel Angst. Mach dir keine Gedanken darüber. Ich mag euch beide wirklich gern und der Grund, warum ich euch so gern wiedersehen wollte ist, weil ich euch zeigen wollte, wer ich wirklich bin”

Sie legte ihren Zeigefinger aufs Kinn und schaute nachdenklich in die Bäume. „Halten mich diese jungen Geschöpfe wirklich für eine Faarih. Das ist doch nicht zu glauben. Also wenn das so ist, dann werde ich euch eines Besseren belehren. Wir Drachen mögen die Faarih nicht besonders und deswegen fühle ich mich jetzt auch ein wenig verletzt, wenn ihr so von mir denkt”

Sie verschwand kurz darauf und einen Augenblick später stand sie als ein großer, weißer Drache vor ihnen. Sie war zwar groß, aber lange nicht so groß wie Zeraph. Ein bisschen größer als Milenas Hütte, wenn man ihren langen Schweif nicht dazu zählt. Ihre Haut war von Myriaden stecknadelkopfgroßer, halbrunder, milchig weiß glänzender Schuppen bedeckt die das wenige Sonnenlicht, das durch die Baumkronen schien, in einem betörenden Lichtspiel funkeln ließen. Ihre Augen waren rubinrot, genau wie die von Zeraph nur waren sie mit noch mehr Symbolen der Drachensprache verziert. Die Größe ihrer Präsenz war noch viel intensiver und erdrückender als Zeraphs. Aber auch gleichermaßen beeindruckend und bezaubernd. Mit vorsichtigen Schritten kam Nakasch langsam auf die beiden zu und musterte sie.

„Habt keine Angst”, säuselte ihre Stimme durch Milenas und Vals Gedanken. „Ich werde euch nicht entführen, geschweige denn fressen oder derartiges“.

 Ihr Kopf war nach vorne hin leicht spitz und bestand aus sehr weichen Linien und sauberen Konturen. Sie hatte keine Hörner, Zacken oder sonst etwas, was man oft mit Drachen in Verbindung bringt. Ihr Körper war kräftig und schlank und ihre Flügel waren gefiedert. Sie war vollkommen anders als Zeraph aber nicht weniger herrlich und beeindruckend.

Val streckte mutig seine Hand nach ihr aus und streifte sie behutsam über den Kopf des Drachen. Die weiche, warme Haut und die winzig kleinen Schuppen fühlten sich an als würde man seine Hand über ein Becken, gefüllt mit Millionen kleiner Kugeln streichen, die alle ein bisschen nachgaben.

„Das fühlt sich toll an”, schwärmte Val. Milena legte ihre Angst ab und tat ihm gleich. Nakasch war sichtlich amüsiert darüber.

„Also ..”, sagte Milena schüchtern. „Du erwartest also nichts dafür, dass du uns geholfen hast?“

Ein charmantes Lachen durchströmte ihre Gedanken. Gefolgt von Nakaschs Stimme.

„Aber nein. Ich mag euch beide einfach nur so gern. Ihr habt mein Interesse geweckt als ihr durch meine Welt gestolpert seid und nicht mehr wusstet wohin. Das fand ich einfach zu drollig”

Sie stieß Milena sanft mit der rechten Seite ihres Kopfes, sodass sie ihr Gelichgewicht verlor und sich an ihr festlagen musste. Dabei fing sie an zu lachen wie ein Kind, dass gekitzelt wird und Nakasch lachte ebenfalls unbekümmert. Dann steckte Nakasch ihren Kopf zu Val aus, stupste ihn in den Bauch und Val fiel mit dem Oberkörper auf ihren langen Kopf. Den hob sie sanft mit Val in die Höhe, streckte ihren Hals aus und er rutschte ihn entlang, bis er an ihren Schultern zu stehen kam und sich verdutzt aber lachend aufrichtete.

Dabei bemerkte Nakasch, dass Vals Lachen von Sorgen getrübt war. Die Verbindung zwischen den Herzen der Drachen zog sich durch jede Faser ihrer Seelen. Sie konnte genau fühlen, was in Val vor sich geht und was ihn bedrückte. Sie streckte ihr linkes Vorderbein aus und ließ Val absteigen. Sein Lächeln war aufrichtig, aber er kratzte sich dabei immer an der linken Hand. Nakasch streckte ihren Kopf nach seiner Hand aus und sah sich das Symbol darauf sehr genau an.

„Du wirst also immer noch von deiner Vergangenheit heimgesucht, obwohl du gar nichts dafür kannst. Damals hast du dich wohl freiwillig für diese Macht von den Nyx versklaven lassen. Aber wie ich sehe hast du dein Herz am rechten Fleck”

Sie lachte schelmisch und stupste ihn mit ihrer Nasenspitze auf die Brust, was sein Drachenherz zum Leuchten brachte.

„Ich kann dich von den Fesseln der Nyx befreien. Aber dein Herz hast du dir gewünscht, das kann dir niemand mehr nehmen” Schweigend hielt sich Val die Hand auf die Brust. Neugierig starrte Milena ihn an.

„Du kannst ihn davon befreien?“, fragte sie.

„Nur von dem Mal der Nyx. Wie gesagt, das Herz gehört ihm. Zeraph hat es ihm geschenkt und Val hat es angenommen. Es ist eine sehr große Würde und der Beweis einer sehr ehrlichen und innigen Freundschaft zwischen euch. Willst du es denn auch nicht mehr?“, fragte Nakasch in einem traurigem Ton.

„Doch!“, sagte Val, ohne zu zögern. „Ich finde zwar das Zeraph ein Arsch ist, aber er hat uns nie etwas Böses getan. Aber dieses Mal” Er kratzte wie verrückt an seiner linken Hand. „Ich hasse es! Bitte befreie mich davon, werter Drache”

„Aber bedenke: Du verlierst deine Fähigkeit das Terra zu kontrollieren und wirst sie nie wiedererlangen. Doch du musst auch verstehen, dass dieses Mal deinen Körper vollkommen verändert hat. Die Zellen in deinem Körper, deine Gene und dein Geist werden für immer mit Terra verbunden sein. Das heißt du wirst nie sterben, alt oder krank werden”

„Das ist mir alles scheiß egal. Ich will mit Milena zusammen sein, ohne mir die ganze Zeit Sorgen machen zu müssen, ich könnte sie versehentlich umbringen, weil diese blöde Keara gerade Lust dazu hat”

„Dann soll es so sein!“, sagte Nakasch und Val streckte ihr seinen linken Handrücken entgegen. Sie hielt ihren Kopf davor und stieß eine kleine purpurrote Flamme darauf. Das Mal verschwand, doch es blieb ein kleiner, weiß schimmernder Kreis zurück.

„Bin ich jetzt frei?“, fragte Val.

„Ja, das bist du. Frei von den Nyx und deiner Macht”

Vals Anspannung löste sich allmählich und er schaute lächelnd zu Milena. Sie lächelte ihn ebenfalls an und die beiden fielen sich in die Arme. Milena löste sich nach einer Weile wieder aus der Umarmung und schaute Nakasch begeistert lächelnd an.

Ihre Lefzen zogen sich auseinander und entblößten ihre dolchartigen, gezackten Zähne. Das sollte ein Lächeln darstellen sah aber eher furchterregend aus. Mit ihren roten Drachenaugen fixierte sie Milena wie in einem hypnotischen Bann.

„Ihr Beide sein wirklich faszinierend“, sagte Nakasch freudig. „Ich möchte gern deine Freundin sein. Und um dir zu beweisen, dass ich euch wirklich nichts Böses will, möchte ich dir mein Herz schenken. Du wirst in der Lage sein unsere Sprache zu sprechen und unser Wissen erlernen. Genauso wie Val” Milena schaute zu ihm. Er lächelte und nickte.

„Was sie sagt ist wahr. Es ist nur sehr anstrengend, es zu benutzen. Bellami hat es auch von Zeraph bekommen” Etwas zögerlich stimmte sie zu. Nakasch war immer sehr nett und mittlerweile vertraute sie ihr etwas mehr.

„Darf ich dabei seine Hand halten?“, fragte sie schüchtern. Nakasch lachte amüsiert.

„Aber sicher, meine Liebe. Du darfst nur einfach keine Angst haben, egal was gleich passiert” Wieder schaute sie zu Val, wieder lächelte und nickte er. Nakasch bäumte sich auf, spreizte ihre Schwingen und ein pulsierendes Glühen schimmerte durch die Haut ihrer Brust.

Sie sog Luft in ihre Lungen und blähte sich auf. Rote Flammen züngelten zwischen ihren Lefzen empor. Dann senkte sie den Kopf vor Milenas Brust und öffnete das Maul. Milena zuckte vor Schreck zusammen als sie die Marmorweißen, dolchartigen Zähne des Drachens sah. Sie krallte ihre Hand fest in Vals. Dann stieß Nakasch eine rote Flamme auf Milenas Brust. Sie empfand keinen Schmerz und ihr Kleid blieb ebenfalls unversehrt. Unter ihm zeichnete sich ein Symbol in der Drachensprache ab, das Val jetzt erst richtig erkannte und lesen konnte.

Auf ewig Verbunden - Mein Herz, unser Herz - alle Drachen, alle Freunde, alle Liebenden - durch Solaris Feuer.

Als es vorbei war, spürte Milena die Gefühle und die Gedanken von Nakasch auf eine einzigartige Weise. Sie fühlte das unschätzbare Wissen, dass sie mit sich trug und die Aufrichtigkeit, von der Nakasch zuvor gesprochen hat.

Plötzlich verdunkelt sich die Sonne. Zeraphs Schatten ließ den Tag zur Nacht werden, als er unvermittelt hinter ihnen landete. Majestätisch stand er da, thronend, wie immer, auf seiner Arroganz und seiner Eitelkeit. Doch etwas war diesmal anders.

Val fühlte eine Art Traurigkeit in Zeraphs Herz und ging mit Milena an der Hand ein paar Schritte zurück. Nakasch schaute zu Zeraph auf und funkelte ihn mit großen Augen an. Dann tat Zeraph etwas, an das sich Milena und Val noch lange erinnern würden:

Er spreizte seine gewaltigen Schwingen, legte sie behutsam über den Bäumen ab und senkte langsam und würdevoll seinen Kopf zu Nakasch herunter. Seine riesigen Augen waren halb geschlossen und sein Unterkiefer berührter beinahe den Boden.

Nakasch ging zu ihm und streifte ihren Kopf liebevoll an Zeraphs, wie zwei Katzen, die miteinander schmusten. Dieses Schauspiel war so imposant und würdevoll, dass Milena und Val beinahe der Atem stehen blieb. Die Gefühle der beiden Drachen strömten auch durch ihre Herzen und erfüllten sie mit tiefer Freude und Glückseligkeit.

„Nakasch”, fuhren Zeraphs Gedanken durch die Köpfe der Beiden. „Dein Volk vermisst dich. Unsere Herzen sind vom Makel deiner Abwesenheit befleckt und bluten in Strömen” Er sprach in der Sprache der Drachen, in der die Gefühle, die er empfand, noch viel intensiver zum Ausdruck gebracht wurden als in jeder anderen.

„Zeraph” Antwortete sie auf die gleiche Art. „Ich habe viel von deinen großen Taten gehört. Du hast uns von einem unermesslichen Leid befreit und dir deinen Titel ehrenvoll verdient” Die unglaublich starke Präsenz der Beiden verschmolz zu einer noch größeren, noch intensiveren.

„Es ist mir eine große Ehre. Ich empfinde tiefe Freude für eure Anerkennung”

Noch nie hatten sie Zeraph so unterwürfig und respektvoll erlebt. Es war geradezu absurd, da er sonst immer extrem eingebildet und arrogant wirkte. Selbst Bellami und Ajuki gegenüber. Aber in diesem Moment war es als würde ein Untertan mit seiner Königin sprechen, ihr die höchsten Würden entgegenbringen und ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen.

„Dein Volk vermisst dich ebenfalls, Zeraph Darthas - König der Drachen. Ich bin sehr froh, dass du ihnen eine neue Heimat gefunden hast, nachdem Oscha alles zerstört hat”

„Ihr wisst auch davon?“

„Ich habe euch nie verlassen. Ich war immer bei euch. In der Leere vergeht die Zeit so schnell, aber ich hab nie aufgehört an euch alle zu denken und euch genauso schrecklich vermisst. Ich werde bald wieder zurückkehren” Zeraph streifte noch einmal sanft an ihrem Kopf entlang.

„Ich sehne diesen Tag herbei, Nakasch Ayralin” Sagte er, richtete sich auf und flog davon. Die Sonne strahlte wieder auf die Drei herab und ließ Nakaschs Schuppen glitzern und funkeln.

„So hab ich Zeraph noch nie erlebt. Seid ihr ein Liebespaar?“, fragte Val frech.

„Wie kommst du darauf?“ Nakasch fand die Frage sichtlich amüsant.

„Na diese starken Gefühle. Diese große Liebe. Ich empfinde das genauso, wenn ich an Milena denke” Milenas Gesicht wurde feuerrot vor Verlegenheit, als sie das hörte.

„Nein, wir sind kein Liebespaar”, antwortete Nakasch. „Wir sind ein sehr altes Volk. Ich gehöre zu den ältesten. Zeraph ist noch sehr jung und von sich selbst eingenommen. Aber dennoch begegnen wir einander immer auf diese Weise. Liebe ist eine so wichtige und mächtige Kraft, dass wir nicht mehr ohne sie auskommen können. Sie stärkt uns und hält uns zusammen”

„Das ist ja der Wahnsinn”, sagte Val fasziniert und hielt Milenas Hand fester. „Aber ich dachte Zeraph ist schon eine Million Jahre alt. Wieso sagst du das er noch sehr jung ist?“

„Eine Million Jahre sind kein Alter für einen Drachen. Ich bin ein alter Drache - besser gesagt ein uralter”

„Ist das der Grund, warum er so viel größer ist als du?“ Val machte sich sogleich Vorwürfe, dass er sie damit eventuell beleidigt hat.

„Es hat damit zu tun”, antwortete Nakasch prompt. „Es gibt Drachen in Millionen verschiedenen Welten. In jeder dieser Welten herrschen andere Bedingungen, an die wir uns anpassen. Dazu kommt, dass wir Drachen unser Aussehen auch nach der Persönlichkeit verändern”

„Also ihr habt einander noch nie gesehen und dennoch empfindet ihr eine so starke Liebe?“, fragte Milena. Nakasch streckte ihren Kopf nach ihr aus und leckte ihr über die Wange.

„Ja, so ist es, meine Liebe. Und genauso sehr lieben wir euch, weil ihr durch das Herz mit zu unseren Artgenossen zählt. Aber keine Angst, die Liebe zwischen euch beiden ist von einer ganz anderen Art und gehört nur euch allein” Milena war sprachlos. Sie streichelte über Nakaschs Nase und bestaunte sie fasziniert. Val tat ihr gleich.

„Bleibst du bei uns?“, fragte er zurückhaltend. Nakasch leckte ihm ebenso übers Gesicht und stupste ihn mit der Nase an die Stirn. Dann verschwand sie und die Hexe mit den roten Augen stand wieder vor ihnen.

„Ich werde euch auf jeden Fall hin und wieder besuchen kommen. Aber ihr solltet euch erst mal ausruhen und die verlorene Zeit miteinander aufholen. Ich werde für eine Weile zu meinem Volk zurückkehren. Aber ihr seid bei uns immer willkommen. Und wenn es euch gefällt, dürft ihr auch bleiben” Sie streifte ihre Kapuze ab und nahm die Beiden in die Arme.

„Macht keine Dummheiten, ja? Und kommt uns besuchen. Bringt Zeraph mit, wenn er will” Val und Milena nickten zum Abschied. Nakasch verließ die Lichtung und verschwand im Wald.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Val. Milena antwortete nicht und zerrte ihn einfach entschlossen hinter sich her.

Die riesige Forschungsstation schwebte friedlich im Orbit und wurde schon bald von zwei Staffeln großer Kampfschiffe begleitet. Die Vorbereitungen für den Wiederaufbau Aletrias waren im vollen Gange. Die Welt schien für den Moment in Ordnung.

 

Ende

Kapitel 1

Die süße Freiheit und ihr bitterer Beigeschmack

Die äußeren Bezirke der Stadt zählten zu den Ärmsten und Heruntergekommensten. Die Viertel waren zu weiten Teilen verwaist und verfallen. Die Menschen, die dort zu lebten, waren meist Ausgestoßene, flüchtige Kriminelle und Waisenkinder, die sich zu Banden zusammenschlossen.

Eines dieser Kinder war Val, ein 14-jähriger Junge, der solang er denken konnte, Teil einer solchen Bande war. Val war meistens zurückhaltend und in sich gekehrt. Doch Momo, der Anführer der Bande, sah ihn als verlässlichen Kameraden im Kampf ums Überleben und den Zusammenhalt der Gruppe. Val war etwa 14 Jahre alt, hatte braune, schlecht geschnittene, schmutzige Haare und seine Gestalt war sehr hager. Seine braunen Augen waren stehts unruhig und suchten die Umgebung ständig nach lauernden Gefahren ab. Ein Verhalten, das zum Überleben vorteilhaft war, doch die ständige Paranoia zermürbte seinen Verstand. Er fand kaum ruhe und wurde ständig von Ängsten heimgesucht.

Am meisten schätzte Momo Vals Aufrichtigkeit, obwohl das bei den anderen oft missverstanden wurde. Val konnte schwer einschätzen, wann es Zeit war die Wahrheit zu sagen oder besser gar nichts. Momos überzogenes Gelächter, wenn Val mal wieder etwas von sich gegeben hat, was keiner hören wollte, machte es auch nicht besser.

Von nichts außer dem Willen zu überleben getrieben, zogen Momo und seine Bande täglich durch die Straßen; bettelten, stahlen und handelten mit zweifelhaften Waren. Sie gingen dabei immer große Risiken ein, doch der Gedanke daran wieder tagelang hungern zu müssen war schlimmer als die Angst vor Tod und Folter. Heute waren sie wieder unterwegs; doch anders als sonst brachte Momo sie sehr weit weg von zu Hause - in einen Stadtteil, der sehr nah am Stadtzentrum war.

Vor einem kleinen Gemischtwarenladen brachte Momo die Gruppe, mit der er gerade auf Streifzug war, durch ein Heben seiner Hand zum Stehen. Er lugte interessiert ins Schaufenster und musterte die Auslage. Momo war wahrlich der perfekte Anführer: Groß, sehr stark und ausgesprochen charismatisch. Seine Worte waren für andere wie ein hypnotisches Feuerwerk an Enthusiasmus und Kraft. Durch seine Autorität fühlten sich alle bei ihm sicher und geborgen. Er hatte kurze, rotbraune Haare, braune Augen und einen kleinen Kinnbart, den er gut zu pflegen wusste. Val ging zu ihm und zupfte an seinem zerrissenen Ärmel.

„Ich hab Hunger und meine Füße tun mir weh”, klagte er, „wir sollten uns was zu essen beschaffen. In dem Laden gibt es nur unnützes Zeug” Momo war ein bisschen größer als Val und für gewöhnlich gut gelaunt. Doch im Moment plagten ihn eine Menge Sorgen.

„Ich weiß”, sagte er ernst und schaute zu den anderen, die ebenfalls erschöpft und hungrig waren. „Ich erkläre dir später, warum ich mir das hier ausgesucht hab. Außerdem können wir uns von dem Geld auch bestimmt was zu essen kaufen” Val schaute ihn skeptisch an, seufzte und ließ von ihm ab.

„Naja, übermorgen beginnt das Renaissancefest”, erwiderte Val resigniert. „Da können wir wieder etwas mehr abgreifen”

Momo lächelte und nickte. „Da hast du Recht”, und tätschelte Val den Kopf. „Deswegen machen wir heute was anderes” Plötzlich rannte er los und stürmte in den Laden, sprang über die Theke, trat dem Verkäufer ins Gesicht und schlug ihn zusammen. Die anderen liefen ihm nach. Doch Val blieb stehen und hielt sich seinen schmerzenden Kopf fest.

Nach ein paar Minuten stürmten sie mit ihrer Beute wieder raus, die Taschen voller wertlosem Krimskrams und dem bisschen Geld, dass der Händler in der Kasse hatte. In all der Aufregung bemerkten sie nicht, dass Val zusammengekrümmt an der Wand neben dem Eingang lag und liefen ohne ihn davon. Seit kurzem hatte er diese unerträglichen Kopfschmerzen, die immer spontan auftraten und manchmal so stark wurden, dass es ihm den Boden unter den Füssen weg zu reißen schien. Val hatte dann das Gefühl, als müsse er Wissen von der Größe eines Planeten mit aller Gewalt in seinem Kopf unterbringen und es zerriss ihn dabei förmlich.

Diese Anfälle waren immer stärker werdende Impulse, die ihm unendlich viele Dinge zeigten, die er nicht verstand oder irgendwie sinnvoll interpretieren konnte. Kryptische Symbole, Bilder von irrealen Welten, Stimmen in unverständlichen Sprachen. Dazu kam ein unglaublich starkes Verlangen nach etwas, was Val nicht begreifen konnte. Eine gottgleiche Macht zerrte an seinen Gedanken, seinen Gefühlen. Eine unendliche Flut an Wissen prügelte erbarmungslos auf seinen kindlichen Verstand ein. Sein Herz schlug so schnell, dass ihm das Blut aus den Ohren und der Nase floss.

Als der Anfall sich legte versuchte Val sich wieder aufzurappeln und den anderen nachzulaufen, doch er wurde aufgehalten als die Polizei eintraf. Der größere der beiden Beamten betrat den Laden und kam mit dem schwer verletzten Verkäufer wieder heraus. Der etwas pummelige Mann hatte ein blaues Auge und ihm lief Blut aus Nase und Mund. Der Polizist schleppte ihn mühsam nach draußen. Sein rechtes Bein schien gebrochen und er hatte tiefe Kratzer im Gesicht. Mit letzter Kraft hob er den Kopf und sah Val an der Wand kauern.

„Der da”, röchelte er. „Der gehört zu denen. Ich habe ihn durch das Fenster gesehen” Der kleinere Polizist ging zu Val und packte ihn an den Haaren, hob den Kopf des Jungen und sah ihn zornig an. „Warst du das?“, fauchte er ihn an. Val schüttelte den Kopf. „Aber es waren deine Freunde, oder?“ Val schwieg und verzog keine Miene. Der Polizist packte sein Arm und richtete ihn unsanft auf. „Du kommst mit aufs Revier” Val riss entsetzt die Augen auf und wurde nervös. Er hatte schon unzählige Horrorgeschichten von Kindern gehört, die mit auf die Wache mussten. Sie wurden dort oft stundenlang in sterilen, unmöblierten Zellen gelassen. Dann wurden sie verhört und gefoltert. Selten kam eines der Kinder wieder zurück, doch wenn, dann war es gebrochen und vollkommen verstört. Oft aber fanden sie die gequälten, leblosen Körper ihrer Freunde in versifften Gassen zwischen verwesenden Speiseabfällen und Tierkadavern wieder.

Val geriet in Panik und trat dem Polizisten mit voller Wucht zwischen die Beine. Mit schmerzverzerrtem Gesicht ließ dieser von ihm ab und Val rannte so schnell er konnte davon. Der große Polizist stieß den verletzten Verkäufer von sich und sprintete Val hinterher. Nun wurde Val von einem Mann verfolgt, der größer und schneller war als er, in einem Stadtteil, in dem er sich nicht auskannte.

Die Jagd war schnell vorbei und endete in einer Sackgasse. Val fand sich mit dem Rücken zur Wand stehend neben einem großen Müllcontainer wieder. Er war am ganzen Körper verschwitzt und er atmete schwer.

Der Polizist ging langsam auf ihn zu. Aufmerksam und berechnend musterte er Val und seine Hand schwebte die ganze Zeit über dem Holster seiner Waffe. Val war wie versteinert. Er sah sich überall um, doch es schien keine Möglichkeit zu geben, ihm zu entkommen. Er stellte sich vor, was diese grauenvollen Menschen mit seinen Freunden angestellt hatten; die wieder zurückgekehrt waren und davon erzählten.

Kinder waren in dieser Welt nichts wert, besonders Ausgestoßene wie er und Waisen wie seine Freunde. Sie dienten höchstens als Spielball frustrierter Autoritäten, wurden gefangen, verkauft, versklavt und vergewaltigt.

Diese Vorstellung jagte Val einen eiskalten Schauer über den Rücken. Sein Herz pochte immer schneller und vor Angst konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Als der Mann noch etwa zwei Meter vor ihm stand, zwängte sich Val hinter den Müllcontainer.

„Gib auf, Junge. Du hast keine Chance. Komm da raus!“ Panisch stieß Val den Container weg, aber der Polizist konnte ihn mühelos aufhalten. Doch nun hatte Val die entscheidenden Sekunden, um an ihm vorbei zu laufen. So schnell es ging rannte er zur Straße. Es war nicht wirklich weit bis zum Ende der Gasse, doch es kam ihm unendlich lang vor. Wie in einem verzerrten Traum, der einen trotz Geschick und Mühen nicht entkommen lassen wollte.

Reflexartig zog der Mann seine Waffe, schoss ohne zu zögern und traf ihn in der Hüfte und direkt in die Brust. Val verlor das Gleichgewicht und schlug mit dem Gesicht auf dem Asphalt auf. Er spürte sein Herz noch schlagen und bemerkte dumpf wie ihm das warme Blut an seinem Gesicht hinunter rann. Der andere Polizist kam wenige Sekunden später dazu. Er hatte sich noch um den verletzten Ladenbesitzer gekümmert. Er blickte zu Val, der in einer wachsenden Blutlache am Boden lag.

„Scheiße, Viktor was soll das?“, fluchte er, der gerade dazu gekommen ist.

„Passiert halt, wenn man sich danebenbenimmt”, antwortete Viktor und kniete sich zu Val herab. „Kaum zu fassen, der lebt ja noch”

„Irgendwie schade. Die Bonzen aus Tuya bezahlen immer gut für solche Streuner. Hab gehört, die foltern sie tagelang nur aus Langeweile. Naja, der macht’s nicht mehr lange” Sie schauten noch eine Weile auf ihn herab in der Gewissheit, dass er gleich sterben würde und gingen danach wieder zurück. Routiniert und ohne ein Gefühl der Reue teilten sie dem Ladenbesitzer mit, dass sie den Jungen töten mussten, weil er sonst entkommen wäre.

Das war dem Mann zu viel. Obwohl er diese Kinder dafür hasste, was sie ihm angetan hatten, fand er es unnötig grausam. Doch das erwähnte er nicht. Der Gedanke, dass diese Männer gerade ohne Skrupel ein Kind getötet hatten, nur weil es davongelaufen war, schnürte seine Kehle zu und ließ ihn verstummen.

Er lief antriebslos durch ein karges Ödland. Eine staubige und stinkende Wüste, übersät mit Ruinen, Panzerwracks, Kratern und Leichen. Auch von Soldaten, Zivilisten: darunter auch Frauen und Kinder, zwischen abgebrannten Baumstümpfen und zerrissenem Stacheldraht. Es sah aus als hätte man mit aller Gewalt versucht etwas aufzuhalten. Er lief einfach los.

Nach nur wenigen Minuten schien das Ödland einfach aufzuhören. Die Bäume trugen wieder grüne Blätter, Die Gebäude waren weniger beschädigt, aber es waren dennoch überall Leichen zu sehen. Er ging in eines der intakten Häuser und stieg aufs Dach. Von dort aus sah er, dass dieses Ödland teilweise nur ein paar hundert Meter breit war und sich wie eine Schneise durch die Landschaft zog. Als hätte man sämtliche Waffen auf einen einzigen Punkt gerichtet, der sich immer weiterbewegt hat.

Neugierig aber auch angewidert ging er diesen Weg nach. Es roch nach verbrannter Haut und Schießpulver. Er war nicht lange unterwegs, da mündete der Weg in einen riesigen Krater, am tiefsten Punkt schien etwas zu funkeln. Langsam stieg er hinab und ging verwundert weiter Richtung Zentrum. Das Funkeln stammte von einer Art grünlich glitzernden Säule, die aus dem Boden ragte. Er blieb stehen als er eine verschwommene Silhouette wahrnahm, die sich nicht weit weg davon befand. Er konnte nicht genau erkennen um was es sich handelte, da ihm die trockene Luft und die grelle Sonne in den Augen brannte.

Zaghaft ging er darauf zu und stellte fest, dass es sich um einen seltsamen, sehr mageren, aber großen Mann handelte, dessen Körper voller tiefer Schnittwunden und Verbrennungen war. Der Mann saß mit angewinkelten Beinen auf dem Boden, den Kopf hatte er in seinen verschränkten Armen vergraben. Seine Kleidung bestand nur noch aus teils verbrannten Stofffetzen, vor ihm lag ein schwarzer Zylinder und ein Stück Tafelkreide.

Val sprach ihn an, aber er zeigte keinerlei Reaktion. Nach einem weiteren misslungenen Versuch gab Val auf und beschloss ihn in Ruhe zu lassen. Er ging weiter zu der grün Funkelnden Säule. Als er an dieser ankam, wurde der Anblick nur noch verstörender: Die grüne Säule stellte sich als ein kristallenes Schwert heraus, das etwa einen halben Meter im Boden steckte. Die Klinge war um die 20 Zentimeter breit und ragte aus der Brust eines anderen Mannes, der blutüberströmt und regnungslos am Boden lag. Die Kleider des Mannes waren zum Großteil noch intakt, Hemd und die Jacke schienen aus sehr feinem Stoff zu sein, mit vielen Verzierungen und metallenen Ansteckern. Es sah aus wie die Militäruniform eines hohen Offiziers. Er kniete sich zu ihm herab und entdeckte einen seltsamen Armreif an dem linken Handgelenk des Mannes.

An der Unterseite befand sich eine sehr kleine Gravur, das Wort Shezzar in schnörkeliger Schrift. Ansonsten hatte der Armreif eine sehr glatte und silbrige Oberfläche. Er sah auf in den Himmel, die Sonne wurde nun von ein paar kleinen Wolken verdeckt und blendete ihn nicht mehr. Dort sah er ein paar schwarze Punkte und kurz darauf hörte er das laute Klopfen von anfliegenden Helikoptern. Einer davon landete direkt neben dem Mann, der immer noch mit dem Kopf in seinen Armen auf dem Boden saß. Zwei Männer stiegen aus und zerrten ihn in das Fluggerät. Der Mann leistete keinen Widerstand. Sein Gesicht konnte Val nicht sehen, denn es wurde von seinen Haaren verdeckt. Nur kurz hob er den Arm und zeigte auf seinen Zylinder. Eine große, schlanke Frau, mit silbernen hüftlangen Haaren hob ihn auf und stieg wieder ein.

Der Hubschrauber stieg wieder auf und verschwand hinterm Horizont. Ein anderer landete direkt neben Val. Zwei Männer stiegen aus und befestigten eine Kralle an dem Schwert, die mit einem starken Stahlseil am Hubschrauber angebracht war. Die Männer stiegen wieder ein und der Hubschrauber startete. Das Seil spannte sich und langsam zog es das Schwert aus dem Boden. Das Blut des Mannes rann an diesem herab und der Wind der Rotorblätter wehte die Tropfen in Vals Gesicht.

Die Leiche des Mannes löste sich in eine grün leuchtende Flüssigkeit auf, die im Boden versickerte. Überall im Krater begannen auf einmal Pflanzen zu wachsen, so schnell, dass es aussah wie in einer Zeitrafferaufnahme aus einem Dokumentarfilm. Nach nur wenigen Minuten war er umgeben von haushohen Bäumen, Farnen und bunten Blumen. Zaghaft streckte er eine Hand nach einem großen Baumstamm vor sich aus. Als er diesen berührte, durchfuhr ihn ein starker Puls, der ein filigranes Muster aus grün leuchtenden Äderchen auf seiner Haut hinterließ.

Val fühlte noch ein heißes Brennen auf seiner Haut, dann wachte er auf. Langsam öffnete er die Augen: Es war bereits dunkel und die hellen, orangenen Lichter der Straße schienen in die dunkle Gasse. Das Blut, in dem er lag, war schon leicht geronnen. Es klebte überall an seiner Kleidung und seinem Gesicht. Erst begann er seine Finger zu bewegen, dann zog er seinen Arm zu sich und fühlte mit der Hand über sein Gesicht.

Er hatte keine Schmerzen und spürte wie sein Herz schlug. Seine Atmung war langsam und flach. Immer wieder ballte er seine Hand zur Faust, öffnete sie wieder und fühlte das klebrige, halbgeronnene Blut daran. Nach einer Weile beschloss er sich aufzurichten. Zaghaft schaute er an sich hinab. Die Schusswunden waren weg, doch die Löcher in seinem Hemd nicht. Der erste Schuss, der ihn in der Hüfte getroffen hatte, hatte auch ein großes Loch an der Vorderseite des Hemds hinterlassen. Doch bei dem zweiten war das nicht geschehen.

Er zog sein Oberteil aus und wischte sich damit, so gut es ging, das Blut vom Leib. Das orange Licht der Straßenlaternen wurde nahezu unverfälscht von seiner blassen Haut reflektiert. Sein Körper war sehr schmächtig und er war nicht besonders groß. Kein einziger Makel zierte seine Haut, obwohl er schon dutzende Narben überall am Körper haben müsste. Für ihn war das nichts besonders, weil es einfach schon immer so war. Es fragte auch niemand nach, da es sowieso keinen gab, der sich damit auskannte.

Val stand auf und lief eine Weile umher bis er die Große Kirche im Stadtzentrum sah. Keine gewöhnliche Kirche, sondern ein gigantischer Wolkenkratzer, der alle anderen Gebäude weit überragte. An jeder der Fassaden hing ein großes, leuchtendes, auf dem Kopf stehendes Kruzifix, das über dem großen Querbalken noch einen kleineren Balken hatte. Im Zentrum der Stadt war auch das Regierungsviertel.

Im Gegensatz zu den Außenbezirken war das Regierungsviertel nicht sonderlich lebhaft, dafür sehr sauber und gepflegt. Es gab große Parkanlagen, Spielplätze und Sportstätten. Sehr viel Grün zierte das Stadtbild und die Wohngebäude beherbergten nur die Abgeordneten der Regierung, der Kirche und deren Familien. Die reichen Bürger lebten in einem anderen Stadtteil, der vollkommen abgeschirmt im westlichen Bereich der Stadt lag.

Für Val war die Kirche im Zentrum nichts weiter als ein nützlicher Orientierungspunkt; denn von hier an wusste er, in welche Richtung er gehen musste. Er hoffte, dass sich alles andere schon ergeben würde. Die Nacht war sehr warm und schwül doch der Himmel war klar. Es war noch ein weiter Weg bis zu dem namenlosen Viertel, in dem er mit seiner Bande in einem verlassenen Waisenhaus lebte. Noch einmal schaute er sich das gewaltige Gebäude an, dann lief er los. Als er ankam war es bereits Morgen und die Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die verwinkelten Häuserschluchten.

Das Viertel, in dem sich das Waisenhaus befand, war verlassen und die Gebäude Großteiles verfallen. Leise öffnete er die Tür und schlich sich durch den Speisesaal. Die Kinder schliefen dort alle zusammen, meistens auf alten Matratzen oder in Nestern, die sie sich aus alten Kleiderresten bauten. Val hockte sich in eine Ecke und dachte über diesen merkwürdigen Traum nach. Es dauerte nicht lang, da kam Momo sich streckend und gähnend aus dem Zimmer, in dem die Betreuer früher geschlafen hatten. Er war der Einzige, der nicht bei den anderen schlief und ein eigenes Bett hatte. Warum das so war, wusste Val nicht. Vielleicht weil er der Anführer war oder auch nur weil er immer so laut schnarchte, dass ihn die anderen so weit wie möglich von sich weghaben wollten, wenn sie schliefen. Als er Val entdeckte, setzte er sich zu ihm.

„Hey”, sagte er ungewohnt schüchtern. „Es tut mir wirklich leid. Es ging alles so schnell, wir waren so aufgeregt”

„Schon okay. Ich bin dir nicht böse”, antwortete Val nachdenklich.

„Wir sind zurückgekommen und haben nach dir gesucht. Aber es waren immer noch viele Polizisten dort” Val legte seine Hand auf Momos Schulter und schaute ihm tief in die Augen.

„Es ist wirklich okay, du brauchst nichts zu erklären” Dann stand er auf und ging nach draußen. Momo folgte ihm.

„Was ist denn passiert? Du bist voller Blut. Und wo is‘n dein Hemd?“ Val schaute ihn schweigend an und versuchte sich eine glaubhafte Geschichte auszudenken. Momo packte ihn an den Schultern.

„Es ist okay. Mir kannst du es sagen”, sagte er sehr eindringlich. „Du bist in letzter Zeit ein bisschen verstörter als sonst. Aber mach dir keine Sorgen, dass wird schon wieder” Beide schwiegen ein paar Minuten. Momo ließ nicht von ihm ab. Er machte sich große Sorgen. Val haderte mit seinen Ängsten. Irgendwo in den tiefen seines Bewusstseins manifestierte sich die Angst, er würde ihm nicht glauben und ihn verstoßen, weil er für einen Lügner gehalten wird. Momo schaute ihm immer noch fest in die Augen. Val fasste all seinen Mut zusammen.

„Ich wurde von einem Polizisten niedergeschossen. Als ich wieder aufgewacht bin, war alles wieder verheilt”, sagte er schüchtern. Momo schaute an ihm herab, musterte Vals Oberkörper. Beschämt drehte Val den Kopf zur Seite und schaute angespannt auf den Boden.

„Also ich fand das schon immer komisch bei dir. Egal wie schwer du dich verletzt hattest, es war nach ein paar Stunden komplett weg” Er schien nicht sonderlich überrascht darüber zu sein.

„Vielleicht bin ich die Reinkarnation des bösen Gottes Shezzar und bin gekommen, um die Menschheit endgültig auszulöschen” Beide schmunzelten verhalten. Dann lachte Momo holprig.

„Naja, ist ja egal. Es geht dir gut, soviel reicht mir fürs Erste. Morgen ist Renaissancefest. Da können wir endlich wieder richtig viel futtern” Val lächelte. Momo ging zurück ins Haus, weckte alle mit lautem Getöse und machte aus dem Bisschen, was sie sich gestern ergaunert hatten, ein kleines Frühstück. Der Tag verstrich wie jeder andere. Sie zogen in kleinen Gruppen durch die Stadt, stahlen und erbettelten sich ein bisschen Geld, mit dem sie sich Essen kauften. Diese tägliche Routine war schon fast monoton, trotz der immerwährenden Gefahr, erwischt zu werden. Was für andere ein Abenteuer war, war für Val und seine Freunde eine bittere Drangsal, ohne die sie elendig verhungern würden. Wie ein Rudel wilder Wölfe zogen sie durch die Gassen und ließen keine Gelegenheit aus, irgendwie an etwas Essbares zu gelangen.

Am nächsten Morgen war der erste Tag des Renaissancefests und alle gingen schon früh auf die Straße und teilten sich in mehrere Gruppen auf. Die Straßen der Stadt waren total überfüllt und die Menschen waren zu sehr damit beschäftigt betrunken zu sein und sich zu amüsieren, als auf ihre Habseligkeiten aufzupassen.

Die Kinder brachten eine beachtliche Menge Geld und Wertsachen mit Heim und die darauffolgenden Tage hatten die Kinder so viel zu essen, dass sie hin und wieder etwas wegwerfen mussten. Das Renaissancefest war ein fünf Tage andauerndes Fest, an dem das Ende des großen Krieges und somit der Beginn der Wiederauferstehung der Menschheit gefeiert wurde. In Marista mehr als anderswo. Es gab kilometerlange Paraden, Feuerwerk und ausgefallene Kostüme. Die Leute tranken sehr viel, grölten laut, spielten ohrenbetäubende Katzenmusik und prügelten sich, wo sie nur konnten.

Am letzten Tag war der Höhepunkt der Feierlichkeiten eine stundenlange Predigt von Kardinal Jannov, im Zentrum der Stadt. Val war zusammen mit Momo und zwei anderen in dem Menschengetümmel auf dem großen Platz vor dem Regierungsviertel unterwegs. Sie versteckten sich in einer Gasse und warteten auf eine Gelegenheit.

„Gina, siehst du den betrunkenen Kerl da drüben?“, flüstere Momo und zeigte dezent auf einen Typen, mit einem Gaunerkostüm, der scheinbar stark angetrunken war. Gina nickte schweigend.

„Okay, du lenkst ihn ab und ich krall mir sein' Geldbeutel”, fuhr er fort. „Val du kommst mit, falls was schiefläuft. Ryu, du wartest hier und hältst uns den Fluchtweg frei” Momos Charisma war beeindruckend. Es fiel ihm sehr leicht, andere für seine Ideen zu begeistern und sie zusammen zu halten. Er hatte die Bande immer voll im Griff und ohne ihn hätten die anderen wohl nicht so lange überlebt. Gina, mit 19 das älteste Mädchen der Gruppe, dazu noch bildschön, mit sehr weichen, blonden Haaren und einem engelsgleichen Gesicht, ging zu dem Typ und fing an mit ihm zu flirten. Val und Momo schlichen sich von hinten an und Momo zog ihm geschickt das Geld aus der Tasche. Alles schien glatt zu laufen, bis zwei andere Typen das sahen.

„Das Drecksbalg beklaut die Leute auf offener Straße!“, brüllte einer und rannte auf Momo und Val zu. Momo schubste den betrunkenen und schrie: „Oh scheiße!“ Das war das simple, aber effektivste Notsignal, das er sich ausgedacht hat. Alle wussten was es bedeutet und alle rannten in verschiedene Richtungen davon. Einer der Typen verfolgte Val, der andere war hinter Momo her. Val rannte so schnell er konnte und ging auch schnell in der Menge unter. Auf dem Weg zum Treffpunkt für Notfälle, rannte er eine weniger überfüllte Straße entlang und schaute immer wieder nach hinten. Er bog in eine Querstraße ab und plötzlich stieß ihn irgendwas an der Schulter, er verlor das Gleichgewicht, stolperte und knallte mit dem Kopf gegen einen Laternenmast. Er kringelte sich kurz am Boden und hielt sich die schmerzende Stelle am Kopf. Laute, zischende Geräusche gab er beim Einatmen von sich.

Gleich gibt’s paar aufs Maul. Dachte er sich und schaute wütend auf.

„Geht’s dir gut?“, fragte eine niedliche Stimme. Als Val sah mit wem er es zu tun hat, verflog seine Wut und sein Schmerz, als wäre nie was gewesen. Es war ein süßes, blondes Mädchen mit einer Roten Schleife in den Haaren und einem etwas schmutzigem roten Kleid, das ihn sorgenvoll und mitfühlend anstarrte. Ihre großen, hellblauen Augen reflektierten das grelle Sonnenlicht und funkelten wie Diamanten.

Val schwieg verlegen. Ein paar Schritte hinter ihr entdeckte er einen großen, schlanken Mann, mit kurzen, schwarzen Haaren, der ihm irgendwie vertraut vorkam. Er sah nicht besonders freundlich aus; als wäre er ihr Leibwächter. Das Mädchen rieb sich ihre schmerzende Schulter und schaute sich Vals Stirn an.

„Du hattest aber einen Zahn drauf. Läufst du vor jemandem weg?“, fragte sie und streckte ihren Arm nach seiner Stirn aus.

„Milena”, sagte der große Mann. „Können wir jetzt weitergehen?“, fragte er kalt und starrte in Richtung Innenstadt.

„Aber er ist verletzt. Ich seh‘ mir das kurz an” Sie griff nach der Hand, die Val schützend auf die schmerzende Stelle hielt und zog sie weg.

„Da ist ja gar nichts”, sagte sie und schaute genauer auf seine Stirn. Val wehrte sich nicht, obwohl ihm etwas unwohl war. Er starrte auf ihre Hand und beobachtete, wie sie seine festhielt. Sie war warm, sehr weich und umklammerte seine Finger sehr sanft. Val war wie hypnotisiert davon. Ein sehr angenehmer und beruhigender Duft ging von ihr aus. Plötzlich schimmerte kurz ein grün leuchtendes Symbol auf seinem Handrücken.

„Autsch”, schrie Milena und zog reflexartig ihre Hand weg.

„Was ist?“, fragte der Mann.

„Keine Ahnung, ich glaub ich hab einen elektrischen Schlag bekommen”, sagte sie angespannt. Der Mann drehte sich zu ihr und sah Val in die Augen. Plötzlich verzog er seine Mine, als ob er einen Geist sehen würde.

„Du bist das? Das kann nicht sein”, flüsterte er leise. Val hörte was er sagte und das machte ihm Angst. Er stand auf und lief davon.

„Warte!“, rief das Mädchen. „Du hättest mir wenigstens sagen können, wie du heißt” Doch Val war schon in die nächste Gasse verschwunden.

Als Val den Treffpunkt erreichte, waren Momo, Gina und Ryu schon da. Ryu war mit 11 Jahren der jüngste und der kleinste von allen, und er war immer etwas aufgedreht. Mit seiner kindlichen Art, seinem heiteren Gemüt und seinem optimistischen Charakter konnte er problemlos die anderen bei Laune halten. Dies war unglaublich wichtig für eine Gruppe von etwa elf Kindern, die im elendsten Teil einer elendigen Stadt mit ihrem Leben allein zurechtkommen mussten.

Ryu hatte fast immer ein schmutziges Gesicht, große, sehr helle, blaue Augen und kurze, meist zerzauste, schief geschnittene braune Haare. Er gehörte zu den wenigen Anderen, die sich gut mit Val verstanden und er war immer sehr fröhlich und neugierig. Gina war eine ausgesprochen attraktive junge Frau, die mit den anderen Kindern aufgewachsen ist und von Anfang an in der Gruppe war. Sie war, so reimte es sich Val in seiner Fantasie zusammen, wohl auch ein Grund warum Momo in einem anderen Raum schlief als alle anderen. Sie hatte kein eigenes Zimmer, schlief aber seit einer Weile nicht mehr mit im Speisesaal.

„Puh, dir geht es gut”, sagte Momo erleichtert und ging zu Val. „Und schau mal” Er hob die Geldbörse des Mannes in die Luft. „Es hat sich wenigstens gelohnt” Val atmete noch etwas schwer und ruhte sich kurz aus. „Gehen wir jetzt wieder nach Hause?“, fragte er. Momo schüttelte den Kopf.

„Nein noch nicht” Er ging zu Val und packte ihn an den Schultern. „Hör zu, ich hab einen Plan, wie wir zu genug Geld kommen, um die nächsten zwei Jahre für uns alle Essen und ein Schönes zu Hause zu kaufen” Momo schaute ihm sehr entschlossen und ernst ins Gesicht.

„Was hast du vor?“, fragte Val skeptisch.

„In Tuya gibt es mehrere Villen, in denen die Leute ihr Geld einfach so rumliegen lassen”, sagte Momo aufgeregt. „Es ist Haufenweise Geld. Mehr als du dir vorstellen kannst”

„Tuya? Wie sollen wir da reinkommen? Der Ganze Stadtteil wird bewacht. Außerdem ist er von einer Mauer umgeben”

„Ja, aber ich hab einen Weg gefunden. Ein altes Kanalisationsnetzwerk aus der Zeit vor dem großen Krieg. Ryu war auch schon da. Wir haben uns die Häuser angeschaut und es war wie im Paradies. Aber ich brauch dich dabei. Okay?“ Val ließ sich schnell mitreißen und willigte ein. Momos Pläne hatten für gewöhnlich Hand und Fuß, selbst wenn er sie spontan machte. Es war ein weiter Weg bis dahin und es fing an zu dämmern.

Momo öffnete einen Kanaldeckel in einer Seitenstraße und stieg hinab. Gina blieb zurück und bewachte den Ausgang. Val und Ryu folgten Momo. Die Leiter endete am Boden der Kanalisation. Ein paar Meter weiter war ein sehr kleines Loch in der Wand, durch das nur ein Kind oder ein sehr schlanker erwachsener passte.

Momo zwängte sich mit seinem großen Köper nur mühsam hindurch, Val und Ryu hatten keine Probleme. Der Tunnel war etwa zwei Meter lang und mündete in einem uralten Rohrschacht, der noch weiter nach unten in einen Kanal führte. Der Gestank war fast unerträglich und es war stockfinster. Jetzt verstand Val warum Momo letztens unbedingt diesen Laden überfallen musste. Denn er hatte einen Haufen nützlicher Sachen dabei: Taschenlampen, Knicklichter und ein Multifunktionswerkzeug. Er schien das schon länger geplant zu haben.

Dieser Ort war so unwirtlich, Val hegte keine Zweifel mehr, dass seit tausend Jahren niemand hier war. Nach etwa zwei Stunden durch die muffige und luftkarge Kanalisation, blieb Momo plötzlich stehen. Der Tunnel endete in einem schmalen Schacht, der senkrecht nach oben führte. Momo stieg eine Leiter rauf, bis er am Ende eine massive Betonplatte über sich hatte. „Das ist die Mauer von Tuya. Sie haben die Mauer wohl als Segment direkt hier draufgesetzt, so blieb der Schacht erhalten”, erklärte Momo und stieg von der Leiter ab, in eine kleine Nische, die er selbst mühevoll ausgehoben hat. Er streckte seinen Arm nach oben aus, schob einen Stein zur Seite und kletterte hoch. Val folgte ihm.

„Ryu, du sicherst den Fluchtweg, wie immer, klar?“, befahl Momo.

„Aber ich will auch mal mit raus”, flehte Ryu.

„Nein. Ich will nicht, dass dir etwas passiert. Du bist noch zu unerfahren und außerdem brauche ich dich hier”, fauchte Momo herrisch. Etwas eingeschüchtert gab Ryu nach. Das Loch, dass er bewachte, war genau hinter der Mauer, die das Reichen-Viertel Tuya von den anderen trennte. Es war wie eine vollkommen andere Welt.

Grüne Wiesen, prunkvolle Villen und hübsch geschmückte Gärten. Viele der Anwohner waren heute auf Versammlungen und Festivitäten. Deswegen suchte sich Momo genau diesen Tag für die Aktion aus. Er und Val schlichen durch die Gärten und stiegen in die Häuser ein. Nur wenige waren verschlossen und Momo hatte nicht zu viel versprochen: Sie konnten unglaublich viel Geld abgreifen. Tuya war wie eine eigene kleine Welt. Die Menschen dort waren so reich, dass sie es nie verlassen mussten. Es war eine autonome Stadt, die von der Regierung und der Kirche in Ruhe gelassen wurde und in der andere Gesetze galten. Es machte nur einen Bruchteil von Marista aus, doch war es immer noch so groß wie eine Kleinstadt plus Umland. Es gab dicht bebaute Villenviertel, weite Felder mit Prachtvollen Höfen und sogar einen nochmal abgeschirmten Teil, der Tuya-Sola genannt wurde, indem die Dienerschaft der Bewohner lebte.

Ryu wartete gelangweilt auf die Rückkehr der Beiden. Er lugte immer wieder aus dem Loch und sah nach ihnen. Da fiel ihm ein großes Haus auf, an dem die anderen einfach vorbeigelaufen sind. Warum wusste er nicht. Aber es sah sehr prunkvoll aus.

Ryu stieg, trotz Verbot, aus dem Loch und ging darauf zu. Es sah so aus als wäre keiner da. Eine Weile schlich er um das Haus und schaute durch die Fenster hinein. Überall lagen wertvoll anmutende Gegenstände wie Schmuck oder teure elektronische Geräte herum. Als er die Terrasse erreichte bemerkte er, dass die Tür nicht ganz ins Schloss gefallen war. Er schaute sich noch kurz um, dann betrat er das Haus. Auf einer Kommode lag eine auffällig glänzende, silberne Halskette, von der er einfach nicht ablassen konnte. Vorsichtig näherte er sich ihr und wollte gerade den Arm nach ihr ausstecken da packte ihn eine große, starke Hand am Kragen und warf ihn zu Boden. Noch ehe er reagieren konnte hielt man ihm den Mund zu und er wurde nach draußen geschliffen.

Val und Momo kamen gerade mit einem Rucksack voller Wertsachen aus einem Haus und schlichen zurück zum dem Erdloch. Auf dem Weg dahin sammelte Val einen zweiten Rucksack ein, den er vorher in einem Busch versteckt hatte. Momo stieg in das Loch und ließ sich von Val einen Rucksack geben.

„Ryu!“, rief er. „Ich bin's, Momo. Wo bist du?“, doch er bekam keine Antwort. Er ging wieder zum Ausgang und ließ sich einen weiteren Rucksack von Val geben.

„Ryu ist nicht da”, flüsterte er zu Val. „Siehst du das Haus da drüben? Wir haben es absichtlich gemieden, weil es im Sichtbereich des Wachhäuschens ist. Vielleicht ist er dahin gegangen”

„Geh schon mal vor, ich werde nach ihm sehen”, antwortete er.

„Nein, ich komme mit” protestierte Momo.

„Vergiss es!“, Val wurde ernst und drückte Momos Kopf zurück in das Loch. „Du nimmst das Geld und gehst nach Hause. Wenn uns beiden was passiert dann sind die anderen am Arsch. Ohne dich überleben sie nicht”

„Val, verdammt. Hör auf dich so aufzuspielen! Das ist verdammt gefährlich. Ich hab den Typ beobachtet. Der hat sie nicht mehr alle”

„Dann ist es so! Was soll mir passieren? Ich bin letztens niedergeschossen wurden und bin trotzdem zurückgekommen. Ich komme heim, zusammen mit Ryu, okay?“ Momo wurde traurig.

„Ich kann dich hier nicht allein lassen, man”, sagte er in einem seltsamen kindlich, jähzornigen Ton.

Val packte ihn am Kragen. „Ich sag es dir nicht nochmal. Die können nicht ohne dich, und das weißt du verdammt gut. Also verpiss dich gefälligst” Val schubste ihn Weg und schob den Stein vor das Loch. Er schlich vorsichtig um das Haus und suchte nach Hinweisen. Er ging weiter Richtung Straße und entdeckte einen uniformierten Kerl. Dieser stand mit einem Fuß auf Ryus Rücken und drückte mit dem Stiefel auf seine Wirbelsäule. Val sah, dass Ryu schmerzen hatte.

Der Mann quasselte irgendwas am Telefon davon, dass er einen Streuner gefangen hatte. Es hörte sich nicht nach einem offiziellen Gespräch mit seinem Vorgesetzen an. Eher so als würde er versuchen, etwas zu verkaufen. Er handelte die ganze Zeit und pries Ryu als gesundes, junges Versuchsobjekt an, dass ihrer Göttlichkeit sicher zuträglich wäre. Seine Art zu reden war verstörend. Als wäre er ein adeliger oder ein Aristokrat.

„Hören sie den Knaben schreien? Das ist doch gut, nicht wahr? Er ist gesund und ausgesprochen Vital. Mir gereicht es, mit diesem äußerst fidelen Fang nun zu mehr als Siebzigtausend. Ich verlange nun mindestens hundert” Er beendete das Gespräch zufrieden und steckte das Telefon weg. Wieder drückte er Ryu stärker seinen Stiefel in den Rücken.

„Na du Kleines Arschloch”, sagte er nun weniger eloquent. „Wolltest die Reichen Schnösel hier beklauen, dafür wirste den Rest deines kurzen Lebens leiden. Die werden dich nämlich als Versuchskaninchen auf einen Fleischerhaken aufknüpfen und dich mit allerlei spitzen Gegenständen drangsalieren. Und ich bekomme einen fetten Batzen Kohle dafür, is das nicht geil?“

Ryu schrie immer wieder kurz auf, jedes Mal, wenn der fette Kerl die harte Schuhsole auf seine Wirbelsäule drückte. Und immer lachte er dabei. Val saß an einer Wand und überlegte sich, was er am besten tun könnte. Er hatte ebenso höllische Angst wie Ryu. Aber er musste ihm helfen. Bei dem Gedanken, dass sie einem 11-Järigen Jungen so grauenvolle Dinge antun werden, fing sein Blut an zu Kochen. Er wusste nicht warum, aber er hatte dabei das Gefühl, dass ihm so etwas selbst einmal passiert ist, und es ihm schrecklich wehgetan hat. Wie ein wahnsinniger sprintete er los und schrie laut.

„Ryu, Lauf weg!“ Schrie er, dann rammte er den Mann mit der Schulter und beide fielen zu Boden. Ryu stand auf und schaute zu Val. Er war wie versteinert vor Adrenalin.

„Hau ab! Lauf endlich los, du Vollpfosten!“, schrie Val ihn böse an und versuchte aufzustehen. Ryu rannte los. Val Stand auf und rannte ebenfalls los, doch er fiel sofort wieder. Der Mann hatte ihm am Fußgelenk gepackt und hielt ihn fest. Er zerrte ihn zu sich und richtete sich wieder auf. Val war nicht besonders stark und egal wie sehr er sich wehrte, er konnte ihm nichts entgegensetzen. Genau wie er es mit Ryu gemacht hatte, schlug er Val ins Gesicht und stemmte ihm seinen Fuß in den Rücken.

„Is‘ ja interessant”, sagte der Wachmann schnaufend. „Naja du bist zwar nicht so schön jung wie der andere aber ich werde trotzdem noch gutes Geld für dich bekommen” Wenige Minuten später landete ein ungewöhnlich futuristisch aussehendes Fluggerät auf der Straße und es öffnete sich eine Luke. Eine Seltsame Frau mit lockigen, langen roten Haaren, Sommersprossen und einem Laborkittel stieg aus dem Vehikel. Eine große, verspiegelte Schutzbrille mit gelb getönten Gläsern verdeckte ihre Augen. Sie kniete sich vor Val nieder und sah ihn sich an.

„Sie hatten mir einen jüngeren versprochen”, sagte sie kalt und forsch.

„Naja, werte Dame Fraya. Es gab da einen kleinen Zwischenfall, der mich eben zu diesem Exemplar brachte”, Stotterte der Mann. Sie schaute noch einmal musternd alles an. Dann schnippte sie mit den Fingern und zwei Kräftige Männer in Kampfrüstungen stiegen aus dem Gefährt. Sie schubsten den Man weg und nahmen Val mit. Fraya überreichte ihm einen Umschlag. Er steckte ihn in seine Brusttasche, bedankte sich höflich und ging fort. Mehr als eine lustlose Handgeste bekam er von Fraya nicht, während sie sich umdrehte und in das Fluggerät einstieg. Sanft und anmutig hob es ab und flog davon.

Wie verrückt rannte Ryu durch die Kanalisation, immer der Spur aus Knicklichtern nach. Am Ausgang warteten Momo und Gina schon und halfen ihm raus.

„Wo ist Val?“ Fragte Momo besorgt.

„Er… er ist direkt hinter mir”, sagte Ryu und starrte in den Gully. „Er hebt bestimmt noch die Lichter auf, damit sie uns nicht folgen können, denk ich”

„Hast du gesehen wie er dir nachgelaufen ist?“, fragte Momo eindringlich. Ryu schüttelte den Kopf. Nach drei Stunden warten sah Momo keine Chance mehr, dass er noch kommt. Zurück konnten sie nicht, da es bereits hell wurde. Traurig beschloss Momo, sich wieder auf den Weg nach Hause zu machen. Die ganze Zeit sagte keiner ein Wort.

Kapitel 2

Ein neues Leben

Val wurde auf einen Platz gesetzt und die zwei Soldaten setzten sich neben ihn. Das Licht in dem Gefährt war sehr düster und Val konnte kaum etwas sehen. Fraya kam den Gang entlanggelaufen. Sie hatte sich der Schutzbrille entledigt und sich stattdessen eine Offiziersmütze aufgesetzt, deren Sonnenblende weit über ihre Augen ragte.

„Bah, der stinkt ja wie eine Jauchegrube. Das ist ja unerträglich”, sagte sie abwertend und setzte sich auf den Platz gegenüber. Sie hielt sich mit einer Hand die Nase zu, mit der anderen griff sie nach Vals Kinn und drehte seinen Kopf hin und her. Penibel musterte sie ihn und ließ gleich wieder von ihm ab.

„Du gehst dann erst mal duschen und ziehst dir was Sauberes an”, sagte sie mit einer etwas freundlicheren Stimme und lehnte sich in den Sitz. Eingeschüchtert schaute Val zu den Männern und kam zu dem Schluss, dass er sich besser passiv verhält.

„Was ist mit dir?“, fragte Fraya eindringlich, aber nicht bedrohlich. „Kannst du nicht sprechen?“ Val fasste all seinen Mut zusammen. Doch sein Blick war fest auf den Boden gerichtet. „Wieso macht ihr grauenvolle Experimente an Kindern?“, fragte er laut und mutig. Fraya schaute grimmig unter ihrer Sonnenblende hervor. „Wir machen nur ein paar Tests. Dann bekommst du ein neues Zuhause”, sagte sie etwas verhalten.

„Wieso haben sie dem Mann sonst so viel Geld gezahlt?“ Vals Stimme war zittrig und angespannt. „Er hat gesagt, dass ihr mich aufschlitzt und mich foltert”

„So? Hat er das gesagt?“, Fraya verschränkte die Arme vor der Brust. „Ja, das war bis vor kurzem noch so. Meine Mutter ist einfach viel zu ungeduldig. Wärst du an sie geraten, wäre das wirklich so passiert”, sie machte eine kurze Pause und schaute nachdenklich auf den Boden, „Keine Angst, ich werde dir nicht weh tun. Wir suchen jemanden bestimmtes. Du bist es wohl eh nicht, aber ich muss mich ans Protokoll halten, genau wie alle anderen”

„Und was macht ihr mit mir, wenn ich es doch bin?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Wird sich wohl erst zeigen, wenn es soweit ist” Das Flugzeug landete und als sie das Gefährt verließen erkannt Val, dass sie im Innenhof eines modernen Gebäudekomplexes gelandet sind, wie er ihn noch nie in Marista gesehen hatte. Um den Landeplatz herum war eine weitläufige Parkanlage. Alles war sehr sauber, die Pflanzen gepflegt und die Gehwege gepflastert. Die Gebäude waren fünfeckig um den Hof angeordnet. Die Fassaden waren weiß, ebenfalls sehr sauber und hatten große Fenster. Alles war als hätte ein einziger, von perfekter geometrischer Präzision besessener Ingenieur diesen Komplex allein entworfen und keiner wollte ihm widersprechen.

Val wurde in einen Wohnbereich gebracht und in ein Zimmer eingesperrt. Er erhielt die Anweisung sich gründlich zu Waschen und sich die Sachen anzuziehen, die auf dem Bett lagen.

Der Raum war sehr hell und alles war weiß. Es gab keine Winkel und Ecken. Alles war abgerundet und beleuchtet. Man würde jedes Staubkorn sofort entdecken und bräuchte sich nicht mal besonders anstrengen, es zu beseitigen. Aber es fühlte sich auch sehr kalt an. Das weiß-bläuliche LED-Licht, das einen fensterlosen Raum erhellte, war erdrückend. Auch wenn Val nicht wohl bei der Sache war, ging er ins Badezimmer und duschte sich. Das war das erste Mal seit sehr langer Zeit, dass er wieder sauberes, fließendes Wasser zum Waschen bekam.

Als er fertig war, trocknete er sich ab und setzte sich aufs Bett. Bedrückt schaute er sich die Sachen an, die für ihn bereit lagen. Weiße Unterwäsche, Socken, eine langärmlige, schwere, weiße Jacke mit Lederriemen und Schnallen an den Armen, am Kragen und an der Brust. Eine lange, weiße Hose, die ebenfalls an Oberschenkel, Unterschenkel und am Ende der Hosenbeine Schnallen hatte. Wozu die gut waren wusste Val nicht, doch er hatte den Verdacht, dass man so jemanden schnell irgendwo fixieren kann. Es klopfte an der Tür.

„In fünf Minuten holen wir dich ab, du bist bis dahin hoffentlich fertig”, brummelte eine tiefe Stimme von der anderen Seite. Val gab nach und zog sich die Sachen an. Er wollte es nicht, doch die Angst, man würde ihm etwas noch Schlimmeres antun, wenn er sich weigert, war einfach zu groß. Auf die Sekunde genau fünf Minuten Später öffnete sich die automatische Tür, hinter der Fraya alleine zum Vorschein kam. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen.

„Du kommst doch sicher freiwillig mit”, sagte sie sehr freundlich und lächelte. Erst jetzt sah Val ihre Augen. Sie waren Orange. Noch nie zuvor hatte Val etwas davon gehört, dass Menschen orangefarbene Augen haben können. Zudem hatte sie sehr blasse Haut und Sommersprossen im Gesicht, was den Kontrast zu dieser ungewöhnlichen Augenfarbe noch extremer machte. Val ging langsam auf sie zu und studierte die Umgebung. Alles sah gleich aus: Weiß, mit LED-Streifen beleuchtet und vollkommen rein.

Er schmiedete einen Plan. Fraya wirkte nicht sehr kräftig, selbst Val könnte sie überwältigen. Doch wie findet er wieder nach Hause? Er beschloss, sich das später zu überlegen und musterte ihren Körper weiter nach Schwachstellen. Ihr Bauch schien ihm das logischste Ziel. Dann überlegte er, mit welcher Schlagkombination er seine Flucht einleiten soll. Ein kräftiger Schlag mit der Faust, den Ellenbogen oder lieber ein beherzter Tritt?

Diese ganzen Fragen verstummen augenblicklich, als er das Zimmer verließ und die zwei riesigen, schwer gepanzerten Typen wiedersah, die mit dem Rücken an der Wand neben seinem Zimmer standen. Er verlor augenblicklich jeglichen Mut und griff demütig nach Frayas Hand. Sie gingen eine Weile den Gang hinunter, der sich die ganze Zeit nicht zu verändern schien. Wie ein Labyrinth, gab es hin und wieder ein paar Quergänge, aber die waren so gleichmäßig angeordnet, dass man sofort die Orientierung verloren würde, wenn man einmal vergisst mitzuzählen.

Alle, die eine Befugnis hatten, sich hier aufzuhalten, wurden von einer farbigen, leuchtenden Lichterreihe am Boden zu ihrem Ziel geführt. So war es auch jetzt der Fall. Der Streifen unter ihren Füßen leuchtete rot und erlosch direkte hinter ihnen wieder. Nach etwa einer halben Stunde erreichten sie eine große, schwere Tür, die sich auch gleich öffnete. Dahinter war ein kleiner Raum mit einer kleinen Kammer, in der sich eine aufrechtstehende Liege befand.

Fraya führte Val zu der Liege und fing an, unsanft seine Arme fest zu binden. Sie war nervös und grob, als ob sie es auf einmal besonders eilig hätte. Dabei verletzte sie ihn an der rechten Hand. Ein bisschen Blut quoll aus der Wunde heraus. Sofort ging ein Alarm an.

„Labor kontaminiert”, erklang eine Meldung.

„Verdammt”, fluchte Fraya und griff nach Vals Hand. „Mein Gott, bist du empfindlich. Jetzt muss ich erst wieder alles desinfizieren und sauber machen”, sagte sie wütend. Doch als sie beobachtete wie sich seine Wunde binnen weniger Sekunden verschloss, blieb ihr der Atem stehen. Wie eine trainierte Notreaktion griff sie nach Vals Gesicht und zog mit den Daumen seine Augenlieder auseinander.

Sie schaute sich sein Auge so nah an, dass Val die Wärme ihrer Haut spürte. Dann entdeckte sie etwas, wonach ihre Mutter schon lange gesucht hatte. Es war ein winzig kleiner, grün schimmernder Ring, der sich um seine äußere, braune Iris zog. Er war so klein, dass ihn Val selbst nie bemerkt hat, aber trotzdem war er mit bloßem Auge sichtbar. Fraya machte das nur noch nervöser. Man sah ihr an, wie sie überlegte und mit sich selbst rang.

Sie lief auf und ab, tippte mit dem Finger auf ihrer Hand, zählte leise vor sich hin und schüttelte immer wieder den Kopf. Val erstarrte vor Angst und er konnte sich nicht erklären, was auf einmal los war. Die einzige plausible Möglichkeit war, dass er wirklich unsterblich ist und sie ihn jetzt bis aufs kleinste zerlegen wollen, um herauszufinden wieso und wie sie es auf sich selbst übertragen können. Dieser Gedanke macht Val schreckliche Angst und er fing an zu zappeln und zu kämpfen. Fraya reagierte sofort und rammte ihm eine Spritze mit hochdosiertem Betäubungsmittel in den Hals. Das letzte, das Val vernahm bevor er einschlief, war wie Fraya brüllte, sie sollten ihn sofort zu einem Raumhafen bringen.



Währenddessen, in einer kleinen Hütte, etwa vierzig Kilometer östlich der Stadtgrenze von Marista, war Milena, das Mädchen mit dem Val damals einen Zusammenstoß hatte, gerade dabei sich etwas Leckeres zum Frühstück zuzubereiten. Sie war sehr fröhlich und ausgelassen aber auch ein bisschen nachdenklich, denn aus irgendeinem Grund ging ihr der Junge, der sie auf dem Renaissancefest über den Haufen gerannt hat, seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf.

Sie grübelte die ganze Zeit, wieso sie diesen elektrischen Schlag bekommen hat und warum der Junge so plötzlich weggelaufen ist. Auch Han, der große, schmale Typ, der sie begleitet hat, benimmt sich seitdem anders. Als würde er sich an etwas erinnern, könne es aber nicht zuordnen. Aber das seltsamste war, dass sie seit dieser Begegnung einen schimmernden Kreis auf ihrem linken Handrücken hatte, in dessen Inneren sich ein einfaches Symbol in Form einer gewundenen Linie befand. Dazu kommt, dass sie seit her vom Glück verfolgt wird. Auf dem Renaissancefest hat sie bei jedem Spiel an den Ständen gewonnen, egal wie tapsig sie sich anstellte. Sie gewann immer wieder, bis sie von den Besitzern verjagt wurde, weil sie ihnen das Geschäft ruinierte. Das war aber erst nach der Begegnung mit Val. Vorher traf sie nie einen Ring oder schaffte es, eine Dosenpyramide umzuwerfen. Sie war generell sehr ungeschickt und tollpatschig.

Das alles und die Tatsache, dass sie ihn niedlich fand, schürten in ihr den Wunsch, diesen seltsamen Jungen wiederzusehen. Doch es schien vollkommen unmöglich ihn in dieser abartig großen Stadt zu finden. Sie wusste überhaupt nichts über ihn.

Ihr essen brutzelte unbeachtet auf dem kleinen Herd vor sich hin, während Milena geistesabwesend und nachdenklich an die Decke starrte. Sie spürte, wie sich etwas unfassbar Großes und Wichtiges in ihren Gedanken ausbreitete und sie völlig einzunehmen schien. Es war das totale Chaos, als könnte sie in die tiefen Gewebe des Universums blicken und davon verschlungen werden. Aber sie hatte nicht das Gefühl darin verloren zu sein, denn da war etwas, dass so viel wichtiger war als alles andere um sie herum. Es war ein winzig kleiner Punkt, eine Nuance, eine Nadel im Heuhaufen. Es war beinahe nichts, aber nur beinahe. Es war nur ein verschwindendes bisschen mehr als nichts, aber es war nicht nichts. Ihre Gedanken konzentrierten sich so stark auf diesen Punkt, dass sie ihn fast greifen konnte. Immer weiter näherte sie sich diesen verschwindend kleinen Punkt bis sie ihn schließlich berührte. In diesem Moment änderte sich alles, als hätte sie einen Dominostein umgeworfen und eine nicht enden wollende Kettenreaktion ausgelöst.

Als sie ihren Blick von der Decke abwandte war ihr Essen komplett verbrannt, der Herd hatte sich abgeschaltet, nachdem der Rauchmelder auslöste. Sie schaute auf die Uhr und stellte fest, dass zwei Stunden vergangen waren. Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen und das Geschehene zu reflektieren, da hörte sie einen lauten Knall.

Milena verließ die Hütte und schaute sich draußen um. Eine Rauchfahne stieg auf der anderen Seite des Tals, über den Bäumen empor. Eilig lief sie los, stolperte über fast jede Wurzel, aufgeregt und unbeholfen nahm sie jeden tiefhängenden Ast mit, kratze sich sie Hände auf und machte sich schmutzig, wo es nur ging.

Der Weg war nicht weit, aber beschwerlich, durch Dickicht und dichtes Gebüsch, über spitze Felsen, die aus dem Fluss im Tal ragten und mit einer glitschigen Moosschicht überzogen waren. Zudem zog auch noch ein Gewitter auf und es fing schon an zu regnen. Als sie ankam war sie vollkommen von den Socken. Was sie dort sah, war das unglaublichste und kurioseste, was sie je erlebt hat. Vor ihr lag das Wrack eines Fluggerätes, wie sie es noch nie zuvor gesehen hat. Es war etwa so groß wie ein Bus und sah auch genauso klotzig aus. Es war weiß, hatte kleine Stummelflügel und viele, kleine, runde Triebwerke hinten und vorne. Es war kaum beschädigt und die Einstiegsluke war offen.

Vorsichtig betrat Milena das Wrack und schaute sich um. Die Piloten waren tot. Die Wachen ebenso. Im vorderen Bereich lief ein Countdown ab, über dem das Wort Desintegration stand. Im hinteren Bereich befand sich eine Liege, auf der jemand lag. Sie näherte sich und sah einen Jungen, der mit Gürteln und Riemen drauf fixiert war. Als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass es genau der Junge war, den sie damals auf dem Renaissancefest getroffen hatte. Er war nicht verletzt, doch er war auch nicht bei Bewusstsein. Gegen jede Vernunft entschied sie sich ihn mitzunehmen.

Der Regen wurde immer stärker und Haselnussgroße Wassertropfen bahnten sich ihren Weg durch die dichten Kronen der Laubbäume. Der Waldboden weichte auf und wurde extrem rutschig. Milena löste Val von den Befestigungen, zog ihn unsanft von der Trage und schleifte ihn aus dem Flugzeug.

Sofort rutschte sie auf dem feuchten Waldboden aus und schlitterte mit Val an der Hand den Abhang hinunter, bis sie unsanft von einem Baum aufgehalten wurden. Sie konnte ihn gerade noch festhalten, sonst wäre Val noch weiter runtergerutscht. Sie zog ihn zu sich hoch, klammerte sich fest an den Baum und atmete kurz durch.

Es regnete immer stärker und das Wasser, das vom Berg herabkam, drückte gegen das Flugzeug und löste es aus seiner Position. Es fing an zu rutschen und hielt direkt auf Milena zu. Vor Angst erstarrt, sah Milena ihr Ende in greifbarer Nähe, doch bevor es sie erreichte zerfiel das Flugzeug zu Staub und bedeckte die beiden mit einer Schicht aus sehr feinen Sandkörnern, die sogleich vom Regen fortgespült wurden.

Sie atmete kurz durch, dann nahm sie all ihre Kraft zusammen, rappelte sich auf, nahm Val huckepack und schleppte sich mit ihm zusammen wieder zurück zu ihrer Hütte. Die ganze Zeit spürte sie seinen warmen Atem im Nacken und es war als würde er sich mit jedem Atemzug bei ihr bedanken. Als sie im Tal wieder den Fluss überqueren wollte, rutschte sie auf den glitschigen Steinen aus, fiel und schlitzte sich den Oberarm auf. Val landete im Wasser und prallte mit dem Kopf auf einem Stein.

Sie sah wie sein Blut vom Fluss davongetragen wurde und ihr eigenes an ihrem Arm herabrann. Sie griff nach seiner Jacke, zog ihn mit aller Kraft zu sich und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Sein warmes Blut rann an ihrem Arm herab und versickerte in ihrer Kleidung. Vorsichtig fühlte sie an seinem Hinterkopf entlang doch von einer Wunde war keine Spur. Dann schaute sie an ihrem Oberarm entlang, wo das Blut noch nicht ganz vom Regen und vom Fluss weggewaschen wurde. Die Wunde war weg, nur der Schmerz hallte noch ein klein wenig nach.

Der Himmel wurde immer finsterer und Blitze leuchteten auf, gefolgt von ohrenbetäubendem Donnergrollen. Wieder rappelte sie sich auf, zog Val an seinem rechten Arm über ihre Schulter und schleppte ihn mühsam den Berg hinauf. Ständig rutschte sie ab und schlitze sich die Arme und Beine an Ästen und spitzen Steinen auf, bis sie nach einer schier endlosen Drangsal ihre Hütte erreichte. Ihre Hose und ihre Bluse waren von oben bis unten aufgerissen und voller Blut. Doch ihre Haut war heil, als wäre nichts gewesen.

Die Sachen die Val trug, waren aus einem besonders reiß- und schnittfesten Polymer, das speziell für hohe Beanspruchungen entwickelt wurde, gefertigt, und wies keinerlei Beschädigungen auf. Sie brachte ihn hinein, legte ihn so sanft sie konnte auf den Boden und zog ihn aus. Ohne darüber nachzudenken überwand sie ihre Scham und brachte ihn in die Dusche, wo sie ihn vom Schmutz des Waldes befreite und seinen Körper auf Verletzungen untersuchte.

Danach trocknete sie ihn ab und legte ihn in ihr Bett. Dann wusch sie sich selbst, ebenso die Sachen von Val und hing sie zum Trocknen vor den Kamin. Ihre zerfetzten Sachen warf sie weg und zog sich ihr rotes Kleid an. Hin und wieder schaute sie nach ihm und suchte erfolglos nach einer Wunde an seinem Hinterkopf. Auch sonst hatte sie nirgendwo Verletzungen an seinem Körper entdeckt, was sie wunderte, da sie ihn so oft fallen ließ. Das Gewitter hielt noch bis zum Abend an und Milena beschloss sich zu ihm ins Bett zu legen.

Verschlafen öffnete Val seine Augen und fand sich an einem unbekannten Ort wieder. Vor kurzem war er noch in einer Art Labor, zusammen mit dieser unangenehmen Frau. Das letzte, woran er sich erinnern konnte, waren die Worte: Bringt ihn zum Raumhafen. Er darf auf keinen Fall wach werden. Nun lag er in einem weichen Bett, bis zum Kinn mit einer flauschigen Decke umhüllt, in einer kleinen Hütte. Es roch lieblich nach Essen und draußen hörte er die Vögel singen. Er quälte sich aus dem kuscheligen Bett und bemerkte, dass er vollkommen nackt war. Die Hütte war nicht sonderlich groß, aber sie hatte alles was man zum Leben brauchte: Eine kleine Küche, ein Badezimmer, ein Bett und sogar einen kleinen Wohnbereich mit Sofa und einem Kamin. Bis auf das Bad befand sich alles im selbem Raum. Es gab keine Wände, die sie voneinander trennten. Auf dem Ofen köchelte ein Topf Gulasch und der Esstisch war für zwei Personen gedeckt.

Er stand auf, fand seine Sachen fein gefaltet und sauber auf der Anrichte neben dem Bett und zog sie sich an. Eine Weile stand Val einfach nur da und dachte nach. Dann entdeckte er ein kleines Regal, indem zwei Bücher lagen, die ihm besonders ins Auge fielen. Eines kannte er. Es hieß: Gottes Erwachen. Dies war die Heilige Schrift der Ecclesia de Deus Regem, jene Religion, die aus dem großen Krieg heraus entstand und nun die Welt beherrschte.

Val kannte dieses Buch und hat auch hin und wieder darin gelesen. Es beschreibt den Untergang der Welt vor tausend Jahren anhand eines Wiedergeborenen Gottes, der auf die Erde kam, um die Menschheit von ihrem sündigen Dasein zu befreien. Das andere Buch kannte er nicht. Auf dem Einband stand: „Der weise König und das Reich des Lichts” Der Name des Autors war schlicht H.A.N. Es interessierte ihn zwar, nur hatte er keine Ambition, sich jetzt damit zu beschäftigen.

Er ging nach draußen, die Sonne fiel durch die Baumkronen in sein Gesicht. Er war mitten im Wald auf einer kleinen Lichtung. Vor ihm waren ein Brunnen und ein kleiner Trampelpfad, der tiefer in den Wald führte. Ein paar Minuten blieb Val stehen und sah sich um. Er wollte irgendwie versuchen wieder nach Hause zu den anderen zu kommen. Er wusste aber nicht mal annähernd, wohin er musste. Er entschloss sich einfach los zu laufen und zu hoffen, dass er irgendwie weiterkommen wird. Kaum hatte er den Waldrand erreicht, kam ihm ein Mädchen in einem roten Kleid entgegen, das zwei große Beutel voller Lebensmittel trug.

Als sie Val entdeckte lächelte sie ihn freundlich an.

„Willst du schon wieder gehen?“, fragte sie mit lieblicher Stimme. Val erinnerte sich wieder. Es war das Mädchen, mit dem er in der Stadt zusammengestoßen ist. Sie war etwa 15 oder 16 Jahre alt, hatte blonde Haare, die ihr fast bis an die Schultern reichten, eine niedliche, große rote Schleife im Haar und zwei hellblaue, funkelnde Augen.

„Du, du warst damals..”, stammelte Val.

„Ja, wir sind uns schon mal begegnet. Aber du bist einfach weggelaufen”, antwortete sie und stolperte über einen Ast. Ihre ganzen Besorgungen verteilten sich über den Boden. Val ging zu ihr und half ihr, die Sachen wieder einzusammeln.

„Du redest nicht viel, oder?“, fragte Sie und stand wieder auf.

„Wohnst du etwa da?“, fragte Val schüchtern. Milena lächelte, hob die Beutel auf und ging weiter.

„Ja. Ich hab uns Gulasch gemacht. Wenn du jetzt gehst, muss ich viel davon wieder wegschmeißen” Val zuckte mit den Schultern und folgte ihr.

„Du hast es mir immer noch nicht gesagt”, sagte sie in Blaue.

„Was denn?“, fragte Val verwundert.

„Na wie du heißt”

„Ich heiße Valfaris” Milena klopfte sich den Dreck vom Kleid und betrat die Hütte. Val folgte ihr und stellte die Sachen in der Küche ab.

„Ein außergewöhnlicher Name. Und wie weiter?“, setzte Milena fort.

„Weiter? Meine Freunde nennen mich Val - falls du das meinst”, antwortete er verwirrt und setzte sich an den Esstisch.

„Na, wie heißt du weiter. Du musst doch einen Nachnamen haben” Val überlegte. Dann zuckte er nur mit den Schultern.

„Naja, wie dem auch sei. Mein Name ist Milena. Milena Limatari” Sie servierte das Gulasch und setzte sich zu ihm an den Tisch. Val schien es zu schmecken. Er verschlang es, als gäbe es kein Morgen mehr.

„Das schmeckt toll”, nuschelte Val mit vollem Mund. „Hast du das gemacht?“

„Ja, hab ich”, sagte sie und errötete leicht. „Ich koche immer selbst. Sag mal ..”, sie wurde von Val unterbrochen.

„Wie bin ich hierhergekommen?“, fragte er plötzlich aus heiterem Himmel und mit vollem Mund. Milena wusste nicht, ob sie ihm gleich alles erzählen soll.

„Du warst in einer Art Flugzeug, das nicht weit von hier abgestürzt ist. Ich hab dich hierhergebracht” Val schmiss sich noch eine Kelle Gulasch auf den Teller.

„Wow, ich kann selten so viel essen”, sagte er als ob ihn die Antwort gar nicht weiter interessierte.

„Du lebst auf der Straße, nicht wahr?“ Val nickte. „Ich lebe mit meinen Freunden zusammen in einem alten Waisenhaus. Das ist ein bisschen ironisch, weil das Waisenhaus selbst verwaist war, bis wir es fanden. Ein Flugzeug, sagst du?“

„Ja ... äh. Irgendwie sowas”, sie kicherte verhalten.

„Bist du eine von denen?“, fragte er etwas ängstlich.

„Ich verstehe nicht, was du meinst”

„Sind wir noch auf der Erde? Oder schon auf einem anderen Planeten?“ Milena verzog nur fragend das Gesicht. Sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte.

„Du siehst nicht aus wie eine von denen”, sagte Val wieder etwas lockerer. „Die haben irgendwas gefunden und wollten mich zu einem Raumhafen bringen. Aber wenn du mich da rausgeholt hast”, er machte eine Pause. „Hast du mich etwa ausgezogen?“ Milena hatte gar nicht weiter darüber nachgedacht, dass das später zu einem Thema werden könnte und sich auch keine Antwort parat gelegt.

„Es hat geregnet und du warst bewusstlos. Du hättest dich sonst schlimm erkälten können. Es ging nun mal nicht anders” Val merkte das Milena etwas angespannt war.

„Ist okay. Du hast es schön hier” Er lächelte sie an. Milena lächelte zurück.

„Danke. Mir hat jemand geholfen das zu bauen”

„Oh”, sagte Val etwas distanzierter. „Bestimmt der Typ der bei dir war. Der ist sicher dein Freund und der wird mich verprügeln, wenn er mich hier sieht” Milena lachte laut. Dieser Satz war so obskur, dass ihr nichts anderes dazu einfiel.

„Er heißt Han. Und nein, er ist nicht mein Freund. Er ist mehr sowas wie ein großer Bruder. Er lebt in dem Dorf in dem anderen Tal. Er hat mich aufgenommen nachdem …“, Val unterbrach sie erneut.

„Aber wieso lebst du nicht mit ihm im Dorf?“ Milena wurde traurig und schaute bedrückt auf ihren Teller.

„Ich will es nicht. Ich hasse diese Menschen. Sie haben meine Eltern verraten, nur damit sie ihre Ruhe haben. Ich könnte jeden einzelnen von ihnen umbringen” Milena wurde immer wütender. „Jedes Mal, wenn ich ins Dorf gehe, um Lebensmittel zu kaufen, sehe ich sie und kann nur daran denken, wie skrupellos sie sind, wenn es um ihr eigenes Wohl geht”

Val schaute sie mitfühlend an. Er streckte seine Hand aus und wischte ihr eine Träne aus dem Gesicht. Diese Geste machte Val instinktiv. Was ihn sehr erschreckte, denn noch nie zuvor hätte er auch nur im Traum daran gedacht, das Gesicht eines Fremden in einer so intimen Situation zu berühren. Bisher bestand sein komplettes sozialverhalten ausschließlich aus Abwehr- und Schutzmechanismen. Doch diesmal nicht. Er war völlig frei von Angst.

„Ich hab mal mit meinem besten Freund Momo und seiner Freundin Michelle auf der Straße gespielt und gebettelt. Es war ein schöner Tag, wir hatten viel Spaß”, erzählte Val, „Dann kam einer der Ladenbesitzer und hat uns angeschrien. Verschwindet hier, blödes Drecksbalg! Ihr vergrault mir die Kundschaft, schrie er immer wieder” Milena hörte ihm aufmerksam zu.

„Was ist dann passiert?“

„Wir haben uns nicht drum gekümmert und weiter gemacht. Dann kam er wieder raus und hat sich Michelle geschnappt. Momo wollte ihr helfen, da hat der Typ ihm in die Brust getreten. Momo hat kaum noch Luft bekommen. Mir hat er dann so hart ins Gesicht geschlagen, dass ich ohnmächtig wurde. Als ich wieder aufwachte, lag ich in Momos Bett und er saß daneben und weinte die ganze Zeit. Als ich ihn gefragt hab was passiert ist, erzählte er mir, dass der Kerl Michelle mit in den Laden genommen hat und das er sie noch entsetzlich schreien hörte. Niemand hat was unternommen. Nachdem der Mann den Laden verlassen hat ist er in dort eingebrochen und fand Michelles nackte Leiche im Hinterzimmer. Ihr ganzer Hals war blau und ihre Oberschenkel waren voller Blut” Milena rann eine Träne über die Wange.

„Wieso erzählst du mir das?“

„Ich weiß, wie es ist, wenn sich dieser unendliche Zorn in einem Ausbreitet und man kaum noch atmen kann” Milena nickte kaum wahrnehmbar mit dem Kopf.

„Wie ging es weiter”, fragte sie.

„Momo hat mich nach Hause getragen. Ein paar Tage später haben wir seinen Laden niedergebrannt” Val lächelte.

Sie verbrachten noch mehrere Stunden so zusammen. Val plapperte aus dem Nähkästchen, erzählte von seinen Erlebnissen und was er und seine Freunde durchmachen mussten, um zu überleben. Langsam dämmerte es und die beiden machten es sich von dem Kamin gemütlich. Es klopfte an der Tür, Milena öffnete und begrüßte Han, die fragwürdige Gestalt, die Milena auf dem Fest begleitet hat. Ein großer, hagerer Mann, mit kurzen Haaren, einem knorrigen Gesicht und einer ausdruckslosen Mine. Als er Val sah, schauten sich die Beiden eine Weile schweigend an.

„Ähm”, brach Milena die Stille. „Han, könntest du dir mal was ansehen?“ Sie streckte ihm ihren linken Arm entgegen, „Das hab ich seit kurzem. Weißt du was das ist?“ Han sah genauer hin und entdeckte ein schwaches grünliches Schimmern unter der Haut ihres linken Handrückens. Wieder schaute er zu Val. Dann lächelte er.

„Mach dir keine Sorgen. Es ist nichts” Er setzte sich in einen Sessel vor den Kamin.

„Val”, sagte er ruhig und mit einer väterlichen Stimme. „Ich möchte, dass du bei ihr bleibst” Val schwieg verlegen.

„Ich würde mich freuen, wenn du Milena Gesellschaft leistet. Sie scheint dich zu mögen und ich kann sie leider nur hin und wieder besuchen. Aber eins würde mich interessieren: Wie bist du hierhergekommen?“ Val zuckte mit den Schultern.

„Ich war in so etwas wie einem Labor”, erzählte er. „Weiß aber nicht, wo. Da war eine Frau mit roten Haaren. Sie hat irgendwas gemacht, dann hat sie mir eine Spritze gegeben und ich bin eingeschlafen. Heute Mittag bin ich hier aufgewacht. Mehr weiß ich nicht” Han schaute ihm wissbegierig in die Augen.

„Weißt du vielleicht wie die Frau hieß?“, fragte er eindringlich.

„Ihr Name war Fraya, glaub ich” Han schaute besorgt zu Milena.

„Wo hast du ihn gefunden?“ Milena schaute nachdenklich über den Boden. Das tat sie immer, wenn sie gerade entschied ob sie die Wahrheit sagen oder besser eine Lüge erzählen sollte. Auch wenn sie Han vertraute, benahm er sich im Moment etwas seltsam. „Ein Flugzeug ist abgestürzt. Er war der Einzige, der überlebt hat. Nachdem ich ihn rausgeholt hab, begann es sich ..”, sie wusste, dass was jetzt kommt klingt unglaubwürdig, „Aufzulösen”, sagte sie etwas leiser. Han kratzte sich an seiner Stirn.

„Bist du dir Sicher? Diese Schiffe stürzen nicht einfach ab. Das ist nicht möglich” Milena schüttelte den Kopf.

„Ich dachte eher, es ist nicht möglich, dass es sich auflöst. Und, ja. Es ist abgestürzt” Es regte sie auf, dass er so fragt. Sie hatte sich entschlossen, ihm die Wahrheit zu sagen und jetzt glaubt er ihr nicht. „Wenn du's sowieso nicht glaubst, dann frag gar nicht erst”, fuhr sie ihn harsch an. Han lächelte.

„Oh doch, ich glaub dir. Diese Schiffe sind nur normalerweise gar nicht sichtbar. Und um zu verhindern, dass jemand diese Technologie stiehlt, sollte es abstürzen, wird es automatisch desintegriert”, sagte er verhalten. Val stand auf.

„Desintegriert?“, fragte er.

„Ja. Wie Milena es gesagt hat, es löst sich auf. Das wundert mich nicht. Nur wie es abgestürzt ist, kann ich nicht verstehen” Val lief zu ihm.

„Du kennst diese Dinger also?“, fragte er aufgeregt.

„Äh ... ja”, seine Stimme wurde hakelig, „Ich hab sie sozusagen ... Entwickelt. Sie sind vollkommen autonom und die Chance, dass es abstürzt ist beinahe Null” Milena schaute wieder nachdenklich auf den Boden.

„Beinahe Null ist aber nicht gleich Null”, sagte sie schnell und nervös. „Das Chaos kann alles geschehen lassen was geschehen könnte. Hätte es einen Willen könnte…“ Milena unterbrach sich selbst und schaute die beiden verstört an.

„Das ist echt merkwürdig”, fügte Val unnützerweise hinzu.

„Okay. Hm”, sagte Han und öffnete die Haustür. „Macht euch deswegen keine Gedanken. Passt bitte aufeinander auf. Wir sehen uns Morgen wieder” Er winkte und lächelte noch kurz, dann verschwand er in die Nacht. Er lebte in dem Dorf weiter unten im Tal, von dem Milena Val erzählt hatte. Zu Fuß war es ein relativ langer Weg, der nachts nur schwer zu erkennen war und direkt durch den Wald führte. Dort angekommen, betrat er sein Haus und öffnete eine Falltür im Boden seines Kellers. Unter der Falltür war ein stählernes Schott und eine Bedientafel.

Er tippte eine Kombination aus Zahlen und Buchstaben ein, dann öffnete es sich. Es führte in einen Aufzug, der etwa zwanzig Sekunden bis nach unten brauchte. Als sich die Türen öffneten stand Han vor einem weiteren schweren Schott. Man sah ihm an, dass er diesen Ort nicht besonders mochte. Er hielt seine Hand über eine glatte Fläche an der Wand und die Tür öffnete sich. Der Raum dahinter war wie ein Büro eingerichtet und beherbergte eine riesige Bildwand vor der sich ein großes, glatt poliertes Kontrollpult befand. Ein bequemer Bürostuhl, daneben ein großer, antiker Schreibtisch führten den Eindruck dieses Raumes ad absurdum: Kahler, kalter Beton, leuchtende Bildwände und in der Mitte ein hölzerner Schreibtisch mit alten Tischlampen, der auf einem weichen Teppich stand. In die Tischplatte war eine gläserne Kontrolltafel eingelassen.

Er setzte sich und ein Bildschirm leuchtete auf. Er zeigte das Wort Verbindungsaufbau an. Auf dem glatten Kontrollpult erschienen nun graphische Tasten in unterschiedlichen Farben. Nach wenigen Sekunden war das Bild einer etwas älteren, attraktiven Frau mit silbern-weißen langen Haaren zusehen.

„Ich hab zu tun”, sagte sie herablassend. Han rieb sich die Stirn.

„Wieso ist Fraya hier?“, fragte er fordernd.

„Um ihn zu suchen natürlich. Und sie hat ihn auch gefunden. Aber aus irgendeinem Grund ist er nie angekommen. Ich frage mich, wieso. Immerhin hast du mir versprochen, dass so etwas nicht passieren kann” Han stand auf und schlug wütend mit den Händen auf das Bedienfeld.

„Ach ja? Und du hast mir versprochen, dass du sie nicht auf die Erde schickst, solang ich hier bin” Die Frau lachte.

„Mach dir keine Sorgen. Sie ist schon wieder bei mir”, die Frau redete immer noch sehr abfällig, „Dafür wirst du dich jetzt darum kümmern, dass dieser Junge schnellstmöglich in mein Labor gebracht wird” Han schaute grimmig in den Bildschirm. Dann setzte er sich wieder und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Nun. Ich werde versuchen herauszufinden, wo er ist. Aber ich hab nicht mal eine Spur”, sagte er resigniert und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Das ist mir doch egal. Finde ihn einfach”, sagte die Frau und ging weg. Das Bild schaltete sich ab. Han tippte auf der Konsole herum und schnell fand er das verlorene Schiff. Er konnte genau sehen, wo es abgestürzt ist und warum. Es war ein winziger Signalfehler, der eine fatale Kettenreaktion im System verursachte, die das Schiff ohne Vorwarnung komplett deaktivierte und wie einen Stein zu Boden fallen ließ.

Die Wahrscheinlichkeit, die der Computer ausrechnete, dass so etwas passiert, war so gering, dass sie komplett vernachlässigt werden konnte. Die ganze Nacht studierte er den Fehlerbericht. Es hätte einfach nicht passieren dürfen, dachte er sich. Er beschloss den ganzen Vorfall zu löschen, sodass es praktisch nie geschehen ist. Keiner wusste davon, da der Fehlerbericht als erstes immer direkt zu Ihm und sonst zu niemand anderem gesendet wird.

Kapitel 3

Aufbruch

Am nächsten Morgen wacht Val sehr ausgeruht wieder auf. Er kann sich nicht erinnern jemals so gut geschlafen zu haben. Milena war schon eine Weile auf den Beinen und wusch das Geschirr vom letzten Abend. Val ging nach draußen und schaute in den Wald. Alles war so friedlich und ruhig. Die Geräusche des Waldes und die wohlriechende Luft erzeugten in Ihm ein Gefühl, tiefer Glückseligkeit. Die Sonne schien im steilen Winkel durch die Bäume und tauche die Lichtung in ein sattes Grün. Der Tau glitzerte anmutig auf Den Blättern und der Nebel zog sich im Tal unter ihnen entlang und wich gemächlich der Wärme. Val fühlte sich von einer zufriedenen Besonnenheit durchströmt und dennoch spürte ein raues brodeln ganz tief in seinem Geist.

Erinnerungsfetzen, die er nicht zuordnen konnte, die seltsamen Träume und was mit diesem Typen von gestern los war. Aber was am meisten an ihm nagte, war dieser Zwischenfall in dem Labor und die Reaktion dieser unangenehmen Frau. Er setzte sich an den Brunnen und stocherte mit einem kleinen Stück Holz im Boden herum. Etwas schüchtern öffnete Milena die Tür, um nach Val zu sehen.

„Was ist mit dir?“, fragte sie und setzte sich neben ihn.

„Können wir diesem Typen vertrauen? Diesem Han?“, fragte Val etwas zaghaft.

„Ich denke schon. Ich weiß nicht so viel über ihn, aber ich glaube er sucht verzweifelt etwas” Milena fing ebenfalls an, mit einem Stock im Boden herum zu stochern.

„Und was?“, fragte Val. Milena zuckte mit den Schultern.

„Ich glaube es sind irgendwelche alten Erinnerungen. Aber es schien ihm unangenehm zu sein, darüber zu reden. Ist es bei dir genauso? Jagst du auch der Vergangenheit nach?“ Val nickte.

„Das weiß ich selbst nicht so genau. Aber es gibt ein paar Dinge, die ich nicht verstehe. Viele haben Angst vor mir, weil … naja, ich zeig’s dir mal” Val nahm einen Stein und schlug ihn auf die Kannte des Brunnens. Vom Stein brach ein Stück ab und legte eine scharfe Kannte frei. Damit schnitt er sich in den Unterarm. Milena war erst etwas erschrocken, doch dann schaute sie genauer hin und beobachtete wie sich die Wunde gleich wieder schloss. Sie war nicht sonderlich verwundert darüber, denn das Gleiche erlebte sie schon, als sie Val aus dem Wald geholt hat.

„Wir können gemeinsam in das Dorf im Tal gehen” Bot sie an. „Han weiß sehr viel, er kann uns vielleicht etwas dazu sagen. Vielleicht ist es eine seltene Krankheit, oder …“

Val zuckte mit den Schultern. „Wenn du denkst, er weiß was darüber, von mir aus. Aber was ist, wenn er zu denen gehört die mich wegbringen wollten und nur darauf wartet, dass wir zu ihm kommen?“

Milena schwieg einen Moment, dann erzählte sie Val wie sie Han kennenlernte. Nachdem ihre Eltern wegen Gotteslästerung vom Ältesten hingerichtet wurden, wurde Milena einfach ihrem Schicksal überlassen und man ging davon aus, dass sie irgendwann verhungert oder im Winter erfriert.

Als Han damals in das Dorf kam, kaufte er das Haus ihrer Eltern. Er wusste nicht wer die Leute waren, die hier lebten, aber man sagte ihm, weswegen man sie hinrichten ließ. So machten sie ihm klar, was ihn erwartet, wenn er sich nicht an die Konstitutionen der Gemeinschaft hielt. Von Milena erzählten sie ihm nichts. Er fand sie eines Tages bei einem Spaziergang halb erfroren und dem Hungertod nah in einer heruntergekommenen Jagdhütte.

Er nahm sie eine Weile bei sich auf, doch er merkte wie sehr es ihr zu schaffen machte, im Haus ihrer toten Eltern zu leben und von den Dorfbewohnern verachtet zu werden. Eines Tages führte er sie mit in den Wald und führte sie zu der Hütte, wo er sie damals gefunden hat. Sie war überzeugt davon, dass er sie wieder dort aussetzt, um sie verhungern zu lassen. Als sie ankamen gab Han ihr einen zerkratzten, wertlosen Ring. Er bat Milena ihn anzulegen und als sie es tat schimmerte er kurz. Daraufhin ging er mit ihr zur Tür und bat sie, die Hütte zu betreten. Als sie die Klinke berührte gab es ein leises Klicken und sie ließ sich öffnen. Wie es im inneren aussah wusste Val ja bereits, denn es war genau diese Hütte, in der sie seitdem lebte.

So schön diese Geschichte auch war, Milena hatte Angst, Vals Vertrauen aufs Spiel zu setzen, denn Han war immer sehr verschlossen und konnte auch sehr grimmig werden, wenn es um bestimmte Themen ging: Zum Beispiel, wie er die Hütte so schnell wiederherrichten konnte oder womit er seinen Lebensunterhalt bestritt.

Sie war ihm sehr dankbar für alles, aber es waren zu viele Fragen offen, die ein volles Vertrauen zu ihm nicht ganz zuließen. Sie erkannte das Val ein wenig skeptisch war und wollte, dass er bemerkt, dass sie selbst auch ihre Zweifel hatte.

„Okay, was soll‘s. Gehen wir einfach und sehen was passiert. Mir fällt auch nichts Besseres ein” Er lächelte Milena an und zuckte mit den Schultern. Sie stand auf und beide gingen Tal abwärts in Richtung Dorf.

Auf dem Weg dahin schwiegen beide fast die ganze Zeit. Es fühlte sich aber nicht unangenehm an, sondern eher als müsste gerade nichts gesagt werden und das war okay so. Hin und wieder lächelten sie sich an und kicherten.

Der Weg war lang und nicht gerade angenehm. Milenas heiteres Gemüt steckte Val an und er vergaß seine Sorgen für eine Weile. Als sie im Dorf ankamen, änderte sich die Stimmung schlagartig. Milena war es unangenehm dort zu sein. Sie wurde immer so missbilligend angestarrt und fühlte sich, als hielte man sie für einen bösen Geist, der sie heimsucht.

Sie konnte sich ihren Hass diesen Leuten gegenüber nicht entziehen. Das Gefühl war so stark, dass es etwas in ihr auslöste. Ihre Gedanken schweiften kurz ab: Als wäre da irgendwas, dass sie vergessen hätte, etwas so unfassbar Wichtiges, dass sie ihr Leben davon abhing. Doch sie konnte sich einfach nicht erinnern.

Um zu Hans Haus zu gelangen, mussten sie über den Marktplatz, wo um diese Uhrzeit immer recht viel los war. Als die Leute sie bemerkten, erstarrten sie kurz und ein paar der älteren falteten ihre Hände zusammen und murmelten Gebete vor sich hin. Die Anderen zogen eine angewiderte Mine auf und gingen weiter ihren Geschäften nach. Val kannte dieses Verhalten nur zu gut.

Milena musste das immer ertragen, wenn sie Lebensmittel besorgen ging. Hin und wieder machte das Han für sie, doch das waren eher Ausnahmen. Sie versuchten es so gut es ging zu ignorieren und gingen weiter ihrem Ziel entgegen.

Das Dorf zog sich lang das Tal hinab. Han lebte an dessen unteren Ende. Sie waren noch gute zwanzig Minuten unterwegs bis sie den Ort erreichten. Milena klopfte an die Tür doch niemand öffnete. Das Betätigen der Klingel wurde ebenso konsequent ignoriert.

Sie warteten ein paar Minuten und versuchten es noch ein paar Mal mit klingeln und Klopfen. Doch niemand öffnete. Vals Vertrauen war Milena sehr wichtig. Sie wollte seine Skepsis Han gegenüber unbedingt zerstreuen. Deswegen vergaß sie ihre Manieren und griff nach der Türklinke. Kaum berührtet sie sie, entriegelte sich das Schloss und die Beiden betraten das Haus. Es war noch genauso eingerichtet wie früher, als sie noch mit ihren Eltern hier lebte. Sie liefen im Haus umher, riefen nach Han, klopften an Türen und suchten nach Hinweisen.

Keine Spur von ihm oder davon, wo er sich gerade befindet. Die Falltür, die zu seinem geheimen Raum führte, war so präzise in den Boden eingearbeitet, dass man sie nicht ausmachen konnte, selbst wenn man wüsste, dass sie dort ist und Versuche mit einer Lupe einen Spalt zu finden wären ebenso erfolglos. Sie öffnete sich nur für ihn und sonst niemanden.

Ein System aus versteckten Sensoren, die ihn anhand seiner Herzrhythmik, Venenstruktur und seiner Hinströme identifizierten zu überlisten war vollkommen unmöglich. Zusätzlich musste er noch eine spezielle Geste ausführen, die ihm die Tür öffnete. Doch davon wussten Val und Milena nichts.

Mit einem enttäuschten seufzen auf das ein Schulterzucken folgte verließen sie das Haus und machten sich auf den Rückweg. Etwas weiter das Tal hinauf blieb Milena plötzlich vor einer Hauswand stehen und schaute fragend in den Himmel.

Diese Sache, an die sie sich erinnern wollte, stieß ihr nun wieder auf, als wollte es unbedingt raus und konnte nicht länger aufgeschoben werden. Sie machte einen kleinen Schritt zur Seite und hielt Val am Ärmel fest. Nun wurde ihr klar, was sie getan hatte und mit aller Macht wieder vergessen wollte. Ihre Wut auf die Bewohner des Dorfes und diese eigenartige Fähigkeit, Dinge passieren zu lassen, wie sie es wollte, haben sich zu einem großen Übel aufgeschwungen.

Val drehte sich zu ihr und wollte gerade fragen was los ist, da blendete ihn ein gleißendes Licht, das so heiß war, dass Vals Gesicht zu brennen begann. Milena zerrte ihn in den Schatten des Hauses und beide hielten sich die Arme vors Gesicht. Das Licht erlosch und ein lautes Pfeifen, dass immer verzerrter und greller wurde fuhr durch die Luft, gefolgt von einem donnern als würde der Himmel über ihnen zusammenbrechen.

Die Erde fing an heftig zu beben und kurz darauf traf sie eine gewaltige Druckwelle. Das Haus, hinter dem sie sich versteckten, wurde einfach weggeweht wie Papierschnipsel. Beide lagen zusammengerollt auf dem Boden während Trümmer und Bäume über sie flogen. Nach ein paar Sekunden war alles vorbei und es kehrte Totenstille ein. Etwas mehr als eine Stunde verging bis Milena den Mut fasste ihren Kopf unter den Armen hervor zu bringen. Sie begann sich aufzurichten und sah sich um.

Sie und Val lagen in einer Versenkung, die durch das Beben entstanden ist. Wie durch ein Wunder blieb ein kleiner Teil der Hauswand heil und fing die ganzen geschossartigen Schrapnelle ab. Sie sah an sich herab und entdeckte nicht einen Kratzer, nicht einen Blauen Fleck, ja selbst ihre Kleidung war nur etwas schmutzig aber noch vollkommen intakt. Sie sah zu Val, der Bewusstlos vor ihr lag. Eine Blutlache breitete sich unter seinem Gesicht aus.

Als sie ihn so sah wurde ihr schlecht. Nicht weil sie kein Blut sehen konnte, sondern weil es ihre Schuld war, weswegen er so leiden musste. Vorsichtig nahm sie seinen Arm und drehte ihn auf den Rücken. Die rechte Hälfte seines Gesichts war verbrannt und an seinem Hals klaffte eine tiefe Wunde aus der ununterbrochen Blut floss. Milena wurde kurz etwas panisch, doch dann entdeckte sie ein grünliches Schimmern, dass immer wieder in seinen Wunden hervor blitzte und die Wunden wie dünne Fäden zusammenzog und langsam verschloss. Auch über sein verbranntes Gesicht zogen sich kleine grün schimmernde Äderchen, die pulsierten und langsam seine Haut wiederherstellten.

Das laute wummern eines sich nähernden Fahrzeugs war zu hören. Milena lugte vorsichtig über die Reste der Hauswand hinweg und sah wie ein gepanzerter Militärtransporter in der Nähe hielt und mehrere Männer ausstiegen. Zwei von ihnen trugen weiße Schutzanzüge mit Atemmasken und hielten klickende Geräte in der Hand. Die anderen drei waren große, kräftige Soldaten, die ebenfalls Schutzmasken trugen. Sie konnte die Unterhaltung der beiden weiß gekleideten Wissenschaftler belauschen, als sie sich langsam auf Val und Milena zubewegten.

„Wir haben es wirklich geschafft, diese alte Technologie wieder nutzbar zu machen. Leider haben wir das Ziel um mehr als fünfzig Kilometer verfehlt und bewohntes Gebiet getroffen. Dabei waren sich doch alle so sicher, dass es auf wenige hundert Meter genau sein soll”, sagte einer der Beiden.

„Laut den ersten Ermittlungen der Techniker kam es beim Ausklingen des Sprengkopfes zu einer Verzögerung bei der letzten Klammer, deswegen hat sich wohl der Vektor um ein paar Sekunden geändert und somit auch der Aufschlagpunkt”, antwortete der Andere. „Ein dennoch passables Ergebnis für eine tausend Jahre alte Interkontinentalrakete. Wir haben zwar mit einer geringeren Streubreite gerechnet, trotzdem können wir mit den Daten arbeiten. Also würde ich es schon als erfolgreich ansehen”

„Es bereitet mir aber trotzdem eine wenig Unbehagen, dass es bewohntes Gebiet getroffen hat. Es haben Menschen hier gelebt, die mit Sicherheit nicht unsere Feinde waren”

„Alles außerhalb der Mauern von Marista ist unser Feind. Also hör auf dich hier wie ein Heiliger aufzuführen. Beginnen wir mit den Untersuchungen. Es gibt keine Überlebenden, selbst hier in der Randzone der Explosion wurde fast alles zerstört. Die radioaktive Strahlung besteht größtenteils aus Alphawellen und sollte nicht sonderlich lange andauern. Das Gebiet kann also in weniger als einem halben Jahr wieder besiedelt werden, denke ich”, sagte der Zweite und sie näherten sich weiter. Milena legte sich über Val in die Versenkung und hoffte, dass die Typen sie nicht bemerken. Doch das übriggebliebene Mauerstück war zu verdächtig für einen der Soldaten und er ging hin, um es zu untersuchen.

„Wartet!“ rief der Soldat. „Hier sind scheinbar doch überlebende” Der erste Wissenschaftler machte kehrt und ging zu ihnen. Der Zweite folgte kurz darauf. Sie schauten die beiden musternd an und fuchtelten mit ihren Geräten herum. Als er es auf Val hielt fing es an wie verrückt zu klicken.

„Der Junge scheint so gut wie tot zu sein. Er hat wohl eine zu hohe Strahlendosis abbekommen. Außerdem wurde er wohl durch ein Trümmerteil am Hals verletzt” Er richtete das Gerät auf Milena und es beruhigte sich sofort wieder. „Das Mädchen ist komplett unverletzt. Der Geigerzähler schlägt auch nicht aus… seltsam”, sagte der Zweite Wissenschaftler und klopfte skeptisch auf das klickende Gerät.

„Wir sollten sie in ein Labor bringen und sie untersuchen”, entgegnete der Erste, plötzlich fing Val an zu husten und sich zu winden. Er richtete sich auf und spürte Milenas Hand, die sich nervös in seinen Oberarm krallte. Der erste Wissenschaftler lehnte sich zu ihm vor und entdeckte ebenfalls die Wunde an seinem Hals und sah die grün schimmernden Fäden, die das Gewebe erneuerten. Dann zielte er mit seinem Gerät auf Val und es fing ebenfalls an laut zu klicken. Der Zweite Wissenschaftler zog eine Pistole aus seiner Tasche und richtete sie auf Val.

„Das ist unmöglich!“ Sagte er und schoss ihm ohne Vorwarnung in den Kopf. Der Erste Wissenschaftler schlug ihm die Waffe aus der Hand. Milena fing an laut zu schreien und zog Val zu sich. Sie schaute tief in seine Augen und entdeckte den winzigen grünen Ring um seine Iris.

„Geht’s dir nicht gut?“, schrie der Erste den Zweiten an. „Wieso hast du das getan?“

„Das kann doch nur irgendeine abartige Krankheit sein. So viel Strahlung wie der abbekommen hat hätte er zwei Mal sterben müssen. Wir können sie nicht hierlassen und ich will sie auf keinen Fall mitnehmen. Das ist mir zu riskant. Wir töten sie, vergraben ihre Leichen in dem Loch hier und tun so als wäre das nie passiert, klar?“, sagte der Zweite und richtete die Waffe auf Milena.

Der Erste seufzte nur angewidert und drehte sich weg. Der Zweite zog wieder am Abzug, doch diesmal fiel kein Schuss. Skeptisch untersuchte er die Waffe. Der Schlagbolzen bewegte sich nicht mehr. Er warf sie in den Dreck, ging zu einem der Soldaten, riss ihm zornig das Gewehr aus der Hand und richtete es auf Milena.

Er legte den Sicherungshebel um, zog am Abzug doch auch das Gewehr verweigerte den Dienst. Er schaute ins Magazin ob es überhaupt geladen ist, lud eine neue Patrone durch und wieder passierte nichts als er den Abzug betätigte. Das gleich Spiel ging mit den Waffen der anderen: Immer war es etwas anderes, dass ihn daran hinderte sie zu töten. Einmal war es eine gebrochene Feder, einmal ließ sich die Sicherung nicht lösen, ein anderes Mal klemmte der Verschluss. Schlussendlich zog er ein Messer aus dem Rucksack eines Soldaten.

Als er sich Milena näherte, mit der schwarz brünierten Klinge auf sie gerichtet, wurde sie etwas ängstlich. Die empfindliche Mechanik einer Schusswaffe zu stören war ein leichtes, doch wie sollte sie sich vor einem einfachen Messer schützen?

Doch dann fing Val wieder an zu husten und zu röcheln. Er richtete sich langsam auf, schaute dem Soldaten fest in die Augen. Die Kopfwunde war noch immer zu sehen, ebenso das grünliche Schimmern. Der zweite Wissenschaftler erstarrte vor Verwunderung.

„Das ist doch nicht wahr” Stammelte er und hielt wieder das klickende Gerät in Vals Gesicht. Diesmal schlug es nicht sonderlich aus. „Fesselt ihn und bringt ihn in den Transporter!“ Zwei Soldaten packten Val, banden seine Hände auf den Rücken und führten ihn ab. Dann gab er dem dritten Soldaten das Messer und befahl ihm Milena zu töten. Das konnte Val noch hören bevor er von einem der Soldaten bewusstlos geschlagen und in den Transporter geworfen wurde.

Der Soldat mit dem Messer stellte sich hinter Milena, hielt mit der linken Hand ihr Kinn hoch und legte die Klinge auf ihren Hals. Ein subtiles nicken vom zweiten Wissenschaftler bedeutete ihm, die Hinrichtung durchzuführen. Milenas Gedanken waren nicht auf die Klinge gerichtet, sondern auf den Soldaten. Das Messer glitt langsam über ihren Hals, doch es ging nicht lang, da fiel es zu Boden. Der Soldat verkrampfte, sackte auf die Knie und starb im nächsten Moment. Ein klein wenig Blut rann Milenas Hals hinab, doch es war nicht sonderlich viel. Es war nur ein kleiner, flacher schnitt. Er schmerzte etwas, aber es war nichts lebensbedrohliches.

Der erste Wissenschaftler schüttelte mit dem Kopf. „Er war nicht älter als zwanzig, gut ausgebildet und gesund. So einfach stirbt man doch nicht. Ich sag dir“, er packte den zweiten an den Schultern, „hier geht etwas Seltsames vor. Wir nehmen sie beide mit und untersuchen sie im Labor. Vorher führen wir sie dem Priester vor. Bis dahin entziehe ich dir die Befehlsgewalt. Hast du mich verstanden?“ Wortlos ging der zweite zurück zum Fahrzeug. Die anderen beiden Soldaten holten Milena und brachten sie ebenfalls in den Transporter.

Als Han etwas später seinen Keller verließ, stand er in einer Ruine, die gestern noch sein Haus war. Das ganze Dorf war verwüstet, dem Erdboden gleichgemacht. Es lag kein Stein mehr auf dem andern, nur die Straße war noch zu erkennen. Sein Bunker war so gut abgeschirmt, dass er von all dem nichts mitbekam. Er stieg wieder hinab und schaute sich die Aufzeichnungen der Außenkameras an.

Er entdeckte Val und Milena, die eine Weile vor seiner Tür standen und immer wieder klopften und rufend durch das Haus stolperten. Dann sah er sie fortgehen und ein paar Minuten Später verschwand das Bild. Er konnte sich nicht erklären was passiert ist, also verließ er den Bunker und ging die Straße Tal aufwärts. Es dauerte nicht lang, da entdeckte er die intakte Hauswand und die Versenkung, in der die Beiden Schutz suchten.

Vals Blut war längst im Boden versickert aber die Flecken waren noch gut zu sehen. Die Leiche des Soldaten wurde einfach dort zurückgelassen. Han schaute sie sich genauer an. Er konnte nicht feststellen, woran er gestorben ist. Es gab keine Einwirkung von außen. An der Klinge des Messers war ein klein wenig Blut, doch Han konnte nicht bestimmen wessen Blut, das war. Es war jedenfalls nicht das von Val, denn das gab eine kleine Menge einer unbekannten Energie ab, die Han spüren konnte. Entmutigt ging er ein Stück weiter, wo er die tiefen Scharten eines schweren Kettenfahrzeuges im Boden sah.

Die Spuren führten in Richtung Marista. Han machte sich sofort auf den Weg, doch es war sehr weit zu Fuß und er hatte nur wenige Anhaltspunkte, wo sie die Beiden hinbringen könnten.

Etwas später ertönte unverhofft ein leises Piepsen aus seiner Brusttasche. Er griff hinein und holte einen Armreif heraus, der eine Art Kommunikationsgerät war. Han trug ihn immer mit sich herum, obwohl er seit Ewigkeiten nicht mehr funktionierte. Daher war er sehr verwundert, als sich das kleine Gerät auf einmal zu Wort meldete.

Es war ein glatt polierter, silberner Reif mit einem eingearbeiteten Display und einer Gravur: Wieder ein verschnörkeltes ‚A‘. Auf dem Display stand eine Nachricht: Versiegelung aufgehoben. Systemstart angefordert. Das konnte nur eins bedeuten: Aletria, das sogenannte Silberne Königreich, wurde wieder zum Leben erweckt.

Eine riesige, wunderschöne Stadt, die allem, was die Menschen je erschaffen hatten, um Jahrtausende voraus war. Sie war seit dem großen Krieg vollkommen versiegelt und von einem undurchdringlichen Kraftfeld geschützt. Der Armreif war ein Gerät, mit dessen Hilfe er nicht nur Zugang zu dieser Stadt bekam, sondern auch ein vielseitiges Kommunikationsgerät. Es hatte sehr viele, teils versteckte Funktionen, mit denen man auf weitreichende Systeme der Stadt Zugriff hatte.

Als Val wieder zu Bewusstsein kam, hatte das Fahrzeug bereits sein Ziel erreicht und stoppte. Die Tür öffnete sich, zwei Soldaten packten ihn und Milena, und zogen sie aus dem Fahrzeug. Er schaute nach vorn und wurde vom Tageslicht geblendet. Langsam erkannte er die groben Umrisse der riesigen Kirche, vor der sie sich befanden. Als er sich erinnerte, was als Letztes geschah, fuhr ein starker Schmerz durch seine Brust. Sie wollten Milena umbringen. Und sie haben es auch getan, dachte er sich. Die kalten Worte der Wissenschaftler hallten in seinen Erinnerungen wieder und drückten auf sein Gemüt. Eine ungestüme Wut fing an in ihm zu brodeln.

„Das Mädchen hier rüber! Holt den Priester!“, schrie der erste Wissenschaftler. Val schaute sich um. Er konnte nicht an dem riesigen Soldaten vorbeischauen, der ihn festhielt. Doch dann sah er wie einer Milena grob am Genick packte und sie auf die Knie zwang. Ihre Handschellen waren so fest angelegt, dass sie an der Stelle blutete. Es machte ihm zu schaffen, dass sie wahrscheinlich große Schmerzen hatte dennoch war Val erleichtert. Sie lebt noch und er würde sie retten. Das nahm er sich fest vor.

Er musterte die zwei Wissenschaftler genau, während sie auf den Priester warteten. Da sie ihre Schutzkleidung nicht mehr trugen konnte er ihre Gesichter und ihre Namensschilder erkennen. Der erste war etwas älter, hatte dunkle, kräusele Haare und sein Name war Irvin Adler, der zweite hatte blonde, kurze Haare und hieß Gerald Allardé. Val prägte sich die Namen und die Gesichter der Beiden gut ein und schürte weiter seine Wut. Milena versank so sehr in Schuld und Selbstmitleid, dass sie beinah katatonisch wirkte.

Ein wenig später kam ein seltsam gekleideter Mann aus der Kirche. Er trug eine lange, weiße Robe mit einer Kapuze, die zu weiten Teilen sein Gesicht bedeckte. Er trat an Milena heran, packte sie an den Haaren, dann hob er ihren Kopf, um ihr in die Augen zu schauen.

„Also ihr sagt, die hat die Explosion unversehrt überstanden? Und deswegen verschwendet ihr meine Zeit? Sie ist für mich bedeutungslos. Bringt sie in ein Labor oder was auch immer ihr wollt, ist mir scheiß egal. Dumme Geistergeschichten will ich hier nicht hören”, sagte der Priester und schaute rüber zu Val. „Aber der Junge scheint interessant zu sein. Was ist da genau passiert?“

„Er scheint…“, sagte der Irvin stotternd, „… irgendwie unsterblich zu sein. Also“, er räusperte sich, „wir haben ihn in den Kopf geschossen und er ist etwas später einfach wieder aufgestanden und die Schusswunde war verschwunden. Ich dachte das könnte sie interessieren, deswegen haben wir ihn mitgenommen” Gerald nahm an dem Gespräch nicht mehr teil, denn er war bereits dabei Milena wieder in den Transporter zu bringen und schon bald fuhr er mit lautem Getöse davon, was den Priester in seiner Ruhe störte und ihn wütend werden ließ.

„Es war die richtige Entscheidung den Jungen hier her zu bringen. Ich habe hier eine Waffe, die selbst Götter töten kann und ich brauche sowieso noch ein Opfer für die Zeremonie heute. Der kommt mir gerade recht. Bringt ihn rein, übergebt ihn den Lakaien und geht mir aus den Augen. Ich kann euch Zahlenschubser nicht ausstehen. Ihr seid ein Arrogantes Pack, dass sich hinter seinen erbärmlichen Tabellen und Experimenten versteckt”

„Zu Befehl”, sagte Irvin unterwürfig und folgte den Anweisungen des Priesters. Val wurde in die Kirche gebracht; die Soldaten und der Wissenschaftler verließen den Ort in dieselbe Richtung, in die der Transporter gefahren ist.

Von außen sah das Gebäude wie ein moderner, stark überdimensionierter Wolkenkratzer aus. Von innen war es eine prunkvolle, barocke Kirche im Stil des 16. Jahrhunderts. Die vielen Kuppeln waren mit aufwändigen Fresken bemalt, die Formen waren sehr geschwungen und viel Gold wurde verwendet. Der Boden war aus feinstem Marmor und auf ihm lagen lange, verzierte Teppiche. Die Sitzbänke waren aus einfachem Holz und sehr unbequem. Eine riesige Orgel prahlte mit goldenen Pfeifen hinter einem Großen Altar, der ebenfalls aus Marmor war.

Val wurde vor dem Altar auf die Knie gezwungen und von einem der Diener mit dem Fuß nach unten gedrückt. Er stützte sich mit seinen Händen am Boden ab. Es war unglaublich demütigend in einer Gebetspose vor dem Priester zu knien. Aber ihm war das alles relativ egal. Er dachte nur daran, wie er es anstellen sollte, Milena zu befreien. In erster Linie war er nur froh, dass sie noch am Leben war. Ein paar Minuten später bereitete der Priester eine Predigt vor. Später betraten viele Leute den Saal. Als alle Plätze belegt waren, schlossen sich die riesigen Tore. Alles beruhigte sich. Der Priester schlug ein Buch auf und schaute auf.

„Werte Gemeinde” Begann er mit seiner Predigt. „Wir, das auserwählte Volk: Die Nachkommen der gesalbten, welche nicht von Gottes Zorn getroffen wurden, sind verpflichtet die ungläubigen zu bekehren, damit sie auf den Pfaden der Wahren Erlösung wandern. Wir müssen sie bekehren, um Gott zu beweisen, dass wir ihm auch weiterhin würdig sind. Er wurde aus seinem Himmelreich entsandt, um alle zu vernichten, die den falschen Weg gegangen sind. Und er wird es wieder tun, wenn wir uns nicht darum kümmern. Wir wollen nicht, dass uns noch einmal eine Apokalypse überkommt. Deswegen werden wir dem Willen Gottes gehorchen, unsere Armeen aussenden und die anderen Reiche bekehren. Und als Beweis meiner unerschütterlichen Überzeugung, werde ich persönlich diesen ungläubigen Jungen an das Werkzeug Gottes opfern”

Lauter Applaus hallte durch das Gemäuer. Zwei Diener des Priesters packten Val und legten ihn mit dem Rücken auf den Altar. Sie fixierten seine Hände und Füße mit speziellen Vorrichtungen. Dann wurde mit einem Seilzug eine eineinhalb Meter lange, schwarze Klinge über ihm herabgelassen. Die Spitze der Klinge pendelte etwa einen Meter über Vals Brust.

Ängstlich versuchte er sich zu befreien. Doch die Konstruktion war sehr stabil gebaut. Er hatte keine Chance sich irgendwie los zu reißen. Sein Herz schlug immer schneller und eine tiefe, zermürbende Angst durchströmte seinen Körper. Nicht nur dass in wenigen Sekunden eine Tonnenschwere Klinge durch seine Brust fahren wird und ihn qualvoll aus dem Leben reißt. Viel zermürbender war der Gedanke daran, dass er sein Versprechen, Milena zu retten, nicht einhalten würde. Er versuchte sich wieder und wieder zu befreien. Doch es war schier unmöglich.

„Sehet nun meine werten Gläubigen”, sprach der Priester weiter. „Wie das Werkzeug Gottes im Blute das ungläubigen versinkt und wir auch weiterhin seiner Gnade würdig sind” Der Priester nickte einem seiner Diener zu, worauf hin dieser einen Knopf betätigte. In diesem Moment löste sich die Klinge aus seiner Halterung und fiel herab. Wie in Zeitlupe sah Val sie auf sich zu kommen. Tausende Gedanken schossen ihm durch den Kopf.

Zur selben Zeit ...

Han betrachtete den Armreif noch eine Weile, aber er konnte nicht mehr zuordnen, woher oder warum er diesen überhaupt hat. Er wusste nicht ob es sein eigener war oder ob er ihn mal von irgendwem bekommen oder gefunden hat. Der Name Alexander, der auf dem Zerkratzen Display flackerte, löste in ihm ein seltsames Gewirr an Erinnerungen aus, die er nicht zuordnen konnte.

Er riss sich schnell wieder davon los, und dachte darüber nach wie er Milena und Val zurückholen konnte und wohin sie verschleppt wurden. Sein erster Gedanke war die Kaserne in der Nähe des Regierungsviertels, doch das schien abwegig. Was soll das Militär mit diesen Kindern anfangen? Seine zweite Idee war die Kirche. Viel mehr fiel ihm nicht ein, daher beschloss er diesem Gedanken zu folgen.

Als Agent der unbekannten Organisation, die Val entführen wollte, hatte er Zugriff auf die Fluggeräte, mit denen sie ihn transportiert hatten. Er ging zurück in seinen Bunker und forderte eines an. Während er wartete, ließ er den Militärfunk der Armee von einem Computerprogramm abhören und es nach bestimmten Schlüsselwörtern suchen.

Es dauerte nicht lang, da wurden seine Vermutungen, die Beiden würden in die Kirche gebracht, über den Haufen geworfen. Im Funk wurde eindeutig über ein blondes Mädchen berichtet, dass schnellstmöglich in eine wissenschaftliche Fakultät gebracht werden soll. Da er davon ausging, dass die beiden zusammen waren, hatte er nur Schlüsselwörter suchen lassen, die mit Milena zu tun hatten und übersah dabei, dass die beiden vom Priester getrennt wurden.

Etwa 30 Minuten vergingen, da bekam er eine Meldung, dass das angeforderte Transportflugzeug eingetroffen ist. Er verließ den Bunker und programmierte die Flugroute. Wieder piepste der Armreif in seiner Brusttasche. Er kramte es heraus und las eine Meldung: Systemstart erfolgreich. Reaktivierung Aletrias nach Aufhebung der Sicherheitsquarantäne eingeleitet. Keine Maßnahmen erforderlich.

Wieder versuchte er irgendwelche nutzbaren Informationen aus seinen bröckeligen Erinnerungen an diese Stadt zu gewinnen, doch es waren nur undeutbare, nostalgische Gefühle, mit denen er nichts anzufangen wusste. Er atmete tief durch, steckte den Armreif zurück in die Tasche und machte sich auf den Weg. Unbemerkt landete er das Schiff nahe der zuvor erwähnten Fakultät und schickte es wieder fort.

Kapitel 4

Der Fluch der Vergangenheit

In den Wenigen Millisekunden die Val hatte, um sein Leben zu reflektieren, dachte er gelassen über die kurze, aber schöne Zeit nach, die er mit Milena verbrachte. Er hätte gern mehr erfahren über seine seltsamen Träume, diese unangenehme Frau und unsichtbare Raumschiffe, die sich auflösen, wenn sie abstürzen. Doch das war jetzt alles vorbei. Nichts konnte die tonnenschwere Klinge mehr aufhalten, die sich im freien Fall auf ihn zu bewegte.

Und diesmal würde er auch nicht in einer dreckigen Gasse wieder aufwachen und nach Hause gehen können, denn er glaubte dem Priester, die Waffe könne gar Götter töten. Selbst wenn nicht, würde er in einem Sarg, tief unter der Erde aufwachen und dort auf ewig gefangen sein. Val resignierte vollkommen und hoffte nur dass der Schmerz nicht allzu lange anhielt. Aber es schien einfach nicht weiter zu gehen. Er hatte schon viel davon gehört, dass die Zeit im Angesicht des Todes viel langsamer vergeht, doch das war schon lächerlich lange, dachte er sich und fühlte gleichzeitig wie sich seine Angst legte und eine Welle aus Energie seinen Körper überrollte. Er ist schon so oft getötet wurden, er hoffte mittlerweile sogar, dass er diesmal nicht wieder aufwacht. Gleichgültigkeit begann all seine Gedanken zu verdrängen.

Es langweilte ihn, ewig darauf warten zu müssen, also beschloss er seine Augen wieder zu öffnen und seinem Sterben bewusst beizuwohnen. Er sah die Klinge des fast zwei Meter langen Schwertes über seiner Brust schweben. Als würde sie noch immer am Kran hängen und die ganze Predigt sei nur ein dummer Streich gewesen.

Es schwebte da einfach so als hätte es nichts Besseres zu tun. Wie von einer unsichtbaren Kraft gehalten, wartete es, ohne sich zu rühren. Val drehte seinen Kopf zur Seite und sah die schockierten Gesichter der Menschen im Saal, die vor Entsetzen wie gelähmt waren. Wieder überrollte ihn eine Welle aus Energie, die durch seinen ganzen Körper floss.

Er schaute zu dem Schwert auf und sah, wie die schwarze Schicht von der Klinge abfiel und ein leuchtendes Symbol freigab. Es war ein filigran gearbeitetes Schriftzeichen umgeben von einem Kreis aus anderen, kleineren Schriftzeichen. Val verstand sie. Diese Schriftzeichen sah er auch während seiner Anfälle, konnte sie aber nie Lesen, da es einfach zu viel auf einmal war. Doch nun sah er sie einfach da stehen und er wusste, was sie bedeuten. Der Kreis um die Symbole herum war ein Schwur. Val las ihn leise vor.

Ich bin das Leben. Ich bin der Tod. Mein Name gedeiht auf Erde und auf Stein, im Wasser und im Feuer. Ich bin eins mit den Welten und der Herrlichkeit Diener.

Das große Schriftzeichen in der Mitte war eine Kombination aus vier verschiedenen. Astra, Terra, Aeon und Solaris. Wobei das Schriftzeichen Terra am größten war und am deutlichsten herausstand.

In dem Moment, als er den Schwur zu Ende gelesen hatte, brannte sich das Symbol auf seinen linken Handrücken. Dann zerbrach das Schwert in abertausende kleine Teile, die um den Altar kreisten und eine Art Kuppel aus rasiermesserscharfen Splittern formten. Val erinnerte sich: Es war das Schwert, dass aus der Brust dieses Mannes ragte, von dem er neulich geträumt hatte. Er wusste nicht wieso, doch es schien ihm zu gehorchen.

Er fühlte eine gewaltige Kraft durch seine Adern fahren und konnte sich mühelos von seinen Fixierungen losreißen. Er stand vom Altar auf und streckte seine Hand aus. Die Kristallsplitter fügten sich wieder zusammen, und schließlich hielt er das Heft des Schwertes in der Hand. Es hatte die Form einer verflochtenen Wurzel, die tief in den Kristall der Klinge hinein reichten. Er konnte es einfach so halten. Obwohl es so schwer ist, dass es nur mit einem Kran bewegt werden konnte. Er schwang es ein bisschen hin und her. Es war federleicht und äußerst handlich. Der Priester ging fassungslos auf die Knie.

„Er ist zurück! Der Zerstörer ist wieder da!“, brüllte er voller furcht. Val hielt ihm das Schwert vor das Gesicht.

„Wo habt ihr das Mädchen hingebracht?!“

„Sie ist … sie ist”, stotterte der Priester. Dann fiel er in Ohnmacht. Die Menschen im Saal gerieten in Panik und liefen wie wahnsinnig herum. Alle, bis auf eine junge Frau mit einer Kutte, die der vom Priester sehr ähnlich war. Ebenfalls mit einer sehr weiten Kapuze über dem Kopf, stand sie ganz ruhig in einer Ecke und lächelte. Sie hielt ein kleines elektronisches Gerät in der Hand und tippte darauf herum.

Die anderen verließen panisch die Kirche nachdem sie es schafften die Riesigen Tore zu öffnen. Val stand vor dem Altar und schaute sich um. Als der Saal leer war bemerkte er, dass die Frau mit der Kapuze langsam auf ihn zukam. Sie war etwas größer als er. Val ging in eine Abwehrhaltung, doch je näher sie ihm kam, desto weniger bedrohlich fand er sie. Sie schaute zu ihm herab und streichelte mit ihren Händen über seinen Kopf.

„Ich habe dich gefunden. Jetzt können wir endlich wieder zusammen sein. Tausend Jahre habe ich darauf gewartet”, sagte sie mit einer unglaublich warmen und weichen Stimme. Val wurde von Emotionen überflutet. Er fühlte sich unglaublich leicht und glücklich. Vollkommen unbeschwert und ohne jeglichen Anflug von Angst oder irgendeinem anderen negativen Gefühl. Doch ein Gedanke manifestierte sich immer wieder: Milena. Egal wie gut er sich im Moment fühlte, er dachte gerade an sie. Ein stetig pulsierender Schmerz, der an seiner Kehle drückte und ihn davon abhielt in Trance zu fallen.

„Ich muss zu ihr”, stammelte er leise. Die Frau schlang ihre Arme um seinen Hals und drückte seinen Kopf gegen ihre Brust.

„Du bist bei mir. Nirgendwo sonst gehörst du hin” Val rang mit seinen Gefühlen. Er musste sich sehr stark konzentrieren und seine Gedanken ordnen, sonst würde diese seltsame, fremde Frau ihn vollkommen einnehmen. Es gelang ihm nur mühevoll und er drückte sie entschlossen von sich weg.

„Ich muss zu …“, stammelte er leise und wandte sich von ihr ab. Er schliff das Schwert hinter sich her und hinterließ eine riesige Scharte in dem feinen Marmorboden, während er langsam aber unaufhaltsam Richtung Ausgang lief. Die Frau drehte sich zu ihm, holte wieder das kleine elektronische Gerät aus ihrem Ärmel und tippte darauf herum.

„Du lässt mich nicht noch mal allein!“, brüllte sie. Sie wollte gerade einen Regler aufdrehen, da hörte sie ein Piepsen, dass aus ihrem Ärmel kam. Sie legte das Gerät beiseite und streifte ihren Ärmel nach oben. Sie hatte den gleichen Armreif wie Han am Handgelenk. Und es hatte die gleiche Gravur, wie das aus Vals Traum. Das große A und darunter das Wort Shezzar. Es erschien auch die gleiche Nachricht auf dem Display. „Die Stadt ist wieder aktiv”, flüsterte sie. „Endlich ist es soweit” Sie hob ihren Kopf und schaute Val konzentriert hinterher.

Sie lächelte und verließ die Kirche durch einen Ausgang hinter dem Zimmer des Priesters. In diesem Moment kam Val wieder zur Besinnung. Als er die Kirche verließ dachte er zuerst daran, wieder zu seinen Freunden zu gehen. Er kannte den Weg dahin nur zu gut und wenn es ihnen gut geht, würden sie ihm sicher bei der Suche nach ihr helfen. Er lief ein kleines Stück über den Platz und zog dabei noch immer das Schwert hinter sich her.



Auf dem Weg zur Fakultät fiel Han auf, dass etwas Seltsames in der Stadt vor sich ging. Überall liefen schwer bewaffnete Soldaten in großen, geordneten Zügen durch die Straßen. Als würden sie sich irgendwo sammeln, um eine Streitmacht zu formen. Dazu noch ein Waffentest mit einer wiederentdeckten Technologie. Das war also ein Atomwaffentest. Einerseits war der Gedanke daran verstörend, andererseits beruhigte es ihn auch ein wenig, denn es war besser, als wenn Fraya die beiden gefunden hätte. Der Gedanke war beinahe lächerlich, doch was Fraya, oder schlimmer noch: Isabelle; mit Vals Macht anstellen konnten, war weit schlimmer als tausende von Atombomben.

Kapitel 5

Zurück nach Hause

Val blieb für einen Moment stehen und schaute sich um. Alles war menschenleer und wie ausgestorben. Normalerweise war hier immer viel Gewusel, egal ob Nacht oder Tag. Er hob das Schwert und schaute es sich genauer an. Es war etwa einen Meter lang, zwanzig Zentimeter breit und war an beiden Seiten scharf. Es schimmerte grünlich und in der Mitte war das Symbol, das sich jetzt auch auf seiner Hand befand. Er hielt das Schwert mit einer Hand fest, als ob es federleicht wäre.

Eine Weile starrte er wie hypnotisiert darauf, dann schleuderte er es senkrecht in die Luft. Es flog etwa zehn Meter hoch und schlug ein paar Meter hinter ihm, mit der Spitze voraus, in dem Boden ein und versank bis zur Hälfte in den harten Steinplatten des Kirchplatzes. Er drehte sich kurz danach um und seufzte. Er würde nur zu sehr auffallen und seinen Freunden Angst machen, wenn er damit durch die Stadt läuft.

Kurz hielt er inne und ging los. Er dachte angestrengt darüber nach, was er tun könne, um Milena zu helfen. Die ganze Zeit plagte ihn ein komisches Gefühl. Die Straßen waren leer und es war fast totenstill. Unbehaglich und misstrauisch ging er weiter. Als er eine große Hauptstraße, auf der normalerweise hunderte von Autos fuhren, erreichte, wurde sein Misstrauen auf eine sehr derbe Art und Weise bestätigt. Vor ihm stand ein schwer gepanzertes Fahrzeug, das seine Kanone bereits auf ihn gerichtet hat. Um ihn herum gingen Soldaten in Stellung und richteten ihre Waffen auf ihn.

„Feuer!“, hallte es aus irgendeiner Gasse und der Panzer feuerte seine Kanone ab. Noch bevor Val darauf reagieren konnte, schlug das Geschoss auf eine gläsern wirkende, diamantförmige schimmernde Fläche auf, die kurz nach dem Schuss erschien. Die hochexplosive Granate wurde abgelenkt und schlug in ein Haus auf der anderen Seite der Straße ein.

Dann raste das Schwert vom Himmel, schlug in den Panzer ein und zerfetzte ihn in einem Sturm aus Splittern und Schrapnellen, von denen viele der umstehenden Soldaten getroffen wurden. Val schaute sich das Chaos an und spürte wie die Macht und die Gewalt dieser Waffe durch seine Adern strömte. Der kleine grüne Ring in seinen Augen leuchtete, wurde immer größer, und bedeckte seine Iris bald komplett. Val geriet in einen Rausch. Die Splitter des zerborstenen Schwertes erhoben sich vom Boden und kehrten zu Val zurück.

Wie hypnotisiert lenkte er die Splitter durch die Luft und tötete einen Soldaten nach dem anderen. Langsam lief er die Straße entlang. Wieder tauchten Panzer auf und eröffneten das Feuer. Die Geschosse schlugen wieder auf einer diamantförmigen Fläche auf, die sich aus Teilen der Splitter vor ihm bildete. Val streckte seinen rechten Arm aus und eine pulsierende, grün schimmernde Energie strömte aus dem Boden. Hinter ihm bauten sich die Splitter zu einem Spiegel auf, der die Energie bündelte und in seinen Arm leitete.

Val machte eine Fingerpistole und ein intensive leuchtender, grüner Energiestrahl löste die beiden Panzer auf, wie ein Windstoß einen Laubhaufen. Er lief langsam weiter. Auf seinen Armen bildeten sich leuchtende Schriftzeichen und begannen sich über seinem Körper auszubreiten. Überall um ihn herum durchbrach die Vegetation die dicke Asphaltschicht der Straße. Die übrigen Soldaten flohen in alle Richtungen. Die Macht dieser Waffe korrumpierte Vals Gefühle so stark, dass ihm jeder Sinn für Realität verloren ging. Ohne irgendeinen Antrieb zu verspüren lief er einfach weiter, versuchte dabei seine Gedanken wiederzufinden. Doch es war ein Kampf gegen Windmühlen. Dann spürte er wie etwas an seinem Hemd zog und versuchte ihn zum Stehen zu bringen.

„Val! Was tust du da!?“, erklang eine bekannte Stimme hinter ihm. Val drehte sich um und sah in das Gesicht seines besten Freundes Momo. Val packte ihn am Hals und hob ihn hoch. Wie verrückt strampelte er und kämpfte um sein Leben, während Val durch ihn hindurch zu schauen schien.

„Val! V-Val!“, krächzte Momo mit dem letzten bisschen Luft, das er noch hatte. „Ich bin es! Dein Freund” Er erkannte Momos Gesicht doch seine Gedanken waren gefangen in einer Schleife aus zweifeln und Widersprüchen. Momo war ein Mensch, doch die sind jetzt der Feind. Sie versuchen ihn zu töten, ihn zu foltern, ihn zu opfern. Ganz gleich wie sehr sich Val auf seine Freundschaft mit ihm konzentrierte, er war nicht stark genug den Argumenten zu widersprechen. Seine Augen glühten smaragdgrün und seine Miene war furchteinflößend.

Als Momo in Ohnmacht fiel wurde Vals griff schwächer. Er ließ von ihm ab und seine Gedanken klarten wieder etwas auf. Momo war keine Bedrohung, soviel konnte er sich noch klar machen, bevor er ihn getötet hätte. Val ging noch ein Stück weiter, blieb aber nach kurzer Zeit wieder stehen. Seine Gedanken waren so durcheinander, dass er nicht mehr wusste, was er tun wollte und wohin er geht. Als ihm eine warme, weiche Hand über die Wange streifte fiel es ihm wieder ein.

„Milena…“, flüsterte er. Doch als er sich umdrehte, sah er das zur Hälfte mit einer Kapuze bedeckte Gesicht der Frau, die er in der Kirche gesehen hatte. Sie schaute ihn entsetzt an und ließ wieder von ihm ab.

„Du hast mich einfach”, stotterte sie. „Ersetzt?“ Val war verwundert. Er hatte fest damit gerechnet, dass es nur Milena sein konnte, die es vermochte ihn mit dieser Art von Glückseligkeit zu überschwemmen. Das Mädchen streifte sich die Kapuze vom Kopf. Ihre tief schwarzen Haare fielen ihre Schultern herab und es offenbarte sich ein wunderschönes, makelloses Gesicht, mit blasser Haut und zwei wunderschönen braunen Mandelaugen. Der Moment zog sich Ewigkeiten in die Länge.

„Wer bist du?“, flüsterte Val. Sie nahm seine Hand und vergrub ihr Gesicht darin.

„Ajuki“, sagte sie und zog ihn an sich. „Deine, dich über alles liebende Königin. Komm wieder nach Hause in dein Königreich”

Val schaute auf. Ein Funkeln am Himmel deutete auf ein herannahendes Fluggerät. Es war etwas größer als ein Hubschrauber, nur ohne Rotoren und in einer kantigen Form. Es war kaum zu hören und landete elegant und sanft vor ihnen. Die Oberfläche war aus einem matten, weißen Material, das an Keramik erinnert. Ein seltsam schnörkeliges A verzierte die Seitenlinie. Ajuki nahm seine Hand und führte ihn hinein. Val versuchte sich zu wehren, doch er konnte ihr nicht widerstehen. Es war ihm aus irgendeinem Grund sehr wichtig bei ihr zu bleiben.



Nach fast einer Stunde zu Fuß erreichte Han das Labor. Es wurde nicht bewacht. Nirgends waren Polizisten oder Soldaten zu sehen. Er betrat das Gebäude durch den Vordereingang, ging einfach lächelnd an der Rezeptionistin vorbei und ließ dabei ein paar Banknoten auf der Theke zurück. Er fand einen Umkleideraum. Dort stahl er sich einen weißen Kittel und zog ihn sich über. Das Gebäude war steinalt und verwittert. Die Türen waren aus altem, schwerem Holz und die Farbe schälte sich hier und dort von den Wänden. Er hielt einen vorbeilaufenden Wissenschaftler auf und bat freundlich, ihm zu erklären, wo sich das Mädchen befindet, dass sie vor kurzem hergebracht haben. Der Wissenschaftler erklärte ihm, dass sie etwas weiter oben ein Mädchen untersuchen, das gerade eingeliefert wurde. Allerdings sei das streng geheim und dass man das Labor nur mit einer speziellen Autorisierung betreten könne. Han lächelte.

„Das weiß ich. Ich bin ein Spezialist, der extra deswegen aus Babel geschickt wurde”, sagte er freundlich. Der Wissenschaftler schaute ihn skeptisch an. „Sie ist erst seit etwa drei Stunden hier. Wie kommen sie so schnell aus Babel hier her?“, fragte er misstrauisch und musterte Han.

"Mit diesen neuen, schnellen Hubschraubern”

"Hier war den ganzen Tag kein Hubschrauber. Die sind alle im Einsatz, um in anderen Städten Soldaten zu rekrutieren” Han lächelte und klopfte ihm auf die Schulter.

„Okay das war alles gelogen. Jetzt hast du zwei Möglichkeiten: Entweder du gehst zur Rezeption, lässt dich krankschreiben und machst dir einen schönen Tag. Oder ich muss mir den Weg zu ihr frei kämpfen. Ich will nur das Mädchen und den Jungen wieder nach Hause bringen und ich lasse mich nicht davon abhalten. Also, wie sieht es aus?“

„Aber wir haben keinen Jungen hier” Han schwieg und schaute ihm einfach nur böse an. Ein paar Sekunden überlegte der Wissenschaftler. Alle Wachen wurden vor wenigen Minuten zu einem Sondereinsatz abberufen und er fürchtete um sein Leben. Dann drehte er sich um und ließ dabei mit Absicht seine ID Karte auf den Boden fallen.

„Bitte tun sie meinen Kollegen nichts. Wir machen das hier nicht freiwillig”, sagte er ängstlich und ging. Han hob die Karte auf und legte sie auf seinen Armreif. Das Bild auf der Karte zeigte nach kurzer Zeit Hans Gesicht und einen anderen Namen. Er klemmte sie sich an seinen Kittel und machte sich auf den Weg ins Labor.

Ein paar Treppen und Gänge später entdeckte er die Tür auf der Labor 12-B stand. Im Gegensatz zum Rest des Gebäudes, sah dieser Trakt neu und gepflegt aus. Kameras und Scanner waren gleichmäßig an den Wänden verteilt und schafften eine unheimlich beklemmende Atmosphäre. Die Tür war aus Metall und Glas. Sie öffnete sich automatisch, als Han sich ihr näherte und führte in eine Schleuse, in der er dekontaminiert wurde. Danach betrat er das Labor. Er stand auf einer Empore, auf der sich eine große Schalttafel befand. Weiter vorne in der Mitte des Raumes befand sich eine Liege auf der Milena festgebunden war. Über ihr war ein großes Gerät, aus dem ein leichtes Brummen dröhnte. Einer der Wissenschaftler drehte einen Regler auf.

„Okay. Versuchen wir die Entnahme mit den neuen Parametern” Er tippte eine paar Knöpfe und drehte an ein paar anderen Reglern. Daraufhin brummte das Gerät intensiver und Milena begann sich zu winden, als ob sie große Schmerzen hätte.

„Die Werte sind minimal. Ich weiß nicht, warum sie für so wertvoll gehalten wird, aber sie scheint keine Terra generierenden Zellen zu haben”, berichtete der Assistent.

„Irgendwas muss doch da sein”, sagte der Wissenschaftler nervös. „Ich passe die Parameter neu an und erhöhe die Stimulation” Wieder drehte der Wissenschaftler einen Regler auf. Han ging zu dem Pult, schubste den Wissenschaftler weg und drehte die Regler wieder runter. Das Brummen verstummte und Milena beruhigte sich etwas.

„Was glaubt ihr eigentlich, was ihr hier tut?“, brüllte Han die Wissenschaftler an. „Wollt ihr sie umbringen? Wenn das Testsubjekt verletzt wird, bekommt ihr es mit Präsident Luciera persönlich zu tun” Der Wissenschaftler wurde nervös.

„Wir arbeiten nicht für die Regierung von Marista. Also interessiert mich die Meinung Lucieras herzlich wenig” Erst jetzt erkannte Han die Situation. Weder der Regierung Maristas noch der Ecclesia war die Existenz von Terra oder anderen transdimensionalen Energien bekannt. Das heißt es musste sich um eine andere Organisation handeln. Han sah sich um und verstand nun wieso ihm diese Einrichtung so vertraut vorkam. Währenddessen schaute der Wissenschaftler auf ein Display in seiner Hand. „Achso ihr seid es. Ich hab sie noch nie in Person gesehen, deswegen bitte ich um Verzeihung, dass ich so unhöflich war, Herr Han” Han verschränkte die Arme und schaute dem Wissenschaftler fest in die Augen.

„Machen sie sich keine Sorgen um das Subjekt. Es handelt sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht um die gesuchte Person. Sie hat keinerlei Ausbrüche oder Fluktuationen während der Behandlung gezeigt. Des Weiteren fehlen ihr die signifikanten Merkmale, nach denen wir Ausschau halten sollen. Han drehte sich zum Pult und fuhr die Anlage herunter. Dann drehte er sich wieder zu dem Wissenschaftler.

„Heißt, dass ihr habt sie gefoltert? Sie versucht zu töten, ihr die Gliedmaßen ausgerissen?“ Hans Blut kochte. Der Wissenschaftler nickte angespannt.

„Ja, aber natürlich. Alles streng nach Vorschrift. Nun, sie war die meiste Zeit nicht bei Bewusstsein. Die Sicherheitsprotokolle schreiben vor, dass der Patient bei dem Verdacht auf Terra generierende oder empfängliche Zellen sediert werden muss, da es sonst zu einem Vorfall wie in Labor 243 kommen könnte. Nun, wie es aussieht hat sie keine. Und ihre Regenerationsfähigkeit hat seit den letzten Tests stark nachgelassen. Als ob sie …ähm … verbraucht wurde”

In diesem Moment verstand Han, was das bedeutete: Sie ist mit Vals Blut in Berührung gekommen, wodurch sie für eine gewisse Zeit diese Fähigkeit erhielt. Einer der Gründe, warum Isabelle nach ihm suchte.

„Ich werde dieses Mädchen jetzt mitnehmen”, sagte Han drohend.

„Das kann ich nicht zulassen”, brüllte der Wissenschaftler. „Wir können immer noch viel von ihr verarbeiten und noch ein wenig extrahieren bevor sie stirbt”

„Nein!“, brüllte Han. „Das Protokoll wird geändert. Ab sofort seid ihr mir unterstellt! Gebt dem Mädchen ihre Kleidung und sorgt dafür, dass sie selbst laufen kann. Um den Rest kümmere ich mich” Der Wissenschaftler verstand nicht, wieso der persönliche Schoßhund von Lady Isabelle sich plötzlich für ein kleines, geheimes Labor im Fakultätsbereich interessierte, wagte aber nicht es zu hinterfragen und folgte den Anweisungen. Ein paar Minuten Später brachten zwei andere Laborarbeiter Milena zum Eingangsbereich. Han stand mit dem Rücken zu ihnen. Milena zappelte und wehrte sich.

„Hier ist sie, wie sie es befohlen haben”, sagte der eine. Das Licht der Abendsonne schien an Hans Schulter vorbei sodass man ihn kaum erkennen konnte.

„Nehmt ihr die Handschellen ab und dann verschwindet!“, sagte er.

„Die Handschellen? Aber sie ist sehr aggressiv!“, sagte der andere.

„Schnauze! Wenn du noch einmal meine Befehle in Frage stellst, mache ich dich zu einem der Testsubjekte!“, schrie er wütend. „Und jetzt verschwindet, verdammt nochmal!“ Die Männer gingen demütig in ihre Labors zurück. Milena rieb sich die schmerzenden Handgelenke und stürmte gleich darauf wütend auf Han los. Doch bevor sie ihn erreichte, drehte er sich um und sie erkannte ihn. Er streckte seine Arme aus und fing sie auf.

„Es tut mir leid, dass ich es nicht früher geschafft habe”, flüsterte er. Milena klammerte sich an ihn. Sie zitterte und atmete flach.

„Es tat so weh. Es war schrecklich” Han streichelte ihren Kopf.

„Jetzt ist es vorbei. Lass uns gehen” Sagte er tröstend. „Wir müssen Val finden. Weißt du wo er ist?“ Milena nickte.

„Sie haben ihn in die Kirche gebracht. Ich glaube, sie wollen ihn opfern”, sagte sie ängstlich. Han wurde nachdenklich. Er erinnerte sich, dass es ihm verboten wurde, dieses Gebäude zu betreten. Doch das war jetzt nicht mehr wichtig.

„Okay, gehen wir da hin”, sagte er und beide verließen das Gebäude. Die Kirche war etwa eine Stunde von der Fakultät entfernt.

Als sie ankamen fanden sie alles Menschenleer. Neben dem Altar lag der Bewusstlose Priester. Han ging zu ihm, um zu schauen ob er noch lebt. Als er sich zu ihm herab kniete, überkam ihm plötzlich ein seltsamer Schmerz. Er schaute nach oben, an zwei Säulen links und rechts neben dem Altar entlang. Dort sah er zwei junge Mädchen, die mit einem Speer durch die Brust aufgespießt waren. Ihre Arme waren an zwei massiven Ketten hochgebunden und an einem großen Ring mit der Säule verbunden.

Ihr Blut floss an der Säule herab und wurde in einer zeremoniellen Schale gesammelt. Hans Entsetzen war grenzenlos. Doch viel schlimmer wurde es erst, als er sich an die Beiden erinnerte. Es war schon viele Jahre her, als Han die Zwillinge das letzte Mal gesehen hatte. Seine Erinnerungen waren aber zu kaputt, um sich an mehr als ihre Namen zu erinnern. Die Beiden wachten auf und schauten Han lächelnd ins Gesicht.

„Meister. Du bist wieder da. Wir haben auf dich gewartet”, sagte eines der Mädchen kraftlos. Milena lief zu ihnen.

„Wer sind die Beiden? Und wieso nennen sie dich Meister?“, fragte sie. Das andere Mädchen sprengte die Kette mit einem kräftigen ziehen, packte den Speer, der in ihrer Brust steckte und riss ihn mit einem starken hieb heraus. Sie fiel herab und hielt sich ihre schmerzende Wunde, doch sie verheilte in Sekunden und bald stand sie wieder auf. Glücklich fiel sie Han in die Arme.

„Wieso seid ihr nicht geflohen?“, fragte er traurig.

„Wenn du nicht in der Nähe bist, verlieren wir unsere Stärke. Wir konnten uns nicht gegen sie wehren”, sagte sie und rieb ihre Wange an seiner Brust. Das andere Mädchen befreite sich ebenfalls - wenn auch nicht ganz so elegant - von der Säule und stürzte mit dem Kopf voraus auf den harten Marmorboden. Sie stöhnte genervt und stand auf. Wackelig taumelte sie zu Han und schlang ihre Arme ebenfalls um seine Brust. Sie schob das andere Mädchen dabei von ihm weg. Die Beiden fingen an zu streiten und fauchten sich an. Han streichelte ihre Haare.

„Maria, Lili. Wie seid ihr bloß hierhergekommen?“, fragte er.

„Isabelle war das. Sie wollte uns als Mahnmal dafür, wie töricht es ist, sich Unsterblichkeit zu wünschen, nachdem sie dich nicht mehr brauchte. Aber wir wussten, dass du wieder zu uns findest. Spätestens nach Shezzars Rückkehr”, erklärte sie.

„Wer ist Shezzar?“, fragte Milena die sich langsam wie das dritte Rad am Wagen vorkam. Lili löste sich aus der Umarmung und setzte sich auf den Altar.

„Shezzar ist der Junge, den sie hier opfern wollten. Ironischer weise wieder mit seiner eigenen Waffe. Naja, sie wussten nicht, dass er es ist” Han dachte nach.

„Das muss Val gewesen sein”

„Ich weiß nicht, wen du meinst. Niemand hat Val zu ihm gesagt. Es war ein etwa 15 Jahre alter Junge, braunes Haar und mit seltsamen, weißen Sachen, die überall schnallen und Riemen hatten”, sagte Lili.

„Das war er. Wo ist er hin gegangen?“, fragte Milena.

„Ich weiß es nicht. Er hat die Kirche verlassen und ist wohl Richtung Stadt gelaufen” Maria löste sich ebenfalls von Han und ging mit ernster Miene und auf eine bedrohliche Art auf Milena zu. Sie schaute ihr tief in die Augen.

„Irgendwas ist mit dir. Ich weiß nur nicht genau, was”, murmelte sie und drehte sich zu Lili. „Komm, Schwester. Wir gehen ihn suchen, wenn es Han so wichtig ist. Doch vorher ..” Maria ging in das Zimmer des Priesters und kam nach kurzer Zeit mit zwei großen Japanischen Katanas wieder raus. Eins davon warf sie Lili zu.

„Frechheit! Er hat sie nicht mal gepflegt”, grummelte Lili als sie das Schwert aus der Scheide zog. Dann ging sie zu dem Priester, der immer noch bewusstlos auf dem Boden neben dem Altar lag und trat ihm ins Gesicht, solange bis er aufwachte. Sie packte ihn, richtete ihn auf, sodass er vor ihr kniete und legte die Klinge, mit der Schneide auf seinen Hals gerichtet auf seine Schulter.

„Warte noch!“, rief Maria und ging zu ihr. Sie zog ihr Schwert ebenfalls aus der Scheide und richtete die Spitze der Klinge auf seinen Unterleib. „Siebzehn Jahre Folter und Vergewaltigung. Du kannst froh sein, dass du sterben wirst” Sie schaute ihn angewidert an und rammte das ihm das Schwert zwischen die Beine.

Der Mann schrie entsetzlich und Lili schlug ihm mit der stumpfen Seite der Klinge ins Gesicht. Sie schnaufte entspannt. Maria wischte noch das Blut am Gewand des Priesters von der Klinge. Milena hatte das Gebäude verlassen als sie begriff, was die beiden mit dem Mann vorhatten. Sie billigte ihre Rachegelüste, doch dabei zusehen wollte sie nicht. Han ging zum Ausgang.

„Wir müssen Val finden. Lasst uns gehen”, rief er ihnen zu. Die beiden folgten ihm und sie verließen eilig die Kirche. Milena erwartete sie bereits auf dem großen Platz. Auf dessen Boden entdeckten sie die Scharte, die das Schwert hinterließ und einer anderen Stelle einen etwa zwei Meter breiten Krater, den das Schwert hinterlassen hat, als es sich aus dem Boden sprengte. Sie liefen ein Stück, dann fing Hans Armreif an zu piepsen. Er streifte seinen Ärmel nach hinten und las eine Nachricht:

Vollständige Reaktivierung Aletrias eingeleitet. Astrale Signatur von Shezzar bestätigt. Barrieren werden gelöst.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Han. Wieder erschien eine Nachricht auf dem Armreif:

Alexander, melden sie sich bitte umgehend im Hauptturm. Han hatte gar keine Zeit groß darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hatte, da im selben Moment ein großes Transportschiff vor ihrer Nase landete und sich dessen Schleusen öffneten. Han erkannte durch das Design des Schiffes, dass es keines von denen ist, die er entwickelt hat. Er erkannte das Gleiche verschnörkelte A wieder, das auch auf seinem Armreif ist.

Das Schiff hatte keine Flügel, dafür sehr elegante und weiche Linien. Es war schneeweiß, matt und anmutig. Das letzte Licht der Abenddämmerung ließ die rechte Flanke des Schiffs in einem feurigem Orange glühen und funkeln, als käme es direkt aus der Unterwelt. Etwas zögerlich ging er darauf zu. Lili hielt ihn am Arm fest. „Geh da nicht rein. Das ist sicher eine Falle” Sagte sie ängstlich. Han schüttelte den Kopf.

„Das glaub ich nicht” Er begann zu flüstern. „Alexander. Wieder dieser alte Name. Wieso erschüttert das meinen Verstand so sehr?“, murmelte er vor sich hin und betrat das Schiff. Etwas zaghaft folgten ihm die anderen. Alle setzten sich und schnallten sich an. Das Schiff startete sanft und eine Durchsage erklang.

Reiseziel: Aletria, Flughafen. Bitte vergewissern sie sich, dass alle mitreisenden eine Autorisierung bekommen. Das Schiff hatte keine Fenster. Die Umgebung wird auf die Innenwände projiziert und über einen Restlichtverstärker konnte man auch nachts noch alles gut sehen. Alle schauten nach draußen und staunten über den Anblick, der sich unter ihnen dar bot. Während das Schiff langsam empor stieg, wurde die Riesige Stadt unter ihnen immer kleiner.

Als sie den Stadtrand überflogen wurde der Anblick sehr bizarr: Alles was nicht bebaut wurde, holte sich die Natur gnadenlos zurück. Ein dichter und großer Wald begann genau da, wo Marista aufhörte. Milena fielen sofort die noch immer brennenden Ruinen ihres Dorfes auf. In ihrem Inneren brodelte ein Kampf zwischen ihrem Durst nach Rache und der Schuld am Tod dieser Menschen. Das Gefühl der Rache obsiegte. Ihr Blut kochte vor Genugtuung und ihr Gemüt schwappte in eine bösartige Heiterkeit um.

Das Schiff begann immer schneller zu werden. Die Landschaft unter ihnen fing an zu verschwimmen und es war kaum noch was zu erkennen. Es flog sehr schnell, aber trotzdem schien der Wald kein Ende zu nehmen. Es war sehr verwirrend, da es eine scheinbar unglaubliche Geschwindigkeit hatte, man aber nur sehr schwache Beschleunigungskräfte verspürte.

Ein paar Minuten später wurde es wieder langsamer. Der Wald unter ihnen wurde etwas lichter. Weit vor sich sahen sie schon ein riesiges Gebäude, das weit in den Himmel ragte. Umgeben von vielen, etwas kleineren aber immer noch sehr großen Gebäuden. Eine Stadt, die silbrig weiß schimmernd aus dem Wald ragte, umgeben von einer Mauer, die höher war als die höchsten Bäume des Waldes. Hinter der Mauer erstreckte sich eine romantische Landschaft mit kleinen Waldstücken, Seen, Auen und vereinzelt ein paar Straßen und kleinen Gebäuden.

Während sie weiter Richtung Zentrum flogen, fing die Stadt an immer weiter in die Höhe zu wachsen. Bis sie schließlich an einem riesigen Turm vorbei flogen, der, genau wie in Marista, das Zentrum der Stadt darstellte. Das Schiff landete selbständig auf einem kleinen Flugfeld in der Nähe des Turms. Es setzte auf und die Antriebe verstummten langsam. Die Projektionen wurden abgeschaltet und ein paar Lichter gingen an, die den Weg zum Ausgang wiesen. Wieder ertönte eine weiche, weibliche Computerstimme:

Willkommen in Aletria. Alexander, melden sie sich bitte umgehen im Hauptturm. Die Autorisierung ihrer Gäste läuft in 30 Minuten ab. Bitte registrieren sie sie umgehend.

Alle verließen das Schiff und schauten sich beeindruckt die Stadt an.

„Ich kann mich wieder erinnern“, fing Han an, während er auf seinem Armreif herum tippte, „Die Stadt war seit 1000 Jahren versiegelt. Es war niemand hier. Und dennoch sieht es aus als wär sie nie verlassen worden. Wir müssen in den Turm. Val ist bestimmt dort”

Kapitel 6

Die Geister der alten Welt

Einige Stunden vorher landeten Val und Ajuki direkt auf dem Hauptturm. Sofort lief sie zu einem der Bedienkonsolen. Vollkommen überfordert tippte sie ziellos auf allem herum.

„Okay, Ajuki”, Flüsterte sie angespannt. „Jetzt alles streng nach Protokoll” Sie nahm ihren Armreif und legte ihn auf die Konsole. Sofort fing das Gerät an mit der Konsole zu harmonisieren und nach einigen Minuten hörte es auf. Sie legte sich den Armreif um das linke Handgelenk und schaute eine weile starr in den Raum.

Val lief wie hypnotisiert umher und schaute sich alles fasziniert an. Der Turm war so hoch, dass er kleinere Wolken fast auf Augenhöhe vorbeischweben sah. Ebenso spürte er wie das Gebäude sich dem Wind hingab und sich sanft bewegte. Die Kanzel des Turms, die sich als ein Ring um die vier Stützen schlang, war so schwer, dass sie von Partikelkanonen gestützt wurde, die einen stetigen Strom an geladenen Teilchen auf ein gegenpoliges Magnetfeld schießen. Wie ein Wasserstrahl auf dem ein Teller balanciert wird.

Ajuki zog ein weiteres Gerät aus der Robe und befestigte es an ihrem Armreif. „Okay, so müsste das doch funktionieren mit der Datenübertragung. Gleich ist es fertig”, murmelte sie. Wieder vergingen ein paar Minuten, dann schaute Ajuki auf und drehte sich um. Val stand schon eine Weile da und starrte ausdruckslos in ihre Richtung.

Wiederherstellung der Basisprozedere. War eine Meldung, die ihm direkt ins Blickfeld projiziert wurde. Am Armreif gingen ein paar Lämpchen auf und Val begann wie besessen mit den Pupillen zu zucken. Er sah plötzlich schemenhaft einen kleinen Jungen vor sich herlaufen, der von einem Kontrollpult zum anderen ging.

„Bellami?“ murmelte Val. Er versuchte ihn zu packen aber in dem Moment war der Spuk vorbei. Ajuki drehte sich zu ihm um.

„Was ist mit dir?“, fragte sie besorgt. Val schaute ihr tief in die Augen. „Wo sind wir? Was machst du da? Wo ist Milena?“ Ajuki warf ihm einen finsteren Blick entgegen und schüttelte enttäuscht den Kopf.

„Schon wieder dieser Name. Es bringt wohl nichts. Es ist einfach so erbärmlich zu sehen, was aus dir geworden ist. Du bist nutzlos, genau wie dieses Ding” Sie kramte ihr kleines, elektronisches Gerät aus der Tasche, drückte zwei Mal auf den Bildschirm und warf es Val vor die Füße. Ihn durchzog plötzlich eine extreme Traurigkeit, verbunden mit Angst und Verzweiflung. Er sackte zu Boden und vergrub den Kopf in seinen Armen.

Ajuki verließ den Hauptturm. Ein paar Minuten später startete ein Flieger aus einem der Hangars und verschwand im Himmel. Val quälte sich und hielt seinen Kopf fest. Er schloss die Augen und fühlte grenzenlose Traurigkeit. Es lähmte ihn förmlich und er fand keinen Ausweg. Vor seinen Augen erschien plötzlich ein seltsam gekleideter junger Mann. Er war sehr dünn, trotzdem muskulös, hatte eine enge Lederjacke und weite, schwarze Hosen an. Sein Blick war kalt und ein bisschen herablassend. Val raffte sich mühsam auf und sah ihn an.

„Wer bist du?“ fragte er leise und schüchtern. Der Mann trat ein Stück an ihn heran und schaute musternd über ihn hinweg. Er fing an laut zu lachen. Seine Eckzähne waren sehr spitz und seine Schneidezähne hatten kleine, scharfe zacken. Er packte Val am Kragen und hob ihn hoch.

„Du hast dich verändert. Aber genau das wolltest du, nicht wahr? Vergessen. Noch einmal von vorn anfangen. Alles mit anderen Augen sehen”, sagte er mit kalter Stimme, „Deine Welt ist nicht besser geworden. Dein Leben auch nicht. Noch immer verdirbt Angst und Verzweiflung deinen Verstand. Ich kann es nicht ertragen, wenn ihr leidet” Val schaute ihm tief in die Augen.

„Wen meinst du mit ihr? Wer noch?“ Er ließ langsam von Val ab.

„Ich möchte dir etwas zeigen” Er hob die Hand und schnippte mit den Fingern. Plötzlich waren die beiden in einem niedlich eingerichtetem Kinderzimmer. Es war nicht sonderlich groß, aber sehr gemütlich. Val saß auf einem kleinen Bett, mit einer sehr dicken Federbettdecke auf dem wieder dieses große, verschnörkelte A aufgestickt war. Gegenüber stand ein Schreibtisch, auf dem große Unordnung war. Spielsachen lagen überall verteilt, Zettel mit Kritzeleien lagen auf dem Boden und auf den Möbeln. Rechts war ein großes Fenster, das immer einen Spalt offen war.

Wie aus einem hohen Turm konnte man dahinter eine wunderschöne, weitläufige Landschaft sehen. Kleine Seen, Wälder und satt grüne Wiesen. Die Vorhänge schwankten sanft in einer Warmen Briese, die durch das Zimmer zog. Links von Bett war eine Holztür. Sie war immer verschlossen und keiner, außer Bellami, wusste wohin sie führte.

„Ich hab mal von diesem Ort geträumt”, stotterte er.

„Ja, das mag sein”, sagte der Mann. „Dies ist ein Ort, an dem ihr eure Gedanken geteilt habt. Er ist fernab von Realität, Zeit und Raum” Val ging zum Schreibtisch und fand ein paar Kritzeleien. Auf einer standen 3 Namen und darunter waren Bilder. Bellami, Shezzar und Zeraph. Einen erkannte er sofort.

„Du … du bist Zeraph. Dann muss er Bellami gewesen sein” Er zeigte auf das Bild eines kleinen Jungen, der breit grinsend zwischen den Beiden stand. „Ich hab ihn auch mal in einem Traum gesehen. Doch wer ist Shezzar?“

„Kannst du dich nicht mehr an deinen Namen erinnern?“ Val schüttelte den Kopf. „Das war ich? Aber die Person ist viel älter als ich” Zeraph nahm das Bild und schaute darauf.

„Es ist auch schon eine Weile her. Ich weiß noch, wie du damals die Welt auf den Kopf gestellt hast. Das war eine Woche …“, sagte er etwas zynisch und lachte. „Sie nannten sie den großen Krieg. Das war wunderschön. Ich konnte fühlen, wie sich der ganze Schmerz dieser Welt Stück für Stück auflöste. Doch es brachte Bellami nicht zurück” An der Wand über dem Schreibtisch hing Vals Schwert. Beide schauten es sich eine Weile still an.

„Was ist mit Bellami passiert?“, fragte Val traurig.

„Das weiß ich bis heute nicht. Das Letzte, was wir von ihm gehört haben war, dass er für ein paar Tage die Stadt verlässt. Aber er ist nie zurückgekehrt” Zeraph setzte sich auf das Bett. „Wir haben urplötzlich jede Spur von ihm verloren. Du hast überall nach ihm gesucht. Jedes Mal, wenn du erfolglos zurückgekehrt bist, wurdest du trauriger und wütender. Irgendwann hast du beschlossen zu glauben, dass die Menschen es geschafft haben, ihn zu töten. Sie haben ihn sowieso gehasst, da er seine schöne, kleine Welt nur mit wenigen geteilt hat” Zeraph hielt kurz inne.

„Was ist dann passiert?“, fragte Val neugierig. Zeraph musste schmunzeln.

„Du hast sie vernichtet” Er schaute aus dem Fenster. „Interessanterweise warst du sehr behutsam” Val schaute ihn nur fragend an. Zeraph fuhr fort. „Du hast bewusst nicht alle getötet und den Planeten weitestgehend verschont” Val schüttelte den Kopf und schwieg.

„Du hast es doch vorhin selbst erlebt. Diese Kraft, die du freisetzen kannst. Sie ist die Essenz von allem, was lebt. Leben und Tod – Terra”, sagte Zeraph laut und kraftvoll. Das Bild vom Kinderzimmer verblasste und der Kontrollraum tauchte im Hintergrund wieder auf. Vals Armreif reagierte und ein elektromagnetischer Impuls zerstörte das Gerät, das Ajuki auf den Boden geworfen hat.

Val stand auf und kratzte sich am Kopf. Zeraph stand neben ihm. Er hatte eine furchteinflößende Ausstrahlung. Sein Gesicht war fahlbleich und winzig kleine, rote Äderchen schimmerten unter seiner Haut hervor. Seine Haare waren pechschwarz und zu einer spitzen Igelfrisur hergerichtet. Seine Augen schimmerten blutrot und in seiner Iris waren winzige, schwarze Symbole.

„Interessant”, murmelte er. „Dieses Ding hat sich deiner Gefühle bemächtigt. Das Sicherheitssystem hat es zerstört” Val schaute ein wenig verwirrt und sein Kopf taumelte. Zeraph stellte sich vor ihn und schaute ihm tief in die Augen. Er grinste und packte ihn an den Schultern. Trotz Zeraphs furchteinflößender gestallt fühlte Val sich ihm sehr verbunden. Es war, als könne er die Gefühle des seltsamen, ihm vollkommen unbekannten Mannes spüren. Sie waren durchwachsen von Einsamkeit, Zorn aber auch Freude und Liebe zugleich. Aber was ihm am meisten Beeindruckte war, eine tiefe Aufrichtigkeit. Was Zeraph sagte, war die Wahrheit, dass wusste Val genau, auch wenn er nicht wusste wieso, was er zu diesem Zeitpunkt auch niemals hätte begreifen können.

„Du fühlst es, hab ich recht? Das Gerät ist es nicht, das ist kaputt. Dein Kopfweh kommt von hier”, sagte Zerpah mit einer sanften, aber beängstigenden Stimme und tippte mit dem Finger auf Vals Brust. „Es ist dein Herz” In dem Moment drang ein helles, rotes Licht durch seine Haut.

„W-w-was ist das?“, stotterte Val. Zeraph nahm seine Hand wieder weg.

„Kannst du dich nicht mehr erinnern? Es ist nicht lang her, da habe ich dich in meiner echten Gestalt besucht”, er schwieg kurz und ließ Val darüber nachdenken.

„Du … du warst das? Das war doch nur ein Traum, oder?“ Val erinnerte sich an ein seltsames Ereignis, vor ein paar Monaten.

Kapitel 7

Das Herz aus einem Traum

Die Sommerzeit in Marista ist eine sehr unangenehme Zeit. In der Stadt ist es immer sehr warm und schwül, was den Gestank im Viertel nur noch schlimmer machte. Selbst nachts hält sich diese unangenehme Temperatur. Val hatte so schon Probleme abends zur Ruhe zu kommen aber im Sommer war das manchmal fast unmöglich. Wenn er nicht schlafen konnte, ging er immer spazieren. Und einmal fand er einen Ort, an dem er sich auf eine seltsame Art und Weise sehr wohl fühlte.

Es war der Sportplatz einer schon längst verlassenen Schule. Das Schulgebäude war marode und teilweise eingestürzt. Nachts war es stockdunkel, da selbst das Viertel, in dem sich die Schule befand fast vollkommen verlassen war. Die Finsternis tat ihm gut. Sonst ist die Stadt fast überall voll ausgeleuchtet und es ist immer taghell. Außerdem war es dort auch etwas kühler. Die Gebäude in dem Viertel waren wesentlich kleiner und nahmen Tagsüber viel weniger Wärme auf.

Er legte sich am liebsten in das überwucherte Baseballfeld und schaute in die Sterne. Er stellte sich vor, wie er hier zu Schule gehen könnte und mit seinen Freunden lernen und spielen würde. Und auch wenn er genau wusste, dass es nie dazu kommen würde, fühlte er sich frei und behaglich in dem Gedanken. Die Dunkelheit und die Stille waren wie ein Tor zu seinen tiefsten Gefühlen. Doch an diesem Abend hielt die Stille nicht an. Val fühlte sich beobachtet und er hörte von irgendwo ein leises Schnaufen.

Er richtete sich auf und schaute sich um: Nirgends war etwas zu sehen, und trotzdem war da etwas. Das Schnaufen wurde lauter und bedrohlicher. Val zitterte und ihm standen die Haare zu Berge. Es schien sich auf ihn zu zubewegen und er war so überwältigt davon, dass es ihm nicht gelang aufzustehen. Das Gras fing an leise zu rascheln. Ängstlich streckte er seinen Kopf über das Gras, doch er sah nichts. Es war zu dunkel. Das Schnaufen wurde immer lauter und dann kam noch ein donnerndes Stampfen dazu, das sich auf ihn zu bewegte.

Es war in Wirklichkeit nicht lauter als das Tapsen von Katzenpfoten, aber Vals Sinne waren gerade so scharf, dass er es als unerträglich lautes poltern vernahm. Er versuchte rückwärts weg zu kriechen, doch er war nicht schnell genug. Dann wurde das Schnaufen so laut, dass es unmittelbar vor ihm sein musste. Jetzt fühlte er auch einen warmen Lufthauch, der an seinem Kopf vorbei wehte, immer wenn er das Schnaufen hörte. Eine unglaublich intensive, riesige Präsenz hatte sich vor ihm aufgebäumt. Es war nur wenige Zentimeter vor ihm. Sehen konnte er es nicht.

Es war so schwarz, dass es selbst das helle Mondlicht vollkommen verzehrte. Val lag auf dem Boden und schaute in den Himmel. Gelähmt vor Angst sah er, wie die Sterne über ihm verschwanden. Die Präsenz war so stark, dass sie sogar seine Gedanken zu verschlingen schien. Sie war furchteinflößend, mächtig, kraftvoll und selbstbewusst. Dem Antlitz Gottes höchstpersönlich gegenüber zu stehen, hätte ihn mit Sicherheit nicht annähernd so beeindruckt und Val konnte nicht einmal sehen, was sich da vor ihm auftat. Er hatte unsagbare Angst, doch irgendwas in seinem Kopf sagte ihm, dass er nicht weglaufen soll.

Dann erschienen über ihm zwei riesige, blutrot leuchtende Augen. Sie leuchteten hell genug, dass sich ein paar Umrisse eines gewaltigen Kopfes und eines riesigen Mauls abzeichneten. Das Maul war so groß, dass es locker einen Schulbus mit einem kleinen Happs verschlingen konnte. Die Kreatur richtete sich über ihm auf und öffnete sein Maul. Seine Zähne waren dick wie Eichenstämme, scharf wie Schwerter und spitz wie Dolche. Blutrote Flammen stiegen an ihnen empor. Tief im Rachen der Kreatur flackerte ein Rotes Licht, das immer heller wurde. Kleine Wellen aus purpurnen Flammen rollten über die riesige Zunge. Brennender Speichel tropfte an den Zähnen herab und verfehlte Vals Kopf nur um Millimeter.

Die Flammen in seinem Rachen wurden immer heller und stiegen immer höher und plötzlich ergoss sich ein Schwall aus roten Flammen auf ihn und verbrannten alles um ihn herum in wenigen Sekunden. Doch Val fühlte keinen Schmerz. Selbst als seine Kleidung auf seiner Haut verbrannte. Er hielt sich die Hand vor das Gesicht und sah wie die Flammen seine Haut durchdrangen, ohne ihn zu verletzen. Alles um ihn herum verbrannte vollständig. Selbst der Beton des Schulgebäudes schmolz in wenigen Sekunden und verdampfte. Doch Val fühlte sich wie unter einer Dusche aus purer Lebensenergie.

Er schaute an sich herab und sah sein eigenes Herz, wie es unter seiner Brust schlug. Er beobachtete wie sich langsam ein Symbol darauf aufzeichnet, das noch heller leuchtet als die Flammen. Plötzlich war alles vorbei. Die Flammen erloschen, Mond und Sterne waren wieder an ihren vertrauten Plätzen. Die Finsternis war wieder in ihrer gewohnten, nächtlichen Form und es gab kein Anzeichen mehr von dieser unfassbaren Kreatur. Val stand auf und schaute sich um. Um ihn herum war alles verbrannt. Der verdampfte Boden hatte ein drei Meter tiefes Loch hinterlassen aus dem Val mühevoll heraus kletterte. In dem verfallenen Schulgebäude klaffte ebenfalls ein riesiges Loch, das noch von einem glühenden Rand umgeben war.

Wieder schaute er auf seine Brust. Das Symbol leuchtete immer noch so hell, dass er sein Herz sehen konnte. Voller Angst rannte er so schnell er konnte, doch weit kam er nicht. Das Symbol erlosch und Val fiel in Ohnmacht.

Als er wieder aufwachte, lag er in seinem Bett im Waisenhaus. Er schaute sich um und sah Momo, der auf einem Stuhl saß und mit dem Kopf auf Vals Bett eingeschlafen war. Val schaute Momo nachdenklich an. Er richtete sich auf und schaute aus dem Fenster. Es war etwa sechs Uhr morgens und die Sonne ging gerade auf. Nachdenklich schaute er nach draußen.

Was war das nur? War das ein Traum? Sowas kann doch nicht passieren … oder? Dachte er sich. Langsam wurde Momo wach und öffnete zaghaft die Augen.

„Val! Endlich bist du wieder wach”, rief er begeistert” Wir dachten schon, du wachst nie wieder auf”, sagte er mit tränenden Augen. Val schaute ihn verwirrt an.

„Aber ich hab doch nur ein paar Stunden geschlafen” Murmelte er. Momo schüttelte den Kopf. „Nein, es waren drei Tage. Wir haben dich in einer Gasse gefunden als du eines Nachts nicht wiedergekommen bist”

„Ich war … an einem geheimen Ort” Momo lächelte breit übers ganze Gesicht. Es berührte Val tief, dass Momo sich solche Sorgen um ihn machte.

„Das wusste ich”, antwortete Momo altklug. „Da gehst du immer hin, wenn du nicht schlafen kannst. Dort wollten wir dich auch als erstes suchen aber das ganze Gebiet der alten Uni war komplett abgesperrt” Val war entsetzt.

„Du kennst diesen Ort? Wieso hast du nichts gesagt?“ Momo lächelte.

„Ich kenn dich lange genug, um zu wissen, dass du hin und wieder mal ein bisschen für dich sein musst. Deswegen hab ich dich nie gestört. Ich wusste ja, dass du dort bist, also hab ich mir auch keine Sorgen gemacht. Du bist ja immer am nächsten Morgen zurückgekommen” Er machte eine Pause und seine Miene wurde traurig. „Doch diesmal nicht” Fuhr er fort. „Wir haben dich überall gesucht. Ryu fand dich bewusstlos in einer Gasse zwischen Mülltonnen. Du warst völlig nackt und blass. Wir dachten du bist tot”

„Es war alles so seltsam. Da war diese riesige Kreatur. Größer als ein Haus und diese blutroten Flammen. Mein Herz!“ Val riss sich das Hemd vom Leib und schaute auf seine Brust. Doch da war nichts. Momo tätschelte ihm den Kopf und lächelte.

„Du hast drei Tage geschlafen. Das hast du sicher nur geträumt. Ich hab dich auch schon ewig nichts mehr Essen sehen” Val nickte zustimmend. Es war ja auch plausibel. Immerhin ist es gar nicht möglich, dass Lebewesen so eine Größe erreichen können. Schon gar nicht, ohne je bemerkt zu werden. Alles wies auf einen verrückten Traum hin und jeder Gedanke, es könnte tatsächlich passiert sein war einfach absurd. Aber trotzdem fühlte er etwas, was vorher noch nicht da gewesen zu sein schien. Eine ganz neue Sicht auf die Welt. Als er Momo in die Augen sah, verstand er seine tiefsten Gefühle. Der Grund, warum er so überfürsorglich war und immer das Verlangen hatte, alle Probleme lösen zu müssen. Bisher dachte Val Momo zu kennen. Immerhin lebten sie schon seit Jahren zusammen. Aber erst jetzt sah er die Dinge, wie sie wirklich waren. Ab dem Tag nahm Val die ganze Welt anders wahr.

Fasziniert beobachtete Zeraph Val, der die ganze Zeit auf dem Boden hockte und nachdenklich an die Decke starrte. Es war ihm klar, dass Val gerade seine Erinnerungen reflektierte, aber Zeraph wüsste nur zu gern, was genau Val jetzt denkt. „Das war also kein Traum damals. Es ist wirklich passiert”, platzte Val unverhofft aus sich heraus. „Und das war auch der Grund, weswegen sie das Gebiet abgesperrt hatten. Du hast mir das angetan” Zeraph wurde wütend und seine Augen fingen an rot zu glühen.

„Angetan?“, brüllte er und tänzelte Armewedelnd vor Val herum. „Was glaubst du eigentlich, was du von mir bekommen hast? Ich habe lediglich dein Verlangen gestillt die Welt zu verstehen, indem ich dir das größte Geschenk gemacht habe, das ein Mensch - Nein, selbst ein Gott, je bekommen könnte” Val schreckte ein wenig zurück und schüttelte den Kopf.

„Was ist das?“ Zeraph beruhigte sich wieder und schaute ihn konzentriert an.

„Das Herz der Drachen ist eine Verbindung zwischen mir, dir und allen anderen die es haben. Wir Drachen haben es von Geburt an und können es an jeden weitergeben. Es offenbart jedem eine unglaubliche Quelle von Wissen und Erfahrung, die einen Menschen aber sehr schnell überfordern kann” Val schaute eingeschüchtert und nachdenklich auf den Boden.

Daher kommen also meine Kopfschmerzen. Was hat er gesagt? Drachen? Dachte er. „Wen meintest du noch? Du hast doch euch gesagt”

„Bellami” Zeraphs Stimme wurde weicher. „Es war wie eine Erfüllung für ihn. Er hat das hier alles mit dem Wissen der Drachen erschaffen. Seine Neugier und sein Enthusiasmus waren atemberaubend” Er setzte sich zu Val auf den Boden.

„Also hat Bellami diese Stadt hier gebaut?“, fragte Val zurückhaltend. Zeraph nickte.

„Ähnlich wie du, besitzt er eine starke Kraft”

„Meinst du wieder dieses Terra?“

„Nein, es unterscheidet sich von deiner. Seine Kraft zog er aus dem Sein selbst”

Val zuckte mit den Schultern. „Dem Sein selbst? Das kann doch unmöglich eine Macht sein. Ist das nicht außerdem das gleiche?“

Zeraph lachte. „Nein. Das Leben und das Sein sind voneinander unabhängig. Du kannst Leben, ohne zu sein und du kannst Sein, ohne zu leben. Du musst das nicht verstehen. Einfach gesagt, ist es die Kraft aus den Gedanken, den Informationen und der Wahrnehmung. Die Macht des Geistes – Astra” Val drehte seinen Kopf zum Fenstern und schaute fasziniert nach draußen.

„Sie ist so riesig” Zeraph lächelte.

„Han hast du ja bereits kennengelernt, oder?“ Val nickte.

„Woher weißt du das?“

„Ich bin immer in deiner Nähe. Seit dem Tag, an dem du wieder in dieser Welt bist, passe ich auf dich auf”, sagte Zeraph auf beängstigende Weise.

„Seitdem ich hier bin? Du meinst seitdem ich geboren bin? Dann kennst du ja all meine Geheimnisse” Val stieg eine kolossale Schamesröte ins Gesicht. Zeraphs lachen hallte laut durch den ganzen Turm.

„Keine Angst. Deine Privaten Momente und deine Geheimnisse gehören dir ganz allein” Val schluckte tief und sein Herzschlag beruhigte sich langsam wieder.

„Weißt du dann auch, was mit meinen Eltern passiert ist?“

Zeraph lachte wieder. „Eltern? Hast du etwa Erinnerungen an irgendwelche Eltern?“

Val schüttelte den Kopf.

„Dafür gibt es einen einfachen Grund – Sie existieren nicht”, sagte Zeraph etwas gehässig.

„Das ist doch gar nicht möglich”, stotterte Val.

„Willst du mich verarschen?“ Brüllte Zeraph, stand auf und schmiss die Arme in die Luft. „Vor ein paar Stunden bist du durch die Stadt gezogen und hast hunderte Soldaten mit einem Fingerschnippen getötet, Kampfpanzer zerstört und ein tonnenschweres Schwert durch die Luft wirbeln lassen. Also hör auf dir einzureden du wüsstest was möglich ist und was nicht”

„Wo komme ich dann her?“, fragte er zutiefst eingeschüchtert.

„Du warst mal irgendein Kerl aus der alten Welt. Vor was-weiß-ich-wie-viel Jahren hattest du wahrscheinlich mal sowas wie Eltern. Aber das war die Zeit bevor du Shezzar warst. Du hast uns nie davon erzählt. Es war auch niemandem wichtig” Val dachte nach. Er ging tief in sich und stellte fest, dass er sich eigentlich nicht wirklich dafür interessierte, wo er herkommt und wer seine Eltern waren. Die einzigen Menschen, die ihm etwas bedeuten sind Momo und Ryu. Und ... Milena.

Er lief im Kontrollraum herum und schaute sich die Bedientafeln an. An einem blieb er stehen und legte seine linke Hand darauf. Auf der glatten, schwarzen Oberfläche des Pults leuchteten plötzlich dutzende kleiner Grafiken und Tasten auf. Sein Armreif reagierte auch und zeigte auf dem Display das Wort Nicht synchronisiert in einer seltsamen Schrift an. Dass er diese Schrift lesen konnte, ohne sie je vorher gesehen zu haben, bemerkte er nicht einmal. Auch die Tasten und Grafiken waren auf diese Weise geschrieben.

„Kannst du mir sagen, wie man das hier benutzt?“, fragte er murmelnd. Doch niemand antwortete. „Zeraph?“, rief er mit etwas lauterer Stimme und schaute sich dabei um. Er war nirgends zu sehen. Val dachte sich nichts dabei. Er war ihm sowieso nicht sonderlich sympathisch. Er tippte weiter auf den Tasten herum und versuchte etwas über die Stadt herauszufinden. Doch das war alles zu kompliziert. Außerdem kam die ganze Zeit eine Meldung, die ihm den Zugang zu den meisten Systemen untersagte. Die Meldung lautete:

Bitte zuerst Synchronisation durchführen. Leider wusste Val nicht, was er tun sollte, um dieser Bitte nachzukommen. Doch dann bemerkte er, dass auf dem Display seines Armreifs ebenfalls eine Meldung erschien.

Anfrage für Synchronisation vom Leitsystem erhalten: Möchten sie die Synchronisation starten? Etwas skeptisch schaute Val auf das Display und las die Meldung wieder und wieder. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und drückte auf JA und sofort verschwamm seine Wahrnehmung. Er konnte noch fühlen wie er vor dem Pult steht aber sehen konnte er fast nichts mehr. Alles war so als wäre es unwichtig und in den Hintergrund gerückt. Dann erschienen vor seinen Augen ein paar normale Gegenstände: Eine Birke, ein Stuhl, Ein Schrank, dann eine Fichte, ein Löwe, eine Katze, ein Adler und ein paar weitere übliche Dinge, die er alle schon mal irgendwo gesehen hat. Unterbewusst ordnete er diese Bilder bestimmten Gruppen zu. Genau wie es jeder Mensch automatisch macht.

Die Birke und die Eiche waren Bäume, der Stuhl und der Schrank waren Möbel und so weiter. Aber er hatte keine Ahnung was das für einen Sinn haben sollte. Dann erschienen Bilder aus seinen Erinnerungen. Ein Bild von Momo, das sehr brüchig und verschwommen war. Aber je länger er darauf blickte desto schärfer und detailreicher wurde es. Dies wiederholte sich ein paar Mal mit verschiedenen Erinnerungen, bis ein Bild von Milena erschien. Es war von Anfang an scharf. Ihn überfluteten heftige Emotionen und er fühlte sich wie durch den Wolf gedreht. Schuldgefühle, Angst und Sorge. In der ganzen Aufregung hatte er sie fast vergessen. Und dass sie immer noch in Gefahr sein könnte. Wieder kam eine Meldung vom System.

Synchronisation abgeschlossen. Er erlangte sein volles Bewusstsein zurück und fand sich wieder vor dem Pult im Hauptturm. Es hatte sich nichts geändert. Doch das war ihm jetzt egal. Val wollte unbedingt wieder zurück zu ihr. Er fragte sich, was es für ein Labor in Marista gewesen sein könnte, in das sie Milena verschleppt haben. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, erschien vor seinen Augen eine Übersichtskarte von Marista auf der 3 Markierungen waren, die Orte zeigten, wo er sie vielleicht finden könnte.

Er sah die Karte vor sich und konnte sie hin und her schieben, vergrößern und verkleinern, Details ein- und ausblenden. Und das alles mit seinen Gedanken. Das war die großartige Technologie dieser Stadt. Man kann jederzeit mit dem System interagieren, indem man seine Gedanken und Wünsche darauf ausrichtet. Val hatte Zugriff auf alles. In einem Hangar ließ er einen Flieger startklar machen, während er weiter die Karte absuchte.

Er schickte eine kleine Drohne los, die Marista von oben überwachen soll. Kurz bevor er gehen wollte, entdeckte er auf den Bildern der Drohne etwas Furchteinflößendes. Es gab einen ganzen Stadtteil, der frei gemacht wurde, um das gewaltige Heer Maristas auf einen Angriff vorzubereiten. Das System markierte die Streitkräfte und analysierte sie.

Relevante Streitmacht lokalisiert. Potenzial einer möglichen Bedrohung: 2%. Verteidigungssysteme Anpassen? Val nickte nur schweigend. Wirkungsdaten feindlicher Technologie werden analysiert. Kategorie 0. Projektilwaffen, Explosionswaffen, Kernwaffen. Anpassung läuft… Potenzial einer möglichen Bedrohung jetzt: 0,0% Val lief zum Aufzug und fuhr hinab zum Terminal eines kleinen Raumhafens. In der Dunkelheit der Abenddämmerung sah er nicht, dass sich ein Passagierflugzeug näherte. Es waren Han, Milena und die Zwillinge. Doch Val war zu beschäftigt um sich darum zu kümmern. Das Terminal war unterirdisch, was ihm ein wenig suspekt vorkam, da er ja fliegen wollte.

Als sich die Aufzugtür öffnete erstreckte sich vor ihm eine große Lobby die von einem weichen, weißen Licht durchflutet war. Es gab mehrere Ruhezonen, in denen das Licht etwas schwächer war und auch nicht weiß, sondern eher gelblich leuchtete. Ein paar große Monitore hingen an den Wänden auf denen Tabellen mit Flugplänen zu sehen waren. Die Tabellen waren leer, bis auf einen Eintrag.

Mission: keine / Priorität: unbekannt / Hangar: 1 / Fahrzeug: EVI-Jäger Klasse 5 / Status: Einleitung der Startvorbereitung.

Val schaute sich noch etwas in der Lobby um. Es sah aus als wäre es neu gebaut. Er fragte sich, warum. Er hatte gehört, dass die Stadt seit fast tausend Jahren nicht bewohnt ist. Und es war auch nirgends eine Menschenseele zu sehen. Dieses rastlose Gewusel, wie man es aus großen Städten kennt gab es hier ebenfalls nicht. T

rotzdem war alles sauber, gepflegt und belebt, als würde jeden Tag der Reinigungsdienst kommen und hier sauber machen, die Blumen gießen und Mülleimer entleeren. Einige Gegenstände sahen auch ein wenig verlebt aus, als wären hier mal hunderte Menschen umher gegangen und eben nur in der Kantine zum Mittagessen. Oder als ob alle aus irgendeinem Grund schnell weg mussten. Das Terminal war relativ klein, schlicht und zweckmäßig.

Val hatte aber auch noch nie einen Raumhafen oder ähnliches gesehen, deswegen faszinierte es ihn sehr. Er schaute sich noch etwas um und sah durch die Fenster an den Seiten in kleine, leere Hangars, die nicht viel größer waren als eine Garage. Langsam verstand Val, wie er alles mit seinen Gedanken steuern konnte. Er ließ sich den Weg zum seinem Hangar direkt in sein Blickfeld einblenden. Er ging einen breiten Gang entlang, vorbei an mehreren Konferenzräumen und einem großen Fenster, vor dem er erstaunt stehen blieb. Dahinter sah er eine Halle die groß genug war, um dort mehrere Kreuzfahrtschiffe zu parken.

In der Halle waren hunderttausende verschiedenster Vehikel und Geräte gelagert. Zwischen ihnen bewegten sich Roboter hin und her. Grazil und sehr präzise fuhren sie zwischen den haushohen Regalen entlang und arbeiteten emsig ihre Aufträge ab. Val versuchte über das neuronale Interface, das seinen Geist mit dem System verband, herauszufinden was die Roboter für einen Auftrag hatten. Er folgte den Hinweisen des Assistenzsystems und es dauerte nicht lange bis er Zugriff auf diese Daten hatte und sie einsah. Sie bereiteten gerade eine kleine Flotte vor, die im Streitfall schnell eingesetzt werden konnte. Eines der Geräte wurde in einen separaten Hangar transportiert, dann bekam Val einen Hinweis, dass sein Schiff im Hangar eins nun startklar ist. Er ging weiter den Gang entlang und erreichte den Hangar.

Da stand es: Ein kleines Jagdflugzeug, nicht größer als ein Sportwagen und ebenso schneidig und elegant. Vier kleine, eckige Triebwerke ragten angeberisch rechts und links aus der Heckpartie des Gerätes. Die Kontur war scharf, aber auch sehr grazil. Jeder Freund, sportlicher Fortbewegungsmittel hätte hier eine Träne der Freude vergossen.

Als Val sich dem Jäger näherte, öffnete sich die Haube automatisch. Er sprang rein, setzte sich auf den Stuhl und schaute sich um. Nirgends waren knöpfe oder Schalter zu sehen. Nur zwei Griffe am Ende der Armlehne. Als er sie berührte, schloss sich die Haube wieder und die Systeme des Jägers fuhren hoch. Vor seinen Augen erschien ein Symbol: Synchronisiere. Dann verschwand es wieder und es erschienen überall Anzeigen und der Außenbereich wurde nun auch auf die Oberflächen des Cockpits in einer beeindruckenden Qualität dargestellt.

Alles wurde automatisch bereit gemacht und der Jäger wurde mit einem kleinen Kran zu einer Abschusskammer gefahren. Val war sehr aufgeregt. Er wusste nicht was als nächstes passiert, geschweige denn ob er den Flieger überhaupt steuern kann. Am Ende platzierte der Kran den Jäger in einer kleinen Kammer. Val spürte wie Halteklammern das Gefährt fixierten. Vor ihm öffneten sich dutzende kleiner Schotts und gaben einen langen, geraden Tunnel nach oben frei.

Abschusskammer geladen

Trägheitsdämpfung auf Maximum

Diese Nachriten wurden in seinem Blickfeld eingeblendet, dann fühlte er, dass sie Luft plötzlich dicker wurde. Er fühlte sich als würde er in einem Topf Honig sitzen. Doch Atmen konnte er frei und unbeschwert. Das Trägheitsdämpfungssystem arbeitete mit einem Energiefeld, das jedes einzelne Atom umschloss und ein umgekehrt geladenes Feld um das Schiff herum erzeugte. Dieser Effekt verwandelte es in einen komplett neutralen Raum, der nur noch bewegt werden musste. Diese Technologie wurde später noch weiterentwickelt und komplett als Antrieb genutzt; indem ein weiteres, umgekehrtes Feld herum gelegt wurde welche das Innere dann verdrängte, was einen gerichteten Impuls erzeugte.

Magnetschienen aufgewärmt

Start in 3 ... 2 ... 1

Das Bild verzerrte leicht als er mit extremer Geschwindigkeit durch den Tunnel katapultiert wurde. Als er die Abschusskammer verließ wurden die Restlichtverstärker eingeschaltet und passten die Sichtverhältnisse der Dunkelheit an. Er sah kurz das Antlitz der Stadt von oben und das Schimmern des Kuppelförmigen Energieschildes, der die ganze Stadt unter sich beherbergte.

Dass dieser Schild seinen Zweck nicht verfehlte, sah man an den Zahlreichen Bombenkratern und Kampfspuren im Gebiert um die Stadt herum. Er war so in seinen Gedanken und in seiner Faszination versunken, dass er nicht bemerkte, wie er das Schiff steuerte. Es schien seinen Instinkten zu gehorchen und flog einfach dorthin, wo Val es wollte, ohne dass er es bewusst dazu bringen musste. Er flog Manöver, die ihn ohne die Trägheitsdämpfung umbringen könnten und bemerkte es nicht einmal. Dieses Schiff wird vom sogenannten Sub-Sky-Field mit Energie versorgt, dass in etwa wie eine Art kabelloses Stromnetz, Energie durch den Subraum überträgt.

Aber das faszinierendste an diesem Schiff waren die Antriebe: Masse Injizierende Linearantriebe oder auch MILA werden sie genannt und funktionieren auf dem Prinzip von normalen Linearantrieben, nur dass sich vor den Spulen Masseprojektoren befinden, die eine digitale, statische, magnetische Masse simulieren und somit eine Magnetschiene erzeugen. Diese digitale Masse existiert für genau zwei Sekunden und absorbiert währenddessen ein klein wenig Licht, was dann bei Tag so aussieht als würde sie eine schwarze Linie in den Himmel zeichnen. Das Schiff manövriert, indem die Masseprojektoren die Position der Digitalen Masse verschieben und somit die Schiene krümmen. Da das aber nur eine begrenzte Richtungsänderung bringt, hat das Schiff zusätzlich noch vier sehr kleine Manövertriebwerke.

Val schaute wieder nach vorne und näherte sich langsam seiner Heimatstadt Marista. Er überflog sie eine Weile und schaute sich alles genau an. Vor der Stadtgrenze wurde gerade ein riesiges Heer bereit gemacht. Es waren zigtausende Soldaten und eine riesige Masse an Kriegsgerät. Val stoppte das Schiff, sodass es ruhig in der Luft schwebte. Er öffnete die Luke und kletterte aus dem Cockpit. Konzentriert starrte er auf die Stadt, die Soldaten und die überragende Kirche im Zentrum. Von oben sahen die beleuchteten Straßen aus wie Adern, die pulsierten und die Stadt zum Leben erweckten.

Kapitel 8

Die Bürde der Drachen

Han, Milena und die Zwillinge stiegen in einen der Aufzüge zum Hauptturm und genossen den herrlichen Anblick der zum Leben erwachenden Stadt durch die gläserne Fassade der Kabine. Der Turm war über tausend Meter hoch, doch es dauerte nur eine halbe Minute bis sie oben ankamen. Als sie die erste Ebene des oberen Rings erreichten, wurden sie von einem jungen Mädchen mit einer Waffe in der Hand erwartet.

Sie stand in einer schick eingerichteten Empfangshalle. Drei Aufzüge befanden sich an jeder der zwei Wände, die V-förmig aus dem Raum Richtung Zentrum zeigten. In der Mitte waren gepolsterte Sitzgelegenheiten aus sehr feinen, samtigen Stoffen. Die Aufzüge befanden sich im Zentrum des Turms, in den Kehlen der vier riesigen, ebenfalls V-förmigen Säulen. Der Hauptturm war ein riesiger Ring, der sich um die vier Säulen schlang und in der Mitte ein verdächtiges, klaffendes Loch hinterließ.

„Wer seid ihr?“, fragte das Mädchen in einem sehr bedrohlichen Ton. Ihre Stimme war kratzig, ihre mandelförmigen, braunen Augen waren rot unterlaufen und sie war am ganzen Körper mit einer schleimigen, durchsichtigen Flüssigkeit bedeckt.

Sie trug nur einen Kinderbadanzug und ein Handtuch, das um ihre Hüfte gewickelt war. Ihre pechschwarzen Haare schmiegten sich, nass schimmernd an ihren Kopf und hoben ihr blasses, kindliches Gesicht in einen sauberen Kontrast. Frierend und zitternd hielt sie die schwere Waffe auf ihrer Schulter. Han trat einen Schritt vor und verbeugte sich.

„Ich bin Han. Das sind meine Freunde: Lili, Maria und Milena”, sagte er sehr höflich und zeigte auf seinen Armreif. Das Mädchen senkte die Waffe und schaute sich den Armreif genauer an. Dieser hatte eine sehr spezielle Gravierung, die jemand, an den er sich kaum noch erinnern konnte, für ihn gemacht hatte. Es war ein unbeholfen gekritzelter Smiley und die Buchstaben H, A und N.

„Dich kenn ich”, brüllte sie wütend. Sie richtete die Waffe wieder auf ihn und trat einen Schritt zurück. „Du bist ein Monster” Ihr lief eine Träne über die Wange und sie schniefte weinerlich.

„Du hast ihn getötet und jetzt kommst du und willst dir sein Königreich holen. Aber das lasse ich nicht zu!“ Sie legte mit ihrem Daumen einen kleinen Schalter an der Waffe um, die daraufhin ein leises Summen von sich gab.

„Du hast ihn einfach getötet. Meine Schwester hat die ganze Zeit geweint”, sie wischte sich die Träne aus dem Gesicht und schniefte wieder. „Er war der einzige, der uns geholfen hat. Wir hatten niemanden außer Ihn” Sie umklammerte den Griff so fest sie konnte und holte tief Luft. „Du wirst niemandem mehr weh tun, du Ungeheuer!“, schrie sie laut und zog wie verrückt am Abzug.

Doch die Waffe schwieg. Han wusste nicht was er denken sollte. Er hat dieses Mädchen noch nie in seinem Leben gesehen. Und doch schien sie sich unglaublich sicher zu sein, dass er wirklich der war, der ihr einen lieben Freund aus dem Leben gerissen hat. Ihr Blick war fest auf Han gerichtet und sie hörte nicht auf, wie in Trance den kleinen Hebel zu ziehen.

Sie sah sehr erschöpft aus und sackte nach einer qualvollen Minute kraftlos in die Knie. Die Waffe viel von ihrer Schulter und verstummte. Das Mädchen atmete sehr schwer und schniefte immer wieder. Tränen rannen ihre Wangen herab. Han ging langsam zu ihr und kniete sich vor ihr auf den Boden.

„Egal was ich getan habe, es tut mir außerordentlich leid. Aber ich hab einen Großteil meiner Erinnerungen verloren. Bitte sag mir, wen ich damals getötet habe”, sagte Han sehr ruhig und unterwürfig. Das Mädchen schniefte und schaute ihn extrem verängstigt an.

„Ich hab es nicht geschafft, große Schwester”, stammelte sie kraftlos vor sich hin. „Bitte sei mir nicht mehr böse” Sie umklammerte liegend ihre Beine und zog sie zitternd an ihren Körper. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Han entsetzt an. „Das Monster”, flüsterte sie mit einer panischen Angst und zitterte wie Espenlaub. „Es wird mich töten. Der Drache wird uns nicht retten. Bitte hör auf den Drachen zu jagen. Aju! Bitte lass mich nicht mit Alexander allein”

Entsetzt stand Han auf und trat ein paar Schritte von ihr zurück. Er schüttelte fassungslos den Kopf. Wie hat dieses Mädchen mich gerade genannt? Das kann doch nicht sein. Dachte er sich. Mutig nahm das Mädchen ihr letztes bisschen Kraft zusammen und rannte davon. Milena ging zu Han.

„Weißt du, wer sie war? Und wovon hat sie da gerade gesprochen?“ Han schüttelte den Kopf. Seine Augen zuckten angespannt umher.

„Ich weiß es nicht mehr. Meinte sie den Drachen?“ Milena schaute entsetzt zu ihm auf.

„Ein Drache? Aber es gibt doch gar keine Drachen”, murmelte sie vor sich hin. Maria, die zusammen mit Lili gelangweilt an der Wand stand, räusperte sich auffällig.

„Natürlich gibt es Drachen. Wir haben ihn schon gesehen. Er ist riesig. Seine Haut ist so schwarz, dass sie das Licht verschlingt. Seine Augen glühen rot und sein Atem ist so heiß wie die Sonne. Wir haben manchmal gesehen, wie er um die Kirche geschlichen ist. Es ist unglaublich wie geschickt er das macht. Niemand schien ihn zu bemerken, selbst wenn die Leute direkt an ihm vorbeigelaufen sind. Und diese Aju war wahrscheinlich”, Maria übernahm das Wort.

„Sie meint wohl diese Ajuki. Ein asiatisches Mädchen, das in der Kirche manchmal Predigten gehalten hat. Ich bin ja keine Hellseherin, aber es scheint eindeutig zu sein, dass sie wohl die Schwester der kleinen ist”, sagte sie und lief in den Kontrollraum, „Lili schau mal die Aussicht! Endlich sind wir hier: Aletria!“ Lili lief ihr nach. Der Weg zum Kontrollzentrum des Turms war nun frei.

Die beiden Mädchen liefen sofort zu einem der Vielzähligen Segmente und schauten aus dem Fenster. Die Nacht war klar und das Mondlicht legte die Stadt in eine friedliche, anmutige Gesinnung. Sie konnten die ganze Stadt überblicken und sahen sogar die Lichter an der Mauer der Stadt, weit entfernt vom Zentrum. Das weiche Schimmern des Schutzschildes betörte die beiden und ließ sie begeistert jauchzen. Han wollte ihnen folgen, aber Milena hielt ihn fest.

„Bitte erklär mir das. Wieso hat dieses Mädchen dich so verachtend angeschaut? Was hast du getan?“, fragte sie angespannt. Han nahm ihre Hand und lief langsam weiter.

„Ich kann mich an fast nichts mehr erinnern. Jahrelange Folter und Manipulation haben meinen Verstand zu Grunde gerichtet. Du hast doch meine Bücher gelesen, oder?“ Milena nickte. Sie stellten sich ans Fenster und schauten ebenfalls auf die wunderschöne Stadt herab.

„Vals damaliger Name lautet Shezzar”, begann Han zu erklären.

„Das stand in keinem deiner Bücher”, antwortete Milena.

„Nein, da hast du wohl recht. Ich konnte mich auch kaum noch daran erinnern. Selbst mein eigener Name ist mir erst vor kurzem wieder eingefallen. Aber das spielt keine Rolle. Viel wichtiger ist, dass Val aus der alten Welt stammt und sie damals zerstört hat, weil sie ihm jemanden genommen hatten der für ihn so etwas wie ein Sohn war”

„Wie soll er das bitte gemacht haben? Ein einzelner Mensch kann so etwas nicht tun” Han senkte seinen Kopf und atmete tief ein.

„Ich wünschte, ich könnte es dir erklären. Val kann eine Energie kontrollieren, die in jeder Zelle, jedes lebenden Wesens zirkuliert und durch den ganzen Planeten fließt. Diese Energie heißt Terra. Er hat aus ihr ein kristallenes Schwert geformt, das niemand, außer ihm selbst, halten konnte” Milena drehte sich um und lehnte sich gegen das Fenster.

„Wieso sollte jemand so eine Macht besitzen? Und wie gelangt man an so etwas?“, fragte Milena ungläubig.

„Man gelangt an solch eine Kraft, wenn man den falschen Wunsch an die richtige Person richtet. In diesem Fall Gott höchst persönlich. Doch das ist reine Ansichtssache” Han lief zu den Zwillingen und tätschelte liebevoll ihre Köpfe.

„Du redest von Gott? Also gibt es ihn wirklich?“, fragte Milena. Han schüttelte den Kopf.

„Nein. Aber wenn dann wäre es eine Sie“ Milena glitt langsam am Fenster herab und hockte sich auf den Boden. Sie rieb ihre Schläfen und schüttelte dabei den Kopf.

„Also Gott ist nicht Gott, sondern Göttin aber irgendwie auch nicht, hab ich das richtig verstanden?“, sagte sie auffällig genervt.

„Die Menschen neigen dazu, Götter zu erwählen. Also Ja und Nein. Sie sind eigentlich eher sowas wie Wächter. Über ihnen steht eine Entität, die wir Keara nennen. Menschen würden sie als Gott bezeichnen, weil es einfach in ihrer Natur liegt so etwas zu tun. Aber es ist vielmehr eine andere Form der Existenz. Sie ist weder allwissend noch allmächtig. Genauso wenig wie Val oder die Menschen. Es gibt Dinge in diesem Universum, die kann man nicht gleich begreifen” Milena schaute ängstlich zu Han auf.

„Und was ist mit mir?“, sagte sie laut und hob Hand, sodass Han das Symbol sah. „Ich bin nie einem Gott oder etwas Ähnlichem begegnet. Ich hab nie irgendjemandem gegenüber den Wunsch geäußert, irgendwie besonders zu sein. Ich hab mich nur in diesen Jungen verliebt und jetzt sehe ich ihn nie wieder”, sie fing an zu weinen. Han verschränkte die Arme.

„Ich kann dir dazu nicht viel sagen außer, dass es eine Verbindung zwischen dir und Val darstellt. Ich habe schon versucht mehr darüber zu erfahren, aber es gibt einfach nichts. Es ist wohl einfach zufällig passiert als du mit ihm zusammengestoßen bist. Es ist eine Verbindung, mehr kann ich dir darüber nicht sagen” Milena stand auf, sah aus dem Fenster und hielt ihre Hand in die Luft.

„Dann verlange ich, bei ihm zu sein!“, brüllte sie und verschwand in einem kurzen Lichtblitz.



Minuten vorher ...



Als Val am vorderen Ende des Fliegers auf die Stadt herabschaute, dachte er die ganze Zeit daran wo Milena sein könnte. Zeraph stand plötzlich grinsend neben seinem Cockpit und beobachtete Val interessiert. Val drehte sich um und schreckte kurz auf, als er Zeraph hinter sich stehen sah.

„Hey Du!“, schrie er. „Du sagtest doch das Herz der Drachen sagt mir immer die Wahrheit. Wieso sagt es mir nicht, ob es Milena gut geht?“ Zeraph kniff übertrieben nachdenklich die Augen zusammen. Dann hob er den Zeigefinger und wippte ihn zurechtweisend vor und zurück.

„Das Herz sagt dir nur was du wissen willst. Aber du willst nicht wissen, wie es Milena geht. Du hast viel zu viel Angst, etwas zu erfahren, dass dir nicht gefallen könnte. Deswegen schweigt dein Herz” Zeraph näherte sich ihm argwöhnisch und mit einem bedrohlichen Grinsen. Val schob ihn von sich weg.

„So ein Schwachsinn! Ich will es wissen, egal ob es mir gefällt oder nicht. Dieser Scheiß funktioniert einfach nur nicht” Zeraph lachte laut. Plötzlich tauche Milena hinter ihnen auf dem Flieger auf. Ihre Gestalt war seltsam verzerrt, halb durchsichtig und von einem weißen Leuchten umgeben. Sie streckte ihre Hand nach Val aus und lächelte.

Val lief zu ihr und versuchte sie festzuhalten. Doch dann verschwand sie wieder. Das Symbol auf Vals Hand leuchtete wieder und es entstand ein gemusterter Kreis um das Symbol herum. Val zitterte vor Entsetzen und Verzweiflung.

„Ich … ich hatte … Ich hatte sie doch fast”, sagte er und sein Herz schlug wie verrückt. Dann tauchte ein weiterer Jäger hinter ihm auf und eröffnete das Feuer. Kleine leuchtende Geschosse zischten an ihm vorbei und prallten von der harten Panzerung des Jägers ab, ohne einen Kratzer zu hinterlassen. Val sprang ins Cockpit und flog los.

Zeraph blieb unbeeindruckt stehen und ließ sich, - entgegen sämtlicher Naturgesetze wie Trägheit und Luftwiderstand - nicht vom Flieger stoßen. Der andere Jäger war dicht hinter ihm und traf ihn ein paar Mal.

„Verdammt, was soll das? Wer ist das?“ brüllte Val und versuchte zu entkommen. Ein Bildschirm tauchte neben seinem Sitz auf, auf dem Ajuki zu sehen war.

„Du weißt, wo der Drache ist! Sag es mir! Sag es mir! Wo ist er?“, brüllte sie energisch und schoss weiter auf ihn.

„Sie jagt mich also immer noch. Ach, wie schade, dass ich nicht mehr mitspielen kann”, erklang Zeraphs Stimme im Cockpit.

„Sie hat es die ganze Zeit nur auf dich abgesehen?“, sagte Val entsetzt.

„Wie du unschwer erkennen kannst”, antwortete Zeraph emotionslos. „Ich hab es ehrlich gesagt schon ziemlich vermisst” Val stoppte aus heiterem Himmel und sprang wieder aus dem Cockpit. Sein Schwert fiel pfeilschnell vom Himmel und zerbrach über ihm. Die Splitter setzten sich zu einem kristallenen Schild zusammen und hielten den Beschuss ab. Ajuki wich aus und flog senkrecht nach oben. Sie schaute fasziniert auf ihren Armreif.

„Das ist der totale Wahnsinn”, brüllte sie aufgeregt, dann überschlug sie den Jäger nach hinten und flog im Sturzflug erneut auf ihr Ziel zu. Val stand in Abwehrhaltung auf der Nase des Fliegers und schaute nach oben. Die feindlichen Geschosse hackten unablässig auf den Schild ein. Erneut wich Ajuki aus, flog einen scharfen Bogen über die Baumkronen hinweg und drehte dabei den Flieger mehrere Male um seine Längsachse.

Es schien ihr außerordentlich viel Freude zu bereiten damit Kunststücke zu vollführen. Val stand angespannt auf der Nase des Fliegers und erwartete den nächsten Angriff. Diesmal schlugen faustgroße Geschosse auf sein Schwert ein. Zeraph lachte die ganze Zeit amüsiert und er war scheinbar sehr zerstreut, was Val unglaublich wütend machte. Wieder wich Ajuki aus und zog einen noch größeren Bogen, um einen längeren Angriffsweg zu erlangen. Val nutzte die Zeit und überlegte. Das Schwert schwebte schützend vor ihm und hatte von dem ganzen Getöse weder eine Scharte noch einen winzigen Kratzer abbekommen. Doch er ahnte das Ajuki diesmal mit einem heftigerem Angriff aufwarten würde.

Nun wurde ihm seine Stärke erst richtig bewusst. Wenn er selbst einem hochentwickelten Jagdflugzeug überlegen war, so dachte er, musste er sich auch nicht von diesem Typen herum schubsen lassen. Seine aufbrausenden Gedanken gaben ihm viel Kraft und er fühlte wie sein Herz darauf reagierte. Val verstand allmählich, wie er das Wissen der Drachen aus dem Herz herauslocken konnte, ohne dass ihm vor Schmerzen gleich der Kopf platzt.

Er beschloss diese makabere Situation hier und jetzt zu beenden. Wie von Geisterhand brach ein kleiner Splitter aus der Klinge des Schwertes und es schwebte gemächlich in seine Hand. Es war nicht einfach ein Stück Glas, sondern hochkonzentrierte Energie, die von jeder Zelle eines jeden Lebewesens produziert wurde und sich seinem Willen beugte. Nichts würde ihn aufhalten können, egal was sie ihm entgegenstellen. Genau wie vor tausend Jahren.

Doch bevor er sich entschloss seinen Zorn erneut auf die Welt herabregnen zu lassen, fuhr ein Bild von Milena durch seine Gedanken und befreite ihn von seiner aufkeimenden Tobsucht. Nichts schien mehr wichtig zu sein außer ihr. Er musste sie noch einmal wiedersehen, allein damit er sich über seine Gefühle klar werden konnte. Wieder reagiert sein Herz darauf und zeigte ihm den Weg.

Val sah musternd zu Zeraph, der gerade so mit seiner Freude beschäftig war, dass er kaum bemerkte wie Val ihm den Splitter seines Schwertes in die Schulter rammte und daraufhin verschwand. Der Splitter reagierte heftig mit Zeraphs Blut und fügte ihm starke Schmerzen zu. Er versuchte ihn herauszureißen doch in dem Moment, wo er ihn endlich in der Hand hielt, schlugen mehrere Geschosse in seinen Körper ein und durchlöcherten ihn. Zeraph fiel herab und der Jäger stürzte in den Wald.

Nach ein paar Minuten kam er wieder zu sich. Er hielt sich die Hände vors Gesicht und auf einmal fühlte er den starken schmerz vom Aufprall und den pulsierend schmerzenden Wunden in seinem Körper. Nur schwer gelang es ihm aufzustehen. Er schleppte sich qualvoll durch den Wald, ohne zu wissen, wohin er wollte. Es nahm kein Ende und die Schritte wurden immer schmerzvoller. Zeraph fiel auf die Knie. Blut tropfte von seiner Nase auf seine Hände. Die riesigen Wunden in seinem Körper taten ein Übriges. Langsam verschwamm seine Wahrnehmung. Er hörte noch, wie sich ihm jemand näherte. Er lachte wieder etwas und hustete dabei. Wie hat er das geschafft? Dachte er sich und schlief langsam ein.

Bei Sonnenaufgang wurde er unsanft mit kaltem Wasser aus seinem heilsamen Schlaf gerissen. Er öffnete die Augen und sah Ajuki vor sich, die ihn grimmig anstarrte. Seine Hände waren gefesselt und neben ihm lagen eine Tasche mit medizinischer Ausrüstung, blutige Bandagen, leere Spritzen und Antibiotika.

„Jetzt hab ich dich mühsam wieder zusammengeflickt. Dafür sagst du mir endlich, wer du bist”, befahl Ajuki in einem herzlosen Ton. Zeraph lächelte.

„Du hast es endlich geschafft, Ajuki. Du hast deinen Drachen gefangen. Wenn auch nicht ganz ohne Hilfe, aber das rechne ich dir nicht ab, keine Sorge”, stammelte er hustend. Ajuki drehte Zeraph den Rücken zu und verschränkte ihre Arme.

„Ich sehe aber keinen Drachen. Nur die jämmerliche Gestalt eines halbtoten Mannes. Also sag mir die Wahrheit. Wer bist du? Wo ist Shezzar? Und wo ist der Drache?“ Zeraph richtete sich qualvoll auf und schaute zu ihr nach oben.

„Du hast den Drachen öfter gesehen als jeder andere. Und du hast ihm auch schon zig Mal in die Augen geblickt. Was siehst du jetzt?“ Ajuki drehte sich langsam zu Zeraph und schaute ihm tief in die Augen. Das pulsierend dunkelrote Schimmern seiner Iris und die winzigen Symbole neben den Pupillen waren wie eine Offenbarung für sie.

„Nein!“ sagte Ajuki laut und griff nach einer Pistole. Sie richtete die Waffe auf Zeraphs Kopf, „Wie kannst du es wagen, mich fast tausend Jahre an der Nase herum zu führen. Ich habe einen Drachen gejagt und schlussendlich bist du doch nur ein Mensch!“ Zeraph schüttelte den Kopf.

„Ein Mensch? Nein, wir Drachen sind in der Lage unsere Gestalt zu verbergen. Du hattest sehr oft die Chance, mich zu fangen. Und ich hätte es auch ab und an gern zugelassen. Wir waren uns so nahe”

„Deswegen hast du mich immer als einzige verschont. Wieso hast du zugelassen, dass Shezzar stirbt? Und wieso ist er nun wieder da und erkennt mich nicht wieder?“

Zeraph streckte seine Arme aus und gab ihr zu erkennen, dass sie seine Fesseln lösen soll. Er sah ihr dabei fest und entschlossen in die Augen, vermittelte ihr aber auch, dass sie nichts zu befürchten hat. „Shezzar wurde für seine Taten verurteilt. Von einem Wesen, das deine Vorstellungskraft übersteigt. Jemand hat einen hohen Preis dafür gezahlt, dies geschehen zu lassen”

Ajuki befreite ihn, setzte sich auf einen Ast und schaute bedrückt auf den Boden. „Wie konnten sie ihn einfach so besiegen? Was war das für ein Ding, das ihn getötet hat?“ Zeraph setzte sich zu ihr.

„Die Menschen brachten es fertig einen Faarih namens Alexander zu beschwören. Er war Shezzars Freund, doch das hielt ihn nicht davon ab, über ihn zu richten. Die Faarih sind sehr mächtig, doch sie sind an ihre Schwüre gebunden und wagen es nicht, sie zu brechen” Ajuki schluchzte.

„Wieso gibst du ihm seine Erinnerungen nicht zurück?“

„Diese Erinnerungen existieren nicht mehr. Das war das einzige, was ich für ihn tun konnte. Hätte er seine Erinnerungen behalten, so wie es die Strafe vorgesehen hatte: Er wäre daran zerbrochen”, sagte Zeraph und stand auf. Ajuki stand ebenfalls auf und ging in Richtung der Stelle, wo sie ihren Jäger gelandet hat.

„Er hat mir einmal von dir erzählt”, erklärte sie, „Vom König der Drachen. Ich hab es ihm geglaubt aber nach seinem Tod nie darüber nachgedacht. Später dann häuften sich Meldungen das Leute einen Drachen gesehen haben wollen. Ich habe mich dann Drachenjägern angeschlossen und später bin ich allein losgezogen. Der Drache war die einzige Verbindung, die ich noch zu ihm hatte”

„Was hast du jetzt vor?“ Zeraph ging ihr nach. Ajuki blieb stehen. Sie nahm ihre Waffe und hielt sie sich an die Stirn. „Die letzte Ewigkeit habe ich damit verbracht nach ihm zu suchen. Ich hab weder den Drachen noch meinen geliebten bekommen. Nur Schmerz”

„Deinen geliebten, sagst du” Zeraph lachte abfällig. „Nichts hast du geliebt an ihm außer seiner Macht. Du warst so gefesselt davon, dass du es nicht mal bis nach Aletria geschafft hast, obwohl er dir den Schlüssel dafür gegeben hat. Stattdessen jagst du mir hinterher, in der Hoffnung ich würde dafür sorgen, dass er sich in dich verliebt. Selbst deine Schwester hast du einfach fortgeschickt”

Ajuki lief eine einzelne Träne über die Wange, dann zog sie am Abzug und Zeraph schaute zu wie ihr Körper leblos zu Boden fiel. Ohne eine Miene zu verziehen ging er zu ihr und nahm ihr den Armreif ab. Dann stieg er in Ajukis Jäger ein und flog zurück nach Aletria.

Er dockte direkt am Hauptturm an und betrat ihn. Die ganze Zeit kratzte er sich an den Armen und am Hals. Die Wunde an seiner Schulter bebte immer noch vor Schmerz und wollte sich als einzige nicht verschließen.

Er lief achtlos und desinteressiert an Han und den anderen vorbei, ging in einen anderen Teil des Turms und aktivierte eine Konsole. Dort stellte er sich eine Auswahl an Fahrzeugen, Fliegern und Waffen zusammen, ließ sie in einen Transporter verladen und schickte ihn nach Marista. Als er fertig war, legte er den Armreif auf die Konsole und schaute sich die Daten darauf an. Es waren sehr viele.

Ajuki hatte von all ihren Unternehmungen Aufzeichnungen gemacht, Notizen, Kommentare, Bilder und Videos. Zeraph stöberte ein wenig in den Daten, nahm nach kurzer Zeit den Armreif wieder und legte ihn sich an. Dann verließ er den Raum und lief wieder achtlos an Han vorbei. Er stieg in den Jäger ein und verließ Aletria in Richtung Marista.

„Wer war das?“, fragte Han. Lili schaute rüber zu Maria, die sich gelangweilt die Klinge ihres Schwertes anschaute und sich immer wieder die Hand aufschnitt.

„Der Drache” Sagte Lili tonlos, hob ihren Kopf und fing an Maria Grimassen zu schneiden.

„Kennst du ihn etwa?“, fragte Han erneut. Lili rollte die Augen genervt.

„Hast du nie etwas davon mitbekommen?“ Sie stand auf und schaute Han besorgt ins Gesicht. „Die haben dir echt das Hirn zermartert. Wenn ich die Schlampe sehe, hacke ich ihr den Schädel ab”, blanker Wahnsinn schwang in ihrer Stimme. Han schüttelte den Kopf.

„Ich kann nicht mehr klar denken. Es ist wie ein Rauschen” Maria ging ebenfalls zu ihm. Sie hob ihren blutigen Finger und wirbelte damit herum.

„Der große Zeraph, König der Drachen” Murmelte sie.

„Woher weißt du, dass Er es ist?“

„Wie ich schon sagte, er war sehr oft bei der Kirche und hat Ajukis Predigten gelauscht. Seine Präsenz ist sehr stark und unverwechselbar. Den Namen hat Ajuki manchmal stundenlang aufgesagt, wenn sie alleine war. Die is total Banane, wenn du mich fragst” Kaum hat sie den Satz zu Ende gesprochen, fing sie wieder an sich die Handballen aufzuschneiden. Die Wunden verheilten jedes Mal sofort wieder, doch der Schmerz musste unerträglich sein. Maria lachte dabei und leckte das Blut von ihrer Hand.

„Ich wette er geht wieder zur Kirche und stiert ihr nach. Irgendwie beneide ich Ajuki” Sie stand auf und griff nach Lilis Hand.

„Los Komm, wir gehen jetzt auch auf Drachenjagt. Aber vorher ziehen wir uns was Ordentliches an. Diese frommen Engelskleidchen passen gar nicht zu uns” Han schaute ihnen etwas nachdenklich hinterher. Dann ging er zu einer Konsole und suchte nach Aufzeichnungen und Informationen. Der Datenkern der Stadt und die Künstliche Intelligenz, die ihn verwaltet, waren noch voll intakt.

Auch während Aletrias Abschottung wurde das Weltgeschehen weiter dokumentiert und archiviert. Kommunikationsdaten, Felddaten, Ereignisse und Bewegungen aller Art wurden aufgenommen und gespeichert. Eine unvorstellbare Menge an Informationen lag dort und konnte einfach abgerufen werden.



Zeraph stellte das Schiff über dem alten Schulgelände ab und wartete darauf, dass seine schmerzende Schulter verheilt. Er hatte seine Einsamkeit zwar überwunden, doch fühlte er sich gerade seltsam schwer und unangenehm traurig. Die Wunde an seiner Schulter verschloss sich langsam wieder und er konnte eigentlich zu seiner Urgestalt zurückkehren, doch er wollte gerade lieber ein Mensch sein. Die meiste Zeit saß er einfach nur an der Wand des alten Schulgebäudes und schaute sich Ajukis Aufzeichnungen an.

12. Januar 2053 Erster Eintrag in Ajukis Tagebuch.

Ich habe gerade herausgefunden, wie man diesen Armreif benutzt. Aber die meisten Funktionen sind nicht verfügbar. Ich mache mir Sorgen um meine Schwester. Es ist kalt.

2. März 2053. - Tagebucheintrag #12

Wir haben seit fast drei Monaten nichts gegessen und nichts getrunken. Ich empfinde keinen Hunger mehr. Kumiko auch nicht. Trotzdem geht es uns gut. Zumindest körperlich. Er hat gesagt, er kommt wieder … Ich weiß nicht, wie lange ich noch durchhalte.

4. März 2053 - Video Aufzeichnung.

Ein paar verwackelte Bilder, über die ein riesiger Schatten zieht, sind zu sehen.

„Es ... es ist riesig!“, brüllte Ajuki freudig. „Ich fühle es. Hier in der Nähe. Ich kann es nicht erkennen. Es ist zu dunkel. Ich schau mal da drüben” Auf dem Bild war kaum was zu sehen, doch kurz flackerten zwei große, rotglühende Augen auf und Ajuki wurde umgestoßen.

„Aju! Aju!“, schrie Kumi, „Bist du okay? Was ist passiert?“ Ajuki stand auf und schaute nach oben. „Unglaublich. Hast du das gesehen? Diese riesigen, leuchtenden Augen? Das war ein Drache”

„Ich hab Angst. Bitte lass uns nach Hause gehen”, wimmerte Kumi.

Ajuki schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht! Ich muss wissen, was das war! Du gehst nach Aletria, wie er es gesagt hat. Ich geh nach Marista und frag, ob sonst noch jemand was über den Drachen weiß”

Kumi weinte und zerrte an ihrem Ärmel. „Nein nein! Lass mich nicht allein, bitte. Bitte!“

Ajuki stieß sie von sich. „Ich kann nicht die ganze Zeit auf dich aufpassen. Ich muss diesen Drachen finden. Er wird ihn mir wiederbringen, sonst werde ich ihn töten”

Kumi weinte lauter und zog an Ajukis Hand. Dann war kurz das Knallen einer Ohrfeige zu hören.

„Du gehst jetzt nach Hause und wartest dort auf mich! Keine Widerrede!“ Kumi lief schweigend davon. Ende der Aufzeichnung.

2. Februar 2054. - Tagebucheintrag #74

Diese idiotischen Drachenjäger. Besaufen sich die ganze Zeit und dann prügeln sie sich. Von den unnütz großen Waffen, die sie benutzen, sollte ich besser gar nicht erst anfangen. Einer von ihnen beobachtet mich seit einer Weile. Er hat wohl bemerkt, dass ich fast nie was esse oder trinke. Ich denke, es wäre das Beste, wenn ich ihn aus der Gruppe entferne.

3. Februar 2054. - Tagebucheintrag #75

Es geht weiter Richtung Süden. Diese Trottel haben überhaupt keinen Dunst, was sie tun. Sie haben nicht einmal bemerkt, dass Wilson seit gestern nicht mehr da ist. Dabei haben sie sich noch feierlich geschworen, aufeinander aufzupassen. Ich glaub es ist egal, wo wir hinlaufen. Wir verfolgen den Drachen nicht - er verfolgt uns.

4. Februar 2054. - Tagebucheintrag #76

Sie sind alle tot. Als ich heut Morgen aufgewacht bin, lagen sie von Hals bis zu den Knien aufgeschlitzt neben mir. Das wundert mich nicht. Aber wieso bin ich noch am Leben? Es hat keinen Sinn. Ich mache mich wieder auf den Weg nach Marista. Ich muss mir eine neue Gruppe Drachenjäger suchen.

8. Februar 2054. Tagebucheintrag #81

Der Winter ist dieses Jahr erbarmungslos. Es müssten etwa -30 Grad sein. Ich fühle die Kälte. Aber nicht als Schmerz. Ich schlafe nachts im Freien. Nur sehr leicht bekleidet. Vor ein paar Tagen sind ein paar der Anderen nachts erfroren. Das war seltsam, da sie in einem Zelt schliefen und ich in Sommerkleidung an einem Baum. Langsam macht mir das Angst.

7. März 2055. - Tagebucheintrag #174

Ich hab seit einem Jahr keine Spur mehr von dem Drachen. Es macht nichts, denn ich glaub, ich bin in einen der Drachenjäger verliebt. Ich brauch den Drachen gar nicht mehr.

20. April 2160. - Tagebucheintrag #997

Mein 132’er Geburtstag. Ich sehe noch fast genauso aus wie am letzten Tag der alten Welt. Ich hasse diese Welt. Alles was ich sehe ist Tod. Mein Mann, meine Freunde, meine Kinder. Sie sind alle tot. Warum nicht ich?

2. Juni 2195 - Videoaufzeichnung.

Eine Lichtung im Wald ist zu sehen. Dahinter eine Stadtruine die von der Natur zurückerobert wurde.

„Ich fühle, dass du hier bist”, flüsterte Ajuki und etwa 20 schwer bewaffnete Männer gingen an ihr vorbei, Richtung Stadt.

4. Juni 2195 - Videoaufzeichnung.

Um Ajuki herum liegen die toten Körper der Soldaten, mit denen sie unterwegs war. Ein tiefes Brüllen hallte durch die überwucherten Ruinen der Stadt. Hinter ihr loderte eine Wand aus kirschroten Flammen. Sie schaute sich ihre blutverschmierten Hände an und schwieg. Ende der Aufzeichnung.

Ein paar Tage sind vergangen und Zeraph saß noch immer angelehnt an der Wand des alten Schulgebäudes und starrte wie festgefroren auf den Armreif. Etwas später beschloss er einfach loszulaufen, um wenigstens zu versuchen seiner Melancholie zu entkommen. Er dachte daran die Welt zu verlassen und zu den anderen Drachen zurückzukehren, doch er war nicht gewillt Val und Bellami zurückzulassen.

Er bog in eine Gasse ein, setzte sich neben einen Müllcontainer und starrte wieder regungslos auf seinen Armreif. Er bemerkte nicht, dass er die ganze Zeit von einem kleinen Jungen in einem alten, kaputten Mantel verfolgt wurde, der nun zaghaft unter seiner Kapuze hervorschaute und ihn beobachtete. Eine Weile rang der Junge mit seiner Angst, doch er nahm all seinen Mut zusammen, ging zu Zeraph in die Gasse und sprach ihn an.

„Bist du das?“, fragte er. Zeraph schwieg und schaute weiter konzentriert auf das Display an seinem Handgelenk. Der Junge ging weiter auf Zeraph zu, schaute ihm wieder in die Augen und musterte sein Gesicht. „Oh ja, du bist es. Sag, kümmerst du dich gut um Val?“ Zeraph schaute auf.

„Du kennst ihn?“ Der Junge nickte.

„Na klar. Er ist doch der beste Freund vom Chef. Alle kennen ihn. Weißt du wie es ihm geht?“ Zeraph senkte den Kopf und sein Blick ruhte wieder auf dem Armreif.

„Er ist vor einer Weile einfach verschwunden. Diesem Mädchen hinterher. Ich weiß nicht, wo er ist” Der Junge verschränkte die Arme und schaute Zeraph zuversichtlich an.

„Weiß du, ich hab mir große Vorwürfe gemacht, weil er wegen mir nicht mehr heimgekommen ist. Aber da du wieder da bist, denke ich, es geht ihm gut. Momo wird sich freuen, das zu hören” Er hielt kurz inne, „Hey, wieso kommst du nicht mal mit zu uns nach Hause? Ich zeig dir, wo er geschlafen hat. Ach halt, das weißt du ja sicher schon. Naja, aber die anderen werden bestimmt Augen machen, wenn ich ihnen sage, dass ich den Drachen gefunden hab” Zeraph schaute wieder zu dem Jungen auf.

„Du weißt wer ich bin?“ Beide schwiegen eine Weile. Der Junge wirkte sehr eingeschüchtert.

„Verrätst du mir deinen Namen?“, fragte Zeraph. Der Junge nickte und zog sich die Kapuze vom Kopf.

„Ich heiße Ryu. Ich weiß, dass du der Drache bist, der uns die ganze Zeit beschützt hat, bevor Val entführt worden ist. Ich hab es den anderen aber nicht gesagt” er blinzelte mit dem linken Auge. Zeraph stand auf, schaute wütend zu dem Jungen herab.

Ryu umschloss eine beklemmende Angst. Scheinbar verärgert es Drachen, wenn man sie beobachtet. Aber das wusste er nicht. Nun machte er sich auch noch Vorwürfe die anderen in Gefahr gebracht zu haben. Es konnte nichts Gutes heißen, einen Drachen zu verärgern, dachte er sich und bereute sein törichtes Verhalten zutiefst. Doch dann fing Zeraph an zu lächeln, kniete sich wieder zu ihm runter und senkte ehrfürchtig sein Kopf.

„Du bist wahrlich sehr geschickt. Du hast es geschafft mich zu beobachten ohne dass ich es bemerkt habe. Das ist vor dir nur einer Person gelungen” Ryu rümpfte die Nase.

„Du meinst die Frau, die dich gejagt hat? Die war ab und zu bei uns. Sie wusste, dass du öfter hier bist” Zeraph sah ihm tief in die Augen.

„Wie wär’s, wenn ich dir ein Angebot mache” Er hielt sich die Hände vor das Gesicht und bildete mit den Handflächen einen Kelch. Dann pustete er sanft in seine Hand und ein kleines, tief rotes Feuer fing an darin zu lodern.

„Ich möchte dich bitten in Zukunft selbst auf deine Freunde aufzupassen. Dafür überreiche ich dir das Drachenfeuer. Benutze es, um dich und deine Freunde zu beschützen oder zu was auch immer. Die roten Flammen verbrennen alles oder gar nichts. Sie sind ein Ausdruck deines Willens. Damit wirst du selbst zu einem Drachen und kannst uns später bei unseren Reisen durch die Welten begleiten. Wenn du mein Angebot annehmen möchtest, musst du nur die kleine Flamme berühren”

Fasziniert bewunderte Ryu die tanzende rote Flamme in Zeraphs Hand. Etwas zaghaft streckte er seine Hand danach aus und hielt sie darüber. Er fühlte weder Hitze noch Schmerz. Immer näher bewegte er seine Hand zur Flamme. Als er sie berührte breitete sie sich über seine ganze Hand aus.

„Es tut gar nicht weh”, flüstere Ryu. Zeraph grinste.

„Du willst also wirklich ein Drache werden?“ Ryu nickte. In dem Moment verschwand das Feuer in seiner Hand und eine Welle aus rotem Licht fuhr durch seine Arme. Ein paar Sekunden lang schimmerten seine Adern leuchtend durch seine Haut hindurch. Sie pulsierten wellenartig unter seiner Haut in Richtung Herz. Wenig später war alles vorbei und Ryu sah wieder ganz normal aus.

„Warum gerade ich? Wäre Momo nicht besser dafür geeignet? Er ist doch unser Anführer” Zeraph legte seine Hand auf Ryus Kopf.

„Junger Drache, du musst verstehen, dass nicht ich dich erwählt habe, sondern du dich selbst. Du wusstest, dass ich ein Drache bin, du hast mich gesucht und mich angesprochen. Kein anderer würde besser infrage kommen, ein junger Drache zu werden als du” Ryu atmete tief durch. Er sah sich fasziniert seine Hände an und fühlte eine große Kraft in seinem Herzen heranwachsen.

„Hast du das mit Val auch gemacht?“, fragte er neugierig.

„Nein“, antwortete Zeraph und stand auf. „Val hat das Herz der Drachen. Es ist ein Zeichen der Freundschaft und der Zugang zu all unserem Wissen. Wir Drachen haben es alle von Geburt an” Mit großen, weiten Augen schaute Ryu zu Zeraph auf.

„Aber ich bin nicht als Drache geboren. Heißt das, ich habe es nicht?“

„Deine Geburt als Drache steht dir noch bevor. Das wird noch eine Weile dauern. Das Drachenfeuer erwacht gerade erst. Du wirst sehr lange leben, also übe dich in Geduld” Zeraph ging zur Straße.

„Warte noch kurz!“, schrie Ryu ihm nach. Zeraph schüttelte den Kopf.

„Ich werde dir nicht sagen, wie lange es noch dauert. Das liegt ganz bei dir selbst”, antwortete er, ohne sich umzudrehen.

„Das ist es nicht“, sagte Ryu und lief zu ihm, „Sagst du mir wenigstens wie du heißt” Zeraph drehte sich um und lächelte. Dann verbeugte er sich.

„Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Zeraph Darthas. Aber die meisten sagen einfach nur Zeraph” Als er wieder zu Ryu aufschaute, sah er ihm lange und tief in die Augen. Ein paar Sekunden vergingen, dann veränderte sich seine Miene zu einem nachdenklichen grübeln.

Er richtete sich wieder auf und ging weiter die Straße runter. Zeraph wurde die ganze Zeit von Passanten angerempelt und manchmal auch geschubst. Er sah den Leuten nie in die Augen und sein Blick war stets auf die Straße gesenkt.

Immer wieder blieb er kurz stehen und sah sich weitere Tagebucheinträge von Ajuki an. Dies war die einzige Beschäftigung, die seiner Einsamkeit etwas Linderung verschaffte. Das mit Ryu hat ihm auch weniger geholfen als er sich erhofft hatte. Er mochte den kleinen aber sein Herz schrie nach etwas, dass er wohl nicht haben könnte. Ryu lief ihm langsam nach. Nach einer Weile blieb Zeraph wieder stehen und drehte sich um.

„Bist du dir sicher, dass du mir weiter folgen willst?“ Ryu nickte.

„Ich dachte wir bleiben jetzt zusammen?“

„Nein“, antwortete Zeraph sehr kalt.

„Suchst du Val?“, fragte Ryu weiter. Zeraph schaute wieder auf das Display. Es zeigte nichts an.

„Sag mal, Ryu”, sagte Zeraph mit einem beklemmenden Unterton. „Warst du heut schon zu Hause?“ Ryu schüttelte den Kopf.

„Warum fragst du?“

„Deine Freunde machen sich sicher Sorgen um dich. Ich werde dich noch bis dahin begleiten. Ab dann musst du deinen eigenen Weg gehen” Zeraph streckte seine Hand aus. Ryu zögerte nicht lange und griff nach ihr.

Zusammen liefen sie eine Weile die Straße entlang, durchbohrt von finsteren Blicken und abwertenden Fratzen. Die Menschen wussten nicht was sie von dem Anblick eines älteren Kerls, der mit einem Straßenkind an der Hand den Bürgersteig entlanglief, halten sollten. Ryu kümmerte das überhaupt nicht. Er war sehr froh, mal einen richtigen Erwachsenen zu haben, der sich um ihn kümmert.

Zeraph machte diese Pausenlose Erniedrigung sehr zu schaffen. Ein stolzer Drache der sich mit solch unwürdigen Meinungen herumärgern musste. Manchmal dachte er daran, die Welt einfach niederzubrennen und woanders hin zu gehen, aber das würde ihm nichts bringen, genau wie es damals nichts brachte, als Shezzar dieselbe Idee hatte.

Er starrte wie immer konzentriert auf die Straße und ließ sich nicht ansprechen. Sie waren etwa eine Stunde unterwegs. Als sie dort ankamen, sahen sie einen Streifenwagen der Polizei und einen großen Militärjeep vor dem Gebäude stehen.

Ryu lief es kalt den Rücken herunter. Sie hörten lautes Geschrei und das Zerbrechen gläserner Gefäße. Am lautesten war Momos Stimme zu hören. Er protestierte und tobte wie wild. So einfach konnte man ihn nicht einschüchtern auch mit Waffen und Gewalt nicht. Die Beiden näherten sich der Eingangstür.

Als sie nur noch ein paar Meter davon entfernt waren, sprang sie plötzlich auf. Ein Polizist kam heraus der Momo am Genick gepackt hat und seinen Kopf nach unten drückte. Er schubste ihn, sodass er mit dem Kopf auf die Motorhaube des Polizeiwagens knallte. Da sah Momo Ryu und Zeraph.

„Ryu, lauf weg!“, schrie er, dann wurde der Polizist auf die beiden aufmerksam. Ryu war wie erstarrt vor Angst. Zeraph stand regungslos da und verzog keine Miene.

„Ryu, verdammt! Lauf weg, die wollen uns umbringen!“, schrie Momo diesmal so laut das seine Stimme kratzte. Der Polizist lief langsam auf die beiden zu und rief per Funk um Verstärkung. Sein gut trainierter Körper und ein stählerner Blick, der sich hinter einer riesigen Sonnenbrille verbarg potenzierten seine autoritäre Ausstrahlung.

„Wir haben hier zwei weitere Personen, die wir verdächtigen”, blubberte er in das Funkgerät. Ein Soldat verließ kurz darauf das Gebäude mit vier der anderen Kinder, die er mit einer Waffe vor sich hertrieb und sie anschließend in den Militärjeep einsperrte.

Der Soldat sah sehr jung aus, war sehr schmal, hatte ein pickliges Gesicht und so dünne Arme, dass man sich wunderte, wie er das schwere Gewehr überhaupt halten kann. Der Polizist näherte sich Zeraph und Ryu langsam. Zeraph schaute Ryu in die Augen und hob seine linke Augenbraue. Ryu krallte sich in Zeraphs Arm fest und fing an zu zittern. Der Polizist packte Ryu am Kragen, beugte sich zum ihm runter und zog ihn mit seinen kräftigen Fingern zu sich.

„Sind das deine Freunde?“, fragte ihn der Polizist auf eine sehr bedrohliche und furchteinflößende weise. Ryu nickte. Der Polizist zog ein Bild, auf dem Val verschwommen zu sehen war, aus der Tasche und hielt es ihm vor die Nase.

„Dann kennst du auch diesen Jungen, oder?“ Ryu nickte wieder. Zeraph schaute sich das Bild an.

„Hm, Val”, murmelte er. Der Polizist schubste Ryu in den Dreck und richtete sich zu Zeraph auf. Der grinste nur frech und schaute dem Polizisten tief in die Augen. Der Polizist zog seinen Schlagstock und drohte ihm damit.

„Du kommst auch mit aufs Revier” Er zog ihm eins mit dem Schlagstock über und legte ihm Handschellen an. Ryu hielt noch immer Zeraphs Hand und ließ sich mitschleifen.

„Oh, bis dahin schaffen sie es nicht, darauf wette ich”, sagte Zeraph und lachte, „Nicht wahr, Ryu?“, er lachte lauter. Einen Augenblick später kam ein schick uniformierter Offizier aus dem Waisenhaus und schaute sich draußen um. Sein Gesicht war alt und verbittert. Seine Miene kalt und griesgrämig. Er trug schwarze Lederhandschuhe und hielt eine Pistole in der rechten Hand.

„Gefreiter Luis!“, schrie er.

„Jawohl!“, antwortete der schmächtige Soldat.

„Töte die restlichen und brenn den Schuppen nieder”, befahl er. Luis nickte und ging Richtung Waisenhaus. Noch ehe er die Tür durchschritt, schrie Ryu ganz laut.

„Nein!“ Luis blieb stehen, alle drehten sich zu ihm hin.

„Bitte nicht! Ich sag euch auch alles. Aber bitte, tötet sie nicht!“, flehte Ryu. Der Offizier ging zu ihm und der Polizist trat demütig zur Seite.

„Ach ja? Was weißt du denn? Weißt du wo der Junge ist? Weißt du, dass er hunderte Soldaten skrupellos getötet hat? Sag es mir!“, brüllte der Offizier.

„Ryu! Val ist unser Freund! Du sagst kein Wort. Und lauf endlich weg!“, schrie Momo.

„Aber sie werden euch alle töten!“, schrie Ryu zurück.

„Ryu”, schallte Zeraphs Stimme dröhnend in sein Ohr. Dann sah er zu Zeraph auf, der ihn mit seinen glühenden Augen anstarrte.

„Du bist jetzt einer von uns. Du brauchst keine Angst mehr zu haben” Ryu hielt kurz inne. Er fing an sich zu beruhigen und fühlte eine starke innere Kraft in seinem Geist. Er schaute zu dem Offizier auf und grinste.

„Du lässt sie jetzt gehen”, sagte er ruhig, aber sehr bedrohlich. Der Offizier wurde wütend und packte Ryu am Kragen. Er zerrte ihn grob in das Gebäude und schubste ihn zu Boden. Dann trat er die Tür zu dem Zimmer auf, in dem sich die anderen versteckten und richtete die Waffe auf die Kinder, die zitternd auf dem Boden hockten und sich bei den Händen hielten.

„Für diese Respektlosigkeit darfst du jetzt zusehen, wie ich jeden deiner Freunde persönlich umbringe” Doch Ryu war seltsam ruhig. Er stand wieder auf, starrte dem Offizier wütend in die Augen und trat ihn so heftig wie er konnte zwischen die Beine. Wütend richtete der Offizier die Waffe auf Ryu.

In dem Moment funkelten Ryus Augen rubinrot und die Waffe fing an zu glühen. Noch bevor der Offizier sie fallen lassen konnte, brannte sich der Griff durch den Lederhandschuh direkt in seine Haut. Es löste sich ein Schuss, doch die Kugel blieb im Lauf stecken und der Druck der Explosion riss den Schlitten vom Griff. Es schleuderte den schweren, heißen Metallklotz direkt in das Gesicht des Offiziers. Sofort brannte sich das glühende Metall in seine Haut und sein Auge.

Der Offizier schrie so fürchterlich, dass sich die anderen die Ohren zuhielten. Gepeinigt von schier unerträglichen Schmerzen quälte er sich mit letzter Kraft nach draußen. Der Gefreite Luis rannte sofort zu ihm und half ihm auf. Ryu verließ das Haus in einem Mantel aus roten Flammen und einem wuterfülltem Blick. Er sah zu den Beiden rüber und richtete seinen Arm auf sie. Um seine Hand bildete sich ein großer Feuerball.

„Bitte töte uns nicht! Wir tun alles!“, flehte Luis. Zeraph ging ungeniert zu dem Geländewagen und befreite Momo und die anderen.

„Ryu!“, schrie Momo so laut er konnte. „Tu es nicht…“, er wurde von Zeraph unterbrochen der an seinem Ärmel zog und den Kopf schüttelte.

„Unser ganze Leben lang”, brüllte Ryu laut und wütend. „Habt ihr uns schikaniert, gejagt und misshandelt. Wir haben niemandem etwas getan. Wir haben gearbeitet, nein, geschuftet ohne dass wir etwas dafür bekommen haben. Wir haben alles versucht, doch wir wurden immer nur verachtet und erniedrigt”

„Töte ihn, Ryu!“, änderte Momo plötzlich seine Meinung, „Zeig ihnen, dass wir uns das nicht mehr gefallen lassen!“ In dem Moment hallte ein schriller, in den Ohren beißender Schrei durch die Straßen. Der Polizist hat sich eines der Mädchen geschnappt und drohte ihr das Genick zu brechen.

„Ich weiß nicht, wie du das machst”, rief der Polizist. „Aber wenn du nicht auf der Stelle damit aufhörst, töte ich das Mädchen!“ Ryu drehte sich zu ihm um und richtete seinen Arm auf ihn.

„Wage es dir, kleiner Scheißer! Du wirst sie auch verbrennen! Und das willst du doch nicht, oder?“, sagte er angespannt. Dicke Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Das Mädchen weinte und krallte ihre Fingernägel in den Arm des Polizisten. Ryu starrte ihn konzentriert an. Dann erinnerte er sich an einen bestimmten Satz, den Zeraph vorhin sehr deutlich ausgesprochen hatte. Eine Wand aus rotem Feuer schoss aus seiner rechten Hand und beide versanken in einem Meer aus Flammen. Momo schrie entsetzlich.

„Ryu, nein! Was tust du da?“ Doch er reagierte nicht. Ein paar Sekunden später verschwand das Feuer. Vom Polizisten war nur noch ein kleines Häufchen Asche übrig, doch das Mädchen war vollkommen unversehrt. Sie stand auf, schaute sich um und klopfte sich panisch kreischend die Asche von den Kleidern. Dann war ein leises blechernes Geräusch auf dem Boden zu hören. Ryu drehte sich wieder zu den anderen und schaute auf seine Füße. Ein kleines, dosenförmiges Objekt lag da und zischte vor sich hin. Kurz darauf gab es einen lauten Knall und alles wurde in ein gleißend helles Licht getaucht, das alle für ein paar Sekunden blendete. Als es wieder vorbei war und er wieder einigermaßen sehen konnte, waren der Offizier und der Gefreite verschwunden. Von der angeforderten Verstärkung war auch keine Spur. Die Flammen um Ryu erloschen und er sackte schwer atmend auf die Knie. Momo lief zu ihm und hielt ihn im Arm.

Die roten Flammen verbrennen alles oder gar nichts. Sie sind ein Ausdruck deines Willens. – Das war der Satz, an den sich Ryu erinnerte.

„Du hast uns gerade alle gerettet, verstehst du?“, flüstere Momo ihm ins Ohr. Ryu nickte und legte seine Arme um Momos Hals. Momo half ihm auf und sie schauten zu Zeraph. Momo befreite ihn von den Handschellen und wollte gerade einen Satz mit „Wer bist du“ oder ähnlich, beginnen. Doch bevor er was sagen konnte, bemerkte er eine wunderschöne Frau, die hinter dem Polizeiwagen stand und das Schauspiel die ganze Zeit beobachtete.

Wie hypnotisiert von ihrer Anmut starrte Momo sie sekundenlang wie benommen an. Zeraph sah die Umrisse der Frau als Spiegelbild in Momos tief braunen Augen. Er dreht sich um, und während er das Tat, zog die Frau sich die Kapuze vom Kopf und ihr rabenschwarzes Haar fiel ihre Schultern hinab.

„Drache”, flüsterte sie während ihre weiche, blasse haut in sanftes Dämmerlicht getaucht wurde. Zeraph starrte sie wie eingefroren an.

Kapitel 9

Lieder alter Völker

Einen Augenblick nachdem Val Zeraph angegriffen hat und verschwand, fand er sich auf einer weiten Lichtung wieder, die umgeben war von einem dichten, dunklen Nadelwald. Inmitten der Lichtung stand eine einsame Eiche. In deren Schatten saß eine seltsame Gestalt, angelehnt an den Stamm. Sie trug einen sehr weiten und langen, grauen Mantel und einen spitzen Hut mit einer sehr breiten Krempe. Val konnte von der Gestalt nichts weiter erkennen als den unteren Teil ihres Gesichts. Es war das Gesicht einer älteren Dame, die lächelte.

„Willkommen Valfaris”, begrüßte sie ihn mit einer weichen, weiblichen Stimme.

Schüchtern und langsam lief er auf sie zu. „Wer bist du?“ fragte er zögernd.

„Das verrate ich dir noch nicht”, antwortete die Frau. „Viel eher solltest du dich fragen, wo du bist”

Val schaute sich um. Er konnte nur bis an den Waldrand sehen, dahinter schien es nicht weiter zu gehen. Keine Berge, keine Wolken, nur die Lichtung und der Waldrand. In allen Richtungen. „Und wo bin ich?“

„Nirgendwo”, antwortete die Frau. „Ich werde es dir erklären, wenn wir uns wiedersehen. Denn ich weiß, dass du nicht hier bist, um die Geheimnisse des Universums zu entschlüsseln, sondern um jemanden wiederzusehen, nicht wahr? Sie war auch hier”

„Meinst du etwa … Milena? Wo ist sie? Bitte sag es mir!“

„Sie hatte sich verirrt. Aber sie war sehr entschlossen, dich zu finden. Doch ich konnte ihr nur den Weg zurück in eure Welt zeigen. Nicht den Weg zu dir. Du solltest ihr folgen” Ein Teil des Waldes verschwand und gab eine weite unendlich große dunkle Leere preis. „Das ist der Weg, den sie gegangen ist. Der Weg zurück in eure Welt. Geh ihn entschlossen, genau wie sie es getan hat. Vielleicht findest du sie”

Val lief los und näherte sich der klaffenden Dunkelheit. Sein Herz schlug schnell und seine Atmung wurde flach. Er blieb stehen und schaute hinab. „Soll ich springen?“, fragte er angespannt.

„Es ist nicht schlimm Angst zu haben”, sagte die Frau, die plötzlich direkt hinter ihm stand. „Wenn dein Mut nicht reicht, kann ich dir dieses eine Mal vielleicht helfen”

Val drehte sich zu ihr um. Wieder sah er nichts von ihr als ein breites Grinsen. Dann legte sie ihre Hände auf seine Schultern. Langsam hob sich ihre Hutkrempe und zwei blutrote, leuchtende Augen blitzten darunter hervor. „Denk daran”, sagte sie eindringlich. „Milena ist von selbst gesprungen” Dann schubst sie Val hinab. Als er fiel, sah er noch, wie sie sich umdrehte und dabei winkte.

Die Luft war dünn und eiskalt. Wie eine Klinge glitt sie über Vals Gesicht, der sich im freien Fall in zehntausend Metern Höhe befand. Ein paar Sekunden brauchte er, um sich zu orientieren, dann streckte er seinen Körper Richtung Boden und legte die Arme flach an die Hüften. Er wurde immer schneller und schoss wie ein Pfeil auf die Erde zu.

Wenige Sekunden vergingen, da entdeckte er Milena vor sich, die Panisch zappelte und in der Luft trudelte. Val schoss an ihr vorbei, drehte sich und streckte Arme und Beine aus. Als sie ihn vor sich sah, lächelnd und zuversichtlich, beruhigte sie sich und konnte sich ein wenig stabilisieren. Val fing sie auf und nahm sie in den Arm, während sie sich weiterhin mit hoher Geschwindigkeit auf den Boden zu bewegten.



Milena hatte immer noch Angst aber je fester sie sich in Vals Rücken krallte, desto weniger bedrohlich empfand sie diese Situation. Sie brachen durch die Wolkendecke und langsam wurde der Boden unter ihnen sichtbar.

Sie rasten auf eine Stadtruine mit sehr hohen, überwucherten Gebäuden zu. Irgendwie war ihr klar, dass er sie nicht sterben lassen würde auch wenn es scheinbar aussichtslos war. Sie nahm ihren Kopf von seiner Schulter und schaute ihm ins Gesicht. Der Wind wirbelte ihr die Haare ins Gesicht und schmerzte in den Augen. Kurz sah sie ihn konzentriert nach unten schauen, dann zog er sie fest an sich und hielt ihren Kopf. Vor dem Aufschlag sah Milena noch ein weiches, grünes Licht. Dann schloss sie ihre Augen, vernahm ein Donnern und Beben, als würden Häuser einstürzen.

Ein paar Minuten später kam sie wieder zu sich. Sie richtete sich langsam auf und schaute sich um. Val lag neben ihr und atmete etwas schwer. Beide lagen in einem Krater, um sie herum Trümmer und verbogene Stahlbewährungen.

Es fing langsam an zu regnen und die Staubwolke lichtete sich allmählich. Milena nahm Val auf die Schulter und trug ihn mühsam in eines der intakten Gebäude, wo sie vor dem Regen geschützt waren. Es war ein kleiner Schnellimbiss, dessen Einrichtung noch ziemlich gut erhalten war. Langsam kam Val wieder zu Kräften und Milena setzte ihn auf einen Hocker.

Val öffnete die Augen und schaute sich um. Als er Milenas Blick traf, die ihn lächelnd beobachtete, durchfloss eine angenehme Wärme seinen ganzen Körper. Sie war vollkommen unverletzt und gesund. Minutenlang schauten sie einander wortlos in die Augen. Dann fiel Val auf, dass er an einem Ort war, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Er stand auf und schaute sich um.

An den Wänden hingen überall noch Plakate und Werbebanner. Auf einem Plakat war eine Einladung zu einer großen Ausstellung von vor sechzig Jahren zu sehen. Milena sah sich das gleiche Plakat an und stellte fest, dass diese Stadt eine war, die nach dem großen Krieg gebaut wurde. Der Name der Stadt war Celestis. Sie wurde von den Überlebenden auf dem amerikanischen Kontinent gebaut und wuchs über die Jahre zu einer Großstadt heran.

„Wo sind wir?“, fragte Val. Milena verschränkte die Arme und starrte auf das Poster.

„Celestis”, murmelte sie. „Aber ich weiß nicht, wie wir hierhergekommen sind” Val stand auf und ging zu ihr.

„Kennst du diese Stadt? Und was ist mit diesem Mann da passiert? Ist er krank?“, fragte er und zeigte auf einen Mann mit dunkler Haut. Milena schwieg kurz. Dann drehte sie sich zu ihm.

„Nein, er ist nicht krank. Er hat einfach nur dunkle Haut. Das ist keine Krankheit, sondern ganz normal. Wie eine Katze, die schwarzes Fell hat” Val dachte nach.

„Jetzt versteh ich das. In der Ecclesia steht, dass es dunkle Menschen gibt, die sind unrein und müssen ein bestimmtes Ritual bestehen, dann können sie wieder zurück. Ich wusste nicht, dass damit die Hautfarbe gemeint war”

Milena Mine wurde traurig. „Ich glaube es war so fünfhundert Jahre nach dem großen Krieg. Sie nannten es die reinigende Flut. Menschen mit so einer Hautfarbe wurde gefangen und zu heiligen Orten gebracht. In dem Buch von Han steht, dass man sie dort einfach gesammelt und getötet hat”

„Aber… wieso? Das kann man doch nicht einfach…“, stotterte Val verängstigt.

„Da Celestis die Ecclesia nicht anerkannte, konnten diese Menschen nur hier in Frieden leben” Milena hielt kurz inne. „Val. Was ist da vorhin passiert?“, fragte sie besorgt.

„Ich hab dich gesucht, aber da war dieser Typ. Er sagte, er sei ein Drache. Dann hat mich diese Ajuki angegriffen, aber das war mir egal. Plötzlich warst du hinter mir und bist wieder verschwunden”, sagte er hektisch. Milena starrte auf ihre Hand.

„Ich hab mir gewünscht, bei dir zu sein. Aber es war als würde ich abrutschen” Das Symbol auf ihrer Hand schimmerte. „Als ob man einen Berg erklimmt und der letzte Vorsprung, an dem man sich festhält, bricht weg. Dann bin ich nur noch gefallen. Bis du mich gefangen hast”, sagte sie und lächelte. Val kratzte sich verlegen den Hinterkopf.

„Naja, keine Ahnung. Ich wusste nicht was los ist also hab ich einfach irgendwas gemacht” Er ging wieder zu dem Poster und schaute konzentriert darauf.

„Du hast gesagt du kennst diese Stadt. Was weißt du darüber?“, fragte er.

„Han hat viele Bücher über sie geschrieben. Sie war die erste Stadt, der neuen Welt und alle überlebenden gingen dort hin. Nach wenigen Jahren erblühte sie zu einer Metropole. Das ganze Wissen der alten Welt wurde dort zusammengetragen und erneuert” Sie ging zu Val und starrte nachdenklich auf das Poster.

„Wie ging es weiter?“, fragte Val neugierig. Milena verschränkte die Arme.

„Der technologische Fortschritt der Stadt war beispiellos. Und so wandten sie sich auch von den Fanatikern ab. Die Weltregierung in Marista verurteilte die Arroganz der Bürger von Celestis. Doch das Klagen der Hauptstadt stieß auf taube Ohren”, zitierte sie aus Hans Buch.

„Haben sie sie Stadt angegriffen?“ Milena nickte und schaute Val in die Augen.

„Ja, aber ohne Erfolg. Die Stadt wurde Monate lang belagert und immer wieder versuchte die Armee einzudringen. Aber die Technologie von Celestis war deren weit überlegen. Also gab die Weltregierung die Stadt frei” Val schüttelte den Kopf.

„Aber wieso ist hier alles wie ausgestorben?“ Milena seufzte und zeigte auf das Poster.

„Der Höhepunkt ihrer Arroganz war die Weltausstellung. Sie wollten allen anderen ihre Überlegenheit unter die Nase reiben. Bis dahin hatte die Weltregierung die Machenschaften noch argwöhnisch akzeptiert aber die Ankündigung der Weltausstellung war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Zwei Tage vor Eröffnung versank die Stadt im Chaos”

„Das versteh ich nicht. Ich dachte die Weltregierung konnte nichts gegen sie ausrichten?“, fragte Val verdutzt.

„Militärisch nicht. Es wurde ein Virus freigesetzt, der den Ausbruch einer schrecklichen Seuche verursachte. So sagen es die Verschwörungstheoretiker. Die Regierung behauptet, dass die Wissenschaftler ein Wirkstoff entwickeln wollten, der ihnen dieselben Kräfte vermacht, die Shezzar besaß”

„Und was ist die wahre Geschichte?“, fragte Val und starrte sie mit großen Augen an.

„Das kam nie ans Licht. Anfangs hielt ich die Geschichte der Verschwörungstheoretiker für glaubhafter. Aber nachdem was mit den Leuten geschehen ist und dem was Han über dich und deine Kräfte erzählt hat, glaub ich jetzt eher, dass die Regierung die Wahrheit sagt” Val schaute verwundert auf seine Hände.

„Was ist denn mit den Menschen geschehen? Und was hat das mit mir zu tun?“ Der Regen legte sich, und langsam brach die Sonne durch die dicken Wolken hindurch. Draußen sah man, weit entfernt, eine Große, gläserne Kuppel, die nach dem Regen glänzte. Milena ging zur Tür.

„Ich hab gehört, die Weltausstellung wurde kurz vor der Katastrophe fertig gestellt. Lass uns doch mal schauen” Sie verließ das Gebäude und Val folgte ihr. Sie gingen Richtung Glaskuppel und Milena erzählte was damals passiert ist. „Da es kurz vor der Weltausstellung war, gab es viele Aufzeichnungen von dem was passierte.

Auf allen Bildern war ein grün leuchtender Nebel zu sehen der durch die Straßen zog. Jedes Lebende Wesen, dass er berührte löste sich auf und wurde zu einer grün leuchtenden Flüssigkeit, die sich wie von selbst überall ausbreitete, sogar Wände hoch und durch Wandfugen in Gebäude eindrang und noch mehr Nebel erzeugte” Val schaute wieder auf seinen Handrücken, wo das Symbol ebenfalls in einem satten Neon-grün leuchtete.

„Denkst du, das hat was mit mir zu tun?“

„Ich weiß es nicht. Jedenfalls war nach wenigen Tagen alles vorbei. Alle waren tot. Die ganze Stadt leuchtete noch Monate lang in diesem Grün und nach und nach fing alles an zu überwuchern. Sie wurde unter Quarantäne gestellt und seitdem nie wieder betreten” Der Anblick der Stadt wurde immer beeindruckender.

„Sechzig Jahre steht sie jetzt schon verlassen und unberührt an diesem Ort”, fuhr Milena fort. „Alle haben es live im Fernsehen erlebt, was mit den Menschen hier passiert ist. Keiner hat je wieder einen Fuß in diese Stadt gesetzt. Aber zerstört wurde nichts. Die Häuser verfallen mit der Zeit. Doch es ist alles weitgehend erhalten” Fasziniert schaute Val sich die beeindruckende Kulisse vor sich an.

„Ich kann es kaum glauben, dass diese Stadt schon nach sechzig Jahren so zerfallen aussieht und Aletria nach Tausend nicht. Warst du eigentlich auch dort?“ Milena nickte schweigend doch bevor sie darauf antworten konnte, sahen sie, wie sich langsam die riesige Glaskuppel vor ihnen auftat.

Gebaut auf einem Stahlgerüst, fast so hoch wie ein Wolkenkratzer und so breit wie mehrere Stadien. Sie war überzogen mit einer Fassade aus bruchfestem Panzerglas, umgeben von einer weiträumigen Freifläche, die von großen Bäumen und hohen Gräsern bewachsen war. Dort war auch überall noch die grüne Flüssigkeit, die sich durch viele kleine Spalten im Boden wie kleine Äderchen über das Gebiet ausbreitete. Milena blieb stehen und hielt Val an der Hand.

„Geh nicht weiter. Du wirst sonst genau so enden wie die anderen Menschen”, sagte sie Ängstlich. Val zerrte sie entschlossen hinter sich her.

„Keine Angst. Ich will wissen, was hier wirklich passiert ist”, sagte er mutig. Milena gab nach und ließ von seiner Hand. Val lief allein weiter bis er eine der kleinen Spalten erreichte, in der die Flüssigkeit war. Er kniete sich herab und tauchte seinen Finger hinein. Milena wurde nervös.

Sie erinnerte sich an die Bilder, die Han ihr gezeigt hatte und den Beschreibungen in seinen Büchern darüber was mit Menschen passierte, die damit in Berührung kamen. Doch es passierte nichts. Er stand wieder auf und verrieb sie auf seinen Fingern. Sie war sehr dünnflüssig und völlig geruchlos.

„Es ist in Ordnung!“, rief er ihr zu. „Lass uns weitergehen” Milena nickte und lief ihm mutig zu ihm.

„Ist Aletria nicht der Name der Stadt mit dem riesigen Turm, die schon seit tausend Jahren verlassen ist?“, fragte sie in einem leicht rhetorischen Ton. Val nickte.

„Ja, genau so ist es” Er schaute auf sein Handgelenk. „Der Armreif ist kaputt. Er hat den Aufprall wohl nicht überstanden” Milena schaute sich Vals Handgelenk an.

„So etwas hab ich doch schon gesehen. Ich glaub Han hat auch so eins. Wozu ist es gut?“ Val zuckte mit den Schultern.

„Wohl etwas was man braucht, um Aletria betreten zu können” Erstaunt und überwältigt schauten beide auf, als sie das riesige Tor durchschritten und das Innere des Gebäudes sehen konnten. Allein das Ausmaß der Kuppel war schon beeindruckend aber die Ausstellung an sich, war es ebenso. Die High-Tech Stadt Celestis, trumpfte mit dem letzten Schrei des Technologischen Fortschritts auf, den sie zu bieten hatte.

Es waren unter anderem Prototypen für Nullpunkt-Energie, Kalte Fusion, künstliche Schwerkraft, Schwerelosigkeit und der geplante Wiedereinstieg in die Raumfahrt mit einer frühen Form der Warp-Technologie. Aber alles war zu großen Teilen verrottet oder mit Pflanzen überwuchert. An bestimmten Stellen wirkte es eher wie ein Treibhaus, in dem viele verschiedene Pflanzenarten gezüchtet wurden. Das Seltsame war, dass nicht alles gleichmäßig bewachsen war, wie es der Fall wäre, wenn sich die Flora in den 60 Jahren ganz natürlich ausgebreitet hätte. Sondern an manchen Stellen wuchs kaum etwas und an manchen sehr viel. Selbst auf Beton und Stahl wuchsen Pflanzen.

Alles zusammen ergab ein Muster wie eine Explosion, die sich vom Zentrum der Kuppel aus ausbreitete. Dort war auch der Höhepunkt der Ausstellung. Eine riesige Maschine, die bis an den höchsten Punkt reichte und ihr gleichzeitig als Hauptpfeiler diente.

Beide staunten, als sie den Fuß dieser Maschine, die so groß war wie vier Wolkenkratzer, die nebeneinanderstanden, erreichten. Sie wurde noch immer mit Energie versorgt und gab ein sehr leises summen von sich. Ein paar Lämpchen blinkten harmonisch, ein paar digitale Zahlen leuchteten und hier und da ein Manometer, dessen Zeiger sich hin und her bewegten. Vor der Maschine stand eine elektronische Infotafel, die immer noch zu funktionieren schien.

Val und Milena schauten sich den Film an, der die Maschine beschrieb. Eine graphische Darstellung war zu sehen, die die Maschine im Ganzen zeigte, dazu sprach ein Kommentator:

„Das Wunder der Neuzeit und die größte technologische Errungenschaft seit Menschen Gedenken: Die Stella Infinium ist in der Lage alle Energieprobleme der gesamten Menschheit auf einen Schlag zu lösen. Seit der Entdeckung der kalten Energie vor 100 Jahren, fieberten Celestis Wissenschaftler an einer Maschine, die uns diese Energie nutzbar macht” Val und Milena staunten.

„Kalte Energie?“, fragte Val, „Gibt es das wirklich?“ Milena zuckte mit den Schultern. Val tat ihr gleich und beide schauten wieder auf den Bildschirm.

„Die Kuppel, unter der sie sich gerade befinden, ist der Kollektor, der die Energie aus dem Äther extrahiert und sie für uns nutzbar macht. Diese Energie wird zunächst in eine Flüssigkeit umgewandelt, die so stark konzentriert ist, dass bereits ein Tropfen reicht, um eine Großstadt für ein Jahr lang mit ausreichend Energie zu versorgen”

Jetzt fiel den Beiden auf, dass überall um sie herum kleine Phiolen, teilweise zerbrochen, teilweise intakt auf dem Boden lagen. In denen die nicht zerbrochen waren, befand sich eine hellgrüne, trübe Flüssigkeit. Etwa 5 Meter über ihnen sahen sie sechs riesige, gläserne Rohrleitungen, die alle samt zerplatzt waren. Die Grafik auf dem Bildschirm, die die Maschine schematisch darstellte, zeigte dass sich in ihrem inneren Teil ein Modul befand, dass die Energie direkt in diese Flüssigkeit umwandelt. Wie das ganze funktionierte, war natürlich streng geheim und der Zugang dahin war abgesichert. Milena kratzte sich an der Schläfe.

„Was hast du jetzt vor?“ Fragte sie etwas angespannt. Val hob eine der intakten Phiolen auf und steckte sie in seine Tasche. Dann ging er zu ihr und schaute ihr mit ernster Miene ins Gesicht.

„Irgendetwas Wichtiges ist da oben. Etwas, nachdem ich suche” Milena sah sich ihre Hand an.

„Wir sind genau wie dieser Typ aus Hans Büchern. Wir haben auch diese Kräfte. Was ist, wenn alles nochmal passiert?“ Val nickte.

„Dann passiert es halt. Vielleicht ist dort oben eine Antwort”, sagte er etwas zynisch und ging in den Gesperrten Bereich, hinter der Maschine. Er fand eine Tür, die durch verschiedene Sicherheitseinrichtungen verschlossen war. Val hatte keine Lust, sich jetzt mit verschlossenen Türen herum zu plagen und ließ sein Schwert erscheinen. Er holte aus und rammte es einfach hinein. Das Schwert veränderte seine Form und sprengte die Tür aus den Angeln. Dann verschwand es wieder.

Entschlossen ging er hindurch und nach ein paar Metern, erreichte er einen Aufzug. Milena folgte ihm und beide gingen hinein. Die Tür schloss sich automatisch und ein handgroßes Display leuchtete auf, dass einen ID Pass verlangte.

„Ach, verdammt!“, Grunzte Val und trat gegen die Wand. Milena lächelte und legte eine kleine Karte aus Plastik darauf. Plötzlich bewegte sich der Aufzug. Aber nicht nach oben, wie sie es erwartet hatten. Val schaute verwundert und kratzte sich am Hinterkopf.

„Wieso fahren wir nach unten? Die Maschine sollte doch oben sein” Milena zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht ist das die falsche ID-Karte?“ Val verschränkte die Arme und schaute nachdenklich. Dann schüttelte er mit dem Kopf. Ein paar Minuten war es ruhig und beide schwiegen verhalten.

„Ich glaube das was da ist, ist wichtiger als die Welt mit Energie zu versorgen”, sagte Val, kurz darauf öffnete sich die Aufzugtür. Es drang ein beißender Geruch von Alkohol und Desinfektionsmittel in den Aufzug und vor ihnen befand sich ein langer, schmaler Gang, an dessen Ende eine Leiter nach oben führte. Milena verzog ihre Mine etwas angewidert.

Val nahm sie an der Hand und beide verließen zaghaft den Aufzug. Sie stiegen die Leiter hinauf und als sie oben ankamen, befanden sie sich in einem großen Raum, der wie eine Schale gewölbt war. Im Zentrum des Raumes, weit über den beiden, befand sich eine gläserne Kugel, die zerborsten war.

Man konnte erkennen, dass sie mit der Flüssigkeit gefüllt war, da an der oberen, intakten Hälfte noch die Schläuche hingen und die Flüssigkeit noch immer herabtropfte. Der Boden des Raumes war mit einer besonderen Oberfläche ausgestattet, die scheinbar eine reflektierende Wirkung hatte und aus einzelnen Kacheln bestand. Es gab keine Lampen in dem Raum und dennoch war es sehr hell.

Das ganze Licht kam von der Flüssigkeit, die aus der Glaskugel tropfte. Fasziniert schauten sich die beiden um. Milena entdeckte eine Stelle, an der eine der Kacheln am Boden beiseite gerückt war und ein klaffendes Loch im Boden hinterließ. Zaghaft näherte sie sich und fand einen Schacht, der sehr weit nach unten führte. Für Val war klar, dass es keine andere Option gibt als herauszufinden was sich am Ende des Schachtes befindet.

„Was meinst du? Gehen wir da runter?“, fragte er mutig. Milenas Gedanken waren sehr durchwachsen. Sie machte sich Sorgen, Val könnte sie als nervigen Ballast empfinden, wenn sie sich ängstlich gibt. Sie wollte ihn unterstützen, ihm helfen zu finden was er sucht, doch allem voran wollte sie ihn beeindrucken.

Mutig und entschlossen nickte sie, dann stieg sie auf die Leiter und kletterte hinab. Val folgte ihr. Im Schacht waren zahllose Rohrleitungen und Kabel, die nach unten führten. Es war stockfinster und es roch modrig wie in einem Keller. Sie sahen nur noch mit dem Licht, das aus der oberen Öffnung hinab schien. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen sie unten an und folgten den Rohren durch einen Kanal, an dessen Ende sich eine offene Wartungsluke befand, aus der ein schwaches Leuchten hervordrang.

Auf der anderen Seite war ein großes Labor, ausgestattet mit vielen Elektronischen Geräten, Bunsenbrennern und schrankhohen Gläsernen Zylindern, die mit der grünen Flüssigkeit gefüllt waren. Das einzige Licht im Raum kam wieder nur von der leuchtenden Flüssigkeit, die überall an den Wänden klebte und aus Rissen hervorquoll.

Einer der großen Zylinder sah anders aus. Die Flüssigkeit darin leuchtete nicht und war sehr trüb. Man konnte kaum was erkennen. Ein seltsames Gefühl zog Val zu diesem Zylinder. Er wischte den Staub vom Glas, plötzlich fing das Symbol an seiner Hand an hellt zu leuchten und die Flüssigkeit in dem Behälter wurde klar wie Wasser.

Er konnte nun einen kleinen Jungen sehen, an dem zahlreiche Schläuche und Geräte angeschlossen waren. Auf seinem Kopf war ein seltsamer elektronischer Stirnreif auf dem zahlreiche Dioden leuchteten und blinkten. Wie versteinert starrte Val dem Jungen ins Gesicht und ihn überkam das Gefühl einen lang verschollenen Kameraden wiederzusehen.

Milena stand hinter ihm und sah wie das Symbol auf Vals Hand pulsierte und eine seltsame Energie abstrahlte, die mit der Flüssigkeit im Zylinder reagierte. Kleine, grün schimmernde Blitze zuckten durch die Flüssigkeit und der Junge schien darauf zu reagieren. Langsam kam er zu Bewusstsein und öffnete die Augen. Sie glühten Saphirblau und starrten Val durchdringend an.

„Das ist der Junge aus meinem Traum” Stammelte er und taumelte etwas zurück. Milena näherte sich dem Zylinder und starrte ihn ebenfalls an.

„Er ist am Leben”, sagte sie, dann sah der Junge zu ihr. Kurz verlor sie sich in seinem Blick, dann fing er an panisch den Kopf zu verdrehen und sich von den Schläuchen los zu reißen. Einige Lichter gingen an und ein Alarm ertönte.

Val schlug mit der Faust auf das zentimeterdicke Glas ein, doch es machte keine Anstalten nachzugeben. Er war so gestresst, er vergaß, dass er jederzeit sein übermächtiges Schwert beschwören und den Jungen ohne Mühen befreien könnte.

Dann beruhigte sich der Junge wieder und schaute Val gefasst in die Augen. Er streckte seinen Arm aus und berührte die Innenseite des Zylinders mit seinem Zeigefinger. Kleine Risse bildeten sich von seinem Finger aus und das Glas zerbarst. Die Flüssigkeit schwappte heraus und Val half dem Jungen sich zu befreien. Er zog sich einen langen, schleimigen Schlauch aus seinem Hals und holte tief Luft. Milena holte ein Handtuch, das sie in einem Umkleideraum nebenan fand und legte es dem Jungen über die Schulter.

Sie halfen ihm auf und setzten ihn auf einen Hocker. Wieder schaute der Junge Val in die Augen. Er war nicht größer als Ryu und hatte helle, blonde Locken, die durchnässt an seinem Kopf anlangen. Seine Haut war blass und auf seiner Hand befand sich ein ähnliches Symbol wie das von Val.

„Hey Shezz‘“, sagte er und musste ein paar Mal husten. „Was ist denn mit dir passiert?“ Dann lachte er. „Du siehst aus als wärst du in einen Jungbrunnen gefallen. Jetzt kann ich dich gar nicht mehr mit alter Knacker ärgern” Val schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht genau, wer du bist”, sagte er verlegen und schaute mit einem fragendem Blick zu Milena rüber. Wieder lachte der Junge.

„Jetzt nimmst du mich aber auf den Arm. Vor ein paar Wochen sind wir noch zusammen durchs Weltall geflogen und jetzt weißt du nicht mehr, wer ich bin? Das sieht dir gar nicht ähnlich, Shezzar” Wieder schüttelte Val verlegen den Kopf.

„Ich heiße Valfaris. Das ist Milena. Ich kenne keinen Shezzar und ich war auch noch nie im Weltall”, Val kratzte sich am Kinn, „Aber ich glaub ich weiß, wer du bist” Plötzlich erinnerte Val sich wieder an das, was Zeraph ihm erzählt hat.

„Du bist Bellami, oder? Und Shezzar war mein Name vor tausend Jahren” Der Junge schaute Val entsetzt ins Gesicht.

„Ja, das ist mein Name. Tausend Jahre? Ich kann doch nicht so lang hier drin gewesen sein? Was ist passiert?“ Er stand auf und lief nervös umher. Dann sah er sich um. „Ich kenne diesen Ort nicht. Wo ist mein Armreif? Wo sind meine Sachen?“ murmelte er.

Neugierig lief er durch die wenig bleuchteten, staubigen Gänge, mit nichts außer einem alten Handtuch um die Hüfte. Am Ende eines breiteren Gangs, erweckte ein schweres Metallschott seine Aufmerksamkeit. Val und Milena sind ihm die ganze Zeit gefolgt und waren eben so fasziniert. Belami stemmte die Arme in die Hüfte.

„Soll ich dir diese Tür öffnen?“, bot Val an. Belami schüttelte den Kopf. Er streckte seinen Arm aus und berührte das Schott. Knackende und klickende Geräusche waren zu hören. Dann fing es an sich zu bewegen. Langsam und anmutig versank es im Boden und gab einen Raum frei indem so etwas wie eine Galerie befand.

Ein Sammelsurium von Artefakten verschiedenster Arten. Vieles davon waren nur einfache, undeutbare Gegenstände wie ein zerbrochenes Stück Tafelkreide, ein zerbeultes Metallblech mit seltsamen Inschriften. Eine alte Uniform, wie die eines hohen Offiziers einer Armee. Ein kleiner kristallener Splitter, der anfing grünlich zu pulsieren als Val sich ihm näherte und zugleich verschwand.

Belami fand in einer Vitrine rechts von ihnen sein Armreif und seine Kleidung. Eine weit geschnittene, dunkelblaue Hose auf der ein goldenes Muster gestickt war. Ein tailliertes, schlichtes hellblaues Hemd, eine dünne Weste mit gleichen Mustern wie auf der Hose. Und ein großer, schwerer Mantel, der bis fast auf den Boden reichte. Mit breiten Schultern, Laschen und Knöpfen. Auf der Brust war ein verschnörkeltes, goldenes A gestickt.

Ohne auf Val und Milena Rücksicht zu nehmen, legte er das Handtuch ab und zog sich an. Val, dem das Wort Privatsphäre ebenso unbekannt gewesen schien wie Belami, störte sich wenig daran.

Milena verließ aus Anstand den Raum. Belami streifte sich den Armreif über das linke Handgelenk und schaute zu Val auf.

„Jetzt fühl ich mich wieder wohl. Kommt, wir müssen den Drachen finden. Kennt ihr ihn?“ Belami betrat den Raum hinter der Galerie, wo sich ein weiteres, noch größeres Labor befand.

„J-ja … irgendwie hab ich ihn umgebracht, glaub ich”, sagte Val klapprig. Bellami schaute ihn finster an und fing plötzlich an laut zu lachen.

„Du hättest mich fast drangekriegt”, schrie er und rang dabei nach Luft, „Wenn du es geschafft hättest, einen Drachen zu töten, dann wäre die Welt nicht mehr an diesem Ort, geschweige denn an einem Stück” Er drehte sich rum, lief los, blieb aber gleich wieder stehen und starrte fragend Löcher in die Luft.

„Wo sind wir überhaupt?“, fragte er emotionslos.

„Die Stadt heißt Celestis”, antwortete Milena. „Was das hier ist, wissen wir selbst nicht so genau. Wir wissen auch nicht, warum wir hier sind” Val zuckte mit den Schultern. Bellami drehte sich zu ihnen.

„Shezz ... Ich mein Val. So heißt du ja jetzt”, er holte tief Luft. „Du hast gesagt, es sind tausend Jahre vergangen. Und du kannst dich nicht mehr an die Zeit davor erinnern?" Val nickte. Plötzlich machte Bellami ein schrecklich trauriges und entsetztes Gesicht. „Wir waren doch immer Freunde, oder?“, sagte er leise.

„Ich glaub schon. Nach allem war Zeraph mir erzählt hat”, antwortete Val rücksichtsvoll.

„Dir muss etwas Schreckliches passiert sein” Milena schaute zu Val. Val starrte bedrückt auf den Boden.

„Er hat gesagt, dass ich nach dir gesucht habe. Und dabei fast die ganze Welt vernichtet hab. Han hat mich aufgehalten und ich hab Tausend Jahre nicht existiert, oder so” Alle starrten sich schweigend an.

„Kannst du dich erinnern, wie du hierhergekommen bist?“, fragte Val vorsichtig. Bellami schüttelte den Kopf.

„Es gab einen Ort, an dem ich gerne Zeit verbrachte. Es war sehr idyllisch und friedlich. Ich hab da gern ein paar Stunden gedöst und mich der Einsamkeit dieses Ortes hingegeben” Er lehnte sich an die Wand und starrte nach oben, „In der Nähe war eine Siedlung, die relativ abgeschottet von der Zivilisation war. Niemand dort hatte mich gesehen. Eines Tages sah ich Rauch aufsteigen und beschloss mir das anzusehen”

„Was ist passiert?“, fragte Milena aufmerksam.

„Das wusste ich nicht. Eines der Häuser brannte und in ein anderes führten mehrere Blutspuren. Dort waren alle Kinder an den Füßen hängend an die Decke geknüpft”

„Waren sie tot?“, fragte Milena entsetzt. Bellami nickte bedrückt.

„Ja. So wie sie aussahen wurden sie schrecklich gefoltert und verletzt” Milena atmete tief und schaute ihn mitfühlend an.

„Aber wieso?“, fragte sie.

„Ich kann mich nur noch dran erinnern, wie ich von etwas getroffen wurde und mich nicht mehr bewegen konnte. Dann haben sie mich in diesen Tank gesteckt und ich bin eingeschlafen” Val schaute sich um. Die ganzen Geräte in dem Raum waren verstaubt und mit Spinnenweben überzogen. Aber sie sahen nicht aus, als wären sie tausend Jahre unbenutzt. Bellami griff nach Vals Hand.

„Was ist mit dir? Irgendwas bedrückt dich doch”, fragte er ihn.

„Diese Stadt wurde nach dem großen Krieg gebaut. Wie kann es sein, dass du schon vorher hier warst?“

„Was für ein großer Krieg?", fragte Bellami bedrückt. "Ist es das, was deinen Schmerz auslöst? Was ist passiert?“ Val erzählte ihm alles, was er davon wusste. Von seinen Träumen, von Han, von seinem Leben in Marista und wie er Milena kennengelernt hat. Bellami sah interessiert zu ihr.

„Danke, dass du auf ihn aufgepasst hast. Er war schon immer ein Hitzkopf”

„Also bin ich doch eine Art Auserwählte, oder was?“ Bellami lachte laut und schüttelte den Kopf.

„Nein, das würde sie nicht tun. Und Shezzar auch nicht. Du hast dich selbst dafür entschieden, aus welchen Gründen auch immer” Plötzlich ging die Hauptbeleuchtung an und die elektronischen Anlagen fuhren hoch. In dem ganzen Komplex wurde es Taghell, die Belüftung sprang an und es erschienen überall Grafiken und Aufzeichnungen von Forschungsprojekten. Die Drei schauten sich alles genau an. Die leuchtende Flüssigkeit, die die Bewohner der Stadt vergiftet und getötet hat, ist reines Wasser. Es wurde mit einer unbekannten Energie angereichert, die sich um Bellamis Umgebung bildete, wenn er bestimmten Reizen ausgesetzt wird.

Er wurde in ein künstliches Koma versetzt, da er zu mächtig war und sich sonst befreit hätte. Dieses Koma war so wichtig, dass die Maschinen unter allen Umständen funktionieren mussten. Man entwickelte ein System, dass selbst dann noch arbeitete, wenn alles andere zerstört wurde. Als die Menschen die Einrichtung 500 Jahre nach dem Großen Krieg wiederfanden, funktionierte sie immer noch. Sie bauten Celestis um die Anlage herum und nutzten Bellami weiter als Energiequelle ohne zu wissen, wer er war. Milena erinnerte sich.

„Dieses Grüne zeug. Davon haben sie in dem Labor in Marista geredet”, sagte sie mit trauriger Stimme.

„Leben und Tod – Terra“, sagte Bellami. „Es ist überall dort, wo es Leben gibt. Es gibt sie im ganzen Universum aber am stärksten ist sie auf Planeten wie diesem. Du und Val habt die Fähigkeit diese Energie zu nutzen. Nein, stimmt nicht. Bei dir ist es anders” Bellami schaute Milena starr und nachdenklich an. Dann schüttelte er den Kopf. „Nein, bei dir ist es vollkommen anders. Aber ich weiß nicht, was” Val schüttelte den Kopf.

„Leben und Tod… Davon hat mir Zeraph auch was erzählt. Aber wieso sind alle daran gestorben?“

„Naja, wie soll ich das erklären. Es ist reine Energie, die mit allem reagiert. Es ist wie Elektrizität: Einerseits ist sie wichtig zum Leben. Aber wenn du zu viel davon abbekommst tötet sie dich. Nur mit der Terra ist es etwas komplizierter”

„Du meintest, dass nur ich und Milena diese Energie kontrollieren können. Aber Zeraph sagte, du beherrschst eine andere Art von Energie. Astra hat er es genannt. Wie konnten sie dann dieses Terra von dir gewinnen?“, fragte Val skeptisch.

„So ganz kann ich mir es auch nicht erklären. Die großen Kräfte stehen alle in einer besonderen Verbindung zueinander. Genau wie bei Milena, umgibt mich Terra auch in einem höheren Maße und reagiert mit mir. Nur kann ich es nicht kontrollieren so wie du”

„Also hat Milena auch diese Kräfte?“

„Nein, sie ist anders”, antwortete Bellami herablassend und schaute Milena an. „Es ist bei ihr nur leicht erhöht. Aber ich denke, dass liegt eher daran, dass sie mit dir zusammen ist” Bellami schaute Milena tief in die Augen. „Da ist noch etwas” Er kniff seine Augen zusammen und stieß ein kurzes Lachen aus. „Bist du zufällig mal einem Faarih begegnet?“ Milena zog fragend die Augenbrauen hoch.

„Was ist denn das schon wieder?“ Bellami lachte.

„Ach nix. Passt schon. Ihr werdet es noch früh genug erfahren”

„Und was ist mit dir?“, fragte Val. „Zeraph meinte du bist der Stärkste von uns. Wie geht das, wenn du auch nur eine dieser großen Kräfte benutzt?“ Bellami schaute Val mit seinen glühenden Saphirblauen Augen ins Gesicht.

„Wir sind nicht alle gleich. Zeraph ist ein Drache. Du bist ein Soldat. Ein Krieger, den sie rekrutiert hat, um ihre Macht zu demonstrieren. Eigentlich nichts Besonderes. Ich hingegen … Nun, Astra ist eine Kraft, die mit allem verbunden ist. Sie ist überall und sie ist unendlich stark. Sie ist zwischen den Welten und fließt durch alles und jeden. Ich kann nur einen kleinen Teil davon nutzen, aber das reicht, um mächtiger zu sein als alle anderen” Er schaute nachdenklich in die Luft. „Naja, nicht wirklich alle” Er lachte laut. „Was machen wir als nächstes?“

„Willst du nicht zurück nach Hause?“, fragte Milena. Bellami lächelte und nickte.

„Natürlich will ich das. Aber es gibt hier bestimmt noch ein paar interessante Sachen zu entdecken, oder nicht? Gehen wir erst Mal nach draußen” Sie durchquerten das Labor, vorbei an riesigen Lagerhallen, die alle mit Fässern der Flüssigkeit gefüllt waren. Alles war hell erleuchtet.

Ein paar Stockwerke höher durchquerten sie eine Etage mit weiteren Labors. Überall waren Käfige, in denen Pfützen der grünen Flüssigkeit waren. Auf dem Boden ebenso. Der gleiche Anblick als sie durch die Büroetagen gingen. Als sie die Oberfläche erreichten, brach bereits der Abend herein und die Stadt erstrahlte nun in einer grünen Marmorierung, die sich über alle Häuser und Straßen zog.

Der Anblick war so fantastisch, dass sie beschlossen auf eines der hohen Häuser zu klettern und sich das ganze anzusehen. Sie erreichten die Dachterrasse eines Luxuswohnhauses und setzten sich dort auf eine relativ gut erhaltene Hollywoodschaukel. Sie überblickten die ganze Stadt und vor ihnen war die riesige, gläserne Kuppel, die am hellsten leuchtete. Obwohl es seit Sechzig Jahren jede Nacht das gleiche Schauspiel war, waren sie wohl die ersten, die es je mit eigenen Augen gesehen hatten. Vals Schwert erschien in seiner Hand und pulsierte im gleichen Takt wie die Stadt.

„Sag mal, Bellami” Val hob es in die Luft. „Kannst du mir sagen was es damit auf sich hat? Ich mein; wieso ausgerechnet ein Schwert? Wozu überhaupt so eine Waffe, wenn ich auch ohne sie so mächtig bin?“ Bellami nickte.

„Anfangs war es das vielleicht. Ein zerbrechlicher Kristall aus Terra, in Form eines Schwertes. Es half dir wohl damals mit den Schmerzen umzugehen und dich zu befreien. Du hast es nachdem nicht mehr gebraucht, aber du wolltest dich auch nicht davon trennen. Du hast Monatelang damit experimentiert, wolltest es noch stärker und widerstandsfähiger machen.

Irgendwann konnte es keine mehr Energie aufnehmen ohne noch größer und unhandlicher zu werden. Zusammen haben wir nach einer Lösung gesucht, aber es wollte uns einfach nichts einfallen. Ich hab es dann aufgegeben, weil ich mich um die Stadt kümmern musste. Du aber nicht”

Val schaute sich die Klinge an. Im inneren pulsierte das Symbol für Terra und ein Kreis aus Schriftzeichen rotierte um es herum. Er ließ die Klinge zerbrechen und die Fragmente schwebten anmutig in der Luft. Er veränderte ihre Form und ließ die Splitter umherschwirren wie Glühwürmchen. Es tat immer genau das, was er sich vorstellte. Bellami fuhr fort.

„Du warst dann eine Weile sehr beschäftigt und wir haben uns kaum gesehen. Aber ein paar Monate später hast du es irgendwie geschafft. Du hast es um eine Raumdimension erweitert und konntest es nun mit unendlich viel Energie füllen, ohne dass es größer wird. Naja, nicht ganz. Es ist größer geworden, nur kann man es nicht sehen. Es ist wohl mittlerweile größer als die Erde. Was du hier siehst ist nur der winzig kleine Teil des Schwertes, dem du erlaubst in diesen Dimensionen zu erscheinen. Deswegen kann es auch seine Form verändern und an mehreren Orten gleichzeitig sein, wenn du es willst. Einfach weil es bereits überall ist”

„Eine höhere Raumdimension?“, fragte Val erstaunt.

„Ja, das ist möglich. Stell dir eine Kugel vor auf der ein winzig kleiner Käfer läuft. Für den Käfer ist die Kugel Flach und zweidimensional, weil er so klein ist und nicht darüber hinwegsehen kann. Er kann die Kugel auch nicht verlassen, weil er zu schwach dafür ist. Für ihn ist die Welt eine gerade Fläche. Es gibt links und rechts, vor und zurück aber kein oben und unten. Aber du siehst die Kugel von weiter weg und siehst, dass sie rund und dreidimensional ist. Du kannst jeder Zeit an jeden Punkt der Kugel gelangen einfach weil du überall um sie herum bist. Naja, das ist sehr einfach ausgedrückt aber so in etwa funktioniert das mit den höheren Dimensionen”

„Das heißt, das Schwert ist überall. Und wenn ich es verschwinden lasse, verschwindet es nicht, sondern es rückt einfach nur eine Ebene höher und ich sehe es nicht mehr, richtig?“ Bellami lachte.

„Ja, so ist es. Die Drachen machen es auch so. Vielleicht hat dir Zeraph damals gezeigt, wie das geht. Ich bin erst später darauf gekommen und war schon etwas eifersüchtig, weil du es vor mir kapiert hast” Milena war schon auf Vals Schoß eingeschlafen und Bellami wurde auch langsam müde. Val spielte noch eine Weile mit dem Schwert herum, dann döste er langsam ein. Sie wachten erst am späten Nachmittag wieder auf. Bellami stand auf und streckte seine Gliedmaßen so sehr er konnte.

„WAAAH!“, brüllte er, „Fühlt sich das gut an” Val und Milena wachten ebenfalls auf. Die Mittagsonne brannte wie Feuer auf ihren Gesichtern. Es war sehr warm und die Kuppel reflektierte das Sonnenlicht genau auf sie.

„Jetzt muss ich aber meinen Drachen wiederfinden. Ihr wisst nicht zufällig, wo er ist?“, fragte Bellami, wohl wissend, dass er keine verwertbare Antwort bekommen würde. Die Beiden zuckten nur mit den Schultern. Bellami schaute auf seinen Armreif. Es war nichts zu sehen.

„Ist er auch kaputt?“, fragte Val.

„Nein. Es brauch nur eine Weile bis ich ihn gefunden hab, da die Konzentration von Terra hier so groß ist”

„Du kannst ihn mit diesem Ding finden?“

„Ja, kann ich. Aber nur weil er es zulässt. Diese Funktion ist sehr empfindlich, deswegen ist sie sehr eingeschränkt. Ich frage mich, warum er es überhaupt aktiviert hat” Val schaute zu Milena und dann wieder zu Bellami.

„Vielleicht will er gefunden werden” Bellami kratzte sich am Kopf.

„Nicht besonders typisch für ihn. Naja, vielleicht ist es auch nur ein falsches Signal oder er hat es irgendwo liegen lassen”

„Oder…“, sagte Milena zaghaft. „Er hat dich vermisst und es deswegen eingeschaltet” Bellami schaute nachdenklich auf den Armreif.

Hat er sich so stark verändert? Dachte er. „Naja, finden wir es heraus. Die Position ist nicht sonderlich genau, aber ich denke es wird wohl gehen” Bellami hielt seine Hand in die Luft. „Ich hasse das!“, brüllte er laut und die drei verschwanden.



Ein paar Minuten vorher in den Slums von Marista ...



Ajuki starrte Zeraph tief in Augen. Langsam lief sie zu ihm. Zeraphs Herz schlug in einer bedeutend höheren Frequenz als üblich. Sie lächelte ihn an und streckte ihre Hände nach seinem Gesicht aus. Zeraph versuchte sein kaltes Grinsen zu erhalten, aber das wurde immer schwieriger. Er zog ein Messer und hielt es ihr an die Kehle.

„Was hast du vor?“, flüsterte er drohend, „Ich bin nicht wie Val, der, ohne nachzudenken deinem hübschen Gesicht verfällt. Du weißt ja jetzt, wie es ist, zu sterben. Und ich glaub nicht, dass es dir gefallen hat” Ajuki schaute auf die Klinge herab.

„Töte mich, wenn es dir Freude bereitet. Ich werde immer wieder kommen. Nach tausend Jahren stehe ich nun vor dir” Sie zog seinen Kopf zu sich und küsste ihn. Die Klinge schnitt sich langsam und schmerzvoll durch ihre Haut. Doch sie hörte nicht auf. Zeraph ließ das Messer fallen. Nach ein paar Sekunden ließ sie wieder von ihm ab, schaute ihm in die Augen und lächelte, während ihr das Blut den Hals herabrann.

„Egal was ich getan habe, nichts blieb erhalten. Alles verendete, verkam und verlor sich in der Zeit. Alles”, sie kippte ihren Kopf leicht zur Seite, „Alles... außer dir” Beide sahen sich tief in die Augen. Plötzlich erschienen Val, Milena und Bellami hinter ihnen. Als Val Momo sah, ging er angespannt auf ihn zu.

„Val?“, fragte Momo zurückhaltend und ängstlich. Er rieb sich am Hals, wo er immer noch blaue Flecke von Vals angriff hatte, „Bist du“, er stotterte ängstlich, „wieder normal?“ Val kratzte sich am Hinterkopf. Er hatte das Gefühl er müsse ihm so schnell wie möglich alles erzählen, was ihm passiert ist. Dabei bemerkte er zwar, dass Ajuki auch bei ihnen war, aber er fühlte sich nicht mehr bedroht von ihr.

„Dieser eine Typ”, stammelte Val aufgeregt, „Er hatte Ryu. Ich hab ihn befreit, dann hatte er mich”, er lachte beschämt, „Dann hat er mich verkauft und ich war in einem Krankenhaus oder so. Da war diese unangenehme Frau und diese riesigen Soldaten”, er sprach immer schneller, „D-dann war ich ein einem Raumschiff und als ich aufgewacht bin, war ich bei ihr”, er sah zu Milena, „Dann war ich wieder in Marista und“, Val unterbrach sich selbst als er sich erinnerte wie er Momo fast getötet hat. „Ich … Ich wollte dir nicht weh tun”

Eine Eiseskälte fuhr durch seine Adern. Er hatte seinen besten Freund angegriffen. „Ich hatte diese Kraft und sie hat mich vollkommen eingenommen. Es tut mir so leid”, sagte er hastig und nervös. Momo schwieg und schaute traurig auf den Boden. Während sich die beiden anschwiegen schaute sich Bellami um.

„Ich seh' schon, ich seh' schon. Der Drache hat hier gewütet. Haha!“ Er ging zu Ryu, packte ihn an den Schultern und sah ihm in die Augen. Ryu war wie erstarrt vor Entsetzen, dass der Junge ihn einfach so packt und argwöhnisch mustert.

Zeraph, der mit dem Rücken zu ihnen stand zuckte ein wenig nervös mit den Ohren. Diese Stimme kannte er nur zu gut. Aber er war fest an Ajukis Blick fixiert.

„Was hast du?“ fragte Ajuki vorsichtig. Doch er war wie eingefroren. Bellami musterte Ryu weiter.

„Also wirklich, hier hat sich ja alles verändert. Hast du etwa auch noch mal neu angefangen wie Shezzar? Bin ich denn wirklich der Einzige, der noch so ist, wie früher? Zeraph? Was ist los? Antworte mir!“, sagte er immer lauter und schüttelte Ryu.

„A-aber“, stotterte er. „Ich bin nicht Zeraph, ich bin Ryu” Bellami schüttelte den Kopf.

„Nein, du bist Zeraph, du erinnerst dich nur nicht. Du bist doch ein Drache. Jetzt frag dein Herz wer ich bin. Ich helfe dir. Los, komm, wir gehen nach Aletria”, sagte er aufgeregt und zerrte an Ryus Hand.

„Aletria?“, stotterte Ryu wieder, der kaum Widerstand leisten konnte. „D-du meinst die Silberne Stadt?“

„Silberne Stadt?“ antwortete er herablassend, „Oh Man. Könnt ihr mal aufhören alles umzubenennen? Das nervt langsam”

„Aber ich bin wirklich nicht Zeraph!“, brüllte Ryu auf einmal mutig. „Der steht nämlich da drüben!“, und zeigte mit seiner freien Hand auf Zeraph und Ajuki. Langsam realisierte Zeraph, dass er sich die Stimme nicht nur einbildet und drehte seinen Kopf erwartungsvoll um.

Bellami blieb stehen und schaute rüber zu den beiden. Dann fing er an lauthals zu lachen. Er lachte so heftig, dass er auf die Knie ging, sich den Bauch festhielt und mit der Hand auf den Boden schlug. Als sich Bellamis Antlitz langsam in Zeraphs Blickfeld schob, grinste er so böse, dass selbst Superhelden sich in die Hose gemacht hätten. Bellami rang schon nach Luft.

„Ich glaub es nicht. Fast hätte ich dich mit diesem Jungen verwechselt” Zeraph lief wie hypnotisiert zu ihm. Bellami stand auf und ging ebenfalls auf ihn zu. Währenddessen musterten sie einander. Beide grinsten so argwöhnisch, dass jedem klar war: Hier bricht gleich die Hölle los.

„Hey Drache!“, brüllte Bellami laut. Zeraph knirschte mit den Zähnen.

„Hey, Kleiner” grummelte er. Sie blieben einen Meter voreinander stehen und schauten sich grimmig ins Gesicht.

„Wen nennst du hier kleiner”, sagte Bellami, „Du warst mal 30 Meter groß und jetzt. Pah!“

„So? 30 Meter? Wieso werde jedes Mal kleiner, wenn du meine Größe abschätzt? Ich kann dir gerne zeigen, dass ich noch genau so groß bin wie vorher” Alle starrten erschrocken zu ihnen. Es brach eine belastende, ernste Stille herein. Bellami versschränkte die Arme und fing an gelangweilt in die Luft zu schauen.

„Erklärst du mir, wieso dieser Junge das Drachenfeuer besitzt?“, fragte Bellami stumpf und gelangweilt.

„Nein”, antwortete Zeraph kalt. „Geht dich doch nix an”

„So so. Der Moderne Herr ist also heutzutage in seiner Menschlichen Form unterwegs, ja?“, sagte Bellami etwas spottend.

„Es hat gewisse ... Vorteile” Bellami überlegte kurz.

„Das brauchst du mir nicht zu sagen” Es trat eine bedrückende Stille ein, in der beide einander kalt in die Augen schauten. Doch die harten Mienen lösten sich urplötzlich und selbst dem grimmigen Zeraph entfuhr ein warmes Lächeln. Bellami kratzte sich verlegen am Hinterkopf.

„Ich war ganz schön lange weg, was?“ Zeraph nickte nur. Ajuki ging zu den Beiden.

„Zeraph, wer ist das?“, fragte sie schüchtern.

„Hmmm ... Wie ich soll dich vorstellen?“, fragte er und schaute Bellami ahnungslos an.

„Wie wäre es mit..”, Bellami überlegte kurz. “Euer Gott? Der mächtige Herrscher Aletrias. Bellami Makalan!“

„Gott?“, fragte Ajuki entsetzt.

„Ja das mit dem Gott ist jetzt aber neu”, fügte Zeraph bestätigend hinzu. „Damals hatte es ihm gereicht, König genannt zu werden”, Bellami nickte.

„Ja klar. Da Keara und Shezz‘ kläglich versagt haben. Ich mein..”, er holte tief Luft. „Du wirst ein Mensch und Alexander..”, er hielt nachdenklich inne. „Was ist eigentlich mit ihm?“ Zeraph lachte laut.

„Lass uns nach Aletria gehen. Du wirst es nicht glauben. Es ist einfach zum Totlachen”

„Oh, man. Da ist man mal ein paar Tage nicht im Lande, schon geht alles den Bach runter”, sagte Bellami und schmunzelte. „Also dann. Gehen wir” Zeraph nickte und bestellte sich über seinen Armreif ein Shuttle. Aus einer finsteren Gasse lugten derweil zwei Typen hervor, die das Geschehen die ganze Zeit beobachtet haben. Ein kleiner Lichtblitz leuchtete am Himmel auf, dann donnerte es kurz und wenige Sekunden später landete ein Hausgroßes Flugzeug geschmeidig auf dem Platz vor dem Waisenhaus. Eine Schleuse öffnete sich und Zeraph stieg ein. Ajuki folgte ihm. Bellami drehte sie zu den anderen.

„Will sonst noch jemand mit?“ Fragte er in die Runde. Val schaute zu Momo, der die ganze Zeit kein Wort gesagt hat. Er reichte ihm seine Hand, doch Momo reagierte nicht. Val sah ihm traurig und schuldfühlend an.

„Wir gehen mit ihnen”, sagte Val leise. Momo reagierte wieder nicht. Val nahm Milena an die Hand und sie stiegen in das Schiff. Ryu lief ihnen nach, doch Momo hielt seinen Arm fest. Er kniete sich zu ihm herab und schaute ihm in die Augen.

„Willst du uns jetzt auch verlassen?“, fragte er bedrückt.

„Komm doch auch mit”, antwortete Ryu gelassen und lächelte. Momo schüttelte den Kopf.

„Ich kann nicht einfach gehen. Immerhin muss ich auf die anderen aufpassen” Bellami beobachtete die beiden und versuchte ein bisschen mitzuhören.

„Wie kannst du denen überhaupt vertrauen? Du kennst die gar nicht. Die könnten sonst was mit dir anstellen”, sagte Momo vorwurfsvoll. Ryu nickte.

„Das stimmt schon. Aber ich glaub mir geht es wie Val. Ich muss raus aus dieser ekelhaften Stadt. Und ich weiß, dass du es auch willst”

„Was ich will spielt keine Rolle. Es kommen ständig neue Waisen hier her. Ich kann hier nicht weg” Bellami ging zu ihnen.

„Ihr könnt alle mitnehmen. Wir haben genug Platz”, bot er ihm freundlich an. Momo schüttelte wieder den Kopf.

„Das ist sehr nett von dir. Aber ich muss hierbleiben und mich um die anderen Kümmern. Dann geh halt mit ihnen, Ryu. Vielleicht findest du, was du suchst” Bellami runzelte die Stirn. Dann nahm er seinen Armreif ab.

„Damit kannst du jederzeit Kontakt zu uns und zur Stadt aufnehmen. Wenn du irgendwas brauchst, denk einfach nur daran. Du bekommst alles” Momo nahm es entgegen und legte es sich an.

„Ich hätte gern etwas zu essen” Sagte er einfach nur so. Bellami lachte und ging dann ins Schiff, ohne sich zu verabschieden. Kurz darauf hob das Schiff ab und verschwand in der Ferne. Momo wollte gerade wieder zurück ins Waisenhaus gehen, da donnerte es wieder und es landete ein anderes, kleineres Schiff direkt vor ihm und öffnete sich.

Mutig betrat er es und schaute sich um. Es war nichts weiter drin bis auf eine große Truhe, auf der Momos Name stand. Etwas misstrauisch schaute er sie an, dann lösten sich vier Klemmen, die die Truhe am Boden fixierten. Sie fing an zu schweben und bewegte sich langsam und elegant aus dem Schiff. Momo folgte ihr bis sie letztendlich vor der Tür des Waisenhauses zum Stehen kam. Er tippte mit seinem Finger auf eine grün leuchtende, glatte Fläche und die Truhe öffnete sich. Sie war gefüllt mit Lebensmitteln und Leckereien. Aufgeregt inspizierte er alles und rief die anderen herbei. Alle waren aus dem Häuschen und brachten die Kiste zusammen in das Gebäude. Das Schiff stand noch immer mit offener Luke da.

Zwei seltsame Gestalten, die sich die ganze Zeit in der dunklen Gasse versteckten und das Treiben beobachtet haben, zögerten nicht lang und versteckten sich im Frachtraum des kleinen Schiffes.

Während er das Shuttle Richtung Aletria steuerte, dachte Bellami an die Zeit in der er Zeraph, Shezzar und Alexander kennenlernte.

Kapitel 10

Das Kind und der Drache

Vor sehr langer Zeit in einer anderen Welt…

Ein markerschütternder Schrei hallte durch die langen Flure eines großen Schlosses. Die Königin gebar gerade ihr zweites Kind. Wie ein wahnsinniger rannte der junge Prinz durch das Schloss, um zu erleben, wie ihm ein kleines Brüderchen oder Schwesterchen geschenkt wird. Ein fünf Jahre alter Junge, mit blonden, lockigen Haaren und seidenen Adelsgewändern. Der erstgeborene Sohn des Königs und somit Thronerbe, Bellami Makalan.

Seine smaragdgrünen Augen funkelten erwartungsvoll und aufgeregt. Auf seinem blassen Gesicht glühten die Wangen rot und sein breites, ausgelassenes Lächeln prahlte mit viel zu großen Zahnlücken. Er erreichte die Gemächer seiner Mutter, doch die Wachen ließen ihn nicht rein. Aufgeregt lief er den Flur auf und ab.

Nach einer Weile verstummten die Schreie. Langsam öffnete sich die schwere Holztür. Ein großer, fein gekleideter Mann mit einem vollen Bart und einem charakterstarkem Gesicht, verließ mit trauriger Mine das Zimmer und schloss die Tür wieder hinter sich. Es war sein Vater, Horim Makalan, König des Landes Calladria. Er kniete sich herab zu seinem Sohn und schaute ihn traurig an.

„Bellami”, sagte der König leise und hielt den Jungen fest an den Schultern. „Deine Mutter …“ Bellami schaute ihn sorgevoll in die Augen.

„Was ist mit ihr?“

„Sie ist…“, er holte tief Luft, „tot” Antwortete der König, stand auf und ging. Bellami war fassungslos und verstand die Welt nicht mehr. Er verlor sich in Erinnerungen an seine liebevolle und fürsorgliche Mutter und ertrank in dem Schmerz, dass es sie nun nicht mehr gibt.

Doch es riss ihn etwas wieder aus dieser Trance heraus: Die Schreie eines neugeborenen Kindes. Bellami stand auf, schlug die Tür auf und sah eine Zofe, die ein, in Decken eingewickeltes, neugeborenes Kind in den Armen hielt. Sie lächelte ihn an und kniete sich zu ihm herab.

„Mein Prinz, darf ich euch vorstellen: Eure kleine Schwester, Prinzessin Relia” Bellami war so aufgeregt und glücklich, dass er den leblosen Körper seiner Mutter auf dem Bett nicht einmal wahrnahm. Der König hingegen verfiel in eine tiefe Depression, die das ganze Land in eine dunkle Zeit mitriss.

Fünf Jahre vergingen. Bellami übernahm die Rolle seines unfähigen Vaters, seine Schwester groß zu ziehen und im Land für ein klein wenig Hoffnung zu sorgen. König Horim hingegen betrank sich den ganzen Tag und ließ seinen Frust an vermeintlichen Spionen aus, die er mit Freude und großer Grausamkeit folterte.

Bellami blühte auf in seiner Rolle als fürsorglicher großer Bruder und wurde mit seinen gerade einmal 10 Jahren schon als hoffnungsvoller Thronfolger gehandelt. Er hatte ein großes Talent, die Geschäfte in seinem Land zu organisieren, sich um die Bedürfnisse seines Volkes zu Kümmern und sogar diplomatische Angelegenheiten in Angriff zu nehmen.

Er genoss große Bewunderung und Anerkennung im Volk und sogar im Adelsstand. Relia gab ihm viel Kraft den Tod seiner Mutter zu überwinden und weiter vorwärts zu gehen. Mit dem König hingegen wurde es immer schlechter. Er widerrief viele Sachen die Bellami veranlasst hatte, weil er der Meinung war, es dürfe dem gemeinen Pöbel nicht zu gut gehen und ließ die meisten Gelder lieber in den Adel fließen, statt in die Modernisierung der Städte.

Trotz seiner Beliebtheit im Volk konnte Bellami sich keinesfalls gegen das Wort des Königs stellen. Denn auch wenn der Adel den Prinzen anerkannte, so war der König immer noch das saftigere Stück Fleisch, das diese Parasiten am Leben hielt. Ein falsches Wort an den König und man konnte seinen Stand verlieren und in der Gosse landen. Keiner von denen hätte das riskiert.

Widerwillig fügte sich Bellami diesen Idealen, versuchte aber immer wieder geschickt die Forderungen des Königs so ausführen zu lassen, dass es das Volk nicht allzu schwer traf. Doch diese Bemühungen waren wie ein Tropfen auf den heißen Stein.

In all der Zeit, die Bellami die letzten fünf Jahre auch mal für sich selbst hatte, verlor er sich gern mal in Studien über die mysteriösen alten Drachen, die von vielen Völkern als Symbol der Weisheit und Ewigkeit galten, von ihnen aber auch gefürchtet waren. Trotz der unzähligen Horrorgeschichten über Angriffe von Drachen, brachte Bellami ihnen eher Bewunderung entgegen als Angst.

Nur sehr selten bekam man einen Drachen zu Gesicht. Und wenn, dann war es meistens das letzte was man in seinem Leben sah. Es hielten sich Gerüchte, dass es Magier gab, welche die Drachen herbeirufen können. Andere Gerüchte besagten die Magier selbst seinen jene Drachen, die ihre Gestalt ändern können.

Dieser Mythos verschlang manchmal ganze Wochen seiner Zeit, in der er nichts anderes tat als in der Bibliothek zu sitzen und Bücher zu verschlingen. Er war so besessen davon, dass er heimlich Ritualen beiwohnte, die angeblich einen Drachen beschwören sollen. Doch nie passierte etwas. Bellami begriff, dass das meiste von dem was er las, ersponnen und erlogen war. Angebliche Augenzeugen berichteten, dass sie groß wie Städte sind und so schwarz, dass sie das Licht verschlingen.

Ihr Feuer brennt so heiß, dass sie ganze Landstriche in wenigen Minuten ausradieren können. Ihre gewaltigen schwingen können die Sonne verdunkeln und ein einziger Flügelschlag soll schon ganze Festungen aus dem Fels gerissen haben. Nur seine kleine Schwester war mit ihrem lieblichen Wesen dazu in der Lage, ihn zumindest eine Zeit lang von dieser Obsession zu befreien.

Ein weites Jahr verging. In der Nacht vor seinem elften Geburtstag sollte sein glückliches Leben mit einem Schlag ein jähes Ende nehmen. Der König trat eines Nachts lauthals die Tür zu seinem Zimmer ein und ging wutentbrannt nach nebenan in das Zimmer von Relia. Das Knallen der Tür holte Bellami sofort aus dem Schlaf.

Der König riss das hilflose Kind aus dem Bett, packte sie am Hals und erdrosselte sie. Bellami schrie vor Entsetzen und versuchte ihn aufzuhalten. Doch er wurde von seinen eigenen Wachen festgehalten und musste zusehen wie seiner geliebten Schwester grausam das Leben entrissen wurde.

„Du hast mir meine Geliebte Angelica genommen. Ich hasse dich!“, brüllte König Horim voller Zorn das Kind an, während er immer fester zudrückte, bis ihr Lebenslicht schließlich erlosch. Dann ließ der König los und ihr lebloser Körper fiel auf den Boden.

Bellamis Welt zerbrach erneut. Doch er verzog keine Miene. Er hatte gerade zum zweiten Mal den wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren und nun fühlte er den Schmerz nicht einmal mehr. Die Wachen ließen von ihm ab und der König verließ den Raum. Die Tür schlug hinter ihm zu und es war als wäre nichts passiert. Langsam stand er auf und ging ins Zimmer nebenan.

Er kniete sich vor dem Körper seiner Schwester herab, nahm sie hoch und legte sie aufs Bett. Er schloss ihre Augenlieder, zog die Decke über sie und legte eine Rose darauf ab. Eine einzelne Träne rann einsam seine Wange herab als er leise die Worte Auf Wiedersehen flüsterte. Etwa eine halbe Stunde lang saß er neben ihr und hielt noch ihre Hand.

Lange überlegte er ob er die Drachen in einem Gebet um Hilfe bitten solle. Doch das lehnte er ab. Er nahm die Petroleumlampe vom Nachttisch und zündete ihr Bett an. Dann ging er wieder in sein Zimmer und kramte in der Schublade nach einer Phiole mit einer grauen, trüben Flüssigkeit, die er sich im Heilkundeunterricht zusammengebraut hat. Gelassen verließ er das Zimmer und ging Richtung Gemächer des Königs. In einem langen Korridor traf er auf zwei Wachen.

„Wo willst du hin?“ Wurde er von einem der Wachen gefragt. „Wenn du dich am König rächen willst, werden wir dich töten” Bellami schüttelte den Kopf.

„Ich glaube es brennt”, sagte er gelassen. Der Wachmann hielt seine Nase in die Luft und bemerkte, dass es seltsam verbrannt roch. Die Beiden sahen sich an. Bellami wurde ungeduldig.

„Was ist wichtiger? Den König vor einem kleinen Jungen zu beschützen oder vor einer unerbittlichen Feuersbrunst?“, fragte er herablassend. Daraufhin liefen sie los. Bellami betrat das Schlafzimmer des Königs und schloss die Tür hinter sich ab.

Er stand ein paar Minuten regungslos vor seinem Bett und schaute ihm ins Gesicht. Er zog die Phiole aus seiner Tasche und träufelte die Flüssigkeit auf die Lippen des Königs. Wieder wartete er einige Minuten, dann stieg er aufs Bett und ohrfeigte ihn bis er aufwachte. Entsetzt und wütend richtete sich der König auf und packte Bellami am Hals.

„Ich wusste, du würdest versuchen mich zu töten. Aber ich dachte, du wärst schlauer”, grummelte der alte Mann, während er immer fester zudrückte. Doch Bellami grinste nur.

„Wieso lachst du?!“, brüllte der König und verlor plötzlich die Kraft in seinen Händen. Er fiel wie ein nasser Sack zurück aufs Bett.

„Ich… ich kann mich nicht mehr bewegen” Stotterte er. Bellami rieb sich kurz den Hals und stieg wieder vom Bett herab. Er grinste noch immer.

„Ich hab viel gelernt im Heilkundeunterricht”, er fing an zu lachen und zündete das Laken an. Er hielt ihm die Phiole vor das Gesicht. „Das ist eine Medizin, die deine Muskeln entspannt, damit dein Blut wieder ungehindert fließen kann. In deinem Falle dient es zu meinem Schutz, sodass ich in Ruhe mit dir sprechen kann während du verbrennst” Er machte eine kurze Pause damit der König realisieren konnte, was gerade mit ihm passiert. Währenddessen goss Bellami ein wenig Wasser über das Bett.

„So braucht das Feuer ein wenig länger zu dir und wir haben genug Zeit, alles zu besprechen” Bellami setzte sich auf einen Stuhl neben das Bett. „Wie du dir sicher denken kannst, fand ich es nicht besonders schön, dass du vor einer halben Stunde meine kleine Schwester umgebracht hast. Versteh das aber bitte nicht als Akt der Rache. Das hätte sie wirklich nicht gewollt. Der Grund, warum ich das tue ist viel mehr zu deinem eigenem besten. Du bist für das Leben nicht mehr stark genug. Du hast Mutters Tod nie überwinden können. Hättest du Relia so wie ich gesehen, wäre aus dir vielleicht noch etwas geworden. Stattdessen hast du dich in deinem Hass und deinem Selbstmitleid verloren und alles zu Grunde gerichtet”

Langsam verdampften die Flammen das Wasser in den Laken und fraßen sich immer weiter nach oben. „Nun mein lieber Vater” Er beugte sich anmutig über ihn. „Du sollst wissen, dass ich dich trotz alledem liebe und dir auch den Mord an meiner Schwester vergebe. Aber leider kann ich nicht zulassen, dass du dein Königreich weiterhin mit deinem Dasein tyrannisierst. Ich weiß, dass dein bevorstehender tot nicht unbedingt ein schöner sein wird. Das tut mir wirklich leid, aber ich muss sichergehen, dass du genug Zeit hast, über alles in Ruhe nachzudenken, während du dieser Welt entschwindest. Aber sei unbesorgt”

Bellami lehnte sich wieder zurück. „Ich werde dich auf diesem schweren Weg begleiten, so wie du Mutter damals beigestanden bist” Er stand auf und öffnete alle Fenster damit der Rauch abziehen konnte. Die Flammen reichten immer weiter hoch und fingen an des Königs Haut zu verbrennen. Er konnte sich weder bewegen noch schreien.

„Ich habe nicht die Absicht dir unnötig starke Schmerzen zu zufügen, so wie du es bei deinen Folterkandidaten immer gern getan hast. Deswegen habe ich der Tinktur etwas Blauwurzelsaft hinzugefügt, damit deine Schmerzen nicht ganz so unerträglich sind” Wenig später stand das Bett vollkommen in Flammen. Wieder rann Bellami eine einzelne Träne die Wange herab.

„Auf Wiedersehen mein lieber Vater”, sagte er demütig und verließ das Zimmer. Er nahm sich einen dicken Filzmantel, zog ihn sich über und verließ das Schloss. Er lief in die Stadt und verkroch sich in einer dunklen Gasse. Er hockte sich an die Wand, umschloss seine Beine mit den Armen und fing an entsetzlich zu weinen. Bellami wusste, dass er sehr stark sein musste, aber dies war ein Akt des Lebewohl-Sagens, den er sich nicht nehmen lassen wollte. Es befreite ihn ein wenig von seiner Sehnsucht, seine kleine Schwester lebendig in den Armen haben zu wollen und seinem Vater wieder Lebensfreude zu geben. Er akzeptierte, dass alles vorbei war und er sein Leben von nun an anders bewältigen musste.

„Willst du deine kleine Schwester nicht zurück?“, erklang eine weiche, weibliche Stimme. Bellami hob den Kopf und schaute auf. Vor ihm stand eine große Gestalt in einer langen Robe und einer Kapuze über dem Kopf. Er sah nur ihre weiß schimmernden Augen, die ihn anstarrten. Ein paar leichte Konturen an der Robe wiesen darauf hin, dass es sich um eine weibliche Gestalt handelte. Er schüttelte den Kopf.

„Man soll sich Tote nicht ins Leben zurückwünschen. Das ist eine Lehre der Drachen” Antwortete er leise und schniefte.

„Du bist sehr weise für ein Kind”, erwiderte die Frau. „Hast du sonst irgendeinen Wunsch, den ich dir erfüllen kann?“ Bellami überlegte kurz.

„Ich möchte so gern…“ er atmete tief ein. „…einen Drachen … sehen … oder … kennenlernen” Die Frau lachte laut.

„So einen Wunsch hab ich noch nie gehört” Eingeschüchtert vergrub Bellami den Kopf in seinen Armen.

„Also gibt es sie gar nicht. Das sind alles nur Märchen, stimmt‘s?“ Murmelte er. Wieder lachte die Frau.

„Natürlich gibt es sie. Sie haben diese Welt nur vor einer Weile verlassen” Bellami schaute auf.

„Die Welt verlassen? Wie soll das gehen?“ Die Frau verschränkte die Arme.

„Alle Welten sind miteinander verbunden. Die Drachen reisen gerne zwischen ihnen umher. Für sie hat Zeit keinerlei Bedeutung. Sie leben ewig. Nun“, sie machte eine Pause, „ist es wirklich dein innigster Wunsch einen Drachen zu treffen?“ Bellami nickte voller Erwartung.

„Das ist im Prinzip sehr einfach. Allerdings leben sie, wie ich bereits sagte, in einer anderen Welt. Das heißt, du musst diese Welt dafür verlassen und in eine völlig fremde reisen” Wieder nickte Bellami freudig. Er schaute noch einmal hoch zum Schloss, das gerade bis auf die Grundmauern niederbrannte.

„Es gibt nichts mehr, was mich noch an diese Welt binden würde”

„Nun denn”, die Frau legte ihre Hand auf Bellamis Kopf. „Ich hab da jemanden ganz spezielles für dich” Sagte sie und lachte wieder laut. Kurz darauf verlor Bellami das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, saß er immer noch an einer Wand in einer dunklen Gasse. Es war wohl doch nur das wirre Geschwätz einer seltsamen Frau, die nachts umherirrte und nichts mit sich anzufangen wusste, dachte er sich. Doch als er sich genauer umsah, fiel im auf, dass er sich nicht mehr in seiner Heimatstadt befand.

Die Häuser sahen anders aus, die Straßen waren nicht aus Pflasterstein, sondern aus einem seltsamen, glatten, schwarzem Belag. Es war Nacht und dennoch war es sehr hell. Viele Leute waren auf der Straße, hatten seltsame Kleidung an und redeten mit kleinen Kästchen, die sie sich ans Ohr hielten. Er lief umher und sah Pferdekutschen, die sich ohne Gespann bewegten, leuchtende Schilder und gläserne Gebäude, die viel höher in den Himmel ragten als der höchste Turm seines Schlosses. Er war tatsächlich in einer anderen Welt.

Er lief weiter und weiter, doch es dauerte mehr als zwei Stunden, bis er das scheinbare Ende der Stadt erreichte. Er hatte noch nie eine solch gigantische Stadt gesehen, mit so seltsamen Menschen und Vehikeln. Je näher er der Stadtgrenze kam desto dunkler wurde es. Die Frau hatte ihn nicht belogen und ihn tatsächlich in eine andere Welt gebracht. Doch von dem versprochenen Drachen war keine Spur. Wie sollte er ihn denn bloß finden? In dieser riesigen Welt.

Er erreichte ein verlassenes Fabrikgelände und versuchte dort rast zu machen, bis das Tageslicht ihm ein besserer Gefährte sei als die Dunkelheit. Doch er konnte nicht schlafen. Er fühlte sich beobachtet und hatte ein komisches Gefühl, dass irgendwas Riesiges in der Nähe ist. Wie aus dem Nichts ging in der Nähe plötzlich ein einzelner Blitzschlag nieder.

Für den Bruchteil einer Sekunde war das Gebiet um ihn herum hell erleuchtet und er sah die Umrisse des hausgroßen Kopfes, einer noch viel größeren Kreatur, etwa 10 Zentimeter vor seinem Gesicht, dessen Augen ihn konzentriert anstarrten. Dann war es wieder stockfinster. Bellami gefror das Blut in den Adern. Er hatte keine Ahnung, was er da vor sich hatte, aber er wusste, dass er es wohl bald auf unangenehme Weise erfahren würde.

Schließlich hatte er sich nur gewünscht einen Drachen zu treffen aber nicht, dass dieser gefälligst auch nett zu ihm sein sollte. Ein paar Sekunden, die sich wie Stunden anfühlten, starrte Bellami in die Dunkelheit mit der Hoffnung, dass das, was er gerade vor sich sah, nur eine ungeschickte Interpretation seiner Umgebung war.

Der Himmel war sternenklar und es war unmöglich, dass hier irgendwo ein Blitz nieder geht. Es war wohl nur sein übermüdeter Geist, der ihm einen Streich spielte. Natürlich könnte er einfach seinen Arm ausstrecken, um festzustellen ob es wirklich da war oder nicht. Doch die Motivation dafür verlor sich in dem erdrückenden Gefühl, dass es die Kreatur, sollte sie keine Einbildung sein, nur wütend machen könnte.

Vor ihm begannen Augen kirschrot zu glühen, die so groß waren, wie die Buntglasfenster der Kirche und er erahnte die erschreckenden Ausmaße dieser Gestalt. Dann verschwand sie urplötzlich und ein Mann in schwarzen, eng geschnittenen Lederklamotten und denselben rotglühenden Augen stand vor ihm.

„Du bist nicht von hier. Ich weiß, wer du bist”, sagte der Mann unvermittelt. Bellami brachte kein Wort über die Lippen.

„Wieso bist du hier? Wie bist du mir gefolgt?“, fragte der Mann grimmig.

„Ich … ich. Da war diese Frau mit den weißen Augen”, stammelte Bellami ängstlich.

„Was? Nicht die schon wieder”, brüllte der Mann. „Was hat sie gesagt? Was hast du dir gewünscht?“, fragte er eindringlich und starrte Bellami wütend in die Augen, während er ihm immer näherkam, bis seine Stirn, die von Bellami berührte.

„Ich … wollte … einen Drachen … kennenlernen. Sie sagte, die Drachen sind fort und dass sie mich in eine andere Welt bringt”, stotterte Bellami.

„Und du hast einfach so ja gesagt? Du hast deine Heimat einfach so verlassen, weil eine Frau mit weißen Augen dir gesagt hat, dass du dann die Drachen findest? Wie naiv bist du?“ Bellami drückte ihn mutig von sich weg.

„Aber es hat doch funktioniert. Der Drache steht doch genau vor mir” Der Mann konnte ihm gerade nicht mehr widersprechen.

„Wieso hast du der Frau einfach so vertraut?“, fragte er wieder etwas gelassener. Bellami zuckte mit den Schultern.

„Mir war das vollkommen egal. Ob sie die Wahrheit sagt oder nicht, spielte für mich keine Rolle. Ich wollte nur, dass irgendwas passiert” Bellami verbeugte sich vornehm. „Bitte, ehrenwerter Herr Drache. Würden sie mir ihren Namen verraten? Ich heiße Bellami Makalan, Prinz von Calladria”

„Ich weiß, wer du bist”, sagte der Mann herablassend. „Bis vor kurzem lebten wir noch in der Welt, aus der du kommst” Er beugte sich zu ihm herunter. „Mein Name ist Zeraph Darthas” Bellami schaute erschrocken auf.

„Den Namen hab ich schon mal irgendwo gelesen” Er dachte kurz nach. „Das meinte sie mit Ich hab jemand ganz spezielles für dich. Du bist nicht irgendein Drache. Du bist …“

„Der König der Drachen”, antwortete Zeraph. „Ganz richtig. Und ich bin ehrlich gesagt ein wenig entsetzt, dass du so viel über mich weißt” Bellami kratzte sich am Kopf.

„Naja, mehr weiß ich wirklich nicht. Aber es freut mich unglaublich dich kennenzulernen … Herr … Darthas” Bellami schwieg verhalten.

„Sag einfach Zeraph. Das ist schon okay. Wir sind hier in einer moderneren Welt. Da ist man nicht mehr höflich zueinander” Bellami lächelte erleichtert.

„Okay … Zeraph. Was ist denn das hier für eine Welt? Und wer war diese Frau? Du kennst sie, nehm‘ ich an” Zeraph schaute in den klaren Sternenhimmel.

„Diese Welt ist deiner sehr ähnlich. Nur sind die Menschen hier etwas weiterentwickelt. Sie benutzen Chemische und Elektrische Reaktionen als Energiequellen. Sie kommunizieren über elektromagnetische Signale, die sie über die Luft übertragen. Das bedeutet sie können überall auf der Welt zur selben Zeit miteinander sprechen” Begeistert hörte Bellami ihm zu.

„Und was hat es mit dieser Frau auf sich?“

„Keara“, sagte er leise, „sie ist eine andere Form von Existenz. Sie hat es sich scheinbar zur Aufgabe gemacht, Menschen Wünsche zu erfüllen. Sie hat große Macht in dieser Welt und wird von denen, die ihr begegnen als Gottheit verehrt. Für uns sind es eher lästige Geister, die wir Nyx nennen” Zeraph stand auf. „Naja. Ist das alles was du wolltest? Ich geh dann mal” Bellami lief ihm nach.

„Warte! Ich weiß doch gar nicht, was ich tun soll” Zeraph zuckte mit den Schultern.

„Du hast doch bekommen was du wolltest. Jetzt musst du damit klarkommen”

„Nein, hab ich nicht!“, brüllte er ihm wütend nach. Zeraph blieb stehen und funkelte ihm grimmig entgegen.

„Oh doch, dass hast du!“, schrie er. „Du wolltest einen Drachen kennenlernen, hier bin ich!“

„Du bist nur irgendein Typ, der sagt, er sei ein Drache. Aber gesehen hab ich keinen”, antwortete Bellami schnippisch. Zeraphs Blut kochte. Seine Augen glühten rot und er packte ihn am Kragen.

„Du willst also einen Drachen sehen?“, brüllte er ihm ins Gesicht. „Da hast du, was du willst!“ Plötzlich war da eine Fußballfeld-große, furchteinflößende Kreatur, die schnaufend und zähnefletschend vor ihm stand. Allein sein Kopf war so groß wie die Kirche in dem kleinen Dorf hinter seiner Heimatstadt.

Die Augen des Drachens glühten so hell, dass es die ganze Gegend ausleuchtete. Er stand auf vier Beinen, an deren Enden bedrohlich große Klauen hervortraten. Er könnte ohne Anstrengungen ein ganzes Reiterheer mit einem einzigen hieb in Stücke reißen. An den Zähnen, die elfenbeinfarbenen Bäumen glichen, loderten blutrote Flammen empor. Seine Haut war pechschwarz, matt und zäh. Er hatte keine Schuppen, wie es in vielen Büchern stand. Die Haut war warm und von sehr feinen, rotglühenden Äderchen überzogen. Sein langer Schweif reichte bis zum anderen Ende des Fabrikgeländes und mit seinen riesigen Flügeln, die hinter seinen Schultern waren, konnte er fast den gesamten Stadtteil überdecken.

Alles in allem schien es absolut unmöglich, dass so eine überdimensionale Kreatur, schon allein aus physikalischen und biologischen Gründen, weder existieren, geschweige denn leben könne. Aber genau das war der Fall. Es war genauso real wie die riesigen Gebäude, die pferdelosen Kutschen und der Boden unter seinen Füßen. Bellami bewegte sich keinen Millimeter, egal wie sehr ihn der Drache anbrüllte, schnaufte und stampfte, dass der Boden unter seinen Füßen bebte.

Er fing auf einmal an, erleichtert und fröhlich zu lächeln. Dann ging er in den Ausfallschritt, holte mit der Faust aus und schlug ihm mit aller Kraft auf die Nase. Bellami lachte laut. „Ein Ritter hat keine Angst”, schrie er. „Bellami kniet vor niemandem” Er ließ sich auf den Boden fallen und kicherte. Kurz darauf stand Zeraph wieder als Mensch vor ihm und schaute verwundert zu dem seltsamen Jungen herab. Langsam zeichnete sich eine Art lächeln auf seinem Gesicht ab. Dann fing Zeraph an laut zu lachen. Er ließ sich neben ihm in Gras fallen und schaute zu den Sternen auf.

„Hast du gar keine Angst vor mir in meiner echten Gestalt?“ Bellami streckte seinen linken Arm in die Luft und ließ ihn auf Zeraphs Stirn fallen.

„Ich hab mir fast in die Hose gemacht. Aber es war so beeindruckend. Außerdem war es mir auch egal. Ich hab niemanden mehr, weder hier noch in der anderen Welt. Und all meine Wünsche wurden erfüllt” Zeraph schwieg kurz.

„Du bist sehr mutig. Doch Gleichgültigkeit führt dich in den Wahnsinn”

„Du hast schon Recht, aber mir bleibt nichts anderes mehr. Jetzt sitze ich in einer Welt fest, in der ich mich nicht zu Recht finde. Ganz allein. Und ohne Antrieb”

„Dann such dir doch einen Antrieb. Du warst in deiner Welt ein Prinz, ohne etwas dafür getan zu haben. Jetzt kannst du in dieser Welt ein König sein und sie dir so gestalten, wie du es magst. Es liegt in deiner Hand” Bellami überlegte.

„Zusammen mit meinem besten Freund, dem Drachen”, sagte er und kicherte verlegen. Beide schwiegen. Zeraph richtete sich auf.

„Ich bin allein hierhergekommen. Ich wollte eigentlich die nächsten zweitausend Jahre schlafen und dann sehen, wie die Menschen diese Welt verändert haben. Aber ich glaub, ich werde meine Pläne ändern”

„Wie meinst du das?“, fragte Bellami und richtete sich ebenfalls auf.

„Ganz einfach: Ich werde dich begleiten, auf deinem Weg König zu werden und diese Welt nach deinem Sinne zu gestalten”

„Das freut mich. Aber wieso auf einmal?“

Zeraph grinste böse. „Normalerweise fresse ich Menschen. Die sind sehr Proteinhaltig und gut für die Haut”

„Was, echt jetzt? War das die Antwort auf meine Frage?“, fragte Bellami völlig entsetzt.

„Hmm, ja aber nur manchmal. Die machen dann immer gleich so einen Aufstand, weißt ja: Drachenjäger und so ein Humbug”, sagte er ernst und emotionslos.

„Na … Okay… Ich mein, solang du mich nicht fressen willst”

Zeraph lachte laut. „Oh je, du glaubst auch jeden Mist. Ich brauch nichts zu essen”

Bellami schaute ihn grimmig an. Er spannte seinen Zeigefinger hinter seinem Daumen und schnippte ihn gegen Zeraphs Stirn. „Das ist dafür, dass du mir Angst machen wolltest” Dann lächelt er wieder. „Aber du bist riesig, du brauchst doch Unmengen an Energie”

„Ich könnte das jetzt alles erklären. Aber dazu hab ich keine Lust. Stattdessen will ich dir ein Geschenk machen. Aber dazu musst du noch einmal auf deinen großen Mut zurückgreifen” Bellami schaute ihn mit großen Augen an und nickte. Wieder glühten Zeraphs Augen rot und eine Sekunde später stand er wieder als Drache vor ihm.

Er öffnete sein Maul und die roten Flammen loderten immer heftiger. Bellami versuchte ruhig zu bleiben und sein Vertrauen in Mut zu verwandeln. Der Drache hob seinen Kopf und spie eine Brunst aus blutroten Flammen auf ihn. Das alte Fabrikgebäude hinter ihm löste sich innerhalb von Sekunden zu Asche auf und der Boden unter Bellami verflüssigte sich. Das ganze Gebiet versank in einem Meer aus rotem Feuer und leuchtete so hell, dass man es von der Nachbarstadt aus sehen konnte. Nach einer Minute war alles vorbei. Bellami lag erschöpft auf dem Boden.

Zeraph war wieder in seiner Menschlichen Gestalt, ging mit den Händen in den Hosentaschen zu ihm und beugte sich über ihn. Er lächelte kurz, dann reichte er Bellami die Hand, um ihm auf zu helfen. Als Bellami ihm seine Hand reichte sah Zeraph etwas auf seinem Handrücken, was ihm nicht zu gefallen schien. Er half ihm Auf, lies seine Hand aber nicht los. Stattdessen schaute er sie sich genau an.

„Seit wann hast du das?“, fragte er in einem beängstigenden Ton.

„Seitdem ich hier bin. Du weißt, was das ist?“, antwortete Bellami. „Ich hab mir noch keine Gedanken darüber gemacht. Aber sag, was ist da eben passiert?“ Zeraph antwortete nicht. Er sah sich die ganze Zeit Bellamis Handrücken an. Es leuchtete ein blauer, schnörkeliger Ring darauf in dessen Zentrum sich ein großes, filigran verziertes Symbol befand, das im groben aussah wie ein eine wirre Mischung aus verschiedenen Schriftzeichen – unmöglich zuzuordnen. Außerhalb des Ringes waren weitere fremde Schriftzeichen. Zeraph schüttelte den Kopf. Sein Blick sagte nichts Gutes. Dann ließ er von ihm ab.

„Was hast du dir noch gewünscht?“, fragte er angespannt und packte ihn am Kragen.

„Ich hab nur gesagt, dass ich einen Drachen treffen will” Antwortete er ängstlich.

„Es geht nicht darum, was du gesagt hast, sondern was du wolltest”

„Ich … Ich”

„Sag mir einfach, was du dir davon erhofft hattest. Es ist egal, was der Grund ist, ich muss es nur wissen. Sei ehrlich!“

„Macht” Er schaute reumütig von ihm weg. „Ich wollte stärker werden, damit niemand mehr auf mir rumtrampeln kann!“, brüllte er ihn an. „Aber ich hab mir, dass nur erhofft, ich hab es mir nicht gewünscht” Zeraph beruhigte sich wieder. Dann grinste er und ließ von ihm ab.

„Ich weiß nicht, was sie vorhat, aber sie hat dir scheinbar auch einen Wunsch erfüllt den du dir nicht auszusprechen gewagt hast. Du wirst es schon bald erfahren” Bellami schaut sich das Symbol auf seiner Hand an.

„Was ist denn damit?“

„Es ist eine Insigne, die dich als ihren Besitz brandmarkt. Das Zeichen in der Mitte ist eine Kombination aus verschiedenen Symbolen. Es bedeutet Astra, Terra, Aeon und Solaris. Das Symbol für Astra ist das große und ist so etwas wie die Logik des Universums. Eine Energie, die von Gedanken und Bewusstsein erzeugt wird. Du wirst merken, dass sie sehr stark und zerstörerisch sein kann”

„Und was haben die anderen Zeichen zu bedeuten?“, fragte Bellami und deutete auf die kleinen Symbole, die um den Ring herum angeordnet waren.

„Das sind Schriftzeichen der Drachensprache. Du solltest sie eigentlich lesen können. Ich will ja hoffen das ich das vorhin nicht umsonst gemacht hab” Wieder schaute Bellami konzentriert auf seine Hand und versuchte den Symbolen eine Bedeutung zu zuweisen. Und plötzlich verstand er es. Die Sprache der Drachen ist ausgesprochen kompliziert und teilweise mehrdimensional. Aber was er las verstand er noch nicht ganz.

Ich verfüge diese Kraft nach meinem Willen. Sie ist die Lehre der Weisen und der Schatz der Alten. Ich wache. Ich führe. Ich herrsche. Ich richte. Ich geschehe. Ich erschaffe. Ich verachte. Ich vernichte. Ich bin ein Werkzeug, ein Schöpfer und ein Geist. Nur der Ewigkeit verpflichtet und dem Bund der großen Kräfte.

„Wieso kann ich das lesen? Und was bedeutete das?“, sagte er und fing an nervös auf und ab zu laufen.

„Es ist ein alter Schwur. Aber darauf brauchst du keine Rücksicht zu nehmen. Du wirst schnell merken, was diese Kraft bedeutet und wie du damit umgehst. Und dann wirst du auch diesen Schwur besser verstehen”, erklärte Zeraph. Eine Explosion im Zentrum der Stadt erschütterte plötzlich das ganze Gebiet. Wenige Minuten Später hörte man Polizeisirenen und sah blaue Lichter durch die Häuserschluchten blitzen.

„Komm mit!“, sagte Zeraph, erschien in seiner Drachengestalt und flog davon. Er landete geschmeidig auf einem weit entfernten Hochhaus und schaute konzentriert nach unten. Bellami schaute ihm verwundert nach.

„Ehy! Wieso? Was? … Und wie soll ich jetzt dahin kommen? Das ist doch ewig weit weg”, rief er ihm pauschal nach, obwohl er wusste, dass ihn Zeraph unmöglich hören konnte. Der Drache war so riesig, dass Bellami ihn trotz der großen Entfernung immer noch gut erkennen konnte. Er dachte kurz nach. Dann sah er seine Hand an und schaute wieder zu Zeraph. Der drehte seinen Kopf zu ihm um und seine riesigen Augen begannen hell zu leuchten. Dann verschwand Bellami und tauchte im Zentrum der Explosion wieder auf. Er hustete und hielt sich den Bauch.

„Egal, was du gerade mit mir gemacht hast”, er hustete wieder. „Tu das bitte nie wieder” Er schaute sich kurz um: Um ihn herum Trümmer und Staub. Durch die Staubwolke blitzte wieder das blaue Licht der Rundumleuchten von mehreren Polizeiwagen. Man hörte Stimmen in einer fremden Sprache, die über Lautsprecher und Megafone ertönten. Dann noch das Klopfen von Hubschrauberrotoren, die sich näherten.

Vor Bellamis Füßen lag ein junger Mann, der konzentriert in den Himmel starrte. Er war vollkommen unverletzt und schien zu lächeln. Seine Kleider waren ein wenig lädiert aber zum Großteil noch intakt. Seine Augen glühten smaragdgrün und seine helle Haut war von einer Staubschicht bedeckt. Er war etwa so groß wie Zeraph und seine Kleidung war die der anderen Menschen, die Bellami hier gesehen hat, sehr ähnlich. Auf seiner linken Hand leuchtete ein ähnliches Symbol, nur war es Grün und das Schriftzeichen in der Mitte sah anders aus. Bellami reichte ihm die Hand.

„Willst du nicht aufstehen?“, fragte er freundlich. Der Mann starrte auf Bellamis Hand, dann wieder in den Himmel.

„Wieso?“, fragte er leise. „Wieso hast du das gleiche, leuchtende Dings auf deiner Hand wie ich? Und wieso sitzt ein riesiger … Drache … auf dem Hochhaus da und keinen scheint das großartig zu interessieren? Und was ist das für eine Sprache, die ich gerade spreche?“ Er nahm Bellamis Hand und ließ sich aufhelfen.

„Der Drache da. Er heißt Zeraph. Du sprichst meine Sprache. Wieso wundert dich das? Kommst du etwa nicht aus Calladria?“, sagte Bellami und schaute ebenfalls zu Zeraph auf, der wie ein König auf dem Dach des Hochhauses thronte und herablassend auf das Geschehen unter sich schaute. Dann lächelte Bellami und winkte ihm zu.

„Soso. Da ist also wirklich ein Drache. Ich dachte schon, ich hab Halluzinationen. Was ist Calladria?“ Plötzlich erschien Zeraph vor ihnen in seiner Menschengestalt. „Wer bist du?“, fragte der Mann angespannt.

„Ich bin Zeraph”, antwortete er.

„Der kleine Junge hat aber gerade gesagt, der Drache da sei Zeraph” Er zeigte mit dem Finger nach oben aber die riesige Kreatur war nicht mehr da.

„Da hat der kleine Junge die Wahrheit gesagt. Ich bin Zeraph, ich bin der Drache” Der Mann stemmte die Arme in seine Hüften und schaute Zeraph tief in die Augen.

„Dann kannst du dich also in einen Menschen verwandeln, oder was?“ Zeraph schüttelte den Kopf.

„Nein, das kann ich nicht. Das würde ich auch nie wollen. Ich bin immer noch ein Drache, ich sitze immer noch auf dem Dach. Was du hier vor dir siehst ist nur eine Puppe. Ein Avatar, wie man es in deiner Welt ausdrücken würde”

„Ah, verstehe”, antwortete der Mann.

„Hey! Ich bin auch noch da!“, fauchte Bellami. „Was ist ein Avatar?“

„Es ist so etwas wie eine Spielfigur, die man Steuert, um in einer Umgebung präsent zu sein, in die man sonst nicht hineingelangt”, antwortete Zeraph.

„Aber du kannst doch auch als Drache hier sein. Wieso brauchst du diesen Avatar?“, fragte Bellami jähzornig.

„Naja, das ist ganz einfach. Ich kann als Drache kaum etwas machen, ohne gleich die ganze Welt ins Chaos zu stürzen. Die Menschen würden mich Jagen und mich fürchten. So wie in deiner Welt. Außerdem bin ich viel zu groß, um mich hier wirklich frei bewegen zu können”

„Aber du hast doch auf dem Hochhaus gesessen und jeder konnte dich sehen”, fügte der namenlose Mann hinzu. „Und keiner hat sich für dich interessiert”

„Die Menschen sehen mich. Aber sie bemerken mich nicht”, antwortete Zeraph gelassen und etwas hochnäsig.

„Wie geht das denn?“, fragte Bellami aufgeregt. Zeraph tätschelte herablassend Bellamis Kopf.

„Die Menschen sehen nur das, was sie kennen und woran sie glauben. Und da bin ich schnell aus dem Schneider. Außerdem ist mein Körper die meiste Zeit in der Phase verschoben. Das heißt, dass ich in diesem Zustand keinen Kontakt mit den Physikalischen Wechselwirkungen dieser Welt habe. Also reflektiert mein Körper auch kein Licht” Bellami schlug wütend Zeraphs Hand von seinem Kopf.

„Als neuer König dieser Welt, sage ich dir, dass du das in Zukunft zu lassen hast!“, fauchte er wütend. Der fremde Mann lachte.

„Phasenverschiebung … Avatare … Neuer König der Welt” Er machte eine kurze Pause. „Das gefällt mir!“, fügte er hinzu und lachte wieder. „Ich glaub da bin ich dabei. Die Frau mit den Weißen Augen meinte, dass ich den Drachen suchen soll. Aber ich dachte das sei nur eine Metapher” Bellami starrte rüber zu Zeraph.

„Die Frau mit den Weißen Augen war bei ihm”, flüsterte er. Zeraph grinste mit böser Miene.

„Du könntest uns wenigstens mal sagen, wie du heißt. Und was du dir von ihr gewünscht hast. Und wehe du sagst, dass du einen Drachen treffen wolltest”

„Ich heiße Shezzar” Antwortete er. „Die Frau stand einfach vor mir und meinte sie spürt einen tiefen Schmerz in mir und das Verlangen, eine neue Welt zu erschaffen. Aber so richtig weiß ich das nicht mehr. Mir war es aber recht. Egal was sie mit mir vorhat, Hauptsache es passiert irgendwas. Und ihr seid?“ Reflexartig und instinktiv verbeugte sich Bellami vornehm, so wie es ihm schon seit er klein war antrainiert wurde.

„Mein Name ist Bellami Makalan, Prinz von Calladria. Und der komische Kautz neben mir ist Zeraph Darthas, seines Zeichens Drache und manchmal ein Arsch” Zeraph lachte laut.

„Nenn mich Zeraph. Aber dein Name passt irgendwie so gar nicht in diese Welt, besonders nicht in dieser Gegend”

„Ihr könnt mich Shezz‘ nennen”, antwortete Shezzar. „Ich dachte mir, wenn ich schon neu anfange, dann richtig. Mein alter Name ist belanglos. Aber eure Namen sind auch nicht unbedingt … passend”

„Das liegt selbstverständlich daran, dass wir tatsächlich nicht von dieser Welt sind. Die Frau mit den Weißen Augen ist übrigens Keara. Ihr ist wahrscheinlich gerade langweilig” Das klopfende Donnern der Hubschrauber wurde immer lauter und wie aufs Stichwort wehten ihnen die Rotoren den Staub ins Gesicht, während zwei schwarze Blackbird Helikopter zur Landung am Rand des Kraters ansetzten. Sechs schwer bewaffnete Soldaten stiegen aus und gingen langsam, mit der Waffe im Anschlag, auf sie zu. Zeraph lachte kurz.

„Mal sehen was ihr euch da so zugemutet habt”, sagte er und verschränkte sie Arme vor der Brust.

„Stehenbleiben! Keine Bewegung!“, brüllten die Soldaten abwechselnd. Shezzar zuckte nur mit den Achseln und tat das, was er die ganze Zeit lang tat: Nichts. Bellami verstand deren Sprache nicht. Er konnte nur an der Art, wie sie redeten interpretieren, dass sie ihnen scheinbar nichts Gutes wollten.

Als die Soldaten etwa einen Meter vor ihnen zum Stehen kamen und ihre Waffen nervös auf sie richteten, passierte eine Weile nichts. Ein weiteres Donnergrollen näherte sich von hinten. Zwei gepanzerte Einsatzfahrzeuge fuhren in den Krater und blieben hinter den dreien stehen. Wieder stiegen schwer bewaffnete Spezialeinheiten aus dem Fahrzeug und nahmen ihre Gewehre in Anschlag. Aus dem anderen Panzerwagen stiegen drei Männer in weißen Schutzanzügen, mit elektronischen Geräten in den Händen. Sie wurde von zwei der Soldaten begleitet und näherten sich Zeraph, Bellami und Shezzar.

Sie begannen vor ihnen mit ihren Geräten herum zu fuchteln und Notizen auf Klemmbretter zu schreiben. Wortlos ließen die Drei alles über sich ergehen. Dann zogen sich die Männer zurück und man hörte nur noch das Wort: Festnehmen, in einer Sprache, die nur Shezzar verstand, dann gingen die Soldaten auf die drei los und schlugen sie Bewusstlos.

Zeraph ließ sich nur aus Spaß zu Boden fallen. Er wollte zu gern dabei sein, und sehen wie die Beiden reagieren, wenn sie in Bedrängnis geraten. Ihnen wurden Hände und Augen verbunden und ein seltsamer Kragen um den Hals gelegt. Dann wurden sie weggebracht.

Kapitel 11

Das silberne Königreich

Zeraph öffnete die Augen seines menschlichen Abbildes und fand sich in einer dunklen Zelle wieder. Ein kleiner Lichtkegel, der mutig durch den Spalt der Zellentür drang, ließ den abscheulichen Zustand dieser unbequemen Räumlichkeiten erahnen. Für Zeraph wäre es kein Problem gewesen die Zelle zu verlassen, ganz gleich aus welchen undurchdringlichen Materialien sie gebaut ist. Dennoch blieb er da. Er setzte sich auf die rostige Pritsche mit der modrigen Matratze und wartete.

Bellami wachte in einem Raum auf, der hell erleuchtet und sehr sauber war. Es war wie ein Kinderzimmer: Bunte Bilder an der Wand, Plüschtiere, Spielzeug und ein Bett in Form eines Rennwagens. Nur das kaltweiße, flackernde Licht und der verdächtig große Spiegel, der die komplette Fläche der Wand einnahm, erzeugten ein verstörendes Gefühl.

Als Bellami seinen Kopf bewegte, spürte er den Kragen um seinen Hals, der unangenehm eng anlag. Er sah sich selbst im Spiegel an und erst da stellte er fest, dass er vollkommen andere Kleidung trug. Seine Königlichen Gewänder und der dicke Filzmantel waren verschwunden. Stattdessen trug er eine Jeans, Turnschuhe und einen Kapuzenpullover mit albernen Zeichentrickfiguren. An dem Kragen blinkten mehrere kleine, rote Lämpchen rhythmisch. Er war aus einem massiven Material, sehr schwer, kantig und unangenehm.

Bellami versuchte ihn von seinem Hals abzuziehen, doch es gelang ihm nicht. Er schaute wieder in den Spiegel und sah sich sein Gesicht an. Immer weiter näherte er sich dem Spiegel und je genauer er sich betrachtete desto mulmiger wurde ihm. Anfangs war er sich nicht sicher, doch je mehr er darüber nachdachte desto klarer wurde ihm, dass nicht nur die Welt, in die er geraten ist, eine andere war, sondern auch er selbst.

Das deutlichste Merkmal für diese Schlussfolgerung waren seine Augen. Die sonst grüne Farbe seiner Iris war nun blau. Er lief eine Weile im Zimmer auf und ab und versuchte zu verstehen was genau er mit seinem Wunsch auslöste und was genau der Grund war, warum sie ihn überhaupt erfüllt hat.

Etwa zwei Stunden passierte nichts, dann flog plötzlich die Tür des Zimmers auf und drei weiß gekleidete Leute betraten es. Ein Mann packte ihn am Kopf, brabbelte etwas in einer seltsamen Sprache und schloss ein Kabel an Bellamis Kragen an. Der andere kniete sich zu ihm herab, griff ihm ins Gesicht, spreizte seine Augenlieder und schaute sie sich durch ein metallenes Gerät an. Die dritte Person, die einzige Frau, bereitete eine Spritze vor. Einer der Männer hielt Bellamis Arme fest, der andere drückte seinen Kopf zur Seite.

Die Frau näherte sich langsam mit der Spritze, die sie bereits auf die freie Stelle über Bellamis Halsband richtete. Doch bevor die schmale Nadel seine Haut berührte blieb sie stehen. Bellami konnte seinen Arm befreien und packte die Frau am Handgelenk, um sie von ihrem Tun abzuhalten. Egal wie sehr sie es versuchte, sie schaffte es nicht gegen die kleinen, schmächtigen Hände eines elfjährigen Kindes anzukommen.

Sie stand auf, lies von ihm ab und gab den anderen mit einem nicken zu verstehen, dass sie ebenfalls von ihm ablassen sollen. Die Männer taten es, die Frau zog einen kleinen Apparat aus der Tasche und drückte auf einen Kopf. Dieser aktivierte das Halsband und verabreichte Bellami schmerzvolle Stromschläge. Er sackte zuckend auf die Knie. Wieder näherte sich die Frau mit der Spritze und wieder hielt Bellami sie davon ab ihm die Spritze in den Hals zu rammen. Er stand wieder auf und drückte ihre Hand so fest zusammen, dass ihr die Knochen in den Fingern brachen. Sie schrie entsetzlich und fiel auf die Knie.

Sie befahl den Männern irgendwas in dieser fremden Sprache, dann hielten sie Bellami fest und versuchten ihn von ihr los zu reißen. Die Frau zog mit ihrer anderen Hand wieder das kleine Gerät aus der Tasche und drückte auf den Knopf. Erneut zuckten stärkere Stromstöße durch Bellamis Körper. Diesmal aber ohne ihm weh zu tun.

Stattdessen wurden sie zu der Frau und den zwei Männern weitergeleitet. Sie schrien vor Schmerz und ließen von ihm ab. Bellami packte die Frau bei den Haaren und hob ihren Kopf hoch. Er sah ihr tief in die Augen.

„Du nimmst mir jetzt sofort dieses Ding von meinem Hals!“, befahl er, doch die Frau verstand seine Worte nicht. Wieder schlug die Tür auf und es stürmten fünf schwer bewaffnete Soldaten ins Zimmer. Scheinbar dieselben, die ihn vorher im Krater festgenommen hatten.

„Keine Bewegung!“ Brüllten sie und richteten ihre Waffen auf ihn. Diesmal verstand Bellami, was sie sagten. Unbeeindruckt ließ er von der Frau ab und riss an dem Halsband bis es auseinanderbrach. Er schaute die Soldaten an und seine Augen begannen zu glühen.

„Tötet ihn!“, brüllte der Kommandant, aber Bellami verschwand noch bevor ihn eine der Kugeln traf. Im selben Moment stand er auf einer Wiese am Waldrand, weit von irgendwelchen Städten entfernt.

„Du bist hier, oder?“, flüsterte er. Dann setzte er sich an einen Baum und döste in der Morgensonne. Zeraph konnte ihn hören, doch er antwortete nicht und wartete weiter geduldig in seiner Zelle. Etwa eine Stunde verging, da vernahm er ein lautes Poltern und Türen aufschlagen. Die Zellentür öffnete sich und vor ihm stand ein Mann in Uniform, der mit vielen Auszeichnungen behangen war, dahinter zwei einfache Soldaten.

„Das ist der Gefangene mit den roten Augen?“, fragte der scheinbar höhere Offizier und betrat neugierig die Zelle.

„Jawohl, Herr General. Er hat sich widerstandslos festnehmen lassen und die ganze Zeit gelacht, selbst als wir ihn verprügelt haben”

„Was ist das für ein Arschloch?“, grummelte der General. Zeraph grinste frech und herablassend.

„Verstehst du mich nicht?“, fragte der General. Zeraph neigte seinen Kopf ein wenig.

„Deine Sprache verstehe ich”, antwortete er. „Aber deine Worte sind mir zu dümmlich” Wütend schlug ihm der General mit der Faust ins Gesicht.

„Du glaubst wohl, du kannst hier das Großmaul markieren. Ich sag dir, da legst du dich mit dem Falschen an”

Zeraph hob seinen Kopf und fing an zu lachen. Wieder schlug ihm der General ins Gesicht. Doch Zeraph lachte weiter. Beim dritten Mal wich er gekonnt aus und konterte mit einen kurzen Kniestoß. Der General röchelte und sackte zusammen. Die zwei Wachen richteten ihre Waffen auf ihn. Wieder lachte Zeraph, trat aus der Zelle heraus und schlug die Tür mit hinter sich zu. Seine Handschellen und das Halsband fielen einfach durch ihn durch, als wäre er ein Geist.

Die Soldaten erstarrten vor Angst und Zeraph lief einfach an ihnen vorbei. Er folgte einem langen, schmalen Gang bis er eine Treppe erreichte, die nach oben führte. Er durchquerte ein Stockwerk indem sehr viele Labors waren, unter anderem auch das, in dem Bellami vor wenigen Minuten noch war. Er lief weiter und weiter. Niemand bemerkte ihn. Nicht weil er unauffällig war oder sich versteckte, sondern einfach, weil er es so wollte. In dieser Gestalt konnte er selbst bestimmen, wie er von Anderen wahrgenommen wird.

Am Ende eines hell erleuchteten Ganges stand er vor einer großen Doppeltür, auf der die Zahl 243 in fett gedruckten Ziffern stand. Sie war fest verschlossen, aber Zeraph war überzeugt davon, dort etwas Interessantes zu finden. Er ging einfach hindurch ohne sich weiter um die Gesetze der Physik zu kümmern, die ihn eigentlich daran hindern sollten.

Auf der anderen Seite war ein riesiger, runder Saal. In dessen Zentrum befand sich ein Operationsraum und rings herum eine Zuschauertribüne. Zeraph stand am Fenster und schaute in den OP hinein. Dort lag Shezzar nackt auf einem Tisch und um ihn herum wuselten Ärzte und Wissenschaftler. Sie schnitten ihn immer wieder auf aber seine Wunden verheilten auf der Stelle. Er befand sich in einem Dämmerzustand und fühlte den Schmerz die ganze Zeit.

Zeraph beobachtete das Treiben eine Weile, dann sah er eine seltsam gekleidete Person den Raum betreten. Ein schmächtiger Mann mit einem schwarzen Zylinder auf dem Kopf, einem langen Frack Anzug, Hosen mit Bügelfalte und weißen Samthandschuhen. Er blieb neben Shezzar stehen, schaute sich ihn kurz an und seufzte. Dann verließ er den Saal wieder. Zeraph verschränkte nachdenklich die Arme und neigte der Kopf ein wenig zur Seite.

Ein paar Minuten Später betrat eine Frau mit langen silbrig weißen Haaren den Saal.

„Was haben sie herausgefunden?“ Fragte sie den leitenden Chirurgen.

„Es ist faszinierend”, antwortete er begeistert, „Er regeneriert seine Zellen mit übermenschlicher Geschwindigkeit. Selbst ganze Gliedmaßen. Und das in Sekundenschnelle. Auch lebenswichtige Organe werden sofort wiederhergestellt. Wir wissen nicht, wie er das macht. Es hat scheinbar mit dieser schimmernden Energie zu tun, die seine Adern durchzieht. Es scheint ein Bestandteil seines Blutes zu sein, deswegen nehmen wir auch ausreichend Proben davon”

„Habt ihr versucht seinen Kopf abzutrennen?“, fragte die Frau mit kalter Stimme.

„Noch nicht aber das steht als nächstes auf dem Plan. Wir waren nicht sicher ob es ihn töten könnte, deswegen haben wir auf ihre Genehmigung gewartet”

„Tut es!“ Befahl sie und ging in den Zuschauerraum. Sie stellte sich direkt neben Zeraph und verfolgte das Geschehen mit ebenso kalter Miene wie er. Einer der Chirurgen nahm ein Skalpell und setzte es an Shezzars Hals an. Langsam glitt die Klinge durch die Haut und arbeitete sich um seinen Hals herum. Doch er war nicht schnell genug.

Das Gewebe verheilte wieder bevor er fertig war. Shezzars Augen waren geschlossen, doch man sah wie seine Pupillen schnell und gepeinigt hin und her zuckten, als wären sie das einzige was er noch bewegen konnte. Die Chirurgen fingen an nervös zu tuscheln. Einer verließ den Saal und kam mit einer Machete wieder zurück.

Er holte aus doch bevor er zuschlagen konnte, begann er stark zu husten und sackte zu Boden. Er spuckte viel Blut und fing an zu röcheln. Die anderen gerieten in Panik und wollten den Saal verlassen doch die Frau, die neben Zeraph stand, veranlasste den Saal abzuriegeln.

„Lady Haidenberg, bitte lassen sie und raus”, flehte der leitende Chirurg. Die Frau schüttelte wortlos den Kopf. Plötzlich bewegte sich Shezzars Hand. Er drehte seine Handfläche nach oben und seine Adern begannen grün zu leuchten. Der hustende Chirurg richtete sich auf und packte sich am Hals. Sein schmerzverzerrtes Gesicht begann sich aufzulösen und wurde zu einer Flüssigkeit, die genauso leuchtete wie Shezzars Hand.

Die Flüssigkeit verdampfte kurz darauf und löste sich in der Luft auf. In Shezzars Handfläche entstand ein hölzern wirkendes, längliches Gebilde, das sich immer weiter zu einer erkennbaren Form entwickelte. Panisch standen die anderen Chirurgen mit dem Rücken an der schweren Metalltür und beobachteten das Geschehen mit blanken Schrecken in ihren Gesichtern. Zeraph bleckte erwartungsvoll die Zähne und ein kindliches lächeln formte sich sehr subtil.

Nun begann ein weiterer Chirurg zu husten und zu röcheln. Auch seine Haut löste sich extrem schmerzvoll auf und er schrie unsagbar laut. Das Gebilde in Shezzars Hand ähnelte nun immer mehr dem Heft eines Schwertes, nur als wäre es wie eine Pflanze gewachsen und nicht hergestellt worden. Am Ende des Hefts bildeten sich grün leuchtende Kristalle, die immer größer wurden. Die Körper der beiden Chirurgen waren nun gänzlich verschwunden und Shezzar gelangte wieder zu Bewusstsein.

Er umklammerte das Heft, riss seinen rechten Arm von der Manschette und richtete sich auf. Er öffnete die Augen und hielt sich das Schwert vor das Gesicht. Er starrte es minutenlang konzentriert an.

„Ich hab es aus meinem Traum mitgebracht”, flüsterte er, dann ging ein ohrenbetäubender Alarm los. Er befreite sich von den restlichen Restriktionen und stand auf.

Die kristallene Klinge des Schwertes war jetzt schon eineinhalb Meter lang und begann eine scharfe schneide zu formen. Die drei übrigen Chirurgen klopften panisch gegen die Tür und schrien um ihr Leben. Shezzar holte aus und schleuderte das Schwert auf sie. Es wirbelte durch die Luft und durchstieß den leitenden Chirurg und die Tür dahinter als wären sie aus Butter.

Er näherte sich der Tür und packte das Schwert am Heft. Er riss es heraus und dabei schnitt die scharfe Klinge den Mann in zwei Hälften. Wieder holte Shezzar aus und stach die Klinge noch einmal durch die Tür. Der tote Chirurg löste sich, genau wie die beiden anderen, ebenfalls in eine grün leuchtende Flüssigkeit auf und verdampfte.

Die Klinge des Schwertes wurde breiter und sprengte die Tür aus den Angeln. Herumfliegende Schrapnelle töteten den anderen Chirurg und der letzte wurde schwer verwundet. Lady Haidenberg floh als sie Shezzar den Saal verlassen sah. Zeraph sah noch kurz den Mann mit dem schwarzen Zylinder, der mit Shezzar zu reden schien, dann hörte er wieder Bellamis Stimme und verschwand.

„Ich kann dich sehen, auch wenn du unsichtbar bist, Drache”, murmelte Bellami vergnügt vor sich hin, während er die warmen Sonnenstrahlen genoss. „Und was hast du so getrieben? Die haben versucht eine Metallspitze in meinen Hals zu stecken aber die Rechnung haben sie ohne den unbesiegbaren Bellami gemacht”

Zeraph erschien direkt vor ihm und sein gigantischer Körper ragte selbst im Liegen soweit über den Wald, dass man ihn für einen Berg gehalten hätte. Sein Kopf war anmutig auf Bellami gerichtet und seine riesigen Augen waren so einehmend und hypnotisch wie ein Feuerwerk. Bellami stand auf und lief nachdenklich vor ihm auf und ab.

„Ich weiß jetzt alles. Ja, alles”, jauchzte er fröhlich. Zeraph schwieg und entblößte seine furchterregend großen Zähne.

„Jaja mein lieber Herr Drache. Ich kann alles wissen was ich will. Das ist so herrlich. Dieses Drachenherz ist wirklich praktisch” Zeraph schwieg weiter vor sich hin.

„Hast du Shezzar gefunden?“ Zeraph senkte sein Kopf zu einem anmutigem nicken. „War er auch an diesem traurigen Ort?“ Er nickte wieder. Der Drache verschwand und Zeraph stand wieder als Mensch vor ihm.

„Wieso kommt er nicht zu uns?“, fragte Bellami besorgt. Zeraph setzte sich zu ihm an den Baum.

„Er braucht wohl noch ein wenig länger. Er ist bereits auf dem Weg. Es ist sehr weit weg von hier, also wunder dich nicht, wenn es länger dauert. So, jetzt halt die Klappe und genieß den Tag”, antwortete Zeraph gelassen. Bellami schaute ihn grimmig an.

„Das eine Mal verzeih ich dir deine Unhöflichkeit noch. Aber nur dieses eine Mal”, sagte er und lachte. Er legte sich ins Gras und beide dösten weiter in der Mittagssonne.

Etwa zwei Stunden später näherten sich zwei Männer. Einer von ihnen war Shezzar, der von oben bis unten in Blut getränkt war und erschöpft ein riesiges Schwert hinter sich herzog. Der andere Mann stützte ihn. Sein Aussehen war etwas ungewöhnlich. Er trug sehr feine Kleidung. Einen eng geschnittenen Frack mit großen, weißen Manschetten, weiße Samthandschuhe, feine Stoffhosen mit Bügelfalte, Lederschuhe und als Krönung des ganzen einen großen, schwarzen Zylinder als Kopfbedeckung. Es schmerzte einen schon fast zu sehen, dass diese schönen und sicher teuren Sachen überall von Shezzar mit Blut beschmiert wurden. Doch das was Zeraph und Bellami als erstes auffiel, war dass er ebenso weißglühende Augen hatte wie Keara.

Als sie bei ihnen ankamen, legte der Mann Shezzar behutsam ins Gras und tupfte sich vornehm den Schweiß mit einem feinen weißen Stofftaschentuch von der Stirn. Bellami sprang auf und setzte sich zu ihm.

„Wieso hat das so lange gedauert? Und wen hast du da mitgebracht?“, fragte Bellami aufgeregt. Shezzar drehte, auf beängstigend langsame Art und Weise, seinen Kopf zu Bellami und starrte ihn nur mit dem linken Auge an, da das rechte Augenlied mit Blut verklebt war.

„Naja“, er räusperte sich, „Ich musste mir den Weg frei kämpfen”

„Wieso das denn? Das hättest du nicht tun müssen” Dann sah ihn Zeraph an und durch das Drachenherz konnte er seinen Schmerz fühlen. Resignierend aber mitfühlend schaute er Shezzar an. „Hast du alle umgebracht?“

„Alle, die mir in die Quere kamen. Naja, bis auf ihn, der war zu stark”, antwortete Shezzar und schaute den fremden Mann an. „Er heißt übrigens Han. Netter Kerl. Hat mir die Türen auf gemacht”

„Also…“, stieg der Mann in das Gespräch mit ein. „Ich heiße gar nicht Han. Das steht nur auf dem Namensschild und bedeutet Harmonisch Anthropomorphe Naturgewalt. Mein richtiger Name ist Alexander“

„Was ist eine Harmonisch Anthropomorphe Naturgewalt?“, fragte Shezzar ungläubig. Han zuckte nur mit den Schultern.

„Ich hab mir das nicht ausgedacht. Das hab ich noch von früher. Lange Geschichte”

„Und wieso trägst du es dann noch?“

„Es hat einen großen emotionalen Wert für mich” Shezzar atmete tief durch und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Seine Wunden waren längst verheilt, aber er war der Meinung, er müsse noch ein wenig den erschöpften Helden spielen.

„Wir hatten noch gar nicht die Gelegenheit uns richtig kennenzulernen”, sagte er freundlich. „Ich heiße Shezzar und ich habe vor nicht mal einem Tag diese beiden Wirrköpfe da drüben kennengelernt” Er kippte seinen Kopf leicht zur Seite und schaute rüber zu Bellami und Zeraph. Er lächelte dabei gelassen, fing sich für diesen Spruch aber wenig Begeisterung ein.

„Von mir gibt es nicht sonderlich viel zu erzählen”, antwortete Han mit lockerer Stimme. Doch man merkte, dass sich dahinter ein Geheimnis verbarg. „Obwohl ich kein Versuchsobjekt war, war dieses Labor lange Zeit wie ein Gefängnis für mich”

„Haben sie dich gezwungen, dort zu arbeiten?“, fragte Shezzar. Han kratzte sich am Kopf und lachte verlegen.

„Nein, eigentlich nicht. Ich hab mich irgendwie selbst dazu gezwungen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Dann stand plötzlich dieser junge Herr vor mir und hielt mir dieses riesige Schwert vor die Nase” Shezzar lachte amüsiert.

„Ich hab ihn gefragt ob er versucht mich aufzuhalten. Doch er hat mich nur gebeten ihn mitzunehmen. Der Kerl ist echt seltsam”

„Ich musste eine Entscheidung treffen, die mein Leben verändert. Das erste Mal seit langem”, sagte Han und wurde etwas melancholisch. Er zog sich den Seidenhandschuh von seiner linken Hand ab und betrachtete das Symbol, das schwach weiß schimmerte. Bellami bemerkte es sofort.

„Du hast es auch? Darf ich es sehen?“ Fragte er aufgeregt. Han lief etwas widerwillig zu ihm und streckte Bellami seine Hand entgegen. Sorgsam musterte er das Symbol.

„Es sieht ganz anders aus als das von mir und Shezz”, bemerkte er. „Das ist auch nicht die Sprache der Drachen. Was bedeutet es?“ Doch Han antwortete nicht. Zeraph kannte die Sprache und verstand sofort um was es sich handelte. Ein argwöhnischer Blick entfuhr ihm, aber er behielt es für sich, da er sah wie unangenehm es Han zu sein schien.

„Is‘ doch egal, man”, fuhr Shezzar in das peinliche Schweigen. „Er ist hier, wir sind hier. Er hat mir geholfen also wird es schon okay sein” Hans Gesichtszüge entspannten sich. Der Argwohn in Zeraphs und Bellamis Gesicht legte sich ebenfalls zu einem gleichgültigem lächeln. Zeraph lehnte sich wieder zurück, vollkommen sorglos und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.

„Wo hast du dieses Schwert her?“, fragte Bellami neugierig. „Du hattest es noch nicht, als wir uns kennenlernten” Die milchig weiße, leicht transparente Klinge war durchzogen von winzigen, grünlich schimmernden Äderchen, die gleichmäßig pulsierten und aussahen wie Ranken mit Blättern, die sich über die ganze Fläche der Klinge ausbreiteten. Das Heft war im Inneren der kristallartigen Klinge verschmolzen und der Griff war sah aus wie eine geflochtene Baumwurzel.

„So etwas ist mir schon seit Ewigkeiten im Kopf herum gespuckt. Und es war das einzige, an dem ich mich während meiner Folter festhalten konnte” Shezzar stand auf und zog es aus dem Boden. Der feuchte Schmutz glitt an der Klinge herab, als würde sie es nicht zulassen, dass ihr wunderbares Antlitz von irgendwas anderem besudelt würde, außer dem Blut ihrer Opfer. Dasselbe Symbol, das Shezzar auf der Hand hatte, war auch im Kern der Klinge, nahe dem Heft eingraviert.

„Kannst du mir erklären, was dieses Symbol zu bedeuten hat?“ Seine Frage war an Zeraph gerichtet, doch Bellami antwortete prompt darauf.

„Das Hat mit deiner Kraft zu tun. Der Schriftzug um den Kreis ist ein Schwur, der in der Sprache der Drachen geschrieben ist. Das in der Mitte kenne ich aber nicht”

„Es bedeutet Terra”, antwortete Zeraph. „Die Kraft des Lebens und der Veränderung. Und genau wie bei Bellami ist es eine Bindung an Keara”

„Was ist Keara eigentlich genau?“, fragten Shezzar und Bellami fast synchron. Zeraph rieb sich nachdenklich das Kinn.

„Sie ist eine Nyx”, antwortete Zeraph. „Eine Anomalie, die entsteht, wenn die Astra verschiedener Bewusstsein auf bestimmte Art harmoniert. Diese formt sich dann zu einer eigenständigen Entität, dessen Persönlichkeit sich nach dem stärksten Bewusstsein entwickelt. In diesem Falle war es wohl mal ein Mensch. Sie sind in der Lage Astra und Terra zu beherrschen und können Menschen wie dich für ihre Zwecke einspannen. Dieses Symbol auf deiner Hand ist ein Indiz dafür, dass ihr ihrer Macht untersteht”

„Und du unterstehst ihr nicht?“, fragte Shezzar pauschal, doch er ahnte schon, was gleich kommt. Bellami lächelte amüsiert über Shezzars offensichtlich naive Frage. Zeraph lachte nur leicht belustigt.

„Wir Drachen sind keiner Macht unterstellt”, antwortete er überheblich und vorlaut. „Seit der Revolution gegen die Faarih, sind wir Drachen frei. Weder sie und schon gar nicht die Nyx sind noch in der Lage uns zu kontrollieren oder zu versklaven. Wir sind nun stärker und mächtiger als sie und alle anderen” Han zuckte nervös mit den Wimpern und senkte seinen Kopf fast unmerklich. Doch etwas schien in ihm vor zu gehen, etwas, dass ihn nachdenklich stimmte.

„Faarih?“, fragte Shezzar und rammte sein Schwert wieder in den Boden.

„Im Moment spielt das keine Rolle”, sagte Zeraph grimmig. „Du wirst noch genug über sie erfahren. Aber vorher muss ich noch etwas wichtiges Wissen”, er schaute musternd zu Han. „Was gedenkst du zu tun?“ Han hob seinen Zylinder und seine Kinnlangen schwarzen Haare fielen herab. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, fuhr dann durch seine Haare und setzte den Zylinder wieder auf. Er seufzte leise.

„Ich denke, ich werde wohl eine Weile bei euch bleiben müssen. Wenigstens so lang, bis ich wieder einen Sinn in meiner Existenz finde. Ihr seid ja auch ein interessanter Haufen” Zeraph schnaufte beleidigt.

„So? Was bringt dich zu dieser Annahme?“

„Ich hab es noch nie beobachten können, dass ein Drache sich mit Menschen abgibt” Zeraph zuckte mit der Augenbraue.

„Die haben mit Menschen nicht mehr viel gemein, wie du ja wissen solltest. Und der Junge hat ein paar interessante Ideen. Außerdem bin ich müde. Ich werde sowieso die ganze Zeit schlafen und euch in meinen Träumen beobachten” Shezzar stand auf und zog sein Schwert aus dem Boden.

„Ein Kind” Er zeigte mit der Spitze des Schwertes auf Bellami. „Ein Drache” Er richtete es auf Zeraph. „Und ein … Typ der den Sinn des Lebens sucht” Er zeigte auf Han. „Also wenn das nicht eine lustige Zeit wird, die wir vor uns haben, dann weiß ich auch nicht” Er lachte laut. „Aber mal Klartext: Was habt ihr denn nun vor?“ Bellami kratzte sich am Kinn.

„Also ich nehme mir jetzt meinen Drachen” Er betonte das meinen sehr stark. „Und baue mir ein neues Schloss” Er schaute zu Zeraph rüber, der ihm fiese Grimassen schnitt.

„Also, mein Drache”, fuhr Bellami fort. „Du hilfst mir doch dabei, oder?“ Zeraph schüttelte den Kopf.

„Ich habe dir schon mehr gegeben als du dir hättest wünschen können”, antwortete er launisch. „Jetzt liegt es an dir, die Zukunft dieser Welt zu gestalten” Solange Zeraph als Mensch unterwegs war, befand sich sein Körper in einer anderen Dimension und schlief. Diese Fähigkeit erlaubt es den riesigen, furchteinflößenden Kreaturen andere Welten ungestört zu beobachten, ohne sie durch ihre bloße Existenz zu beeinflussen. Die Drachen waren schon immer eine sehr wissbegierige Spezies, die es liebt durch verschiedenste Welten zu reisen und das Treiben dort zu studieren.

„Na toll”, grummelte Bellami. „Da hat man schon seinen eigenen Drachen und kann nicht mal mit ihm spielen”

„Ich kann dich trotzdem noch fressen. Ich muss dich nur vorher zubereiten”, sagte Zeraph und bleckte sich auffällig die scharfen Schneidezähne. Bellami bekam kurz Gänsehaut. Dann lachte er verlegen.

„Ah! Ruhe jetzt!“, brüllte Shezzar. „Ich will jetzt was Cooles machen” Er fuchtelte wild mit seinem Schwert herum. „Du”, sagte er und zeigte mir dem Schwert auf Bellami. „Ich helfe dir mit deinem Schloss. Ich kümmere mich um die Verteidigung. Eine, die sogar Drachen abwehren kann” Er legte das Schwert auf seine Schulter und lief nachdenklich auf und ab.

„Ich denke da an eine große Mauer, die mit Waffen bestückt ist, die sich selbst dem Gegner anpassen und sich weiter entwickeln können” Nachdenkend kniff Shezzar seine Augen zusammen.

„Und wie soll das bitte einen Drachen aufhalten?“, sagte Zeraph zynisch.

„Soweit kommst du gar nicht”, antwortete er und lachte böse. „Ich denke da an ein Kraftfeld, eine undurchdringliche Barriere, die in allen Dimensionen wirkt und alles Abhalten kann” Shezzar hielt kurz inne. „Und eine riesige Kanone im Zentrum der Stadt, die gleichzeitig das Kommandozentrum ist” Bellami applaudierte.

„Das klingt auf jeden Fall interessant. Sollte auch alles kein Problem sein. Aber ich weiß noch nicht, wo wir sie bauen sollen” Shezzar schaute sich um. Sie befanden sich auf der Lichtung eines gemischten, mitteleuropäischen Waldes, der immer wieder von kleinen und großen Lichtungen durchsetzt war.

„Warum nicht hier?“ Bellami schaute sich ebenfalls um.

„Naja. Hmmm” Er grübelte.

„Mach’s einfach!“, herrschte ihn Zeraph an, „Du solltest in der Lage sein alles zu erschaffen was du dir vorstellen kannst. Die Macht des Astra zusammen mit dem Drachenherz ist die beste Kombination für dein Vorhaben”

„Was?!“, fuhr Han dazwischen. „Ein Drache, der sein Herz einem Menschen schenkt?“ Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. „Das ich das noch erleben darf”

„Wir sind nun mal die besten Freunde”, sagte Bellami überzeugt.

„Ist das hier ein Verhör?“, fragte Zeraph in einem aggressiven Ton. „Ich tue was ich will. Du kannst gern versuchen, mich davon abzuhalten” Er hob seine Hand und blutrote Flammen stiegen empor.

„So war das wirklich nicht gemeint” Han verbeugte sich vornehm. „Bitte verzeiht, ich bin einfach nur fasziniert davon. Tut was immer euch beliebt. Ich sage nur was ich denke” Bellami fügte seine Hände zu einem Kelch zusammen, indem sich ein kleiner Kristall bildete. Er blitzte und funkelte blau wie ein Saphir und drehte sich geschmeidig. Bellami schloss seine Augen und verfiel in eine Trance. Minutenlang verharrte er regungslos und der Kristall veränderte immer wieder seine Form.

Ein weiches, blaues schimmern umgab Bellami, dass sich aber kaum mit dem Licht der Sonne messen konnte. Weitere zehn Minuten später kam er wieder zu sich und öffnete seine Hände. Der Kristall schwebte zu Boden und versank darin. Bellami kam wieder zu Bewusstsein und stand auf.

„So, das Fundament ist gelegt. Der Rest wird sich zeigen”, sagte er fröhlich und klatschte in die Hände. Daraufhin schoss ein blauer Lichtstrahl vom Himmel und drang in den Boden ein. Überall breiteten sich blau leuchtende Adern auf den Boden aus und er begann sich langsam zu verändern. Bellami spreizte seine Arme aus. Seine Augen glühten saphirblau. „Und so möge es beginnen. Das Sagenumwobene Reich Aletria mit seinem sagenumwobenen Herrscher: König Bellami, seinem besten Freund dem Drachen Darthas und zwei anderen Typen, die ihm immer zur Seite stehen werden und ihm ihre ewige Treue schwören” Shezzar klatschte in die Hände.

„Die zwei Typen. Das sind wir. Hehe”, sagte er leicht sarkastisch und stupste Han mit dem Ellenbogen.

„Ewige Treue?“, murmelte Han nachdenklich. Dann lächelte er. „Ach was soll’s”, sagte er und klatschte ebenfalls in die Hände.

Um sie herum fingen Säulen an aus dem Boden zu wachsen, die dabei ihre Form veränderten. Alles nahm langsam Gestalt an und wuchs immer weiter. Lokale Hindernisse wie Städte, Wälder lösten sich in der blauen Energie auf und verschmolzen mit dem Rest der Stadt. Shezzar und Han kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Fasziniert von der Macht und der Kreativität dieses unscheinbaren, frechen Jungen, den sie vor nicht einmal einem Tag erst kennengelernt hatten.

Der riesige Hauptturm nahm nach wenigen Stunden seine heutige Form an und wurde von Stunde zu Stunde immer filigraner und imposanter. Bellami lief wie wild hin und her, deutete auf Gebäude und Architekturen, die sich daraufhin wie von Geisterhand veränderten und andere Formen annahmen.

Ein paar Tage lang ging das so und dann begann auch Shezzar an Bellamis unermüdlichen Schaffen mitzuwirken. Die Stadt wuchs und wuchs. Unaufhaltsam und vollkommen gleichgültig darüber, wem dieses Land gehörte und wem sie den Lebensraum wegnahmen. Ganze Dörfer und Städte fielen den Bauwerken und Landgewinnungsmaßnahmen der beiden erbarmungslos zum Opfer.

Selbst das Militär des Landes konnte dieser Macht nicht standhalten, und selbst wenn sie es versuchten, hat sie Shezzar mit seinem blutdurstigen Schwert einfach zerschlagen, als wären sie eine Horde neugieriger Kühe, die man einfach nur davon scheuchen braucht.

Nach wenigen Tagen war dieses Ereignis in allen Medien der Welt das Thema Nummer Eins und es wurde, wie bei einer Katastrophe, fortlaufend davon berichtet. Spendenaufrufe und Hilfsaktionen für die flüchtenden Menschen wurden in Gang gesetzt.

Ein gewaltiger Exodus um das ganze Gebiet folgte. Nach einem Monat hatte der Stadtkern den stolzen Durchmesser von 25 Kilometern, die Mauer von der Shezzar sprach, wurde von den Menschen nur Die Bestie genannt und breitete sich langsam und gefräßig aus bis sie einen Durchmesser von 50 Kilometern erreichte.

Ab da hörte sie auf zu wachsen und Bellami begann einige der Flüchtlinge aufzunehmen. Zu seiner eigenen Sicherheit lud er aber nur Waisenkinder ein, denn er hatte keinerlei Vertrauen in ältere Menschen, besonders nicht denen aus dieser Welt gegenüber.

Im Laufe der nächsten 50 Jahre entwickelte sich die Stadt zu der, die sie heute ist. Es lebten sehr viele Menschen da und es passierte einiges in dieser Zeit. Angefangen von technologischen Durchbrüchen, Kolonialisierung entfernter Sternensysteme, bis zum Beginn des Baus eines Netzwerkes von Schnellreise-Portalen im Weltraum, dass eine einfache Verbindung zu selbst entlegensten Kolonien ermöglichte.

Zurück in der Gegenwart, saß Bellami in Gedanken versunken am Steuer des Shuttles, als Zeraph das Cockpit betrat.

„Woran denkst du?“, fragte Zeraph und setzte sich auf den Copiloten Sitz neben Bellami.

„An damals”, antwortete er etwas bedrückt. „Es ist einfach kaum zu glauben, dass 1000 Jahre einfach so dahin sind” Zeraph lachte.

„Für mich ist das gar nichts. Und passiert ist auch nicht viel… naja bis auf. Na, du hast es sicher schon gehört”

„Shezzar…“ Bellami fing an zu lächeln. „Irgendwie war es zu erwarten. Er war ein Hitzkopf wie aus dem Bilderbuch. Nun ist er tot”

„Val ist ganz anders als Shezzar” Zeraph lehnte sich zurück und stieß einen nachdenklichen Seufzer aus. „Also kann man durchaus sagen, dass Shezzar tot ist”, bestätigte er. „Aber du kennst ja die alte Weisheit der Drachen. Man soll sich tote nichts ins Leben zurückwünschen

„Da hast du wohl Recht” Bellami schaute Zeraph merkwürdig an. „Sag mal… was hatte es mit dem Jungen auf sich? Und wo ist deine Drachengestalt gerade?“

„Ich schlafe gerade seelenruhig in Aletria. Das heißt du wirst noch eine Weile mit meinem Menschlichen Antlitz auskommen müssen” Zeraph lachte vergnügt. „Oder willst du einen schlafenden Drachen wecken? Ich habe nämlich die letzten tausend Jahre lang nicht geschlafen” Bellamis Gesichtszüge verhärteten sich.

„Wieso das?“, fragte er angespannt. „Hast du nach mir gesucht?“

„Das war vergeblich. Außerdem musste ich auf jemanden aufpassen und dein Königreich bewachen”

„Du meinst doch nicht etwa diesen Jungen, der wohl auch bald zu einem Drachen wird”, fragte Bellami und schaute nach hinten.

„Oh nein. Er ist erst seit kurzem in meiner Obhut. Es war sein Wunsch und er hat mich gefunden”

„Und warum hat Shez..”, er unterbrach sich selbst. „Ich meine Val, ... auch ein Drachenherz?“ Zeraph verschränkte die Arme. Er war zu stolz, Bellami von seiner Einsamkeit zu erzählen. Also schwieg er sich aus. Bellami spürte, dass Zeraph Shezzar wohl genau so sehr vermisst hat, wie ihn. Aber er verstand auch, dass Zeraphs stolze, von Äonen Zeitaltern geprägte, unerschütterliche Autorität, auf keinen Fall von so einfachen Gefühlen erschüttert werden durfte. Bellami schwieg freudig lächelnd und entspannt. Der Hauptturm Aletrias war bereits in Sicht.

Kapitel 12

Das Ende der Welt

Nach der kurzen Reise landete Bellami das Shuttle und sie machten sich auf den Weg zum Hauptturm. Am Fuß angekommen wurde einem erst bewusst, wie unglaublich dieses Gebäude war. Bei wolkigem Wetter vermochte man nicht einmal die Kommandozentrale am Ende des Turms zu sehen. Die klaffende Leere im Zentrum der Pfeiler war verdächtig. Wie eine Startrampe für Weltraumraketen, könnte man vermuten. Jede der vier Pfeiler war größer als ein Wolkenkratzer und hatte einen riesigen Eingangsbereich, indem sich unzählige Aufzüge befanden. Fasziniert folgen sie Bellami und Zeraph.

„Ähm, Zeraph”, sagte Bellami verlegen. „Du bist der einzige, der noch einen Armreif hat, wärst du so nett?“ Genervt rollte dieser mit den Augen und rief einen Aufzug herbei.

„Wieso verschenkst du auch immer dein Zeug an Andere?“ Die Tür öffnete sich und alle betraten den Aufzug. Oben angekommen trafen sie dann auf Han und die Zwillinge. Ein bedrückendes Schweigen entstand.

Selbst der sonst so redselige Bellami wusste nicht wirklich was er sagen sollte. Eine wohlklingende Melodie kündete von Eintreffen eines weiteren Aufzugs. Das kleine Mädchen, dass sie damals unfreundlich und traurig im Hauptturm empfangen hat, stieg aus dem Aufzug, diesmal in einen dicken Pullover mit hohem Kragen gehüllt, blieb sie erstaunt und mit einem weichen Lächeln vor der Meute stehen. Ihre Wangen röteten sich und in ihrem Gesicht erkannte man den misslungenen Versuch sich das Weinen zu verkneifen.

„Bist du das, Schwester?“, fragte das Mädchen schüchtern und schniefte. „Hast du“, sie schniefte wieder und ihre Stimme wurde brüchig. „Deinen Drachen gefunden?“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Ajuki lächelte und ging zu ihr. Sie kniete sich herab und nahm sie in den Arm.

„Hast du die ganze Zeit hier auf mich gewartet, Kumiko?“ Flüsterte sie ihr ins Ohr. Kumiko nickte nur leicht.

„Gewartet… Das ich nicht lache”, krächzte Maria zynisch. „Die Stadt war versiegelt. Kein Mensch war hier, die letzten tausend Jahre” Ajuki stand auf und funkelte Maria böse an. Doch bevor sie was sagen konnte, sah sie Han und erkannte ihn. Ihre Mine erstarrte urplötzlich. Zeraph ging zu ihr und schaute ihr tief in die Augen.

„Er wird euch nichts tun”, flüsterte er.

„Das hättest du auch netter sagen können”, schimpfte Lili. Maria seufzte darauf hin nur herablassend.

„Laber mich nicht voll”, fuhr sie mit Wut geschwängerter Stimme fort, „Wir sitzen hier seit drei Tagen rum und müssen uns mit ansehen, wie unser Meister am Rand des Wahnsinns herum schlittert, und das wichtigste für diese blöde Göre ist ihre Schwester, die die letzten tausend Jahre geschlafen, und keinen einzigen Gedanken an sie vergeudet hat” Maria stand wütend auf und ging zu Han. Lili schaute ihr entsetzt nach.

„Hör bitte auf, Maria”, sagte Han gelassen und legte seine Hand auf ihre Schulter.

„Was ist denn mit Han?“, fragte Milena Lili.

„Seine Erinnerungen”, Sie lief zum Fenster, „Sie wurden manipuliert und durcheinandergebracht. Seitdem er wieder in Aletria ist, hat er nichts anderes getan als euch die ganze Zeit zu suchen wie ein Wahnsinniger. Tag und Nacht… ununterbrochen”

„Drei Tage?“, fragte Milena, „Aber wir waren doch nur zwei Tage in Celestis”

„Vielleicht ist es uns nicht so lang vorgekommen? Oder wir haben länger geschlafen als wir dachten”, versuchte Val zu erklären. Milena lächelte und nickte. „Ist ja auch egal, Hauptsache wir sind wieder zusammen” Val lächelte verlegen und wurde rot im Gesicht. Lili stellte sich vor die beiden.

„Genug rumgeturtelt”, sagte sie laut und schaute wieder zu den anderen. „Die Götter sind seit Vals Amoklauf wieder sehr aktiv. Wir sollten uns eher damit beschäftigen. Das geht jetzt schon seit zwei Tagen so”

„Wart mal, wart mal … ganz ruhig”, sagte Bellami angespannt. „Was meinst du mit Götter? Wer soll das sein? Zeraph?“ Alle schauten zu ihm.

„Das sind die, die meine Erinnerungen manipuliert haben”, sagte Han. Zeraph nickte.

„Die sogenannten Götter sind Menschen, die sich etwa sechshundert Jahre nach dem großen Krieg aus Celestis erhoben haben. Sie hatten die höchste Technologie, aber das war nicht der einzige Vorteil, den sie gegenüber den anderen Menschen hatten. Bin ich wirklich der einzige, der das weiß?“

„Ich hab davon gehört”, stieg Ajuki ein und kam schüchtern hinter Zeraph hervor. „Es gab Berichte, dass drei riesige Flugmaschinen von Celestis gestartet sind und den Planeten vor vierhundert Jahren verlassen haben. Danach passierte in Celestis nicht mehr viel. Bis zu der Katastrophe bei der Weltausstellung”

„Ja, das stimmt so weit”, fuhr Zeraph fort. „Celestis Elitewissenschaflter verließen die Erde. Danach stand die Stadt still”

„Und was meintest du mit: Aber das war nicht der einzige Vorteil?“, fragte Val.

„Sie waren unsterblich. Nicht ganz so wie ihr, nur alterten sie nicht mehr” Zeraph schaute zu Val und Milena. „Ihr habt Bellami doch in Celestis gefunden, richtig?“ Beide nickten ahnungslos. „Ich denke die Bewohner von Celestis waren zum Großteil nachkommen der Wissenschaftler, die Shezzar damals in ihrem Labor gefoltert haben. Sie konnten mit seinem Blut wohl etwas entwickeln, mit dem sie unsterblich werden können. Und das Gleiche haben sie mit Bellami gemacht”

„Wie, was haben sie bekommen?“, fragte Bellami wütend. „Was haben die von mir?“

„Sie haben einen kleinen Teil deiner Kräfte und deine Unsterblichkeit. Und da sie sich seitdem für höhere Wesen halten, nennen sie sich die Götter”, erklärte Zeraph weiter.

„Und ihre Anführerin heißt Isabelle!“, platzte Maria rein. Han ging langsam zu Zeraph und Ajuki. Zeraph schaute ihm fordernd in die Augen. Kumiko versteckte sich ängstlich hinter ihm.

„Bitte Ajuki”, sagte Han und verbeugte sich vornehm. „Bitte sag mir, was ich dir angetan hab. Ich weiß es nicht mehr, also sag es mir bitte. Was ist damals passiert?“ Ajuki strich mit der Hand ihre pechschwarzen, seidigen Haare hinter ihr linkes Ohr und schaute angespannt auf den Boden. Zeraph wandte sich von ihnen ab.

„Bin mal gespannt, was jetzt kommt”, sagte Zeraph herablassend. Ajuki nickte schüchtern lächelnd und die anderen setzten sich auf die weichen Ledersofas oder blieben interessiert stehen.

„Ich lebte damals mit meiner Schwester Kumiko allein in einem kleinen, leblosen Dorf, nahe der Stadt Marista, die damals noch ihren alten Namen hatte. Wir sind vor unseren Eltern aus Japan geflohen, da sie in Yakuza Kreisen agierten und wir ständig Gefahren ausgesetzt waren. Wir kannten jemanden in diesem Land, der mir Arbeit, und Kumiko einen Platz an einer Schule vermitteln konnte.

Unser Leben war nicht besonders aufregend, aber das war uns gerade recht, da es in meiner Heimat ständig Aufregung und Besorgnis gab. Kumi machte sich ganz gut in der Schule und lernte die Sprache auch sehr schnell. Mir fiel das nicht so leicht, aber ich bin trotzdem ganz gut klargekommen.

Das wir so nah bei Aletria wohnten, war uns gar nicht bewusst. Eines Abends kam Kumi, völlig aus dem Häuschen, zu mir und rief ständig „Schwester, Schwester! Komm mit, das musst du dir ansehen” Widerwillig folgte ich ihr ein Stück in den Wald und zu meinem Entsetzen hatte sie jemanden gefunden, den wir bisher nur aus Geschichtsbüchern und Erzählungen über Aletria kannten: Es war Shezzar, der Anführer der Streitkräfte von Aletria und einer der meistgefürchteten Massenmörder und Kriegsverbrecher der Welt. Er saß da, die Arme um die Beine geschlagen, mit einem erbärmlichen, verheulten Gesicht, wie ein kleines Kind, dem man seinen Lutscher weggenommen hatte.

Seine weiße Uniform war makellos sauber und unbefleckt. Seine Abzeichen funkelten im Mondlicht und sein mächtiges Schwert, mit dem er ganze Armeen auslöschte, steckte tief im Boden neben ihm. Ich hatte schreckliche Angst und wollte weglaufen, doch Kumi ging zu ihm und schaute ihm mitfühlend ins Gesicht. „Der Mann ist traurig”, sagte sie immer, obwohl sie, genauso gut wie ich wusste mit wem sie es zu tun hatte. Sie packte seinen Arm und zog an ihm. „Komm mit zu uns, wir machen dir einen leckeren Tee, dann geht’s dir wieder besser” Sagte sie in ihrer kindlichen Fröhlichkeit. Ich war wie erstarrt vor Angst, doch ich sah mehr Menschlichkeit in seinen Augen als bei allen anderen, die ich kannte. Ich resignierte und dachte mir: Wenn er uns hätte töten wollen, hätte er es längst getan.

Wir hätten uns ihm sowieso nicht widersetzen können. Irgendwann gab er Kumi nach und wir brachten ihn in unser Haus. Wir achteten darauf, dass uns niemand sieht, denn wenn ihn jemand erkannt hätte, hätte er wahrscheinlich gleich das Militär gerufen und die hätten alles mit Atombomben vernichtet. Nun war er bei uns im Haus und sprach kein Wort. Er nahm den Tee von Kumi an, nippte kurz an der Tasse und stellte sie wieder auf den Tisch. Er war wie gefangen in einer seltsamen Welt, hinter seinen Augen. Immer wieder liefen ihm Tränen die Wangen herab. Er aß nichts, er trank nichts. Er musste auch nie auf die Toilette. Sein Atem war sehr flach und kurz. Nach zwei Tagen fing er wieder an zu sprechen. Stück für Stück erfuhren wir, dass sein bester Freund verschwunden ist und er sich schreckliche Vorwürfe macht und glaubt, dass sein Freund genauso gefoltert wird wie er damals.

„Hast du ihn gesucht?“, fragte ich und er schaute mir tief in die Augen.

„Ja, hab ich. Aber niemand wird mir Auskunft geben, ohne dass ich ihnen mein Königreich überlasse”, antwortete er niedergeschlagen. „Und selbst der Drache kann ihn nicht mehr spüren”

Ein Drache ist bei ihnen? Dachte ich mir, aber das war nicht so wichtig. Ich hatte noch nie für jemanden so ein tiefes und ehrliches Mitgefühl empfunden. Letztendlich verliebte ich mich in ihn”

Verliebt? Dachte sich Kumiko, als sie sich daran erinnerte. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. So war das doch gar nicht. Sie beschloss ihr weiter zuzuhören, wurde aber zunehmen skeptischer.

„Die nächsten Tage redeten wir ununterbrochen und erzählten uns Geschichten aus unseren verschiedenen Welten. Seine Geschichten von Bellami und dem Drachen, Aletria und den Kriegen, die es brachte. Ich erzählte von meinem Leben in einer Yakuza Familie und meiner Bürde als erstgeborene Tochter des Oberhauptes. Wir lachten viel und Kumi sah in ihm wohl eine Art Vaterfigur. Eines Abends sagte ich ihm, dass er seinen Freund weitersuchen soll, egal wer sich ihm in den Weg stellt. Was ich bis heute bereue, denn am nächsten Morgen war er verschwunden.

Der Fernseher lief die ganze Nacht auf einem Nachrichtenkanal. Als ich aufwachte, waren bereits fünf Großstädte in verschiedenen Ländern zerstört. Alles war voller Berichte über Katastrophen und eine Weltweite Panik schien sich auszubreiten. Aus meinem Dorf waren die meisten schon geflohen. Nur verwackelte Videos von Mobiltelefonen zeigten Shezzar mit seinem Schwert, das um ihn herumflog und immer wieder in tausende Splitter zerbrach. Explosionen und Erschütterungen folgten. Autos flogen durch die Luft, Feuerwalzen rollten über das Land.

Seine Augen leuchteten hellgrün, genau wie das Symbol auf seiner Hand. Sein Gesicht war voller Wut und Hass. Ein Dunst aus leuchtendem Nebel umhüllte ihn und ließ Menschen auf der Stelle tot umfallen, die mit ihm in Berührung kamen. Sechs Tage später stand er plötzlich in unserem Wohnzimmer. Noch immer traurig und verzweifelt.

„Ajuki”, sagte er hektisch. „Ich weiß jetzt, wo er ist. Er muss dort sein. Doch ich habe ein komisches Gefühl” Er nahm seinen Armreif ab und legte ihn mir an. Ich war schon immer neidisch auf dieses wunderschöne Schmuckstück. Und nun gab er es mir, wie ein Beweis seiner Liebe.

„Das wird dich beschützen. Du musst den Drachen finden” Ich verstand seine Worte anfangs nicht. Dann gab er mir einen zweiten Armreif, den er aus seiner Tasche zog.

„Der ist für Kumiko. Sorg dafür, dass sie ihn auch immer angelegt hat. Es ist sehr wichtig” Seine Stimme war besorgt und aufgeregt. Es klang so als wäre es ein Abschied für immer. Mein Herz wurde kalt und ich fühlte mich leer und verlassen. Dann legte er seine Hände auf meine Wangen und küsste mich. Seine Lippen schmeckten salzig, von seinen Tränen getränkt.

„Ich liebe dich, Ajuki”, sagte er noch. Ich wiederholte seine Worte, dann verschwand er einfach. Die Tür fiel zu und ich war wieder allein. Er kommt wieder. Hab ich versucht mir einzureden, doch das Gefühl der Endgültigkeit umschloss mein Herz mit kaltem Griff. Als Kumi aus der Schule wiederkam, merkte sie sofort, dass er da war. Sein Geruch lag noch deutlich in der Luft, doch verraten hat es wohl mein verheultes Gesicht. Ich legte ihr den Armreif an und setzte mich mit ihr aufs Sofa. Kumi schaltete aus Gewohnheit den Fernseher ein und was wir sahen war ein Live-Bericht auf einem Notfallsender, der in alle intakten Gebiete der Welt ausgestrahlt wurde”

Ajukis Blick schweifte über die gierigen Gesichtsausdrücke der Meute, die ihr fasziniert und mit teilweise feuchten Augen begeistert lauschten. Nur Kumiko war nicht dabei. Sie saß einsam in einem Raum nebenan an einer Wand, umschloss ihre Beine mit den Armen und schluchzte traurig. Aus irgendeinem Grund schüttelte sie die ganze Zeit mit dem Kopf. Er war nur einen Tag bei uns und sie hat ihm eingeredet, dass er seinen Freund nur wiederbekommt, wenn er die Menschen versklavt oder vernichtet. Erinnerte sie sich.

Ajuki erzählte weiter. „Die Aufnahmen stammten aus einem Militärhubschrauber und waren verwackelt und ein bisschen unscharf. Shezzar war zu sehen, der langsam auf die letzte große Stadt zulief. Eine Frau mit silbernen Haaren, die neben der Kamera im Hubschrauber stand, fing an Befehle in ein Funkgerät zu brüllen. Sekunden später schlugen tausende Geschosse, Raketen und Bomben auf ihn ein. Doch er lief weiter als wäre es nur eine seichte Frühlingspriese.

Bataillone von Soldaten und Kriegsgerät wurden auf ihn losgelassen. Alle feuerten aus sicherer Entfernung und hinterließen auf seinem Weg ein Feld der Verwüstung. Doch er lief unaufhaltsam weiter. Sein Schwert wirbelte wie von Geisterhand um ihn herum und bildete eine undurchdringbare Barriere. Zwei Stunden lang wurde das gesamte verbleibende Militär der Welt auf ihn losgelassen und zerschellte wie eine Holzschaluppe in einer stürmischen Brandung. Dann blieb er plötzlich stehen. Die Frau bellte wieder unablässig Befehle in ihr Funkgerät und plötzlich verstummten die Kanonen. Der Staub legte sich und man sah dich”

Ajuki schaute Han ins Gesicht. Alle anderen taten ihr gleich. „Wie du vor ihm stehst und mit ihm geredet hast. Mehrere Hubschrauber umkreisten euch, aber ihr habt sie nicht beachtet. Shezzar hielt sein Schwert in der Hand und fuchtelte wütend damit herum. Han versuchte ihn zu beruhigen. Man konnte natürlich nicht hören was ihr sagtet, geschweige denn eure seltsame Sprache verstehen. Aber die Gestik war eindeutig.

Anfangs war es noch ruhig, doch dann wurde es zu einem heftigen Streit. Wild gestikulierend standet ihr euch gegenüber und habt euch angeschrien. Plötzlich stürmte Shezzar mit seinem Schwert auf dich los. Die Kamera wurde plötzlich nach unten gedrückt und man sah nur noch den Boden des Hubschraubers.

Wieder donnerte die Frau, von der man immer nur ihren Hinterkopf sah, befehle in ihr Funkgerät. Sekunden später brach ein erneuter Hagel aus Geschossen, Raketen und Bomben auf euch nieder. Eine große Staubwolke umhüllte das Gebiet und ihr wart nicht mehr zu sehen. Stattdessen zeigten sie Bilder von Panzerbataillonen, deren Kanonen unablässig Feuer spuckten bis sie glühten. Soldaten, die mit ihren Gewehren schossen und Fliegerstaffeln, die ihre totbringende Bombenlast abwarfen. Raketen und Artilleriekanonen wurden aus weiter Entfernung abgefeuert und trafen mit erschreckender Präzision ihr Ziel.

Der Feuersturm schien endlos, als hätten sie Munitionsfabriken, die sie unablässig mit Nachschub versorgten. Dann sah man wie Shezzars Schwert hoch in die Luft flog und das reflektierende Sonnenlicht blitzte in die Kamera. An seinem Scheitelpunkt blieb es kurz stehen und fiel mit der Spitze voraus wieder nach unten. Dann verebbte der Bombenhagel und der Staub legte sich langsam. Die Frau brüllte nun nicht mehr und schien sich zu beruhigen. Wieder verstummten die Kanonen und man hörte nur noch das Klopfen der Rotoren. Als Rauch und Staub sich legten, gaben sie ein Bild frei, das mein Herz zu Eis erstarren ließ. Shezzar lag leblos auf dem Rücken und sein eigenes Schwert steckte tief in seiner Brust. Die Kamera schwenkte kurz zu Han, der mit gesenktem Haupt langsam davon schlurfte. Sofort wurde wieder zu Shezzar geschwenkt. Die Worte der Frau mit den Silbernen Haaren werde ich nie vergessen:

An Alle: Ziel wurde eliminiert. Ich wiederhole: Ziel wurde eliminiert. Bergung umgehend einleiten! Shezzar ist tot. Aletria ist gefallen. Die Menschheit hat gesiegt. Kumi weinte schrecklich, genauso wie ich. Ein weiterer Militärhubschrauber landete und zwei Soldaten befestigten eine Kralle an Shezzars Schwert. Der Hubschrauber gewann langsam wieder an Höhe und zog es nach oben. Sein Körper hob sich leicht, bevor ihn die Klinge frei gab und an dem Seil hin und her baumelte.

Shezzars Körper löste sich zu einer grünen Flüssigkeit auf, die im Boden versank. Sekunden später schossen Gräser, Blumen und sogar Bäume aus der aufgewühlten Erde, wie in einer Zeitraffer Aufnahme. Die Frau drehte sich zum ersten Mal um und schaute direkt in die Kamera. Ihr makelloses Gesicht, mit einem feinen Teint, lächelte froh und erleichtert. Ihr Name war Isabelle Haidenberg und sie war General der vereinigten Streitkräfte der Welt.

Das Bild schaltete wieder um und man sah jubelnde Soldaten, die aus ihren Fahrzeugen sprangen, singend und tanzend einander umarmten. Diese sechs Tage werden bis heute gefeiert. Der Krater wurde zu einem Mahnmal erklärt und Die Haidenberg Scharte genannt. Ein weiches, buntes Schimmern geht noch immer von ihr aus”

Mit einem tiefen Atemzug erklärte Ajuki die Geschichte für beendet. Tränengetränkte Augen starrten sie an. Ein bedrücktes Schweigen durchfuhr den Raum. Ajuki starrte mit eiskaltem Blick zu Han.

„Verstehst du jetzt, warum ich dich hasse? Du hast mir den einzigen Menschen genommen, den ich je geliebt habe” Kumis kleines Herz zerbrach in diesem Moment mit einem stechenden Schmerz. Sie fühlte sich so schrecklich einsam, dass sie es kaum ertragen konnte. Sie konnte sich bestens an die wahren Geschehnisse erinnern und sie konnte nicht verstehen wieso Ajuki ihnen eine Geschichte erzählte, die bestenfalls für einen billigen Groschenroman geeignet war. Sie wollte etwas sagen; die Wahrheit, dass Shezzar in ihr nichts weitersah als ein einsames Kind und er ihnen den Armreif nur gab, weil er hoffte sie seien in Aletria in Sicherheit.

„Aber er hätte sonst die ganze Welt vernichtet”, sagte Milena.

Ajuki schüttelte den Kopf. „Nein!“, sagte sie laut und aufgewühlt. „Er hätte ihn gefunden. Er war kurz davor. Doch dann hat er ihn einfach umgebracht” Bellami stand auf und wollte gerade ein machtvolles Wort sprechen da erschienen überall im Kontrollraum rote Meldungen und eine weibliche Computerstimme ertönte: Achtung! Gravimetrische Verschiebung im nahen Orbit entdeckt. Richte Scanner aus.

Kapitel 13

Wir sind die Guten. Sind wir die Guten?

Bellami ging zu einem Kontrollpult in dem Raum, in dem Kumi sich versteckte. Ein Hologramm der Erde war zu sehen und daneben ein pulsierender, roter Punkt. Val folgte ihm.

„Was ist das?“, fragte Val.

„Weiß noch nicht, warte auf den Scan”, antwortete Bellami.

Scan Auswertung: ertönte wieder die Stimme. Masse des Objekts: 2 Millionen Tonnen. Energiesignatur: 1500 Grad, Frequenzfarbe: 9,5 Blau. Val hörte fasziniert zu.

„Was bedeutet das?“

„Warte noch ein bisschen. Wie es aussieht ist es ein Raumschiff”, antwortete Bellami.

Abgleich der Datenbanken, fuhr die Stimme fort. Massereiches Objekt klassifiziert als schwerer Schlachtkreuzer. Herkunft: Batyr, Bewaffnung: Mehrere große Strahlenemitter. Kleine Punktverteidigungssysteme, Nahverteidigung. Schilde: 2-Phasen-Vektorkrümmungsfelder und Magnetfeldemitter mit einer Flussdichte von 2,755 Tesla.

„Ähhh… Ist das nun ein Raumschiff?“, fragte Val wieder. Bellami nickte.

„Ist aber nicht wirklich bedrohlich. Zumindest nicht für uns”

Achtung! Starker Energieanstieg im Objekt. Einsatz einer Massenvernichtungswaffe wahrscheinlich.

Hologramme in der Luft zeigten nun schematisch Bilder des Objekts und dass es sich langsam ausrichtete. Kurz darauf waren live-Bilder von mehreren Überwachungssatelliten zu sehen: Es war ein großes, schlankes Raumschiff, glänzend weiß, umgeben von einem silbrig glänzenden Vorhang aus Energie.

„Massenvernichtungswaffe?“, fragte Milena entsetzt. Weitere Hologramme wurden projiziert. Sie zeigten Aletria und die Mauer darum.

Verteidigungssysteme werden angeglichen – DEATH System auf 1,2% Effizienz ausgerichtet. SHELL Phasenanpassung nicht notwendig. Bedrohungspotenzial bei unter Ein Prozent. DHC System Einsatz wird nicht empfohlen.

„Greifen die uns etwa an?“, fragte Val. Bellami schaute sich die Daten genauer an.

„Nein, das Schiff richtet sich auf Celestis aus”

„Was ist DEATH? Und das andere Zeug?“, fragte Val wieder, ohne groß auf eine Antwort zu hoffen.

Du hast dir diese Sachen ausgedacht” Bellami lachte. „Du meintest wir brauchen coole Abkürzungen dafür” Er drehte sich zu Val und fuchtelte mit den Händen in der Luft. „DEATH bedeutet Defensive Evolution Anti Threat Halo

Val kratzte sich an der Schläfe. „Hast du gerade Celestis gesagt?“

„Ja, wieso? Eine verlassene Stadt. Es war mal ihre, also sollen die sie doch zerstören, wenn sie wollen”

„Aber…“ Val holte die Phiole, die er aus der Stadt mitgenommen hat aus der Tasche. „Da ist überall dieses Zeug. Der Typ in dem Film sagt, dass einer dieser Fläschchen genug Energie enthält, um eine Stadt für ein Jahr mit Strom zu versorgen” Bellami nahm die Phiole und hielt sie in die Luft.

„Analyse, bitte”, sagte er und träufelte ein bisschen von der Flüssigkeit auf eine glatte Fläche auf dem Bedienpult. „Berechne bitte das Potential der Zerstörung, wenn, angenommen zehn Kubikmeter dieser Flüssigkeit von dem Energieimpuls getroffen werden”, befahl er. Einige Sekunden war Stille.

Zerstörungspotential bei 89%, sprach der Computer. Vollständige Vernichtung des Nordamerikanischen Kontinents bis durch den Erdmantel. Eine Geologische Kettenreaktion folgt, die die gesamte Erdoberfläche unbewohnbar macht. Es werden sofortige Gegenmaßnahmen vorbereitet. Einsatz des DHC Systems erforderlich.

„Was ist das DHC System?“, fragte Val wieder.

„Das bedeutet Death’s Hadron Collector. Das ist eine große Partikelkanone”, antwortete Bellami genervt. Wieder ertönte eine Warnung.

Achtung. Weitere Gravimetrische Verschiebungen. Zwei weitere Schlachtkreuzer richten sich auf Celestis aus. Gefahrenpotenzial bei 99%.

„Hmmm” Bellami überlegte. „Wir können nur einmal Feuern. Und die Schiffe sind zu weit voneinander entfernt, um sie alle mit einem Schlag zu zerstören”

„Aber wir sind doch sicher hier?“, fragte Milena, die gerade zu ihnen kam.

„Schon” Bellami tippte nachdenklich auf dem Pult herum. „Das Dumme ist, dass sie den gesamten Planeten zerstören. Im Prinzip sind wir sicher, da wir die Stadt…“ Der Computer unterbrach ihn.

Analyse der Flüssigkeit vollständig. Das Wellenmuster der DHC wird angepasst. Verfahren wird gestartet.

„HA!“, lachte Bellami. „Der Computer war schneller”

„Ich verstehe”, sagte Han und ging zu ihnen. „Wir zerstören Celestis, bevor die es tun” Im Zentrum des Turms öffnete sich eine riesige Schleuse und aus dem Boden schoss eine metallene Apparatur, die sich an den Innenseiten der Pfeiler emporzog. Sie blieb genau auf Höhe der ringförmigen Kontrollplattform, in der sich alle befanden, stehen und diese wurde kurz darauf etwa dreißig Meter nach unten gefahren.

Am oberen Ende des Turms angekommen, fuhren im Zentrum drei längliche Balken aus, die sich dann leicht schräg ausrichteten. Diese waren umgeben von beweglichen Kacheln, die wie ein Parabolspiegel nach oben ausgerichtet waren. Die untere Hälfte bestand aus mehreren nach unten ausgerichteten Platten, die kreisförmig um das Zentrum angeordnet waren. Dort befand sich etwas was wie ein großer Kristall aussah, der wie ein perfekt geschliffener Edelstein von einer glänzenden Fassung gehalten wurde.

Berechnungen abgeschlossen, Ertönte wieder der Computer. Bereit zum Feuern. Val schaute skeptisch.

„Aber wenn wir Celestis zerstören, passiert doch das Gleiche, oder?“ Han schüttelte den Kopf.

„Die Waffe ist so eingestellt, dass sie das Wellenmuster der Energie in der Flüssigkeit umkehrt und neutralisiert”

„Ganz recht”, übernahm Bellami, „Das Problem ist nur, dass wir nicht genau wissen, wie viel dieser Flüssigkeit sich dort befindet. Deswegen könnten die Berechnungen auch leicht danebenliegen. Aber selbst im schlimmsten Fall, wäre es nicht mal annähernd so schwerwiegend, als wenn die anderen vor uns feuern”

„Dennoch müssen wir auch die Schiffe zerstören”, erwiderte Han.

„Die sind mir eigentlich egal. Meiner Stadt können die nichts, selbst mit ihren besten Waffen” Bellami hob den rechten Arm und ballte seine Hand zur Faust. „Feuer!“, brüllte er laut und schlug auf das Pult ein. Aus dem Zentrum des Turms schoss ein Schwall schwarzer Energie, die den Kristall zum Glühen brachte.

Die Platten, die um den Kristall angeordnet waren, begannen sich leicht zu bewegen und fingen ebenfalls an in einem dunklen lilafarbenen ton zu leuchten. Zwischen den Balken auf der oberen Seite der Waffe entstand nun eine Kugel aus dieser Energie, die von einem Kraftfeld fixiert wurde. Die Kacheln darunter richteten sich neu aus und um die Kugel bildeten sich mehrere Ringe, die sich wie Wellen bewegten. Das Leuchten der Kugel wurde immer stärker, dann richteten sich die Ringe plötzlich gerade und parallel zur Konstruktion aus und ein langer, heller Energiestrahl schoss in den Himmel. Dort traf er auf einen speziell dafür platzierten Satelliten. An dessen oberen Teil waren sogenannte Empfänger Module, die mithilfe eines fein kalibrierten Energiefeldes die Partikel auffangen und neu ausrichten konnten. Der Satellit befand sich im Orbit direkt über Celestis und der Partikelstrahl wurde punktgenau ins Ziel geleitet.

Zur selben Zeit feuerte der Schlachtkreuzer seine Strahlenwaffe ab. Der schwarze Strahl schlug nur wenige Millisekunden vor dem anderen ein und die Stadt versank in einem Meer aus blauen Flammen. Als der andere einschlug, blitzte ein helles Licht auf, das auf dem ganzen Kontinent zu sehen war.

Eine extreme Hitze verbrannte alles innerhalb von einhundert Kilometern umkreis. Es folgten schwere Erdbeben und Druckwellen pulsierten über das Land, die ganze Landstriche einebneten. Nach wenigen Minuten war es vorbei. Auf den Live-Bildern des Satelliten war nun ein zehn Kilometer breiter Krater zu sehen. Alles andere war verbranntes, karges Ödland.

„Der Krater ist nur einen Kilometer Tief. Keine Staubwolke und keine nennenswerten Veränderungen der Tektonik”, sagte Bellami gelassen.

„Aber das ganze Gebiet um Celestis wurde ausgelöscht. Das war doch bewohnt, oder?“, sagte Milena entsetzt. Val schaute ihr mitfühlend in die Augen. Bellami zuckte nur mit den Achseln.

„Das Land wird sich schnell wieder erholen. Und die Bevölkerung auch”, sagte er kalt.

„Was machen wir jetzt mit den drei Schlachtkreuzern?“, fragte Han. „Sie richten sich auf Marista aus”

„Marista?“, fragte Val entsetzt.

„Momo!“, setzte Ryu nach.

„Wenn du deine Freunde retten willst, dann hol sie hier her”, sagte Bellami und verschränkte die Arme.

„Heißt das, du willst die Schiffe nicht zerstören?“, fragte Ryu. „Aber du hast doch gerade eben auch eingegriffen” Zeraph lachte laut.

„Du weißt schon, dass wir die Bösen sind, richtig?“, sagte er zynisch. Ryu schüttelte den Kopf.

„Aber ich dachte wir haben gerade die Welt gerettet” Bellami grinste und schaltete eine Übertragung ein, die auf einem öffentlichen Kanal weltweit gesendet wurde. Es war eine simple Nachrichtensendung. Die Sprecherin:

Vor wenigen Minuten ereignete sich eine Katastrophe, wie sie schlimmer nur vor tausend Jahren stattfand. Wieder wurde die Menschheit von den skrupellosen Militärs des silbernen Reiches angegriffen. Der halbe nordamerikanische Kontinent wurde innerhalb weniger Sekunden von einer Orbitalen Massenvernichtungswaffe attackiert und vernichtet. Die geschätzte Zahl der Opfer liegt im zweistelligen Millionenbereich.

Aufnahmen von Überwachungssatelliten zeigen, dass der Angriff direkt von der Silbernen Stadt ausging und auf die verlassene Stadt Celestis abzielte, die scheinbar als Katalysator für eine enorme Kettenreaktion herhalten sollte. Gründe für diesen Angriff sind nicht bekannt. Experten vermuten, dass es sich um einen Test ihrer Massenvernichtungswaffen handelte. Wir halten sie auch weiterhin auf dem Laufenden” Bellami schaltete die Übertragung wieder ab.

„Wir waren schon immer die Bösen” sagte er wieder mit kalter Stimme. „Und je nachdem, wie du es siehst, sind wir es auch”

„Aber können wir das nicht irgendwie klarstellen?“, fragte Ryu.

„Und wozu? Sollen wir uns mit denen etwa anfreunden?“, sagte Bellami herablassend.

„Naja … vielleicht” Ryu geriet ins Stocken. Ihm viel keine Antwort darauf ein. Zeraph legte seine Hand auf Ruys Schulter und grinste ihn an.

„Du solltest das selbst entscheiden. Immerhin bist du bald ein Drache mit unendlicher Macht. Wir werden dich nicht aufhalten. Aber wir werden keinesfalls irgendeine Stadt retten, nur um uns einen guten Namen bei denen zu machen”

„Aber meine Freunde wohnen dort”, sagte Ryu wieder etwas schüchtern.

„Wie Bellami bereits sagte, sie sind hier herzlich willkommen und sie werden hier alles bekommen was sie sich wünschen”

„Und die anderen Menschen?“ Ryus Augen funkelten Zeraph erwartungsvoll an. Zeraph schüttelte den Kopf.

„Warum nicht?“, fragte Ryu eindringlich. Zeraph kniete sich zu ihm herab und starrte ihm fest in die Augen.

„Du kennst diese Menschen, Ryu. Du hast selbst erlebt, wie sie sind. Diese Wesen, die gerade dabei sind Marista zu zerstören, sind ebenfalls Menschen. Sie scheuen keine Mühen und Opfer, allen ihre Überzeugungen aufzuzwingen” Ryu lief zu Bellami und packte ihn entschlossen am Arm.

„Bitte rette meine Freunde!“ Bellami lächelte.

„Sie sind bereits hier”

„Alle?“, fragte Val plötzlich.

„Ja, alle. Sie haben selbst beschlossen die Stadt zu verlassen. Ach ja, und noch zwei andere”, sagte Bellami.

„Was meinst du mit zwei Andere?“

„Zwei blinde Passagiere, die mit einem Transporter reingekommen sind”

„Und wer sind die?“, fragte Ryu.

„Woher soll ich das wissen? Vielleicht kennst du sie?“, sagte Bellami und schaltete auf eine Kleine Überwachungsdrohne, die die Beiden die ganze Zeit verfolgte. Es waren zwei etwa 15 Jahre alte Jungs, die zwei gleiche, schmutzige Overalls trugen. Einer der Beiden hatte zwei rote Armbinden am rechten Arm, der andere hatte zwei blaue Armbinden am Linken arm. Sie saßen erschöpft an einer Wand und unterhielten sich. Beide sahen sich ziemlich ähnlich: Kurze braune Haare, helle Haut und schmutzige Gesichter. Der Junge mit den roten Armbinden lachte verwegen und der andere schaute ihn wütend an.

„Man eh, was hast du dir dabei gedacht?“, sagte der Junge mit den blauen Armbinden.

„Was willst du? Wir haben es doch geschafft. Die haben es nicht mal bemerkt”, antwortete der Junge mit den roten Armbinden.

„Und was jetzt? Was hat der geniale Anführer Maru als nächstes vor? Weißt du wo wir was zu essen herbekommen? Oder wo wir die Nacht schlafen sollen?“, sagte der Junge mit den blauen Armbinden mürrisch.

„Lass mich jetzt erst mal meinen Erfolg genießen. Immer denkst du an Morgen und Übermorgen, das nervt doch. Du bist doch Haru das Supergenie, also lass dir was einfallen. Ich verlass mich auf dich”, fauchte Maru zurück und schlief sofort ein. Haru schaute ihn noch grimmiger an.

„Immer muss ich deinen Blödsinn ausbaden! Und du pennst währenddessen. Aber diesmal haben wir überhaupt keinen Anhaltspunkt, was wir machen könnten” Maru vergrub sein Kopf in seinen Armen und winkte abweisend mit der Hand.

„Es wird schon jemand kommen und uns vollquatschen. Da kannst du dir sicher sein” Ein paar Minuten schwiegen beide.

„Die Stadt ist riesig und seit tausend Jahren verlassen”, sagte Haru und wurde sehr sarkastisch. „Natürlich kommt dann zufällig jemand daher und gibt uns Obdach und Essen. Du bist so ein Dummkopf, Maru” Maru reagierte nicht, er schlief schon tief und fest. Haru überkam auch langsam die Müdigkeit und er nickte ein. Als er wieder aufwachte, schaute er auf und sah die Umrisse einer seltsamen Gestalt vor sich.

„Maru was machst du? Hast du jemanden gefunden?“ Dann sah er sich um. Maru lag noch immer neben ihm und schlief. Wieder schaute er nach vorn. Die Gestalt schien näher zu kommen. Er schaute wieder zu Maru um wirklich sicher zu gehen, dass er noch da ist. Dann schaute er wieder auf und erkannte Ryu vor sich, der ihn freundlich anlächelte. Haru tippte nervös auf Marus Schulter rum.

„Lass mich in Ruhe!“, fauchte Maru ihn an.

„Aber … das ist … der Feuerteufel von letztens”, sagte Haru verängstigt.

„Hallo ihr beiden”, begrüßte Ryu sie freundlich. Maru rappelte sich auf und schaute zu Ryu. Dann schaute er zu Haru. Dann rieb er sich die Augen und schaute wieder zu Ryu. Ein paar Sekunden passierte nichts. Dann sprang er auf und stellte sich in Angriffshaltung vor Haru.

„Wir gehen hier nicht mehr weg, da musst du uns schon umbringen”, brüllte er mutig. Ryu kratzte sich am Kopf.

„Ich habe nicht vor, jemanden umzubringen, aber hier bleiben könnt ihr auch nicht”, sagte er schüchtern.

„Niemals!“, brüllte Maru lauter. „Wir haben es endlich bis hierher geschafft und jetzt lassen wir uns nicht wieder rauswerfen” Haru stand auf und zog resignierend an Marus Overall.

„Gib auf. Die haben scheinbar nicht genug Platz in ihrer riesigen, hoch entwickelten Stadt, für zwei Waisen” Ryu lächelte.

„Doch, das haben wir”, sagte er freundlich.

„Und wieso können wir dann nicht bleiben?“, fragte Maru zornig. Beklemmt schwieg Ryu eine Weile und starrte nachdenklich Löcher in die Luft. Dann lächelte er und schnippte mit den Fingern.

„Weil das eine Transitstation für Waffenbatterien und Frachtcontainer ist. Außerdem erkältet ihr euch, wenn ihr draußen schlaft”, antwortete er und kratzte sich wieder am Kopf. „Ich hab schon eine Wohnung für euch ausgesucht. Oder zwei, wenn euch eine nicht reicht. Ganz oben in einem der großen Gebäude da drüben” Er zeigte mit dem Finger zum Stadtzentrum. „Eine Mahlzeit ist auch schon vorbereitet und ein paar frische Sachen zum Anziehen” Haru und Maru waren sprachlos.

„Folgt mir einfach”, sagte Ryu gelassen und ging um die Ecke, wo ein kleines Shuttle wartete. Marus Zähne tropften vor Hunger und er wollte gerade loslaufen, da packte Haru ihn am Kragen.

„Bist du bescheuert?“, sagte Haru wütend.

„Hast du nicht gehört, wir bekommen doch noch Essen und Obdach”, antwortete Maru.

„Nochmal: Bist du vollkommen bescheuert?“, sagte er nachdrücklich. „Wann hat uns das letzte Mal jemand einfach so Essen und Obdach angeboten?“ Maru zuckte mit den Schultern. Ryu kam wieder um die Ecke zurück und winkte den beiden zu. Sie starrten sich eine Weile wütend in die Augen und sagten keinen Ton. Bis Harus Bauch anfing zu knurren.

„Aber …“, stammelte Haru. „Ich hab Hunger. Ich hab seit drei Tagen nichts gegessen. Und du auch nicht” Maru schüttelte den Kopf.

„Wir können denen nicht einfach vertrauen. Wer weiß was die mit uns machen wollen? Immerhin ist das der Feuerteufel. Der hat den Polizisten einfach so“, er schnippte mit den Fingern, „plattgemacht. Und diesen Militärheini schwer verletzt”

„Ja, aber das Mädchen hat er gerettet. Und wenn er uns was Böses wollte, hätten wir eh keine Chance”, erwiderte Haru, packte Maru am Arm und schleifte ihn in Richtung Shuttle. Er winkte Ryu zu und lächelte. Haru wehrte sich, aber Maru war viel stärker. Sie stiegen in das Shuttle. Mit einem flauen Gefühl im Magen schauten sie auf die Majestätische Stadt herab, bis es wieder landete und sich die Schleuse öffnete. Zaghaft stiegen sie aus und fanden sich auf dem Dach eines großen Hochhauses wieder, von dem aus man die ganze Stadt überblicken konnte.

Das einzige Gebäude das höher war, war der Hauptturm. Ryu führte sie in eine Wohnung, die größer war als ein Einfamilienhaus. Es war angenehm warm, wohnlich und gemütlich. Die Fassade war verglast und man konnte rings herum die ganze Stadt bewundern. Es roch nach einer leckeren, frisch gekochten Mahlzeit. Haru viel sofort in Trance und steuerte mit tropfenden Zähnen Richtung Esszimmer. Er stürzte sich wie ein hungriges Tier auf seine Beute und schlug sich den Wanst voll.

Haru schaute ihm noch kurz nach, streckte die Hand aus, um wenigstens versucht zu haben ihn fest zu halten, resignierte aber im selben Moment und begab sich ebenfalls zu Tisch.

Gegen Abenddämmerung verließen alle den Turm und bezogen ihre Unterkünfte. Alle wohnten in den großen Wolkenkratzern dicht beieinander. Han teilte sich ein Mehrstöckiges Apartment mit Lili und Maria. Val und Milena hatten eine große Wohnung direkt gegenüber. Zeraph besaß ein eigenes Gebäude, das damals speziell für seine Bedürfnisse als Drache gebaut wurde. Es ist etwa doppelt so groß wie ein Fußballstadion. Ajuki staunte als sie das Gebäude vom Turm aus ansah, indem der Drache gerade friedlich schlief, verborgen in einer anderen Dimension.

„Es gefällt dir ein Mensch zu sein, nicht wahr?“, fragte sie fröhlich. Zeraph zuckte, von seinem Stolz gebändigt, nur emotionslos mit den Schultern. Ajuki zog an seiner Hand.

„Du kannst mit bei mir wohnen” Sagte sie erwartungsvoll. Wieder zuckte er gleichgültig mit den Schultern und ließ sich von ihr davon zerren. Fröhlich lächelnd schaute Ajuki in Zeraphs Augen und ignorierte ihre kleine Schwester, die immer noch traurig an der Wand hockte.

Bellami blieb im Turm und schaute sich die Aufzeichnungen über das Weltgeschehen der letzten tausend Jahre an. Kumiko blieb ebenfalls da. Sie setzte sich hinter das Kontrollpult und beobachtete Bellami. Er war vollkommen konzentriert als er auf dem Bedienfeld herum tippte und sich unzählige Berichte und Fernsehreportagen anschaute.

Schon zweihundert Jahre nach dem großen Krieg wuchs das Niveau der Weltbevölkerung wieder auf über eine Milliarde an. Einhundert Jahre später waren es schon fast zwei Milliarden. Das lag daran, dass all die technologischen Errungenschaften der 2100er Jahre zu großen Teilen erhalten blieben. Da die Bevölkerung aber auf unter 300 Millionen gefallen war, waren die Ressourcen wieder großzügig nutzbar und die Menschheit vermehrte sich explosionsartig.

Das ging 500 Jahre gut, dann brach eine Zeit an, die in den Geschichtsbüchern als zweites Mittelalter geführt wurde. Es war eine Zeit blutiger Kriege, Folter, Seuchen, religiöser Allmacht und ethnischer Unterdrückung. Technologischer Fortschritt wurde zunichte gemacht, um einem höheren Ziel und der Erlösung näher zu kommen. Es wurde streng behauptet, dass der große Krieg dadurch verursacht wurde, weil die Arroganz und die technologische Eitelkeit Gott erzürnt hätten.

Die Menschen glaubten das ohne jegliche Skepsis, da es unzählige Aufzeichnungen von Shezzars Amoklauf gab, die seine unbändige Kraft und damit seine Göttlichkeit, zweifelsohne untermauerten. Sie hatten Gott gesehen. Und nicht einmal die cleversten Wissenschaftler konnten ihm seine Macht aberkennen. Diese dunkle Zeit ist bis heute unverändert.

Drei Tage lang rührte sich Bellami nicht von der Stelle. Ohne eine Miene zu verziehen verschlang er alle Aufzeichnungen, Reportagen und Dokumentationen, die er fand. Kumi traute sich nicht, diesen Fremden Jungen, der angeblich der Herrscher dieser Stadt war, anzusprechen. Er stand direkt vor ihr, so traurig und so allein, und dennoch war er so weit weg.

Sie versuchte immer wieder sich aufzurappeln und sich Mut zu machen. Aber es war als wäre eine Wand in ihrem Kopf, die sie nicht überwinden konnte. Am Morgen des dritten Tages, als sich die hellen Sonnenstrahlen endlich einen Weg durch die Wolkendecke bahnten und den Hauptturm in seiner vollen Pracht erstrahlen ließen, strahlte Bellami wieder ein bisschen Leben aus. Das Licht sank weiter sein Gesicht herab und traf seine Augen. Er blinzelte und eine einzelne Träne rann ihm über die Wange.

Als Kumi das sah, verflogen ihre Angst und ihre Zurückhaltung schlagartig. Sie stand auf und ging zu ihm. Doch bevor sie irgendwas sagen konnte stürmte Zeraph herein und packte Bellami am Kragen.

„Es ist soweit!“, sagte er grinsend aber angespannt, „Du bist jetzt an der Reihe!“ Bellami nickte. Auf einem Tisch erschien ein Dreidimensionales Hologramm. Aletria war schematisch zu sehen. Und etwas weiter östlich eine große Streitmacht.

„Die können uns doch gar nichts. Selbst wenn sie wollten”, sagte er gelangweilt.

„Ich weiß”, antwortete Zeraph und ließ von ihm ab. „Aber das ist der perfekte Moment deine Macht zu demonstrieren” Er machte eine dramatische Pause. „Lasse sie an DEATH zerschellen und mach dir die Menschheit Untertan. Oder rette sie, indem du ihnen ihrer Waffen entledigst” Noch eine Pause. „Sein ein guter Gott oder ein böser. Nur sei endlich einer! So wie du es mir versprochen hast” Wieder nickte Bellami. Zeraph verließ den Hauptturm. Bellami drehte sich um und schaute Kumi konzentriert und angespannt in die Augen. Kumi schaute ihn verängstigt ins Gesicht.

„Ich … ich heiße Kumiko”, stotterte sie ängstlich. Ein angespanntes Schweigen trat ein. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor und zerrte an ihrer Seele.

Es war ein spürbarer Schmerz, der wie eine Giftwolke durch ihre Adern fuhr und ihren Mut verschlang. Doch plötzlich lächelte Bellami. Er streckte seine Hand aus und fühlte mit den Fingerspitzen über ihre Wange. Kumi war wie paralysiert. Die Angst war weg, aber sie war so unendlich verwirrt, dass sie keinen einzigen Gedanken fassen konnte. Dann ließ er wieder von ihr ab, kippte seinen Kopf ein wenig zur Seite und zwinkerte.

„Wir sehen uns, Kumiko”, sagte er, dann verließ er den Raum. Sein Lächeln war wie Balsam für ihr kleines, verletztes Herz. Sie fühlte sich wie benommen, voller Wärme und Hoffnung.



Ein tiefes, lautes Brummen raunte durch die Stadt. Val und Milena standen auf dem Dach des Gebäudes, in dem sie wohnten und beobachteten ein seltsames Geschehen. Auf einer großen Freifläche vor dem Hauptturm öffnete sich eine entsetzlich große Falltür langsam und gab ein großes, klaffendes Loch frei.

Wenig später schwebten große, metallische Teile heraus und wurden von einer Art Kraftfeld zusammengesetzt. Wie bei einem Puzzle wurde das Bild erst nach und nach verständlich und man erkannte die grobe Form und Milena glaubte schon zu wissen, was es ist.

„Sieht wie ein Raumschiff aus”, sagte sie und legte den Kopf schräg. Val schaute kurz zu ihr. Sie sah sich sehr sicher aus.

„Denkst du, Bellami sitzt da drin? Oder der Drache? Hab beide lang nicht mehr gesehen”

„Ja, mag sein. Sie haben bestimmt vor, diese großen Schiffe zu zerstören. Ich wundere mich, warum sie Marista noch immer nicht angegriffen haben, obwohl Bellami sich so sicher war”, sagte sie nachdenklich.

„Vielleicht ging es ihnen gar nicht darum”, antwortete Val. „Vielleicht, wollen sie, dass Bellami sie angreift. Könnte doch ein Hinterhalt sein oder so” Milena starrte wie aus Stein gemeißelt in die Luft. Man sah beinahe wie die Zahnräder in ihrem Kopf heiß liefen. Dann drehte sie sich um und sah Val besorgt an.

„Du hast Recht”, sie geriet ins Stottern. „Die werden ihn töten” Val streichelte tröstend ihren Rücken, denn er wusste nicht, wie er helfen konnte. Milena nahm Vals Hand und nahm ihn mit nach unten zum Aufzug.

Bellami saß etwas angespannt vor einer Kontrolltafel im Kern des Schiffes. Um ihn herum waren dutzende Dreidimensionale Hologramme und Bildschirme. Seine Hände lagen auf zwei kristallenen Halbkugeln am Ende jeder Armlehne. Auf einem Bildschirm vor sich, sah er graphisch wie weit der Zusammenbau des Schiffes vorangeschritten war.

Das letzte Teil wurde am Rumpf angebracht und die Antriebssysteme wurden gestartet. Das Kraftfeld, das aus dem Schacht kam, erlosch und das Schiff sackte etwa einen Meter nach unten, dann wurde es von einem eigenen Feld gefangen und anmutig in der Luft gehalten. Nun waren alle Systeme aktiv. Die komplette Umgebung wurde auf der Oberfläche der Wände im Kontrollraum dargestellt. Bellami sah nun alles um das Schiff herum, ohne das Schiff selbst. Er drehte seinen Kopf einmal komplett von rechts nach links und schaute konzentriert auf die Stadt unter sich.

„Adrastea”, sagte er laut. Ein kurzes Piepsen bestätigte Bereitschaft.

„Systemkonfiguration. A-20, Kreuzer. Schwere Waffen” Mehrere Hologramme erschienen, die die Konfiguration darstellten. Weitere Bauteile erschienen im Schacht und bewegten sich anmutig und gleichmäßig auf das Schiff zu. Dann verschmolzen sie nahtlos damit. Bellami legte seinen Kopf in die Kopfstütze und startete die Triebwerke.

Urplötzlich schoss das Schiff los und verschwand im Himmel. Sekunden später stand er vor den drei Schlachtkreuzern. Die Adrastea war schon ein beeindruckend großes Schiff. Doch im Vergleich zu denen war sie winzig. Sie wurde sofort von den feindlichen Schiffen erfasst und unter Beschuss genommen. Eine gewaltige Flut von Geschossen und Partikelstrahlen hämmerte unablässig auf dem Schild ein, der aber keinerlei Anstalten machte, auch nur ein wenig nachzugeben.

Bellami schüttelte herablassend den Kopf und richtete die Scanner aus. Er hatte es weder auf den Reaktor noch auf die Steuersysteme abgesehen. Die zwei Punkte, die er anvisierte, waren die Brücke und das Kommunikationssystem. Das rechte Schiff drehte sich von der Erde weg und nahm langsam Geschwindigkeit auf. Bellami störte das wenig.

„Hast du sie erfasst?“, ertönte Zeraph über das Kommunikationssystem.

„Die Markierungen sind gesetzt. Ich kümmere mich um die Schilde. Aber sag, warum zerstören wir sie nicht?“

„Weil wir die Daten brauchen. Du darfst auf keinen Fall den Zentralcomputer beschädigen. Du kümmerst dich nur um die Schilde, sonst nichts” Noch immer hämmerten die Geschosse auf die Adrastea ein, als ob es ihnen egal wäre, dass ihre immense Feuerkraft einfach so verpufft. Bellami näherte sich den Schiffen so weit, dass er nur noch von den kleinen Punktverteidigungen bekämpft werden konnte.

Nun wurden Jäger gestartet und auf Bellami losgelassen. Mehrere Staffeln umkreisten und beschossen ihn. Doch genau wie die großen, verloren die kleinen Waffen der Jäger ihre Wirkung vollkommen. Er näherte sich auf etwa 5 Kilometer und stoppte. Noch immer umkreisten ihn die Jäger und feuerten alles, was sie hatten.

„Bist du bereit?“, fragte er.

„Jap” Antwortete Zeraph, der auf einer Lichtung stand, mit einer riesigen Waffe auf den Schultern. Er hielt sie fast senkrecht in den Himmel und schaute auf den Bildschirm des Feuerleitsystems.

„Okay. Ich gleiche jetzt die Feldlinien und die Krümmungsfelder an. Du hast nur einen kleinen Korridor, aber das sollte reichen. Beeil dich bitte. In dieser Zeit kann ich meinen eigenen Schild nicht halten und muss mich auf die Panzerung verlassen”

„Du langweilst mich. Mach endlich”, antwortete Zeraph harsch. Bellami schüttelte beleidigt den Kopf und startete die Sequenz. Und wie er es gesagt hatte, brach der Schild der Adrastea zusammen und die Geschosse trafen nun direkt auf die Außenhaut. Mehrere starke Energieimpulse gingen von der Adrastea ab und zerstörten die kleinen Jäger allesamt mit einem Schlag. Eines der großen Schiffe richtete eine riesige Partikelkanone die Adrastea aus.

„Beeil dich, verdammt! Wenn die mit dem Ding jetzt auf mich feuern, war's das!“, brüllte Bellami nervös.

„Vor was hast du Angst? Das du sterben könntest? Ich lach mich tot”, antwortete Zeraph und feuerte seine Waffe ab. Ein silberweißer Strahl schoss in den Himmel und schlug in den Rumpf des mittleren Schiffes ein.

Wie durch Butter bahnte sich ein faustgroßes Geschoss seinen Weg durch die zwanzig Meter dicken Panzerplatten und fräste sich durch den Bauch des Schiffes. Es drang in die Brücke ein und detonierte in einer hochfrequenten Impulswelle, die das Zellgewebe von Lebewesen kollabieren lässt und somit alle in der nahen Umgebung tötete. Das rechte Schiff startete seinen Sternenantrieb und verschwand in der schwarzen Leere. Das Linke Schiff richtete ebenfalls eine Partikelkanone auf die Adrastea.

„Das dauert alles zu lange!“, brüllte Bellami. „Die Partikelkanone hat mich gleich erfasst. Tu was!“ Zeraph schmiss die Waffe auf den Boden und tippte auf seinem Armreif herum. Bellami zappelte nervös in seinem Sitz herum.

„Für die DHC ist es zu spät. Ich kann die Sequenz nicht abbrechen. Das war ja mal ein toller Plan”, fauchte er wütend und schlug mit der Faust auf die Armlehnen. Doch dann durchfuhr ihn ein seltsames Gefühl. Als würde gerade eine riesige Welle durch das ganze Universum fahren und es zu vibrieren bringen.

„Was ist…?“

Das linke Schiff feuerte die Partikelkanone ab, aber anstatt die Adrastea zu zerstören, explodierte sie in einer weiß leuchtenden Plasmawolke. Die Explosion riss ein großes Loch in den Rumpf und er brach auseinander.

Sequenz beendet –Schilde wiederhergestellt, ertönte der Computer. Bellami schaute immer noch fasziniert auf das Schiff, dass nur noch von einem kleinen, metallenen Steg in der Mitte zusammengehalten wurde. Dann fing es an, sich aufzulösen. Bellami schüttelte den Kopf.

„Alles klar bei dir?“, erkundigte sich Zeraph über das Kommunikationssystem.

„Es ist einfach so zerbrochen und dann hat es sich aufgelöst”, flüsterte er demütig.

„Wie hoch die Wahrscheinlichkeit wohl sein mag, dass so etwas passiert? Aber das andere ist noch intakt, ja?“

„Sag, weißt du, was da eben passiert ist?“, fragte Bellami verwundert.

„Ja klar. Und jetzt geh an Bord des Schiffes. Töte die Crew und repariere die Schäden an der Hülle. Ich hab schon einen neuen Plan”

Ohne weiter zu fragen stieg er in eine kleine Kapsel und flog damit durch das Loch, das Zeraphs Waffe hinterlassen hat, bis zur Brücke und stieg aus der Kapsel aus. Sie versigelte gleichzeitig den Bruch und stellte den Innendruck wieder her. Bellami sah sich um und rümpfte angewidert die Nase. Überall lagen die Leichen der Offiziere, die zu einer gallertartigen, undefinierbaren Substanz zerfallen waren, nur noch erkennbar an ihren Uniformen.

Er schaltete alle Lebenserhaltungssysteme ab. Jedes Crewmitglied trug einen biometrischen Chip, der permanent die Lebenszeichen der Besatzung an den Zentralrechner sendete. So sah Bellami jeden einzelnen der 450 Menschen sterben. Erst schickte er die Adrastea wieder nach Aletria. Dann öffnete er einen Kommunikationskanal und sah Zeraph an einem Kontrollpult im Hauptturm.

„Ich frag mich wie du das gemacht hast. Das mit dem Schiff meine ich”, sagte Bellami und setzte sich.

„Oh, ich war das nicht”, antwortete Zeraph, grinste und brach die Kommunikation ab. Bellami schüttelte genervt den Kopf. Er speiste einen Virus in das Sattelitennetzwerk der Erde ein und gewann so innerhalb weniger Minuten die Kontrolle über alle extraterrestrischen Kommunikationswege. Sein grinsendes Konterfei war nun auf jedem Bildschirm, überall auf der Welt zu sehen. Er faltete die Hände vor seinem Gesicht zusammen und legte sein Kinn darauf.

„Hallo” Sagte er mit seiner kindlichen Unschuld und einer engelsgleichen Stimme. Sein Grinsen war nun ein ausgelassenes Lächeln und er schwieg eine Weile. Zeraph schaltete sämtliche Bildschirme Aletrias auf Bellamis Übertragung.

Seit Tagen plante er die Inszenierung mit allen Hilfsmitteln die Aletria ihm bot. Wie ein Dirigent ließ er seine Hände über das tastenlose Bedienpult tanzen und wirkte alle denkbaren Effekte und Tricksereien in einer lange geübten Symphonie. Alle sahen es. Auch die Waisenkinder, die mittlerweile in Aletria lebten, Val und Milena, Han, Lili und alle anderen.

„Ich heiße Bellami Makalan und bin ab jetzt euer Herrscher”, sagte er fröhlich und heiter. Die Rede wurde überall in die lokale Sprache übersetzt. Jeder hörte ihn, jeder verstand ihn. „Eine große Streitmacht ist gerade auf dem Weg, meine Stadt zu zerstören” Ein Bild der Streitkräfte wurde eingeblendet. „Also ich bewundere euren Enthusiasmus. Sogar nachdem ihr gesehen habt, wie ich einen halben Kontinent ausgelöscht hab, habt ihr noch den Mut mich anzugreifen” Zeraph sprach jeden einzelnen Satz synchron mit als hätte er das Drehbuch auswendig gelernt.

„Selbst eure Götter waren kein Problem für mich. Ich hab zwei ihrer mächtigsten Schiffe vernichtet und das dritte habe ich erobert. Also macht euch keine Mühe, es überhaupt erst zu versuchen” Bellami richtete die Massenvernichtungswaffe des Schiffes auf die anrückende Armee aus. „Ihr könnt mich nennen, wie ihr wollt. König, Gott oder einfach nur Bellami. Das ist vollkommen egal, solange ihr wisst, dass ihr nun alle meine Sklaven seid” Er legte die Füße auf das Kontrollpult und feuerte die Waffe ab.

Ein heller, weißer Energiestrahl fuhr vom Himmel herab und verdampfte alles im Umkreis von einem Kilometer. Die komplette Streitmacht wurde innerhalb von 2 Sekunden ausradiert.

„Als meine erste Amtshandlung, werde ich euch von eurem Kapital befreien. Ihr werdet von mir mit Lebensmitteln, Nahrung und Obdach versorgt. Eure Regierung wird abgeschafft und durch eine künstliche Intelligenz ersetzt. Fabriken und Geschäfte werden ebenfalls von ihr gesteuert. Es ist euch nicht mehr erlaubt selbständig Energie zu produzieren. Die bekommt ihr von mir. Das silberne Königreich wird nun die gesamte Welt beherrschen, denn ihr hab immer noch nicht begriffen, dass sie wertvoller ist als ihr”

Milena sah sich die Übertragung mit Val zusammen an. Aus irgendeinem Grund war sie sehr entspannt und saß sorglos auf dem Sofa. Sie hielt seine Hand und es sah so aus, als wäre ihr gerade ein riesiger Stein vom Herzen gefallen. Val schaute zu ihr.

„Denkst du er ist komplett wahnsinnig geworden?“ Milena schüttelte den Kopf.

„Ich denke, es ist sehr vernünftig, was er da tut” Val schaute sie entsetzt an.

„Aber er versklavt gerade die ganze Welt” Milena nickte.

„Da hast du Recht, aber schau mal genauer hin. Er versucht einfach einen Weg zu finden, die Menschen davon abzuhalten alles zu zerstören, ohne sie gleich auszulöschen, wie du es damals getan hast. Dafür muss man bestimmte Veranlagungen unterdrücken”

„Und die wären?“

„Gier, Neid und Macht”

„Du meinst, dadurch dass alle Sklaven sind gibt es keine Klassenunterschiede mehr?“

„Genau. Und alle haben einen gemeinsamen Feind” Val nickte als habe er nun alles verstanden.

„Die Menschen können also nicht frei sein”, sagte er bedauernd.

„Ja, das ist vollkommen unmöglich. Und es war wohl schon immer so” Han und die Zwillinge saßen im Wohnzimmer und schauten ebenfalls bei Bellamis Machtübernahme zu.

„Wie will er das machen?“, fragte Lili, die sich grad über einen Teller Spaghetti her machte.

„Er setzt sicher seine Macht ein. Immerhin ist er der stärkste von allen. Nach dir natürlich Meister”, antwortete Maria. Han schmunzelte und tätschelte Marias Kopf.

„Ich denke er macht es wie sonst immer. Mit seiner Technologie. Er hat riesige Fabriken die Lebensmittel produzieren und eine weit verzweigte Infrastruktur”

„Aber haben es die Menschen vorher nicht auch so gemacht?“, fragte Lili wieder mit dem Mund voll Spaghetti.

„Das ist richtig. Aber seine Technologie ist sauber und ökologisch verträglich”, antwortete Han. Bellamis Übertragung war vorbei und er war gerade dabei das Schiff nach den Daten zu durchsuchen, auf die Zeraph so scharf war.

„Für die Göttin!“, brüllte der Admiral des dritten Kreuzers plötzlich über einen offenen Kommunikationskanal.

Der riesige Kreuzer tauchte völlig unvermittelt aus den dunklen Tiefen des Alls auf und war bereits auf Kollisionskurs. Er schlug direkt in den anderen Schlachtkreuzer ein. Bellami wurde wie ein Gummiball durch die Kommandozentrale geschleudert, dessen Wände sich verbogen und der ganze Raum sich unter funken und donnern verformte, bis er in sich zusammenbrach.

Der Aufschlag des anderen Schiffes erzeugte so viel Reibungsenergie, dass die Hüllen zu glühen begannen und schlussendlich miteinander verschmolzen. Das Sicherheitssystem der Kreuzer schaltete sich nur wenige Sekunden später ein und beide Schiffe lösten sich in einer glühenden Staubwolke auf. Zeraph schlug wie wild auf der Kontrolltafel herum und brüllte.

„Was für eine Scheiße geht hier wieder ab?“ Mehrere Warnungen tauchten auf.

Massereiche Objekte im nahen Orbit entdeckt. Klassifizierung: Schlachtschiffe. Gefahrenpotenzial: 12%. Erste Verteidigungsmaßnahmen: Schilde werden auf 6 Lagen verstärkt. Val und Milena betraten den Hauptturm. Zeraph drehte sich zu ihnen.

„Die haben das alles geplant!“, brüllte er lauthals. Milena wurde wieder ein bisschen angespannt.

Das war es also gar nicht. Dachte sie sich.

„Was haben die geplant?“, fragte Val aufgeregt.

„Bellami ist verschwunden. Und ich weiß nicht, wo er ist”, sagte Zeraph angespannt.

„Er war doch in diesem Schiff. Vielleicht ist er tot”, sagte Milena unbekümmert. Ein Alarmsignal ertönte.

Angriff steht bevor. Berechne schwere Partikel- und Projektilwaffen. Meldete das System. Sekunden später spürte man ein leichtes vibrieren des Bodens und ein hämmern war zu hören.

„Die Schilde werden nur an der ersten Lage leicht durchschlagen. Kein Grund zur Panik”, sagte Zeraph. „Und nein, Bellami kann nicht einfach so sterben. Aber nun ist..”, Zeraph verstummte und sein Blick gefror, als ihm plötzlich etwas klar geworden zu sein schien. „Sie hat mich benutzt und ich hab es zugelassen”, flüsterte er in sich hinein. Dann verschwand er.

Der riesige Drache war nun unten in der Stadt zu sehen. Er spreizte seine mächtigen Schwingen, schlug sie einmal heftig und hob ab. Die hauchdünnen Membranen seiner Flügel fingen an hellrot zu leuchten und einen langen roten Schweif hinter sich herzuziehen. Mit glühenden Augen schoss er am Hauptturm vorbei und zog einen hellen, purpurroten Lichtschweif hinter sich her.

Er glitt, ohne die Flügel zu schlagen, auf dem roten Licht fast senkrecht nach oben. Er war kaum noch zu sehen, da gab es einen Lichtblitz und er verschwand im Himmel.

Val schaute Milena an. Sie schüttelte nur den Kopf. Noch immer hämmerten die Geschosse und Partikelstrahlen auf die Stadt ein. Ein mulmiges Gefühl machte sich zwischen den beiden breit. Milena griff nach Vals Hand und hielt sie ganz fest. Sie schaute ihm besorgt ins Gesicht.

„Ich hab Angst”, murmelte sie. Val schaute auf die Bildschirme.

„Wie es aussieht können sie uns nichts anhaben”, sagte er und versuchte sie zu beruhigen. Doch das war es nicht, was sie so nervös machte.

Kapitel 14

Helden und ihre Abenteuer

Alle anderen standen auf dem Dach des großen Wohngebäudes und schauten sich das Spektakel fasziniert an. Die Projektile prallten vom Schild ab oder explodierten darüber. Energiestrahlen wurden absorbiert ohne irgendwelche Wirkungen. Der Schild würde nicht nachgeben, selbst wenn nochmal tausend Schiffe feuern würden. Doch Han wurde unruhig. Er schien sich an irgendetwas zu erinnern. Er schüttelte den Kopf.

„Sie weiß genau, was sie tut”, flüsterte er. Maria und Lili schauten ihn fragend an.

„Was hast du? Ist dir irgendwas eingefallen?“, fragte Lili. Han schaute zu ihr. In seinen Augen konnte man erahnen was gerade in seinem Kopf vorging. Er packte die Beiden an den Schultern und schaute konzentriert in ihre Augen.

„Ihr müsst hier weg” Mehr sagte er nicht, dann zog er ein Stück Kreide aus seiner Tasche und zeichnete einen Kreis um sie. Schweigend und nervös scheuchte er alle in den Kreis. Auch die Waisenkinder aus Marista. Dann nahm er die Kreide zwischen die Finger und zerbrach sie. In diesem Moment fing der Kreis an hell zu leuchten und alle darin verschwanden. Han machte sich auf zum Hauptturm. Lili, Maria und die Kinder erschienen urplötzlich auf einer Lichtung am Stadtrand von Marista. Lili streckte ihren Arm aus.

„Nein, bitte verlass uns nicht! Nicht noch einmal!“, brüllte sie voller Angst und Traurigkeit.

„Hey, ihr da! Was ist hier los?“, sagte Maru, der sich gerade an den anderen vorbei drängelte. Haru folgte ihm. Die Mädchen antworteten nicht und schauten nur nachdenklich in die Ferne. Wütend zerrte Haru an Lilis Hand, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen.

„Hey, jetzt sagt doch”

Lili packte seine Hand, schleuderte ihn geschickt zu Boden, zog ihr Schwert und holte zu einem tödlichen Schlag aus. Doch in den wenigen Sekunden, die sie ihm gestattete, ihr in die Augen zu schauen, veränderte sich ihre Gesinnung schlagartig.

Ein fremder Junge, der sie ansah als würde er all ihre Sorgen und Ängste verstehen. Solch einen Blick kannte sie nur von Han. Ihr Zorn und ihre Zweifel lösten sich auf und sie ließ das Schwert fallen. Ihre Pupillen sausten blitzschnell hin und her als könnte sie sich nicht entscheiden welches seiner Augen ihr besser gefällt. Sie hielt noch immer Harus Hand, doch aus dem Kontrollgriff ist eine zärtliche Berührung geworden.

„Was ist mit dir los?“, fragte Maria. „Jeden anderen hättest du für so eine Frechheit aufgeschlitzt”

Lili schwieg und half Maru auf. Ihre Blicke verloren sich die ganze Zeit kein einziges Mal. Marus Wangen glühten rot als er versuchte etwas zu sagen.

Der normalerweise so wortgewandte, charismatische und selbstbewusste kleine Frechdachs brachte keinen verständlichen Satz über die Lippen. Und auch Lili, die normalerweise einen bodenlosen Hass auf die gesamte Menschheit aus Ihrer Gefangenschaft in der Kirche entwickelte hatte, war plötzlich zahm wie ein Reh und ihre Wangen glühten mindestens genauso rot wie Marus.

Mit einem Mal vergas sie den unerträglichen Hass aus dem Schmerz von siebzehn Jahren Folter und Vergewaltigung. Die Mädchen waren Opfer ihrer Schönheit und ihrer Unsterblichkeit, die die Priester dazu veranlassten, unaussprechliche Dinge mit ihnen zu machen. Ihre zerbrechlichen Körper verlieren ihre übermenschliche Stärke in Hans Abwesenheit, sodass sie keine Chance hatten sich zur Wehr zu setzen.

Deswegen war es für Maria unbegreiflich warum dieser Junge, der es wagte, sie einfach so anzufassen, noch immer am Leben war. Sie zog ebenfalls ihr Schwert und stach auf Maru ein. Die blutgetränkte Klinge blieb einen halben Millimeter vor Marus Kehle stehen. Lili lächelte noch immer obwohl sie gerade unerträgliche Schmerzen hatte.

Maru schaute an der Klinge entlang und stellte fest, dass sie aus Lilis Brust ragte und nur zum Stehen gekommen ist, weil sich das Stichblatt des Schwertes in Lilis Wirbelsäule verkeilt hatte. Sie sackte auf die Knie. Maru hielt sie fest und schnitt sich dabei die Wange an der Klinge auf. Maria ließ entsetzt das Schwert los.

„Wieso hast du das getan?“, stotterte sie als sie feststellte, dass Lili sich in die Klinge ihrer Schwester warf, um Maru das Leben zu retten. Lili lächelte noch immer. Maru schaute sie mit unendlicher Traurigkeit an. Seine Hände zitterten und das Blut lief langsam seine Wange herab. Kein einziges Mal verloren sich ihre Blicke und aus irgendeinem Grund verflog Marus Traurigkeit. Haru war wie versteinert. Ganz gleich welch schreckliche Dinge er zusammen mit Maru auf den Straßen Babels erlebt hatte, das war zu viel für ihn.

„Ma… Maria”, flüsterte Lili. „Bitte… zieh… es”, sie hustete und drückte Maru von sich. Dann packte sie die Klinge und schob sie zurück. Dabei schnitt sie sich noch weiter ins Fleisch, was unsagbar schmerzvoll war. Doch sie lächelte. „Maria… bitte”, flüsterte sie wieder.

Vorsichtig nahm Maria das Heft in die Hand und zog die Klinge mit einem schnellen hieb aus Lilis Körper. Lili hob ihre blutgetränkte Hand und legte sie auf Marus Wange.

„Ich muss mich kurz hinlegen” Lili schloss die Augen und fiel in Marus Arme. Er spürte ihr Herz hastig schlagen und wie sich die Wunde auf seiner Wange verschloss. Maria nahm Lilis Arm und half ihnen auf.

„Es tut mir leid”, sagte sie. Lili drehte ihren Kopf und gab ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange.

„Ist schon gut. Ich bin dir nicht böse”, flüsterte sie ihr liebevoll ins Ohr. Die anderen Kinder waren längst weggerannt. Maru nahm Lili Huckepack und lief mit ihr in Richtung Marista. Haru stand immer noch versteinert da.

Maria hob die Schwerter auf und folgte den Beiden. Dann blieb sie kurz stehen und drehte sich um. Harus blick war fest auf die Blutlache fixiert. Er atmete schwer und taumelte ein bisschen mit dem Kopf. Maria schaute eine Weile zu ihm rüber. Sie wusste nicht was sie mit dem Jungen anfangen sollte. Er war ihr egal, aber irgendwie auch nicht. Als ob sie in seinem, von Angst und Grauen erfüllten Gesichtsausdruck ein wenig Mitleid fand.

„Hey! Junge!“, rief sie unbeholfen, da sie nicht wusste, wie sie ihn ansprechen sollte. „Komm jetzt, los!“

Haru drehte seinen Kopf zu ihr und schaute sie an. Er sollte besser tun was sie sagt, sonst wird sie ihn töten, dachte er sich. Der Anblick dieses Mädchens war sehr verstörend. Sie hatte überall Blutspritzer im Gesicht und auf der Kleidung. Ihr Gesichtsausdruck war kalt und musternd, als würde sie sich gerade eine Strategie ausdenken, mit der sie ihn auf möglichst effiziente Weise umbringen kann. Dazu hielt sie noch die zwei entsetzlich bedrohlichen japanischen Katanas in der linken Hand.

Haru war wie hypnotisiert. Einerseits hatte er schreckliche Angst vor ihr, andererseits konnte er sich ihrer Souveränität nicht entziehen. Maria drehte sich um und lief den anderen hinterher.

„Los, komm schon. Oder willst du hier allein im Wald verrotten?“, befahl sie ihm und er gehorchte.

„Wie heißt du?“ Fragte sie diesmal aber in einer weichen und vertraulichen Stimme.

„Ich heiße Haru” Antwortete er schüchtern.

„Und der Typ da vorne? Ist er dein Bruder?“ Haru schüttelte den Kopf.

„Er ist mein bester Freund. Sein Name ist Maru” Maria lachte laut.

„Na klar: Haru und Maru, das ist mehr als unglaubwürdig”

„Naja, das ist nicht Sein richtiger Name. Als wir uns kennengelernt haben, konnte er sich an nichts mehr erinnern. Er hat sich dann einfach so genannt, weil ihm nichts Besseres einfiel” Maria schaute zu ihm nach vorn. Lilis Blut lief seinen Rücken herab und tränkte seine gesamte Kleidung. Ihr Kopf lag friedlich in seinem Nacken und ihre Arme baumelten an seinen Hüften herunter. Maria seufzte.

„Oh man. Da hat sich dein Freund echt was vorgenommen” Haru schaute sie ungläubig an.

„Ist sie tot?“ Wieder lachte Maria.

„Nein. Ihr geht’s gut. Wie’s aussieht pennt sie gerade und lässt es sich gut gehen”

„Aber wie kann das sein? Du hast ihr gerade ein Schwert in den Rücken gerammt. Das kann sie doch unmöglich überlebt haben” Maria zog ihr Schwert aus der Scheide und legte ihren Unterarm auf die Klinge.

„Wa… warte. Bitte nicht”, stotterte Haru. Doch Maria hörte nicht. Sie zog ihren Arm über die Klinge und schnitt sich tief ins Fleisch. Das Blut tropfte herab und Maria verzog schmerzvoll das Gesicht. Sie streckte den Arm zu Haru aus und er sah wie sich die Wunde langsam wieder schloss, ohne eine Narbe zu hinterlassen.

„Wie ist das möglich?“, fragte Haru entsetzt.

„Das ist schwer zu erklären”, antwortete Maria. „Seitdem wir Han kennen sind wir irgendwie unsterblich. Ich weiß auch nicht warum, aber das ist schon fast hundert Jahre her. Damals haben wir noch in Celestis gelebt. Han war ein Wissenschaftler und musste auf einen kleinen Jungen aufpassen, den sie in einem großen Glaszylinder gefangen hatten. Aber das ist eine lange Geschichte”

Allmählich verlor sich Harus Angst und die beiden unterhielten sich über das, was sie erlebt haben und was sie noch vor sich hatten. Etwa zwei Stunden liefen sie durch den Wald, Richtung Marista bis Maru erschöpft stehen blieb und es gerade noch schaffte Lili am Waldrand sanft ins Gras zu legen. Er setzte sich zu ihr und keuchte erschöpft. Maria und Haru schlossen zu ihnen auf und blieben stehen.

„Und, lover-boy? Was hast du als nächstes vor?“, frage Maria abfällig. Maru machte ein trauriges Gesicht.

„Ich will sie zu einem Arzt bringen aber”, er keuchte wie eine Dampflock, „Ich schaffe es nicht. Es ist noch so unendlich weit bis nach Marista. Und ich weiß nicht, wo wir sonst einen finden können” Seine Stimme wurde immer trauriger. „Ich kann sie nicht retten. Es ist genau wie damals”

„Ja stimmt das kannst du nicht. Du solltest sie gleich hier vergraben. Aber mindestens zehn Meter tief, nicht das sie aufersteht und dich als Monster heimsucht”, sagte Maria und lachte hämisch.

„Also echt, jetzt wirst du gemein. Du bist doch nur eifersüchtig”, sagte Lili die sich gähnend und streckend im Gras wälzte. Sie stand auf und lächelte Maru fröhlich ins Gesicht. „Soll ich dich jetzt tragen?“, fragte sie und lachte laut. Marus Gesicht verlor jegliche Farbe als würde das Blut aus ihm herausgesogen.

„Du warst doch tot”, stotterte er.

Haru ging zu ihm und schüttelte den Kopf. Er verschränkte die Arme und ließ ein vorlautes seufzen von sich. „Irgendwas total Krankes geht hier ab. Irgendwie sind die wohl unsterblich so wie die Typen aus Aletria” Maru schaute Lili angespannt in die Augen.

„Du hast mich dich den ganzen Weg tragen lassen obwohl es dir wieder gut ging?“ Lili reichte ihm die Hand und half ihm auf.

„Deswegen biete ich dir auch an, dich von jetzt an zu tragen. Du musst mir nur sagen, wo hin du willst” Stolz verschränkte Maru die Arme vor der Brust und drehte seinen Kopf zur Seite.

„Wir sollten erstmal nach Marista. Dort können wir…“ Maru wurde unterbrochen als sich ein gleißend helles Licht über die ganze Region legte, gefolgt von einem leichten Erdbeben. Nach ein paar Sekunden ließ es wieder nach und hinter sich konnten sie eine weiße Lichtsäule sehen, die langsam wieder verblasste.

„Das kam aus Aletria”, sagte Maria und schaute auf ihren Armreif. Signal verloren zeigte er an. Lili schaute sich ihren an. Sie sah genau das Gleiche.

„Heißt das…“ Maria nickte.

„Was ist da los?“, fragte Maru verängstigt. Lili lächelte und nahm Marus Hand.

„Los, lass uns nach Marista gehen”, sagte sie und zerrte ihn hinter sich her. Haru und Maria folgten ihnen. Sie liefen noch etwa fünf Stunden durch den Wald, bis sie die riesigen Stadtmauern Maristas vor sich sahen.

Die zwanzig Meter hohe, stählerne Mauer, die Marista umgab war schon seit hunderten von Jahren ein Symbol dafür, dass die Stadt stillstand. Sie hielt erfolgreich jeglichen Schrecken aus der Außenwelt zurück, genauso wie jeglichen Fortschritt und das Streben nach höherem. Am Stadttor angekommen blieb Lili stehen und schaute nach oben.

„Die werden uns nicht einfach rein lassen. Schon gar nicht so wie ich aussehe”

„Und was hast du vor?“, fragte Maru.

„Maria, hast du…?“, noch bevor Lili die Frage fertig stellen konnte, warf Maria ihr das Schwert zu. Lili fing es auf und legte es auf den Boden. Dann riss sie sich ihre blutgetränkten Kleider vom Leib, knüllte sie zusammen und warf sie hinter ein Gebüsch. Den Jungs fiel die Kinnlade bis auf den Boden als sie Lili völlig nackt vor sich sahen.

„Die Nummer also”, sagte Maria gelangweilt.

„So geht es am einfachsten”, sagte Lili und zwinkerte ihnen zu. Dann hob sie ihr Schwert auf, zog es aus der Scheide und stellte es neben einer Tür ab, die sich neben dem großen Tor befand. Sie klopfte fest an der Tür und ein großer, grimmig dreinschauender Mann machte ihr auf.

Er war wie hypnotisiert als er den blutverschmierten, makellosen, nackten Körper des jungen Mädchens vor sich sah, die, seiner Annahme nach, wohl gerade so einem Überfall entkommen ist. Nach kurzem Überlegen ließ er sie rein. Lili schaute ihn zitternd und ängstlich mit großen Augen an und schmuggelte ihr Schwert geschickt an ihm vorbei. Sie hielt es hinter ihrem Rücken versteckt, bereit diesen Mann ohne Skrupel umzubringen, sobald er sie anfassen würde. Doch anstatt wie ein wilder Stier über sie her zu fallen, nahm er einen großen Mantel vom Haken und zog ihn ihr über.

„Du hast echt Glück gehabt, dass du ausgerechnet bei mir an der Tür geklopft hast. Die anderen hätten wohl sonst was mit dir angestellt”, sagte er mit einer väterlichen Art.

Lili versteckte das Schwert geschickt unter dem Mantel. Hinter jedem der 24 Stadttore befand sich eine Kaserne, in der normalerweise um die 50 Wachmänner stationiert waren. Doch die Mittel wurden knapp und vor etwa einem Jahr wurden alle Wachmannschaften halbiert und an den Toren, an denen wenig Betrieb war, wurden sie auf 10 Soldaten reduziert.

Vor ein paar Tagen wurden alle bis auf zwei Wachposten abgezogen und dem Heer übergeben. Die Wachmänner lebten vollkommen isoliert und allein in diesen Gebäuden. Ohne Kontakt zu Freunden oder Familie.

„Weißt du…“, sprach der Mann weiter. „Ich habe eine Tochter, etwa in deinem Alter. Allein schon bei dem Gedanken, dass ihr etwas Schlimmes zustoßen könnte wird mir schlecht” Er drehte Lili den Rücken zu. „Normalerweise sind wir hier zu viert. Aber da alle, die entbehrlich waren, in den Krieg geschickt worden, blieben nur noch ich und Stan hier” Lili hustete gespielt.

„Und wo ist er jetzt?“

„Er hat gerade Pause und schläft oben. Dir scheint es nicht besonders gut zu gehen. Wie wär's, wenn ich dir einen Tee mache?“, fragte er und lächelte freundlich. Lili nickte und der Mann ging in die Küche. Sie nutzte die Zeit und öffnete die Tür. Sie gab den anderen ein Zeichen herein zu kommen. Dann schaute sie kurz zu ihnen und hielt den Zeigefinger über ihre Lippen. Leise und behutsam schloss Maru die Tür.

„Tut mir leid, dass ich mich nicht vorgestellt habe” Rief der Mann aus der Küche. „Ich heiße Markus”

Dann lugte er kurz am Türrahmen vorbei, um sich zu vergewissern, das Lili nicht schon wieder geflohen ist. Als er die drei anderen sah, schaute er kurz verwundert, lächelte aber gleich wieder. „Sind das deine Freunde?“, sagte er und ging langsam zu ihnen. Schweigend nickte Lili und machte sich zum Angriff bereit.

„Das ist kein Problem, ich hab genug Platz und Lebensmittel für euch alle. Wenn ihr wollt könnt …“, noch bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte, schlug ihm Lili ihre Klinge in den Hals. Gurgelnd und röchelnd ging der Mann in die Knie und Lili sah ihm die ganze Zeit zornig in die Augen. Langsam und leise zog sie die Klinge wieder heraus. Marcus lebloser Körper fiel wie ein nasser Sack zur Seite.

„Oben ist noch einer, seid still”, flüsterte Lili und ging die Treppe rauf. Aus einem der Zimmer hörte sie schon ein vergnügliches Schnarchen. Leise öffnete sie die Tür und schlich sich rein. Es war ein alter Mann, der auf dem Rücken lag und mit offenem Mund schnarchte.

Er sah sehr abgemagert und schwächlich aus. Er stellte nicht im Geringsten eine Bedrohung dar. Auf dem Nachttisch neben dem Bett standen viele Bilderrahmen mit Fotos von Angehörigen. Er wurde langsam wach.

„Markus, bist du das? Ist schon wieder Schichtwechsel?“, murmelte er schlaftrunken.

Lili zögerte nicht lang und sprang auf das Bett. Sie stemmte ihren Fuß in den Hals des Mannes und rammte ihm das Schwert in die Brust. Konzentriert schaute sie ihm ins Gesicht während er starb. Dann suchte sie penibel alle anderen Zimmer ab.

Marcus hatte nicht gelogen. Es waren wirklich nur die Beiden hier. Schweigend kam sie die Treppe runter, riss dem toten Wachmann ein Stück Stoff von seinem Hemd und streifte damit das Blut von der Klinge. Dann warf sie das Schwert zu Maria und ging in die Küche. Haru und Maru setzten sich an den Esstisch. Maria führte die Klinge in die Scheide ein und stellte die Schwerter an die Wand.

Lächelnd kam Lili mit einer Kanne Tee und vier Tassen aus der Küche und stellte sie auf den Tisch. Sie zog den Mantel aus und warf ihn auf die Leiche des Wachmannes. Dann setzte sie sich zu Maru. Er war keineswegs schüchtern und hatte auch schon die ein oder andere Freundin. Sie war also lang nicht das erste Mädchen, das er nackt sah. Aber angesichts dieser bizarren Situation und dieser seltsamen Mädchen, fiel es ihm diesmal nicht so leicht, seine coole und gelassene Art zu erhalten.

„Denkst du, wir hätten die Beiden auch am Leben lassen können?“, fragte Maru vorsichtig. Lili schüttelte den Kopf.

„Ich weiß es nicht und ich hatte auch nicht genug Zeit darüber nachzudenken. Es ist eben manchmal besser kein Risiko einzugehen. Verurteile mich ruhig dafür, ich handle manchmal eben mehr nach meinen Instinkten als nach reiner Logik”, sagte sie kaltherzig. Maria setzte sich neben Haru.

„Und was ist mit uns? Wartest du wenigstens bis wir schlafen, bevor du uns genauso kaltblütig umbringst wie diesen netten Mann da?“, fragte Haru ängstlich und wütend. Maru schwieg und schaute eingeschüchtert auf den Tisch.

Ein angespanntes Schweigen trat ein. Maria goss sich etwas Tee ein und gab die Kanne zu Lili. Sie tat ihr gleich und beide nippten fast synchron an der Tasse.

„Nun” Lili räusperte sich. „Ich bin alt genug, um zu wissen wer eine Bedrohung für mich ist und wer nicht. Ihr seid noch Kinder. Außerdem hab ich mit dir noch was vor also mach dir keine Sorgen” Sie funkelte Maru böse an und leckte sich die Oberlippe.

„Es wird schon nicht weh tun. Ich will mir nur die Zeit vertreiben bis wir wieder mit unserem Meister zusammen sind”

„Du kannst dir trotzdem was anziehen”, sagte Maria genervt. Lilli lächelte und stand auf.

„Aber vorher geh ich duschen” Sie nahm Marus Hand und zog ihn hinter sich her.



Etwa zur selben Zeit erreichten Momo und die anderen Kinder einen anderen Teil der Stadtmauer. An dieser Stelle befand sich eine kleine Öffnung, durch die sie in die Stadt gelangten. Alle blieben davorstehen und Momo zählte durch. Da fiel ihm auf, dass zwei fehlten.

„Hey, wo sind Ryu und Marleen?“, rief er in die Gruppe. Keiner antwortete. Besorgt kratzte er sich am Kopf. Er hatte keine Erklärung für ihr Fortbleiben und keine Zeit, nach ihnen zu suchen. Als er genauer darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass die Beiden schon in Aletria nicht mehr bei ihnen waren.

Kapitel 15

Der Plan ging auf

Mehrere Stunden vorher…

Ryu ist in den unteren Ebenen Aletrias unterwegs. Alle Gänge sind in einem hellen Neonweiß beleuchtet und alles ist sauber wie in einem OP-Saal.

Er lief vorbei an riesigen Lagerhallen und Fabriken. Er war nicht ohne Grund hier: Vor einer Weile bemerkte er, dass Marleen sich heimlich davonstahl, als die anderen das Bombardement beobachteten. Es war nicht schwierig ihr auf den Fersen zu bleiben, denn sie hinterließ eine Spur aus einer grün schimmernden Flüssigkeit.

Er war etwas ängstlich, aber auch sehr neugierig. Und seit einer Weile versuchte er erfolglos mit Marleen über die Geschehnisse am Waisenhaus zu reden. Sie war seitdem etwas verschlossen und schweigsam. Ryu war der Meinung, sie hatte Angst vor ihm, auch wenn er sie vor dem Polizisten gerettet hat. Es war selbst für ihn nicht leicht zu verstehen, wie diese roten Flammen sie komplett unversehrt ließen den Mann hingegen sofort zu Asche verwandelten.



Währenddessen im Hauptturm:



Die einzigen, die noch da waren, waren Val, Milena und Kumi. Keiner von ihnen wusste etwas mit den ganzen Instrumenten anzufangen. Die Situation erforderte auch kein Eingreifen, da der Energieschild, der die Stadt schützte, nicht zu durchdringen war. Etwas hektisch betrat Han den Kontrollraum und schaute auf die Projizierten Bilder. Er versuchte irgendwie daraus schlau zu werden.

„Warum werden wir angegriffen?“, fragte Val gelangweilt.

„Weil sie Aletria zerstören will”, antwortete Han.

„Aber hätte sie das nicht machen können, als die Stadt noch verlassen war? Jetzt wo sie wieder aktiv ist kann sie uns ja nichts mehr anhaben”

„Das konnte sie vorher auch nicht. Und das weiß sie genau. Wieso greift sie an? Sie führt irgendwas im Schilde. Aber ich weiß nicht was”, Han wurde Zusehens nervöser.

„Aber…“, setzte Milena ein. „Wieso feuern wir nicht zurück? Haben wir nicht diese seltsame Mauer, die mit Waffen bestückt ist, welche sich selbst weiterentwickeln?“

„Nun, diese Schiffe haben ebenfalls Schilde. Wir können sie von hier aus nicht durchbrechen. Außer…“, Han dachte kurz nach, „dieses Schiff… Es hatte eine Sequenz, die …“ Er hielt ein und ging zu einem anderen Pult. Dort suchte er nach dem Schiff.

„Weißt du…“, setzte Milena wieder zaghaft ein, „dieses eine Schiff, das in der Mitte zerbrochen ist. Das war…“

„Ich hab was!“, unterbrach sie Han. „Die Adrastea. Ein leichter Angriffskreuzer. Er hat ein modulierbares Schild, das eine Sequenzanpassung vornehmen kann, um dadurch die Schilde andere Objekte zu neutralisieren. Wir können versuchen diese Technologie auf DEATH zu übertragen und somit die Schiffe zerstören”

„Falls ich was dazu sagen dürfte”, meldete sich Kumi. „Es gab wohl einen Grund, weswegen Bellami das nicht schon vorher getan hat”

Han überlegte kurz. „Du hast Recht. Wenn die Sequenz aktiv ist, wird der eigene Schild ebenfalls aufgehoben”

„Richtig. Außerdem entsteht eine hochenergetische Impulswelle, die Aletria stark beschädigen würde. Ich habe Bellami dabei beobachtet, als ihm das ebenfalls klar wurde. Deswegen ist er mit dem Schiff zu ihnen geflogen”

„Und was ist mit dieser Großen Kanone?“, schlug Val vor.

„Wir können DHC nur zweimal hintereinander abfeuern. Dann ist der Kristall verbrannt und es dauert eine Stunde ihn zu erneuern. Es sind aber zwölf Schiffe. Aber wenn wir zwei oder drei zerstören, fliehen die anderen vielleicht” Han unterbrach sich selbst. „Aber was ist, wenn sie genau das will?“ Er schüttelte immer wieder den Kopf.

„Was könnte denn passieren, wenn wir die abfeuern?“, fragte Val wieder.

„Wegen der Großen Energiemenge müssen wir dazu einen Teil des Kuppelschildes öffnen, wodurch eine bedeutende Schwachstelle entsteht”

Ein Alarmsignal ertönte. Achtung: Massereiches Objekt im Orbit entdeckt. Identifizierung: Kommandoschiff, Thor-Klasse. Gefahrenpotenzial: 27%

„Was ist denn das? Das Ding ist ja fünf Mal so groß wie die anderen”, stellte Val fest.

„Das ist ihr Flaggschiff. Sie ist wohl höchstpersönlich zugange”, antwortete Han. Das Bombardement der Schlachtschiffe verstummte. Eine Stunde lang war Waffenstille. Han versuchte irgendwas rauszufinden, doch er hatte keinen Erfolg.

„Ich könnte…“, sagte Milena.

„Drohnen!“, wurde sie wieder von Han unterbrochen. Milena beschloss von nun an nicht mehr zu versuchen, etwas vorzuschlagen. Verletzt in ihrem Stolz, verschränkte sie die Arme vor der Brust und schwieg.

„Was meinst du?“, fragte Val, der Han die ganze Zeit beobachtete.

„Mit einem Schwarmschild könnten wir die Schwachstellte, die entsteht, während wir DHC abfeuern, versiegeln” Wieder ertönte ein Signal vom Computer.

Waffenscan abgeschlossen: System meldet: Mehrere schwere Hadronenwaffen am Kommandoschiff lokalisiert. Klassifizierung: Vergeltungswaffe. Geschätzter Wirkungsbereich: 27 Kilometer. Energieleistungspotenzial: etwa 11,5 Pentawatt.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte Kumi.

„Das Leistungspotenzial interessiert uns nicht, da der Schild jede Art von Energie absorbieren kann. Aber würden sie uns ohne den Schild treffen, wäre die Stadt verloren”

„Das bedeutet, dass der Schwarmschild nicht mehr in Frage kommt, richtig”, sagte Kumi. Han nickte.

„Das ist korrekt. Egal wie viele Drohen wir schicken, der Hadronenstrahl würde sie einfach auflösen” Das Bombardement setzte wieder von neuem ein.

„Versuchen sie uns zu zermürben?“, fragte Milena.

„Ich wüsste nicht was das bringen sollte. Die vier Null-Punkt-Emitter erzeugen mehr Energie als die Sonne. Die kommen niemals hier durch, solange die Emitter aktiv sind”

Wieder ein Alarmsignal:

NPE 1 – offline.

„Jetzt weiß ich es”, sagte Han, als würde es ihm wie Schuppen von den Augen fallen. „Wir müssen hier weg!“

„Das ist doch nicht dein Ernst?“, sagte Val zynisch. „Du hast doch jetzt nicht wirklich gesagt, dass wir vier Null-Punkt-Emitter haben, die uns schützen, und kaum hast du den Satz beendet, fällt der erste aus?“

„Okay, drei sind immer noch mehr als genug. Ich denke, wir haben noch ein bisschen Zeit”

NPE 2 – offline.

„Wer hat das Autorisiert?“, fragte Han laut.

Das System antwortete: Deaktivierung genehmigt von Bellami Makalan.

Wieder ein Alarmsignal: Schilde stabil. Auslastung NPE 3 und 4 bei 0,71%

Han schüttelte nervös mit dem Kopf. „Wir müssen hier weg!“

„Wieso zur Hölle fallen diese Dinger alle aus? Und das gerade jetzt? Das ist ja wie in einem schlechten Film!“, fauchte Val.

NPE 3 – offline.

„Das ist doch nicht zu glauben”, Val raufte sich vor Wut die Haare. „Irgendjemand muss das doch geplant haben”

„Wenn der letzte Emitter ausfällt…“, murmelte Han.

Und wieder ein Alarmsignal: Unbekannte Subraumstrahlung identifiziert: Sensoren blockiert. Kommunikation ausgefallen. Subraum-Materietransport unmöglich.

„Oh nein. Es sollte doch Gegenmaßnahmen dafür geben”, seufzte Han.

„Was bedeutet das?“, fragte Kumi.

„Wir können nicht weg. Es ist ein Elektronischer Stör-Angriff. Wenn wir uns teleportieren landen wir sonst wo”

„Ist doch egal, wo wir landen, Hauptsache nicht hier!“, brüllte Val.

„Wenn es euch egal ist, ob ihr im Zentrum eines Sterns landet, von mir aus. Aber…“

„Was denn noch alles? Als nächstes explodiert wohl gleich die Sonne. Oder noch besser: Das ganze Universum wird einfach so ausgelöscht”, Val wurde immer aggressiver.

NPE 4 – offline. Umschaltung auf Fusionsreaktor. Auslastung: 245%, Schildstatus: Instabil.

Nun durchdrangen die Geschosse zum Teil den Schild und schlugen überall in der Stadt ein.

„Zu spät. Mir bleibt nichts anderes übrig”, sagte Han und holte wieder ein Stück Kreide aus seiner Tasche. „Kommt alle zu mir, schnell!“

Er zeichnete einen Kreis um alle und hob die Kreide in die Luft. In dem Moment, indem er es zerbrach, schlug ein Geschoss in den Turm und riss ein Loch in den Boden. Milena wurde von dem Sog aus dem Kreis gezogen. Val packte ihre Hand und hielt sie fest.

Die Ganze Plattform kippte ab und Milena baumelte über dem Abgrund. Val hielt immer noch ihre Hand, doch als sich das Siegel schloss, wurde sie einfach abgetrennt und Milena fiel in die Tiefe. Val wollte ihr hinterher springen, doch das Siegel versperrte ihm den Weg. Er schlug darauf ein und fluchte wie ein wahnsinniger. Doch es war zu spät. Der Schild der Stadt brach zusammen und ein heller Energiestrahl schlug im Zentrum ein.

Val, Han und Kumi verschwanden inmitten des Kreidekreises, noch bevor das Licht die Stadt vernichtete. An derselben Stelle, an der die Anderen vorher ankamen, erschienen Han und Kumiko. Val war nicht dabei und Kumi rannte sofort los, in Richtung Marista.



Etwa eine Stunde vorher in den unteren Ebenen der Stadt ...



Ryu war unermüdlich und verfolgte Marleen durch die Wirren der Maschinenräume. Sie war eine Weile unterwegs, bis sie ihr Ziel erreichte: Das Kontrollzentrum der Nullpunkt-Emitter. Ryu wusste nicht, für was diese Geräte gut waren und erst recht nicht, was Marleen da wollte.

Er kannte sie schon lange. Sie ist eines der älteren Mädchen im Waisenhaus und sie war immer eine sehr lebensfrohe und fürsorgliche Person. Er beobachtet sie eine Weile und ihm fiel auf, dass sie eine seltsame Manschette am rechten Unterarm trug, von der aus diese grün schimmernde Flüssigkeit herabrann, die über ihre Hand floss und auf den Boden tropfte.

Sie hob ihre rechte Hand und legte sie auf das Bedienpult. Auf der Manschette leuchteten ein paar kleine Lämpchen und ein holographischer Bildschirm tauchte über dem Bedienpult auf. Er war kurz ein bisschen verzerrt und verschwand immer mal für eine Sekunde. Doch dann ertönte ein Signal: Benutzer erkannt: Bellami Makalan. Autorisierung erteilt.

Nun gingen, auf sämtlichen Bedientafeln, die Steuerfelder an. Wie ferngesteuert tippe sie auf den Tasten herum. Sie war wie ausgewechselt. Ein vollkommen anderer Mensch.

NPE – Manueller Service Override freigegeben, ertönte eine Stimme. Vier größere Zylinder fuhren aus dem Pult. Marleen packte den Griff des ersten Zylinders, drehte ihn eine Viertel Umdrehung gegen den Uhrzeigersinn und zog ihn heraus. Dasselbe tat sie mit dem Zweiten.

Dann trug sie die Beiden Zylinder in den Raum, in dem sich zwei der vier Emitter befanden. Es war eine riesige Halle in der zwei große, gläsern wirkende Kugeln standen, die von einem filigranen Metallgestell gehalten wurden.

Im Inneren der Kugeln war eine Art Strudel aus Energie, der in der Mitte hell leuchtete. Große Apparate standen davor und daneben. Marleen nahm einen der Zylinder und schob ihn in eine dafür vorgesehen Öffnung. Dann legte sie ihre Hand auf ein Bedienfeld und der Zylinder wurde in den Kern gezogen. Der Strudel löste sich auf und die Kugel wurde schwarz.

Phasenfeld kollabiert. NPE 1 – offline. Sie ging zu dem zweiten Emitter und tat das Gleiche nochmal.

„Marleen, was tust du da?“, machte Ryu auf sich aufmerksam. Sie drehte sich zu ihm um.

„Ryu? Wieso bist du hier?“, fragte sie.

„Ich bin dir gefolgt, weil ich mir Sorgen gemacht hab” Marleen lächelte.

„Das ist lieb von dir, aber das brauchst du nicht. Bald ist alles gut”, sagte sie und legte ihre Hand wieder auf das Feld.

Phasenfeld kollabiert. NPE 2 – offline. Marleen lächelte und fuhr Ryu mit ihrer linken Hand durchs Haar.

„All unsere Träume werden wahr, kleiner Drache”, sagte sie Heiter.

Kleiner Drache war Ryus Spitzname, schon bevor er auf Zeraph traf. Sein Name Ryu bedeutet Drache in einer alten, längst vergessen Sprache. Außerdem erzählte er immer wieder Geschichten von einem riesigen Drachen, den er ab und zu in der Nähe vom Waisenhaus sah. Nur sah ihn sonst kein anderer, deswegen wurde er immer für seine blühende Fantasie belächelt.

„Was meinst du?“ Marleen ging zurück in den Kontrollraum und holte die beiden übrigen Zylinder. Ryu folgte ihr.

„Weißt du denn überhaupt, was du da tust?“, fragte er.

„Na logisch” Sie ging in den anderen Raum, mit den beiden übrigen Emittern, und führte wieder einen der Zylinder ein. „Das hier“, sie legte ihre Hand wieder auf das Bedienpult, „sind Massenvernichtungswaffen. Ich zerstöre sie und rette die Welt”

Phasenfeld kollabiert. NPE 3 – offline.

„Woher weißt du, dass es welche sind?“, fragte Ryu skeptisch.

Marleen stellte den letzten Zylinder neben NPE 4 ab und ging zwei Räume weiter. Ryu folgte ihr. In diesem Raum befand sich eine Zweigstelle der Künstlichen Intelligenz, die die Stadt verwaltete. Im Zentrum des Raumes war ein riesiger, elektronischer Kubus, der von einer rötlichen Kühlflüssigkeit umgeben war.

„Das ist doch logisch. Alle wissen, dass Aletria damals für die Zerstörung der Welt verantwortlich war und nicht irgendein Typ mit Superkräften. Das ist ja wohl klar. Wir werden berühmt, wenn wir das schaffen”

„Aber das sind doch unsere Freunde”, sagte Ryu.

„Ach ja? Das glaub ich nicht. Die haben uns nie irgendwie geholfen. Aber die Götter. Die waren für uns da. Und jetzt revanchiere ich mich dafür”

Wieder legte sie ihre rechte, tropfende Hand auf das Bedienpult. Wieder wurde sie als Bellami Makalan erkannt und eingeloggt. Sie schaltete den Computer ab und verließ den Raum danach.

„Weißt du, ich habe keine Ahnung, was das alles genau ist. Aber scheinbar funktioniert es, wenn ich es so mache, wie sie es mir erklärt hat. Sie hat mir diese Manschette gegeben. Zugegeben, es ist ein bisschen eklig, aber man gewöhnt sich dran”, sagte Marleen und ging wieder in den Raum mit dem zwei Emittern. Sie hob den letzten Zylinder auf und schob ihn in die Öffnung.

„Wen meinst du mit Sie?“, frage Ryu neugierig.

„Die große Göttin Isabelle. Sie ist so stark und so wunderschön. Ich durfte sie persönlich kennenlernen. Das war… wie in einem Traum. Sie hat damals die Welt gerettet und ist dafür unsterblich geworden”, sagte Marleen als wäre sie verliebt.

„Das klingt toll aber…“

„Ich freu mich schon so. Dieses ganze Bombardement ist nur dazu da, sie von uns hier unten abzulenken. Sonst hätten sie bemerkt, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht”, erklärte Marleen.

„Ich hab irgendwie ein komisches Gefühl”

„Mach dir keine Sorgen, kleiner Drache. Ich bin dir immer noch sehr dankbar, dass du mein Leben gerettet hast, mit deinen seltsamen Kräften. Ich werde dich nicht vergessen, wenn ich als Heldin in die Geschichte eingehe. Sie kann uns auch unsterblich machen, weißt du?“, sagte sie und legte ihre Hand auf das Bedienfeld.

Phasenfeld kollabiert. NPE 4 – offline. Umschalten auf Fusionsreaktor.

„Okay, nun sollte das Bombardement aufhören und die Soldaten die Stadt erobern”, sagte Marleen in freudiger Erwartung. Ryu schüttelte den Kopf.

„Ich hab immer noch ein komisches Gefühl. Ich werde bald zu einem Drachen, weißt du. Aber ich weiß nicht, wann” Die Erde bebte und die Lichter gingen aus. Es war stockfinster.

„Was, wieso? Das sollte doch ganz anders laufen. Ryu?“, klagte Marleen unruhig. Eine rote Flamme leuchtete in Ryus Hand.

„Komm, lass uns gehen. Die hören nicht auf zu schießen. Die haben dich betrogen”

„Nein, wir müssen hier warten! Sie werden uns abholen” Die Manschette fiel von ihrer Hand und die Flüssigkeit färbte sich rot.

„Was? Das tut weh”, brüllte Marleen und fing an zu weinen. Die Flüssigkeit verbrannte ihre Haut wie eine Säure.

Noch immer bebte die Erde und man Spürte wie die Geschosse einschlugen. Sie schrie immer lauter und krümmte sich vor Schmerzen. Auf Ryus Haut bildeten sich kleine, rot leuchtende, Äderchen. Er schaute fasziniert auf seine Hände und spürte, wie ihn etwas wegzuzerren schien.

Die Decke stürzte ein und begrub die Räume unter sich. Wenig später schlug der weiße Energiestrahl ein und alles löste sich in hellen Licht zu Staub auf. Die ganze Stadt versank bis zu den weit entfernten Stadtmauern in einem gleißend weißen See aus purer Energie. Nach nur wenigen Sekunden erlosch alles und gab einen gewaltigen Krater frei.

Isabelle saß entspannt in ihrem Sessel auf der Brücke des Kommandoschiffes und beobachtete, wie sich ihre Pläne Stück für Stück vervollkommnen. Ihre großen, braunen Augen funkelten böse in den Bildschirm vor sich. Ihre silbernen Haare ergossen sich über ihre schwarze Uniform wie ein eisiger Bergfluss.

„Bericht!“, brüllte sie.

„Die Stadt wurde vollkommen ausgelöscht. Bis auf …“, antwortete ein Offizier.

„Was?“, brüllte sie wütend.

„Da ist ein kleines Fragment im Zentrum des Kraters übriggeblieben. Es ist eine Art Kristall”

„Können wir es bergen?“

„Ich … fürchte nicht. Es ist verzerrt und wahrscheinlich außerhalb dieser realen Raumzeit” Isabelle machte eine kurze Pause und beobachtete das Fragment nachdenklich. Es schimmerte blau und verschwand hin und wieder für kurze Zeit.

„Was ist mit den Knoten?“, fragte sie wieder.

„Sämtliche Signaturen sind erloschen. Wir haben keine Anzeichen von Störungen mehr. Selbst der Drache ist weg” Isabelle lehnte sich zurück.

„Scannt jeden einzelnen Bereich erneut. Ich will absolut sicher sein” Die Offiziere befolgten ihre Befehle.

„Scanne nach roter Signatur”, sagte ein anderer Offizier. „Negativ. Der Drache ist nicht mehr in dieser Realität”

„Scanne nach blauer Signatur”, sagte wieder ein anderer. „Bis auf die kleinen Überreste aus Celestis und dem blauen Fragment im Krater, erhalte ich keine Resonanz. Bellami ist nicht mehr in dieser Realität”

„Scanne nach grüner Signatur”, sagte der vierte Offizier. „Negativ. Shezzar befindet sich nicht mehr in dieser Realität” Isabelle stand auf. „Bleibt nur noch einer übrig”

„Scanne nach transparenter Signatur”, sagte der erste wieder. „Leichte Ausschläge auf der gesamten Planetenoberfläche. Ein Knoten ist nicht lokalisierbar”

„Sehr gut. Er ist zwar noch da aber viel zu schwach, um mir etwas entgegen zu bringen”, sagte Isabelle.

„Somit bin ich die Mächtigste Entität in diesem Universum. Niemand macht mir meinen Status als Gott noch streitig” Sie stand auf und ballte ihre Hand zur Faust.

„Endlich haben wir es geschafft! Wir haben unsere Unterdrücker besiegt” Alle jubelten begeistert. „Endlich können wir wieder auf unserem Heimatplaneten Leben, ohne permanent vor der Vernichtung zu stehen. Lasst uns vorweg gehen und der Menschheit wieder eine Zukunft geben”

Mehrere Flotten, kleinerer Transporter wurden von den Schlachtschiffen abgedockt und traten in die Atmosphäre ein. Überall auf der Erde schauten die Menschen auf und sahen fasziniert in den Himmel.

Han war ebenso fasziniert davon. Es machte sich zwar ein seltsames Gefühl in ihm breit aber er dachte in erster Linie daran, dass das alles vielleicht gar nicht die schlechteste Entwicklung war. Seit Aletria existierte, wurde die Welt von Angst regiert. Auch wenn nie wirklich etwas passierte, wurden die Menschen mit der Angst vor der großen Macht dieser Stadt gefügig gemacht.

Han wollte sich gerade auf den Weg nach Marista machen, doch das Siegel, mit dem er hergekommen ist, war immer noch aktiv und er konnte es nicht verlassen. Er zog das Stück Kreide aus der Tasche, aber es zerfiel sofort zu Staub und wurde vom Wind davongetragen. Verträumt schaute er in die Ferne und ließ seine Arme baumeln.

„Habe ich versagt?“, fragte er sich nachdenklich. Das Siegel unter seinen Füßen wurde größer und vor ihm erschien eine Hausgroße, wolfähnliche Kreatur mit goldenem Fell und anmutigen, großen, schwarzen Augen. Han schaute bewundernd zu ihr auf.

„Habe ich die Faarih verärgert?“, fragte er unterwürfig.

„Du hast deine Strafe verbüßt”, antwortete die Kreatur. „Du wirst bereits erwartet”

„Meine Strafe?“ Er schaute nachdenklich auf den Boden. Plötzlich erinnerte er sich wieder an alles. „Ich darf wieder nach Hause?“

„Ja”, antwortete die Kreatur, „Wir haben entschieden, dich wieder bei uns aufzunehmen. Du hast uns große Sorgen bereitet, doch der Schmerz deiner Abwesenheit war größer” Han lief eine Träne über die Wange. Das Symbol auf seiner Hand erlosch. Er las es noch einmal und erinnerte sich an seine Strafe.

Gebunden an Erde wandle ich ziellos in einer fremden Welt. Ich gehöre nun zu Anderen und werde mich fügen. Ich werde klein sein, bescheiden und unterwürfig. Mein Stolz ist versiegelt und mein Mut im Dunkel versteckt.

„Kronos. Bevor ich gehe, möchte ich noch eine Sache sicherstellen”

„Tu was auch immer du tun willst, Alexander. Du bist wieder frei und wir werden auf dich warten”, sprach die Kreatur und verschwand. Han dachte über die letzten tausend Jahre nach. Ein Name drängte sich in den Vordergrund seiner Gedanken: Isabelle. Dann verschwand er.

Kapitel 16

Märchen und andere Wahrheiten

„Was sind diese Faarih, von denen du vorhin gesprochen hast?“, fragte Haru während, er an seiner Tasse Tee nippte. Maria schlug die Hände hinter dem Kopf zusammen und lehnte sich nachdenklich zurück.

„Ich hab es nie so richtig verstanden. Han hat sie immer als Kreaturen einer anderen Dimension erklärt, die unseren Tieren sehr ähnlichsehen. Sie waren in der alten Welt auch als Urgewalten, Fabelwesen oder Monster bekannt” Haru hörte fasziniert zu. Lili kam mit einem Handtuch um die Brust die Treppe runter und setzte sich zu ihnen. Haru schaute sie verängstigt an.

„Wo ist Maru? Hast du ihn etwa auch umgebracht?“

„Alles klaro, alter. Bleib mal locker”, sagte Maru, der kurz darauf auch die Treppe runterkam. Er ging in die Küche. „Oh man, hoffentlich haben die hier etwas Gescheites zu fressen”

Er fing an alle Schränke zu durchwühlen. Lautes polten und klirrendes Geschirr war zu hören. Haru beruhigte sich wieder. Lili lachte.

„Du machst dir Sorgen um deinen besten Freund. Dabei ist er es, der sich normalerweise sorgen um dich macht”

„Was? Hat er dir das erzählt? Dieser blöde Arsch!“, fluchte Haru. Lili lachte wieder.

„Nein hat er nicht. Aber das sieht man euch an. Nimm‘s mir nicht krumm, aber es ist doch so, oder?“ Maru kam lachend aus der Küche mit einem großen Teller voller Essen.

„Lass gut sein, Haru. Sie hat mich schon längst durchschaut” Er setzte sich zu ihnen und schlug sich den Bauch voll.

„Von was habt ihr gerade gesprochen? Ich hab gehört, wie du seinen Namen erwähnt hast”, sagte Lili.

Maria nickte. „Ich hab ihm von den Faarih erzählt. Aber viel wissen wir darüber nicht”

„Ja”, sagte Lili. „Er hat uns nie besonders viel von ihnen erzählt. Nur das es sehr mächtige Kreaturen sind. In etwa wie die Drachen aber irgendwie anders. Sie bevorzugen eine nicht-physische Existenz”

„Und was hat er mit ihnen zu tun?“, fragte Haru fasziniert.

„Das darf ich dir nicht sagen”, antwortete Maria. „Nur das, immer wenn er etwas mit diesem Stück Kreide machte, kamen sie und halfen ihm. Er hat mal gesagt, dass diese Beschwörungen einen Tribut fordern. Und dass sie irgendwann kommen und etwas sehr Wertvolles einfordern würden”

„Kreide?“, murmelte Maru mit vollem Mund, „So wie das hier?“, sagte er und zeigte mit dem Finger darauf. Lili und Maria lachten.

„Du Dummkopf. Doch kein normales Stück Kreide, dass du irgendwo geklaut hast”, sagte Maria herablassend.

„Aber das hab ich gar nicht geklaut. Es lag auf einmal hier. Es ist mir erst aufgefallen, als du davon gesprochen hast” Maria und Lili schauten es sich genauer an. Es war genau dasselbe, wie das von Han. Maria schaute besorgt in den Raum.

„Ich möchte euch für alles danken”, erklang Hans Stimme. Er trat aus einem Schatten hervor und verbeugte sich höflich. „Doch hiermit verabschiede ich mich von euch” Maria stand auf und ging zu ihm. Sie schaute traurig zu ihm auf und legte ihren Kopf auf seine Brust.

Han streichelte ihr sanft übers Haar. Eine Träne lief ihm über die Wange und tropfte auf ihre Stirn. Lili stand ebenfalls auf und ging zu ihm. Han nahm beide in die Arme und streichelte sie liebevoll.

„Gehst du zu ihnen zurück?“, sagte Maria und schniefte.

„Ja”, antwortete Han bedrückt. „Ich gehe wieder nach Hause. Zurück zu meiner Art. Ich kann leider nichts mehr für euch tun, es sei denn ihr beschwört mich in meiner wahren Gestalt”

„Ich freue mich für dich”, sagte Lili und lies von ihm ab. „Wir wussten, dass sie dir irgendwann verzeihen würden” Han lächelte.

„Ich werde euch nie vergessen. Passt gut auf diese Welt auf. Und auf eure Freunde” Er schaute zu den Jungs rüber, die ihn wie festgenagelt anstarrten und lächelte entspannt.

Er trat einen Schritt zurück und verbeugte sich. Dann erschien wieder ein Siegel unter seinen Füßen. Er zog seinen Zylinder vom Kopf, richtete sich wieder auf und lächelte. Lili und Maria lächelten mit tränenden Augen zurück und streckten ihre Arme nach ihm aus.

Dann verschwand er. Maria setzte sich an den Tisch und legte ihren Kopf in die Arme. Sie fing an zu weinen und zu schniefen. Lili setzte ebenfalls sich wieder neben Maru und wischte sich eine Träne aus dem Auge.

„Er war wie ein Schutzengel für uns. Er hat uns vor Isabelle gerettet und uns unsterblich gemacht. Doch wir wussten, dass er uns irgendwann verlassen wird. Ich dachte wir würden besser damit klarkommen aber sieh uns an”, sagte Lili mit leiser, trauriger Stimme. Maru lächelte sie mitfühlend an und hielt ihr das Stück Kreide vors Gesicht.

„Ich denke nicht, dass er das versehentlich hier vergessen hat” Lili lächelte und küsste ihn auf den Mund. Maria hob ihren Kopf vom Tisch und riss ihm das Stück Kreide aus der Hand. Dann stand sie auf und ging nach draußen. Haru schaute ihr nach und folgte ihr. Sie Stand vor der Mauer und hob ihr Schwert in die Luft.

„Ich kann’s nicht, hörst du?“, schrie sie in die Ferne. Sie ging auf die Straße und zeichnete einen Kreis um sich. „Ich kann nicht! Ich kann nicht wieder allein sein!“, schrie sie wie verrückt. „Ich brauch keine Unsterblichkeit, wenn es keinen Grund zum Leben gibt” Sie hob ihren Arm mit der Kreide in der Hand, genau wie es Han immer getan hat. Doch kurz bevor sie sie zerbrach, schubste Haru sie aus dem Kreis. Das Siegel schloss sich und Maria sah wie Haru mittendrin stand. Sie stand wieder auf und schlug mit der Faust dagegen.

„Wieso hast du das getan?“, schrie sie ihn an. „Mit dir wird jetzt sonst was passieren!“ Haru schaute sie traurig an.

„Ich habe schon mal einen lieben Freund verloren. Ich möchte das nicht noch einmal erleben” Maru und Lili stürmten raus und rannten zu ihnen.

„Haru, was tust du da?“, brüllte Maru. „Komm da sofort wieder raus!“, befahl er ihm.

„David Hammond”, antwortete Haru. „Das ist dein richtiger Name”

„Was laberst du für einen Scheiß? Komm endlich da raus!“

„Ich hab ihn für dich recherchiert, als wir in dieser schönen Stadt waren”, sagte Haru traurig und schaute auf seine Hände. Überall auf seiner Haut entstanden gelb-orange leuchtende, eckige Linien, die zu pulsieren begannen.

„Haru, verdammt nochmal!“, befahl Maru und schlug mit der Faust gegen das Siegel. „Hör mit diesem Scheiß auf und komm da raus!“ Doch Haru reagierte nicht.

In seinem Gesicht erschienen Symbole und seltsame Schriften. Das hielt eine Weile an und er war in Trance. Dann schlug ein orange-gelb leuchtender Blitz in seiner Brust ein. Das Siegel verlosch. Die Symbole in seinem Gesicht ebenfalls. Nur die Linien wurden schwarz und verblieben dort. Haru fiel bewusstlos zu Boden. Maria fing ihn auf und brachte ihn in die Kaserne zurück. Sie legte ihn in ein Bett im oberen Geschoss und setzte sich neben ihn. Maru und Lili liefen ihr nach.

„Was ist da passiert? Was hat der Kerl da wieder angestellt?“, fragte Maru wütend.

„Er wollte mir das Leben retten. Aber ich wusste selbst nicht, was passieren würde, wenn ich Alexanders Macht einsetze”, antwortete Maria und streichelte Harus Hand. „Ich hab es erst nicht verstanden, aber ich glaub jetzt …“

Haru wachte auf. Er sah erst zu Lili, die vergnügt lächelte, dann sah er rüber zu Maru, der ihn grimmig und mit den Armen vor der Brust verschränkt anstarrte. Dann sah er Maria, die neben dem Bett saß und ihn sorgenvoll in die Augen schaute. Als er fühlte, dass sie seine Hand hielt, nahm er mit der anderen Hand eine der Armbinden ab und gab sie ihr.

„Die hat unserem Freund Marcel gehört. Er wurde von einem Wahnsinnigen getötet, als wir auf der Straße gespielt haben. Bitte nimm sie und versprich mir, dass du dir nichts mehr antun wirst” Als er wieder zu Maru und Lili sah, fiel ihm auf, dass sie die zweite rote Armbinde von ihm trug.

„David, was?“, sagte Maru. „So heiß ich doch niemals. Oder? Ist das cool?“, fragte er und starrte zu Lili.

„Ziemlich uncool, wenn du mich fragst. Aber immer noch besser als der Name, den du dir ausgedacht hast”, sagte sie und fing an zu lachen. Haru schaute sich seine Arme an. „Was ist nur mit dieser Welt passiert? Was war das alles? Seid ihr überhaupt Menschen. Und was sind diese Faarih?“

„Das würde mich auch mal interessieren”, fügte Maru hinzu. Lili setzte sich.

„Es gibt viele verschiedene Wesen im Universum. Pflanzen, Tiere und Menschen kennt ihr ja. Aber es gibt noch viel mehr. Wächter, Götter, Faarih und die Drachen”

„Das klingt wie eine Märchengeschichte”, sagte Maru. Maria schüttelte den Kopf.

„Wir haben viel gelernt als wir mit Han zusammen waren. Es gibt zum Beispiel höhere Kräfte. Eine heißt Terra, die Kraft des Lebens. Dann gibt es noch Astra, die Kraft des Seins. Und das Drachenfeuer. Darüber weiß ich aber nichts. Aber es soll noch mehr geben. Die Wächter verfügen über die Fähigkeit, Terra und Astra zu lenken. Die Götter können durch alle Welten reisen und Menschen oder andere Wesen zu Wächtern machen. Die Faarih stehen über den Göttern. Es sind uralte, mystische Wesen mit unvorstellbaren Kräften”

„Und dieser Typ war so einer?“

Lili nickte. „Ja. Aber sie hatten ihn verstoßen. Er war in diese Frau verliebt. So sehr, dass er ohne zu zögern alles tat was sie verlangte”

„Sie haben ihn verstoßen, weil er sich verliebt hat? Aber wie kann sich ein Gott in einen Menschen verlieben?“, fragte Haru skeptisch. „In allen Büchern, die ich gelesen habe, heißt es, Liebe ist etwas, das von Chemikalien im Gehirn verursacht wird” Maria lächelte etwas spöttig.

„Was liest du denn für Bücher? Jedes fühlende Wesen, egal ob Gott, Drache oder Mensch kann Liebe empfinden”, sagte sie etwas abfällig. „Die Faarih haben sehr strenge Regeln. Eine Beschwörung hat immer einen Preis, der unter allen Umständen getilgt werden muss. Ein Mensch wie Isabelle könnte selbst mit ihrem Leben die Beschwörung eines Faarih nicht begleichen. Dennoch beschwor sie ihn, weil sie genau wusste, dass Han alles für sie tun würde. Und genau das ist passiert: Er hat Shezzar getötet aber den Tribut nicht eingefordert. Deswegen wurde er von Ihnen verstoßen”

„Und was hat es mit diesem Stück Kreide auf sich?“ Maria kratzte sich an der Stirn.

„Soweit ich es verstanden hab, ist es so etwas wie eine Antenne. Er kann damit die Macht seiner Art beschwören und sich auch in seine urtümliche Gestalt verwandeln. Doch für jedes Mal, wenn er sie einsetzt, verliert er einen Teil seiner Erinnerungen. Außerdem wird seine Strafe verlängert, da er sich nicht an die Regeln seines Exils hält.

So ähnlich ist es auch, wenn ein Mensch einen Faarih beschwört. Er geht einen Vertrag mit ihnen ein. Sie werden ihre Macht einsetzen, um seinen Wunsch zu erfüllen. Solange ein Preis dafür gezahlt wird” Plötzlich funkte Lili dazwischen.

„Wir müssen jetzt gehen. Ich weiß nicht, wann die das letzte Mal berichtet haben also kann es sein, dass hier gleich Soldaten auftauchen werden”, sagte sie unruhig. Haru war immer noch etwas geschwächt und Maria half ihm aus dem Bett.

Sie verließen das Gebäude und liefen in die Stadt. Es war seltsam zu sehen wie überall Frachtschiffe landeten und aus ihren Bäuchen viele Güter entladen wurden. Zögernd gingen sie zu einem der Schiffe und ließen sich etwas Neues zum Anziehen geben. Als sie wieder gehen wollten, wurden sie von einem Mann in einer seltsamen Uniform angesprochen.

Er fragte sie, ob er sie nach Hause bringen soll und als sie ablehnten, befahl er einem anderen, sie mitzunehmen. Zwei der Soldaten packten die Mädchen und nahmen ihre Schwerter. Ein weiterer packte die beiden anderen und schleifte sie in eines der Frachtschiffe. Sie wurden grob in eine dunkle Zelle geschmissen und eingesperrt. Was mit den Mädchen passierte, bekamen die beiden nicht mit. Sie spürten wie das Schiff abhob und davonflog. Es war ein langer Flug und der Boden war sehr hart.

Kapitel 17

Einsamkeit

Als Val wieder zu Bewusstsein kam, war er umgeben von vollkommener Dunkelheit. Es war als bestehe er nur noch aus seinen Gedanken, die frei in einem großen Nichts umherirren.

Eine beklemmende Einsamkeit durchzog ihn und er erinnerte sich langsam wieder an seinen Körper. Er fühlte allmählich wieder Gliedmaßen und einen Herzschlag. Er öffnete seine Augen, doch er sah nichts.

Dann erinnerte er sich an die Schwerkraft und dass er doch irgendwo stehen muss. Dann umschloss sie ihn und zog ihn langsam auf einen weichen Boden. Er begriff, dass seine Gedanken einen Einfluss auf diese Welt haben. Er stand auf und lief ziellos in der Dunkelheit umher. Doch wie sehr er sich auch darauf konzentrierte er war nicht in der Lage, seine Heimatwelt wiederherzustellen. Er fühlte sich nicht stark genug und hielt eine solche Aufgabe für schlichtweg unmöglich.

Erschöpft legte er sich wieder hin. In Gedanken resignierte er und machte seinen Frieden mit dem Gefühl das nichts schönes mehr in seinem Leben, sollte er überhaupt noch am Leben sein, passieren würde.

Lange lag er in der Finsternis und hörte sich selbst beim Atmen zu. Er konzentrierte sich auf seine schönen Erinnerungen mit Milena und stellte sich vor, wie er mit ihr auf einer Lichtung im Wald durch das Gras tobte und die warme, wohlriechende Waldluft über sein Gesicht streifte. Er ließ sich fallen und döste im Gras, während Milena neben ihm Blumen pflückte und eine wohlklingende Melodie summte.

Er konzentrierte sich so stark auf seine Erinnerungen, dass er das Gras und die warme Luft fühlen konnte. Er öffnete die Augen und sah einen blauen Himmel, kleine Quellwolken und Baumkronen. Er hob seine Arme und schaute sich seine Hände an. Beide waren da und voll funktionstüchtig. Er richtete sich auf und sah Milena vor sich im Gras. Sie schaute zu ihm und lächelte so süß, dass ihm eine Träne die Wange herablief. Ihm war klar, dass hier rein gar nichts real war. Milena schaute ihn sorgenvoll an.

„Was ist mit dir? Gefällt es dir hier nicht?“, frage sie bekümmert. Val wischte sich die Träne vom Gesicht und schüttelte den Kopf. Er streckte seinen Arm nach ihr aus und streichelte ihr über die Wange.

„Auch wenn es nur ein Traum ist. Von mir aus kann er ewig dauern” Er legte sich wieder ins Gras. Milena legte sich neben ihn.

„Ein Traum also. Heißt das, ich existiere gar nicht?“ Val überlegte kurz.

„Wahrscheinlich. Oder ich existiere nicht. Eins von beidem oder beides”

„Aber dennoch sind wir beide hier” Ein seichter, lauer Wind trug Milenas vertrauten, angenehmen Geruch zu ihm herüber.

„Wenn ich aufwache, bist du wieder weg” Seine Stimme klang ernst und verzweifelt. Milena legte ihren Kopf auf seine Brust.

„Wieso glaubst du, dass du schläfst?“

„Weil ich in der Realität sowohl dich als auch meine Hand verloren hab” Sie nahm seinen rechten Arm und legte seine Hand auf ihre Wange.

„Deine Hand ist hier und ich bin es auch”

„Ja, also muss das ein Traum sein”

„Weißt du” Sie hob ihre linke Hand und hielt sie mit dem Handrücken vor Vals Gesicht.

„Das hab ich seitdem du mich in der Stadt über den Haufen gerannt hast”

Val erkannte ein Symbol auf ihrem Handrücken. Er konnte es nicht deuten. Es war nicht die Drachensprache oder irgendetwas, das er kannte. Es war verzerrt und undeutlich. Der Ring aus Schriftzeichen darum, war noch schwerer zu erkennen. Val gab sich große Mühe, aber er konnte es nicht entziffern. Es war weder Terra noch Astra, Aeon oder Solaris.

„Seitdem ich es habe“, fuhr sie fort, „passieren Dinge zufällig immer so wie ich es will. Das erste Mal hab ich das gemerkt als mich der Soldat erschießen wollte. Aber da wusste ich noch nicht, wie es funktionierte”

„Was meinst du?“, fragte Val.

„Als wir in Celestis waren passierten ständig solche Sachen. Und letztens habe ich es bewusst ausprobiert”

„Was hast du denn gemacht?“

„Erinnerst du dich als eines der Schiffe, das Bellami angegriffen hat, einfach zerbrochen ist?“

„Ja, glaub schon”, erklärte Val, „Es wollte gerade seine Waffe auf ihn abfeuern. Dann ist es explodiert und hat sich aufgelöst. Du warst das?“ Milena nickte.

„Ja. Es ist zufällig ein Riss in der Brennkammer des Partikelbeschleunigers entstanden und die austretende Hitze hat ein Kabel angeschmort. Dadurch entstand ein Systemfehler der veranlasste, dass sich die Schotten für die Brennstoffzufuhr öffneten und der Schuss sozusagen nach hinten losging” Val dachte nach.

„Partikelbeschleuniger? Brennkammer? Systemfehler? Wieso kennst du dich so gut damit aus?“, fragte er skeptisch.

„Tue ich gar nicht. Ich hab aber genau gewusst, was passieren wird. Es ist mir auch egal. Du bist nicht hier, weil du träumst, sondern weil du hier bist und ich auch”

„Aber du bist doch von der Plattform gefallen”

„Ja, das ist wahr. Aber ich wollte dich nicht verlieren”, sie schniefte. „Ich wollte nicht mehr alleine sein. Ich sah diesen weißen Blitz und auf einmal war die ganze Welt verschwunden. Ich war mir sicher, dass ich tot war” Val richtete sich auf. Er packte ein Büschel Gras und riss es heraus.

„Es scheint alles so real. Hab ich das gemacht?“

„Nein, Dummkopf. Das war schon immer hier” Sie lachte verlegen. „Wieso glaubst du, du hättest das gemacht?“

„Na, ich war auch in der Dunkelheit. Und alles, was ich mir vorgestellt hab wurde real. Also hab ich mir das hier erschaffen, weil ich verzweifelt war. Aber es ist nicht echt, oder?“

Milena stand auf und lachte. Sie zog an Vals Hand und zerrte ihn hinter sich her. Etwa eine Stunde lang liefen sie durch den Wald, Hand in Hand. Trotz Milenas heiterer und fröhlicher Art, war Val immer noch betrübt. Er könnte jeden Moment aufwachen und wäre wieder allein in der Dunkelheit gefangen in seinen Gedanken. Sie erreichten einen Abhang, hinter dem eine endlos weite Talsohle klaffte. Ein Zaun versperrte ihnen den Weg.

„Wo sind wie hier?“, fragte Val fasziniert.

„Du kennst diesen Ort. Hier war einst Aletria”, antwortete Milena.

„Aber wieso ist hier alles schon so stark verwachsen? Das ist doch vor ein paar Stunden erst passiert” Milena schüttelte den Kopf.

„Es sind schon zwei Jahre vergangen” Erst jetzt fiel ihm auf, dass Milena sich verändert hat. Sie ist etwas größer und sieht mehr nach einer jungen Frau aus als nach einem Mädchen. Sie hatte zwar immer noch ihr rotes Kleid an, aber es sah aus als wäre es sehr oft umgearbeitet worden.

„Wieso zeigst du mir das?“, fragte Val wieder.

„Um dir zu beweisen das du nicht träumst”

„Es ist mir egal ob ich träume oder nicht. Du bist hier und ich auch” Milena schaute ihm tief in die Augen.

„Es ist dir nicht egal. Du glaubst es nicht und es macht dich traurig” Val lächelte und nahm sie in die Arme.

„Ich glaube dir, dass du echt bist. Alles andere ist mir egal”

„Komm mit mir”, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Ich kenne einen schönen Ort in Marista, den du noch nicht kennst und ich beweise dir, dass du diese Welt nicht erschaffen hast. Danach gehen wir wieder in meine kleine Hütte und ich mache dir wieder ein leckeres Gulasch” Val schaute ihr in die Augen.

„Aber das ist so weit weg. Wie kommen wir dahin?“ Milena schaute verstohlen in die Luft.

„Es gibt eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, dass wir einfach verschwinden und an dem Ort wieder auftauchen an den wir wollen”

„Was?“, fragte Val und nach einem Zwinkern stand er plötzlich zusammen mit ihr im Stadtzentrum von Marista. Die Stadt hat sich stark verändert. Alles ist viel sauberer und moderner. Die beiden befanden sich auf einem riesigen, gepflasterten Platz, der umgeben war von großen, prachtvollen Regierungsgebäuden. Vor ihnen war ein großer Brunnen, auf dem die Statue einer Frau stand, die Ajukis Beschreibungen der Generalin sehr nahe kam.

Es waren viele Leute auf dem Platz die sich einfach nur unterhielten und den Tag genossen. Keiner musste arbeiten. Milena erklärte Val, dass die Menschen auf der ganzen Welt von den Göttern versorgt werden. Dass es keine Kriege und keine Armut mehr gibt. Menschen arbeiten nur noch, um sich zu verwirklichen. Alle haben genug zu essen und Obdach. Val beeindruckte das sehr. Er dachte daran, dass es Momo und den anderen Kindern endlich besser geht und sie nicht mehr auf der Straße leben müssen.

„Meine Freunde”, sagte Val und schaute Milena erwartungsvoll in die Augen. „Weißt du, wo sie sind?“, fragte er voller Enthusiasmus. Milena schüttelte den Kopf. Val schaute auf seine Hände.

„Okay, dann suchen wir sie”, sagte er und streckte seinen Arm in die Luft. Milena riss ihn panisch wieder runter.

„Nein!“, sagte sie ängstlich. „Du darfst deine Kräfte nicht einsetzen” Val schaute sie verwundert an.

„Warum nicht?“, fragte er.

„Sie haben eine Technologie, um Menschen mit deinen Kräften aufzuspüren. Und wenn das passiert greifen sie uns an”

„Aber du hast deine Kräfte doch auch benutzt. Und es ist nichts passiert”

„Ich habe keine Kräfte wie du. Ich kann nur Ereignisse erzwingen, die auch so passieren können. Nur mit einer sehr geringen Wahrscheinlichkeit. Ich weiß nicht, wie ich das mache, aber ich schaue einfach nur ins Universum und sehe, was alles passieren kann. Aber das ist nicht so einfach”

„Also können wir nichts tun, um die anderen zu finden?“ Milena zuckte mit den Schultern.

„Wo wart ihr denn früher?“

„In dem alten Waisenhaus, von dem ich dir erzählt hab. Aber das ist weit weg”

„Wir gehen dahin. Aber wie ganz normale Menschen, okay?“ Val nickte. Es gab unzählige öffentliche Verkehrsmittel, die jeder frei nutzen konnte. Die Menschen wirkten auch viel glücklicher und ausgelassener. Es war eine perfekte Welt.

Isabelle kümmerte sich hingebungsvoll um sie. Nach etwa zwanzig Minuten erreichten sie das Waisenhaus. Das Gebäude sah noch genauso aus wie früher. Doch niemand war zu sehen. Dahinter war eine Baustelle, wo gerade alles abgerissen wurde. Es arbeiteten dort fast nur selbstständige Maschinen. Davor stand ein Kerl mit einem Tablet-PC in der Hand, der ziemlich beschäftigt aussah. Val beschloss zu ihm zu gehen.

„Entschuldigen sie”, sagte er höflich. Der Mann drehte sich zu ihm.

„Ja, bitte?“

„Können sie mir sagen, wo die Kinder sind, die hier früher gelebt haben?“, fragte Val.

„Kinder?“ Der Mann überlegte kurz, „Nein, weiß nicht. Ich habe nur den Auftrag das Gebiet hier in einen Park zu verwandeln. Aber wenn es Waisenkinder waren, sind sie bestimmt bei Pflegefamilien. Seitdem die Göttin hier ist, gibt es ein Gesetz, dass Waisenkinder in Familien integriert werden müssen” Val bedankte sich und ging wieder zu Milena.

„Der Mann sagte sie sind in Pflegefamilien”

Sie nickte. „Ja, das ging vor einem Jahr los. Da wurden alle Waisenkinder von den Straßen geholt. Es gibt auch nicht mehr so viele Menschen auf der Welt. Und nur noch drei große Städte: Babel, Marista und Anshino”

„Was machen wir jetzt?“, fragte Val.

„Hey!“ Rief der Mann von der Baustelle plötzlich und lief zu ihnen. „Ihr seht noch ziemlich jung aus. Wie alt seid ihr?“, fragte er.

„Siebzehn”, antwortete Milena.

„Tut mir leid, aber ich muss euch der Jugendschutzbehörde Melden. Keine Angst, sie bringen euch nach Hause” Val ballte seine Hand zur Faust. Milena griff nach seiner anderen Hand und schüttelte subtil mit dem Kopf. Nach wenigen Minuten kam ein Polizeifahrzeug und hielt vor ihnen. Ein Polizist stieg aus und ging zu dem Mann.

„Sind das die Beiden?“, fragte er. Der Mann nickte der Polizist und ging zu ihnen.

„Ihr seid nicht registriert. Laut Jugendschutzgesetz muss ich euch mitnehmen” Er drehte sich kurz um und nuschelte etwas in eine Art Funkgerät, das an seinem Kragen befestigt war. Dann drehte er sich wieder zu ihnen und zog Milena zu sich.

„Du kommst in das Mädchenwohnheim bis wir eine Pflegefamilie für dich gefunden haben” Val wurde immer wütender.

„Ihr werdet sie mir nicht schon wieder wegnehmen”, flüsterte er. Ein weiteres Polizeifahrzeug tauchte auf. Ein Polizist stieg aus und packte Val am Handgelenk.

„Ich bringe ihn ins Jungenwohnheim, wie befohlen”, sagte er knapp. Milena sah Val besorgt an. Seine Iris färbte sich langsam grün. Milena schüttelte den Kopf.

„Tu es nicht“, flüsterte sie. Doch sie wünschte sich, dass er es tut. Der Polizist drückte Milenas Kopf nach unten und wollte sie gerade in das Fahrzeug schubsen, da ertönte ein Alarm.

Gefährliche Strahlung entdeckt! Dröhnte es aus dem Fahrzeug. Milena hob ihren Kopf und sah Val mit seinem riesigen Schwert, wie er gerade den Polizisten in zwei Hälften teilte. Die Tonnenschwere Klinge schlug auf dem Boden auf und zerbrach in tausende messerscharfe Splitter, die wie ferngesteuert auf den anderen Polizisten zuflogen und ihn zerfetzten. Milena lief zu Val.

Drei große, schwebende Kampfschiffe tauchten vor ihnen auf. Eines feuerte einen Flugkörper ab, der über den beiden zerplatzte und eine grün leuchtende Flüssigkeit regnete auf sie ab. Vals Schwert zerfiel zu Staub und er konnte sich nicht mehr bewegen. Milena machte es nichts, doch Val schien wie paralysiert zu sein. Die Schiffe landeten und öffneten ihre Ladeluken. Achtzehn bewaffnete Soldaten stürmten heraus und liefen auf die beiden zu. Milena nahm Val in den Arm, schloss ihre Augen und konzentrierte sich. Plötzlich stolperte einer der Soldaten und es löste sich ein Schuss aus seiner Waffe.

Der Energiestrahl durchschlug das Cockpit des mittleren Kampfschiffes und tötete den Schützen. Seine Leiche fiel auf das Steuergerät des Bordgeschützes und feuerte eine Salve ab, die vier Soldaten tötete.

Einer von ihnen verlor eine Granate, die zu dem mittleren Kampfschiff rollte und durch einen Verarbeitungsfehler im Material ungewollt detonierte. Es war aber keine gewöhnliche Granate, sondern eine elektronische Impulsgranate. Sie detonierte direkt unter dem rechten Triebwerk des Schiffes und aktivierte es dadurch.

Die rechte Seites hob ab und das ganze Schiff rollte nach links über. Der Pilot des linken Schiffes geriet in Panik und versuchte an Höhe zu gewinnen. Während er abhob, riss es das Triebwerk des mittleren Schiffes aus seiner Verankerung, machte sich selbständig und flog direkt in das linke Schiff.

Dieses Trudelte nun über das rechte und bevor es abstürzte, lösten sich zwei Flugkörper aus der Halterung und fielen herab. Noch während sie fielen, wurden sie durch einen elektronischen Fehler, der von der Störgranate ausgelöst wurde, scharf gemacht und detonierten etwa einen Meter über dem rechten Schiff.

Das trudelnde Schiff wurde von der Druckwelle nach oben gerissen, stürzte etwa zweihundert Meter weiter ab und zerschellte auf dem Boden. Das rechte Schiff wurde in der Mitte zerrissen; das Cockpit flog als Trümmerteil nach vorn und tötete weitere fünf Soldaten. Zwei Flugkörper des rechten Schiffes lösten sich ebenfalls aus der Halterung. Bei einem zündete der Antrieb und er flog auf das mittlere Schiff zu, das auf dem Rücken lag.

Die Rakete schlug in das noch immer scharfe Bordgeschütz aber ohne zu detonieren. Dadurch fing das Geschütz wieder an zu feuern und tötete nochmal fünf Soldaten. Während es feuerte drehte sich das Geschütz nach rechts, ein Querschläger traf den Zünder des zweiten Flugkörpers und brachte ihn zur Detonation. Dieser lag sehr nah am Reaktor des rechten Schiffes und beschädigte ihn so stark, dass ein Riss in dessen Außenhaut das Energiereiche Kondensat mit hohem Druck ausströmen ließ.

Dieses wurde durch den Sauerstoff in der Luft verunreinigt, entzündete sich und explodierte. Messerscharfe Trümmer regneten herab und töteten drei weitere Soldaten. Sie verfehlten Val und Milena nur um wenige Millimeter.

Ein Soldat wurde direkt enthauptet, einer vom Fahrwerk erschlagen und dem dritten schlug ein keilförmiges Stück von einem Metallträger in den Rücken. Der einzige überlebende war der Soldat, der am Anfang gestolpert war.

Er stand auf, sah um sich herum die entstellten und zerstückelten Körper seiner Kameraden. Es war ein Schlachtfeld von brennenden Fracks, zerfledderten Leichen und stinkenden Rauchwolken.

Er drehte sich um, lief weg und stolperte wieder. Er fiel mit dem Gesicht in die Mündung seiner Waffe, löste einen Schuss und richtete sich selbst hin. Val schaute auf und sah das Chaos vor sich. Dann sah er zu Milena, die ihn fest in den Armen hielt.

„Es ist vorbei”, flüsterte er. „Alle sind tot” Milena hob ihren Kopf, stand auf und schaute sich um. „Wir sind hier nicht willkommen”, sagte sie. Val nickte.

Ein Augenzwinkern später standen sie wieder vor dem Krater, der vorher Aletria war. Diesmal standen sie auf der anderen Seite des Zauns und sie stiegen den Abhang hinab. Alles war schon mit einem dichten Laubwald bewachsen. Sie liefen etwa fünf Stunden in Richtung Zentrum. Dort schwebte ein Kleinbus großer, blauer Kristall, etwa zwanzig Meter über dem Boden. Er war wie verzerrt und verschwand hin und wieder.

„Wie ist das möglich, dass die Bäume schon so groß sind?“, fragte Val, „Es sind doch erst zwei Jahre vergangen”

„Das liegt irgendwie an diesem Ding. Es strahlt eine Energie aus”, sagte Milena und zeigte mit dem Finger auf den Kristall. „Kannst du mich irgendwie da hochbringen?“ Val überlegte kurz. Er ließ sein Schwert erscheinen und es flach über dem Boden schweben. Milena stieg auf die Klinge und es schwebte langsam mit ihr nach oben. Sie streckte ihre Hand nach dem Kristall aus und für einen kurzen Moment konnte sie ihn berühren. Sie schaute ihn fasziniert an und schwebte wieder zu Val herab.

„Und, was ist es?“, fragte er aufgeregt.

„Es ist ein Datenspeicher”, antwortete sie, „Alles ist gespeichert. Ganz Aletria befindet sich da drin” Fasziniert schaute Val auf.

„Und wo gehen wir jetzt hin?“, fragte er. Milena schaute sich um. Sie hatte ein merkwürdiges Gefühl, dass sich irgendetwas anbahnte.

„Da lang!“, sagte sie und streckte den Arm aus. Val sah, dass sie mit dem Arm auf das westliche Ende des Kraters zeigte.

„Aber das ist so weit weg”, sagte er mürrisch.

„Da hast du recht”, sagte Milena, „Es wird bald dunkel. Vielleicht sollten wir die Nacht über hierbleiben und uns ein wenig ausruhen. Und morgen gehen wir zum anderen Ende des Kraters”

Val stimmte zu und die Beiden setzten sich an den Baum unter dem leuchtenden Kristall. Bald wurde es dunkel und ein wunderschönes, weiches, farbenfrohes Licht ging von den Pflanzen aus. Das blaue schimmern des Kristalls trug ein Übriges zur dieser atemberaubenden Atmosphäre bei. Val breitete seine weiße Jacke auf dem Boden aus und die beiden legten sich nebeneinander darauf.

Es war sehr mild, aber nicht zu warm. Die Luft roch sehr angenehm nach Wald und Wiese. Milena legte ihren Arm um Val und kuschelte sich an ihn. Val küsste sie sanft auf die Stirn, dann hob sie ihren Kopf und küsste ihn auf den Mund. Beide schlangen die Arme umeinander und küssten sich leidenschaftlich.

Kapitel 18

Der Richter

In dem Moment, in dem Milena den Kristall berührte, wachte Bellami auf. Er lag im Bett eines Kinderzimmers, dass ihm sehr bekannt war. Er stand auf, ging zur Tür und legte seine Hand auf die Klinke.

„Wo willst du hin?“, fragte eine vertraute Stimme. Bellami drehte sich um und bemerkte Keara, von der man nichts weiter sah außer ihrer weißen, leuchtenden Augen unter der Kapuze eines dicken Mantels, der ihren schmalen Körper vollständig verhüllte.

„Wieso bin ich hier?“, fragte er zornig.

„Weil ich dich aus dem Verkehr gezogen hab. Es war ein Fehler, dich zum Wächter zu machen. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass der Drache dich tötet”

„So? Und wieso kommst du erst jetzt auf die Idee?“ Bellami zerrte wie verrückt an der Klinke.

„Niemand legt sich mit einem Drachen an. Selbst die Faarih haben das eingesehen. Aber jetzt hat er dich verlassen und ich kann mit dir machen was ich will”, sagte sie und lachte. Bellami richtete seinen linken Arm auf sie. Doch das Symbol war nicht mehr da. Wieder lachte Keara.

„Du hast deine Kräfte nicht mehr. Und selbst wenn, könntest du mir nichts anhaben” Bellami grinste.

„Das ein Wesen deiner Art nur so unglaublich dumm sein kann”, sagte er böse. Keara streifte den Mantel ab. Unter ihm kam eine dünne, zerbrechlich aussehende Frau mit enganliegenden, mittelalterlichen, schwarzem Kleid zum Vorschein. Ihr Gesicht war eingefallen und zum Kinn hin spitz. Ihre Nase war kurz und sehr dünn. Sie ging zu ihm und packte ihn mit ihren knorrigen Fingern am Hals.

„Du kleines, arrogantes Arschloch”, fauchte sie, „Der Drache wird dich nicht mehr beschützen und dennoch besitzt du die Frechheit, so mit mir zu reden” Bellami blickte ihr tief in die Augen und grinste.

„Der Drache hat mich nie beschützt. Das war gar nicht nötig” Keara drückte seine Kehle immer fester zu.

„Ich werde dich zurück auf die Erde verbannen. Im Zentrum derer, die dich am meisten hassen. Du wirst weiterhin unsterblich bleiben, sodass sie dich für alle Zeiten quälen können” Sie hob ihn hoch und warf ihn unsanft gegen die Bettkannte. Bellami streichelte über seinen schmerzenden Hinterkopf.

„Darf ich dir noch eine Frage stellen, bevor ich gehe?“ Wütend schaute sie ihm ins Gesicht.

„Was?“, fauchte sie wieder.

„Wieso hasst du mich so sehr?“ Sie ging zu ihm und drückte ihren sehnigen Zeigefinger auf seine Brust.

„Du hast es”, sagte sie wütend. „Die Drachen freunden sich niemals mit Wesen an, die ihrer nicht würdig sind. Nicht mal mit uns Nyx. Selbst die Faarih können sich nur selten mit den Drachen anfreunden. Und du kleiner Mistkerl bekommst alles von ihm. Ich habe es geschafft, ihn von dir wegzulocken und jetzt herrscht endlich wieder Gleichgewicht”

„Das ist alles?“, fragte er außerordentlich herablassend. „Du bist einfach nur eifersüchtig?“

„Du hast auch noch unzählige Menschenleben auf dem Gewissen. Deine Machtgier ist schlimmer als ihre und du bist von Grund auf böse” Bellami lachte.

„Du warst auch mal ein Mensch, hab ich recht? Wie könntest du sonst so dumm sein” Keara fing an lauter zu lachen. Sie bleckte ihre gelben Zähne und ihre Augen glühten weiß. Ein heller, blauer Blitz erleuchtete das Stadtzentrum Maristas. Überall in den Kontrollstationen gingen Alarme an. Isabelle saß in einem großen Wintergarten an ihrem Schreibtisch. Ein Offizier näherte sich ihr.

„Meine Göttin”, sagte er untertänig.

„Ich will nicht gestört werden!“, antwortete sie genervt.

„Meine Göttin. Es ist ein Notfall. Wir haben zwei Impulse aufgezeichnet. Einen gestern Nachmittag im Stadtteil Noma und einen zweiten vor fünf Minuten direkt hier im Regierungsviertel” Isabelle stand auf.

„Was für eine Farbe?“

„Der erste war grün, der zweite blau, meine Göttin”

„Wie stark sind sie?“

„Nicht sonderlich. Sie sind auch schon wieder verstummt. Aber sie wollten über jede Aktivität Meldung haben, meine Göttin. Leider konnte ich sie gestern nicht Auffinden. Deswegen habe ich eigenmächtig einen Säuberungstrupp losgeschickt. Der wurde aber vollständig zerstört”

„Wie kann das passieren?“, schrie Isabelle wütend. „Wir haben genug Gegenmaßnahmen, um die Kräfte dieser Wahnsinnigen zu neutralisieren”

„Ja, das hat laut den Aufzeichnungen auch wunderbar funktioniert. Dennoch”, der Offizier geriet ins Stocken und rieb sich nervös die Hände.

„Dennoch was?“, schrie Isabell wieder.

„Es passierten sehr merkwürdige Dinge, die hätten niemals so passieren können”

„Was willst du mir damit sagen?“ Der Offizier machte ein paar Gesten vor einem Holographischen Bild. Daraufhin wurde die Szene abgespielt.

„Bitte sehen sie es sich selbst an” Sie sahen Val und Milena, zusammengekauert auf dem Boden. Um sie herum spielte sich dieses unglaubliche Geschehen ab. Isabelle setzte sich wieder und stieß einen langen Seufzer aus.

„Untersucht die Anomalie im Zentrum und macht Satellitenbilder vom Krater. Bringt alle Schiffe der Alpha-Flotte in Sprung-Reichweite”

„Zu Befehl, meine Göttin”, sagte der Offizier und verließ den Raum.

Nur in einem Kinder-Schlafanzug bekleidet, lag Bellami nun vor dem großen Stadtbrunnen im Zentrum Maristas. Einer der Leute ging zu ihm und half ihm auf.

„Alles okay, kleiner?“, fragte er besorgt. Bellami schaute ihm schweigend ins Gesicht.

„Wo sind deine Eltern?“, fragte der Mann wieder. Bellami antwortete wieder nicht.

„Verschwindet ihr Monster!“ Schmettere eine schrille Mädchenstimme über den Platz. Sie rannte zu Bellami und trat dem Mann in die Lenden. Mit schmerz verzogenem Gesicht entfernte er sich von ihnen und rief nach der Polizei. Das Mädchen wollte Bellami wegzerren, doch er blieb wie angewachsen auf seinem Platz.

„Kumiko?“, fragte er. Er erkannte ihr Gesicht, aber es hat sich ebenfalls verändert. Das Mädchen drehte sich zu ihm und lächelte.

„Du erinnerst dich an mich?“ Bellami lächelte freundlich.

„Ja, aber du siehst anders aus. Was ist denn los?“ Kumiko sah sich nervös um. Nicht weit von ihnen näherte sich ein Trupp aus fünf leicht bewaffneten Soldaten und zwei Typen mit seltsamen Messgeräten.

„Da kommen sie”, murmelte Kumi. „Wir müssen hier weg, bitte” Bellami streckte ihnen seinen Arm entgegen. Doch nichts passierte. Er schaute seine Hand an. Das Symbol war weg.

„Sie hat also nicht gelogen”, flüsterte er. „Kumiko” Sagte er plötzlich laut und schaute ihr tief in die Augen.

„Ja?“, fragte sie erwartungsvoll.

„Hast du noch deinen Armreif?“, fragte Bellami gelassen. Der Mann, der Bellami vorher helfen wollte ging zu den Soldaten und zeigte mit dem Finger auf die Beiden.

„Ja, hab ich, aber…“

„Bitte ruf mir die Adrastea”

„Was? Ich … weiß nicht, wie”, fragte sie nervös.

„Oh. Das weißt du nicht? Dann bitte fordere ein Transport nach Aletria an, ja?“ Kumi schüttelte den Kopf.

„Aletria existiert nicht mehr” Sie war viel zu aufgeregt, um irgendwie klar denken zu können. Die Soldaten standen nun direkt vor ihnen. Einer der anderen Typen richtete das Messgerät auf ihn.

„Da ist der Ursprung der Anomalie”, sagte er.

„Kumi”, sagte Bellami sehr gelassen und versuchte sie so ein bisschen zu beruhigen. Die Soldaten richteten die Waffen auf die Beiden. „Würdest du mir den Armreif bitte geben?“ Kumi nahm den Armreif ab und reichte ihn zu Bellami rüber.

Doch einer der Soldaten erkannte was es ist und riss ihn aus Ihrer Hand, noch bevor Bellami ihn greifen konnte. Zwei andere Soldaten legten ihnen Handschellen an. Ein großes Fahrzeug kam auf den Platz gefahren und es öffnete eine große Klappe am hinteren Teil. Die Beiden wurden grob in das Fahrzeug gestoßen und die Klappe schloss sich wieder. Es war stockfinster und sie spürten wie sich das Fahrzeug bewegte. Man fühlte schmerzlich jede Unebenheit der Straße auf dem harten Metallboden. Wieder erschienen die zwei leuchtenden, weißen Augen.

„Jetzt hast du nicht mehr so die große Fresse. Du weißt, dass sie dich nun an einen Ort bringen, wo du den Rest deiner Existenz gefoltert wirst. Und da du nicht sterben kannst, können sie mit dir machen was sie wollen. Zu allem Übel darfst du dich auch noch mit der Gewissheit rumärgern, dass deiner kleinen Freundin hier genau das Gleiche passieren wird, obwohl sie vollkommen unschuldig ist” Es war wirklich stockfinster und dennoch wusste Keara das Bellami noch immer arrogant grinste.

„Wer ist das?“, fragte Kumi entsetzt.

„Mach dir keine Sorgen. Sie ist viel zu dumm, um zu wissen, was hier gerade passiert”, sagte Bellami extrem trocken. Wieder lachte Keara.

„Du denkst immer noch, du könntest hier irgendwas retten”, sagte Keara abwertend.

„Der Beweis für deine Dummheit ist, dass du glaubst, ich würde nach zweihundert Jahren mit einem Drachen als meinem besten Freund, noch immer auf diese lächerlichen Wächter-Kräfte angewiesen sein”, sagte er und nahm Kumis Hand.

„Haha!“, lachte Keara, „Dein bester Freund hat dich verlassen, weil er sich in einen Menschen verliebt hat. Du bedeutest ihm gar nichts. Er hat nach deinem Verschwinden, vor tausend Jahren, nicht einmal nach dir gesucht”

Kumis Handschellen fielen plötzlich ab. Das Fahrzeug blieb stehen und öffnete die Klappe. Bellamis Handschellen fielen ebenfalls ab und er verließ mit Kumi das Fahrzeug. Nirgendwo waren aggressive Polizisten oder Soldaten zu sehen. Sie waren vollkommen allein auf einer Lichtung, nahe dem Krater von Aletria.

„Du hast komplett versagt, Keara”, sagte Bellami hochnäsig, „Dein Plan, mich loszuwerden, ist gescheitert” Keara lachte laut und erschien vor ihm wieder in einer festen Gestalt. Sie packte Bellami im Genick und drückte ihn auf den Boden.

„Ich kann dich fertig machen, so oft und so hart ich will”, sagte sie laut und aggressiv. „Du kannst mir gar nichts, du elende, kleine Made. Ich kann deine Existenz hier und jetzt auslöschen, wie es mir beliebt” Kumi schlug verzweifelt auf Keara ein und brüllte sie an. Doch es war zwecklos. Keara schaute kurz zu ihr und Kumi wurde von einer Druckwelle weggeschleudert. Sie knallte mit dem Kopf gegen einen Baum und wurde bewusstlos. Keara drückte Bellamis Gesicht immer fester auf den Boden.

„Ich lasse dich verschwinden”, flüsterte sie ihm ins Ohr, „Du wirst nicht einmal im Astra weiter existieren können. Alle Erinnerungen an dich werden ebenfalls verschwinden” Mit letzter Kraft kämpfte er gegen Keara an und hob seinen Kopf ein Stück. Er sah Kumi, die bewusstlos am Waldrand lag und den riesigen Krater, in dem sich einst sein Königreich befand.

„Weißt du“, stammelte Bellami kraftlos, „egal wie erbärmlich ich im Moment auch sein mag”, er holte tief Luft, „du bist noch viel erbärmlicher” Keara wurde nur noch wütender und ein weißes Licht drang unter ihrer Hand hervor.

„Ich hab endgültig die Schnauze voll von dir”, brüllte sie ihn an, „Stirb endlich!“

Doch plötzlich war sie wie eingefroren. Sie ließ mit zittrigen Händen von Bellami ab und stand langsam auf. Ihr Blick versteinerte, als sie der riesigen Kreatur, die auf einmal vor ihr stand, ins Antlitz schaute.

Noch nie hatte sie einen Drachen in seiner vollen Pracht gesehen. Seine pechschwarze Haut war überzogen von eckigen Linien, die rot leuchtend pulsierten. Es war gleichermaßen faszinierend wie beängstigend für sie.

Bellami stand auf und klopfte sich den Dreck von den Sachen. Keara versuchte zu fliehen, doch scheiterte in einem Gewirr aus roten Energiefäden, die ihr die Flucht in eine andere Dimension versagten.

Val und Milena näherten sich dem Ort und sahen schon von weiten die riesigen Schwingen des Drachens, die über den ganzen Wald ragten, wie ein Segel über ein Schiff.

Sie waren noch fast einen Kilometer von ihm entfernt und dennoch spürten sie bereits die unglaublich intensive Energie, die von dem Drachen ausging. Er war nicht nur physisch unsagbar groß, auch mental hatte er eine erdrückende, selbst einen Gott niederschmetternde Größe. Es fühlte sich an als würde man im Geiste von dem Gewicht eines ganzen Berges auf die Knie gezwungen. Totale Machtlosigkeit und eine überfordernde Präsenz aber auch ein überwältigendes Gefühl von Göttlichkeit durchströmte alle Kreaturen in der Nähe. Seine Schwingen warfen einen riesigen Schatten auf das ganze Gebiet als er sie flach absenkte.

Als Val und Milena die Stelle erreichten, sahen sie Kumi bewusstlos am Baum Liegen. Milena nahm sie auf den Arm und hob sie hoch. Sie spürte das klebrige, halb geronnene, Blut in ihrem Genick, doch die Wunde war bereits wieder verheilt.

Val ging zu Bellami und Milena folgte ihm. Bellami sah sie, lächelte und winkte ihnen zu. Der Drache drehte interessiert seinen riesigen Kopf zu ihnen. Seine Augen, die so groß waren wie Parabolantennen von Radioteleskopen, blickten sie so durchdringend an, dass sie sich vollkommen nackt vorkamen. Seine Pupillen waren kreuzförmig und seine Iris leuchtete in einem wunderschönen, purpurnen Rot. Um seine Iris herum leuchteten Schriften in der Sprache der Drachen, die seine Königlichkeit wiedergaben und seine Millionen Jahre alte Geschichte erzählte. So hatten sie Zeraph noch nie gesehen.

„Keine Angst, kommt ruhig her!“, rief Bellami heiter, „Es ist immer noch nur Zeraph”

Sie gingen zu ihm und Milena legte Kumi sanft vor Bellami auf den Boden. Bellami kniete sich zu ihr herab, nahm ihre Hand und streichelte sanft über ihre Stirn. Sie kam langsam wieder zu Bewusstsein und fiel Bellami sofort um den Hals.

„Bitte verlass mich nicht“, wimmerte sie und krallte sich immer fester an ihn, „Ich hab niemanden mehr. Bitte lasst mich nicht mehr allein” Bellami lächelte und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Okay, ich verspreche es”, sagte er und half ihr aufzustehen. Val sah rüber zu Keara, die auf dem Boden kniete und ihren Blick nicht von dem Drachen lösen konnte.

„Wer ist das?“, fragte er und musterte sie.

„Das“, Bellami verschränkte die Arme vor der Brust, „ist die amtierende Herrscherin dieses Universums. Naja“, er räusperte sich, „war

„Bitte töte mich nicht”, flehte Keara. Bellami ignorierte sie und schaute zu dem Fahrzeug, mit dem sie hergekommen sind. Er winkte mit seinem Arm und kurz darauf öffnete sich die Fahrertür. Ein Soldat stieg aus und reichte Bellami den Armreif, den er ihm vorher weggenommen hatte. Dann ging er wieder zum Fahrzeug und fuhr davon. Kumi schaute Bellami ungläubig an.

„Wie hast du das gemacht?“, fragte sie und schaute dem Fahrzeug hinterher, „Hast du deine Kräfte eingesetzt und seinen Verstand manipuliert?“ Bellami schüttelte den Kopf.

„Ich hab keine Kräfte mehr. Sie“, er zeigte mit dem Finger auf Keara, „hat sie mir genommen”

„Und jetzt willst du sie dir wieder zurückholen, oder?“

„Nein“, sagte Bellami und zerbrach den Armreif, „Ich brauche sie nicht mehr. Eigentlich hatte ich schon von Anfang an bereut, mich darauf eingelassen zu haben. Doch sie erwiesen sich als unglaublich praktisch für den Bau Aletrias. Man konnte die Materialien, die man brauchte, einfach so erschaffen. Man muss nur die Anordnung der Atome ändern und schon hat man ein neues Material, dass es auf der Erde gar nicht geben kann”

Ein paar Tropfen einer schwarzen, schleimigen Flüssigkeit tropften auf seine Hand. Sie wurden nach wenigen Sekunden von seiner Haut absorbiert und Bellami warf den kaputten Armreif weg.

„Ich hab anfangs darüber nachgedacht, Zeraph darum zu bitten, den Schwur mithilfe des Drachenfeuers wieder zu entfernen. Diese Kräfte bedeuten nichts Gutes”, sagte Bellami mit ernsterer Stimme. „Sie können deinen Verstand korrumpieren und dich zu einem Arschloch machen” Er schaute urteilend zu Val. Dann lächelte er wieder. Auf seiner Handfläche erschienen plötzlich Schriftzeichen der Drachensprache.

„Pira“, flüsterte Bellami, während er auf seine Hand starrte, „Orh, Deh”

„Was tut er da?“, fragte Milena vorsichtig.

„Das sind Zahlen”, sagte Val, „Nur in der Sprache der Drachen. Aber ich kann es dir nicht erklären”

„Wieso nicht, wenn es nur Zahlen sind?“, fragte Milena wieder. Bellami drehte seinen Kopf zu ihnen.

„Er kann es nicht erklären, weil es diese Zahlen bei den Menschen nicht gibt”, er hob seine Hand. „Die ganze Mathematik der Menschen ist total überholt. Sie mag für die einfachen Dinge, wie ihre Waffen und Maschinen funktionieren. Sie funktioniert sogar um damit zu Arbeiten. Aber um das Universum zu verstehen oder gar andere Dimensionen, Multiversen und Phasenraumverdrängung, ist diese Logik viel zu unterentwickelt. Mit der Sprache der Drachen kann man sich das Universum gefügig machen. Die Nyx tun nichts weiter als uns ein Stigma dieser Sprache aufzuerlegen und uns damit zu ihren Sklaven zu machen”

Ein lautes Donnern, als wäre gerade ein starker Blitz in der Nähe eingeschlagen, grollte und eine leichte Druckwelle streifte über ihre Köpfe. Dann schoss die Adrastea vom Himmel und landete elegant vor ihnen.

„Wie machst du das alles, ohne deine Kräfte?“, fragte Kumi. Bellami schaute zu Zeraph. Dann schaute er zu Kumi.

„Alles ist Magie, wenn man nicht genau weiß, wie es funktioniert”, er lachte und schaute wieder auf seinen Arm, über dem ein Hologramm erschien.

Es war ein seltsames Gebilde, was im Groben aussah wie zwei Räder, die hintereinander auf einer Achse montiert worden. Er lächelte kurz, dann verschwand es wieder. „Ich wollte nicht mehr auf den Armreif angewiesen sein, deswegen hab ich diese winzig kleinen Maschinen entwickelt, die sich jetzt in meinem Körper befinden”

Bellami ging zu Keara und setzte sich neben sie.

„Ich danke dir für all das”, sagte er freundlich. „Du wolltest mich zwar in erster Linie umbringen, weil du nicht damit gerechnet hast, dass ich mich mit dem Drachen anfreunde”, er machte eine Pause und sah sie neckisch an. „Aber am Ende ist das alles ziemlich gut gelaufen, für mich“, er starrte in den Himmel, „denke ich”

„Willst du dich an mir rächen?“, fragte Keara wütend.

„Nein, nein. Keine Angst”, sagte Bellami und kratzte sich am Kopf. „Wobei ich das eigentlich nicht entscheide, sondern Zeraph” Keara schaute wieder entsetzt zu dem Drachen. Plötzlich stand Zeraph in seiner Menschenform vor ihr und schaute nicht sonderlich wohlwollend auf sie herab. Es war das erste Mal, das man den Drachen und Zeraph gleichzeitig sah.

„Von deiner Sorte habe ich schon unzählige getötet”, sagte er mit einer niederschmetternden Boshaftigkeit, „Wieso sollte ich bei dir eine Ausnahme machen?“ Keara spürte das Drachenfeuer.

„Du bist noch sehr jung”, sagte Zeraph etwas weniger bedrohlich, „Du hast vorher als Mensch gelebt” Keara schaute demütig zu ihm auf. Zeraph schaute zu Bellami, der gerade sehr beschäftigt mit irgendwas war. Dann schaute er wieder zu Keara.

„Wo ist er? Wenn du ihn getötet hast, werde ich dich auslöschen”, sagte Zeraph wütend. Keara wurde wieder mutig, da sie scheinbar etwas hatte, was der Drache will und dadurch wieder ein bisschen Kontrolle zurückgewann.

„Das sage ich dir, im Austausch gegen ihn”, antwortete Keara frech und schaute zu Bellami, „Er ist nur ein machthungriger Massenmörder, der dich die ganze Zeit manipuliert” Bellami schaute kurz zu ihnen, zuckte mit den Schultern und lachte. Dann ging er wieder zu Val und Milena. Zeraph beugte sich zu ihr herab und schaute ihr tief in die Augen.

Ris“, sagte er und die Melodie dieses kleinen Wortes schwang in einer faszinierenden Klangart sehr lange durch den Raum.

Zeraph verschwand und der Drache streckte seinen Kopf in die Höhe. Die roten Fäden um Keara schlangen sich enger und sie verzog gequält ihr Gesicht. Hinter ihrem Rücken hielt sie ein winzig kleines Stück Kreide und kritzelte ein merkwürdiges Symbol auf das untere Ende ihres schwarzen Kleids.



Zur selben Zeit in Marista …



Diesmal stand Isabelle höchst persönlich im Kontrollraum als die gemessenen Werte alle Skalen brachen.

„Meine Göttin!“, meldete ein Offizier.

„Ich sehe es, der Drache ist wieder da”, antwortete Isabelle genervt.

„Das ist es nicht“, stotterte der Offizier, „Es ist eine neue Signatur. Die habe ich noch nie gesehen” Isabelle ging zu ihm und schaute auf den Monitor. Fraya betrat ebenfalls den Raum. Als sie sah, was die Scanner anzeigten, durchströmte sie ein seltsames Gefühl der Freude.

Isabell drehte sich zu ihr um und sah, wie ihre Organgenen Augen freudig funkelten. Dann stürmte sie heraus.

Der Drache senkte seinen Kopf wieder zu Keara, mit einer Brunst aus roten Flammen in seinem Maul. Er war kurz davor sie über sie zu ergießen, da schlug ein goldenes Licht in der Nähe ein und aus ihm erhob sich eine Hochhausgroße, teils mechanisch, teils organische Gestalt und richtete eine Arm-ähnliche Gliedmaße, die eine Waffe zu sein schien, auf den Drachen.

Sie sah aus wie ein Riese, in einer viel zu großen, vergoldeten Ritterrüstung. Mit viel Fantasie erkennt man eine Art Kopf aus Metall, der einem Helm ähnlich war. Bestückt mit mehreren Edelsteinen, die in verschieden Farben leuchteten. Eine Schockwelle schoss aus seinem Arm, traf Zeraph am Kopf und schlug ihn so nach hinten.

„Du wirst sie nicht töten!“, donnerte die Kreatur so laut, dass der Boden vibrierte. Fast unbeeindruckt dafür umso wütender warf Zeraph seinen Kopf wieder nach vorne und musterte die Kreatur mit seinen riesigen Augen. Bellamis Sorglosigkeit war wie weggefegt.

„Sofort in das Schiff, los!“, schrie er nervös und alle rannten zur Adrastea. Bellami zerrte Kumi an der Hand hinter sich her, Val und Milena folgten ihnen und das Schiff startete kurz nachdem sie es betraten. Es flog zum Zentrum des Kraters und sammelte den blauen Kristall ein. Dann umkreiste es den Drachen und die andere, riesige Kreatur in großer Höhe.

„Was ist das?“, fragte Kumi angespannt.

„Ich weiß es nicht genau“, antwortete Bellami, „Aber ich glaube, es ist ein Faarih” Der Drache senkte seinen Kopf und blutrote Flammen loderten aus seinem Maul.

„Ich kenne diesen Geruch”, brüllte Zeraph und der Boden vibrierte gleichermaßen, „Nicht einmal Oscha, der unter deinesgleichen als Drachentöter bekannt ist, konnte mir etwas anhaben”

„Ich bin nicht hier, um dich zu töten”, donnerte die Kreatur wieder, „Aber ich werde es, wenn du sie nicht gehen lässt”

„Ayum-Efnagaar Denyiar, oder soll ich dich lieber Alexander nennen, so wie dein Mythos dich in dieser Welt besingt?“, brüllte der Drache und näherte sich der Kreatur.

„Der einst so stolze Richter und Deus Ex Machina, verstoßen von seiner Art, weil er sich in einen Menschen verliebt hat” Die Kreatur packte Zeraphs Kopf und schlug ihn auf den Boden.

„Du verdammter Drache!“, donnerte Alexander wütend. „Sie hat mich beschworen also werde allein ich über ihr Schicksal bestimmen. Und ich sage, dass sie nicht schuldig ist. Du kannst dieses Urteil nicht anfechten” Zeraph hob seinen Kopf wieder und lachte so laut, dass die Erde bebte.

Er biss in Alexanders Arm und riss ihn mit einem kräftigen Hieb heraus. Dann breitete er seine Schwingen so weit aus, dass es den Himmel verdunkelte. Über seinen ganzen Körper pulsierten rotglühende Äderchen und ein riesiger Kreis mit Symbolen der Drachensprache erschien unter Alexander.

Genau wie bei Keara umschlang ihn ein Gewirr aus roten Fäden, die seine Bewegungen einschränkten. Kumi krallte sich an Bellamis Hüfte fest und kniff die Augen zu.

„Bitte beschütze den Drachen, Bellami”, wimmerte sie. „Sonst kommt meine Schwester nie wieder zurück“

„Ajuki ist verschwunden?“ In dem Moment wurde ihm alles klar. „Endlich verstehe ich es” Aber ich kann es ihr unmöglich sagen. Dachte er noch.

„Was verstehst du?“, fragte Milena. Bellami schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Zeraph wusste es die ganze Zeit”, flüsterte er. „Aber wieso hat er nichts gesagt? War es ihm egal? Das Symbol!“, stieß er laut auf.

„Ja, Han hat auch so eins wie wir”, sagte Val.

„Nein, das stimmt nicht ganz”, fuhr Bellami fort und schaute besorgt auf die Kämpfenden Kreaturen hinab. „Ich hab es nie lesen können. Es war nicht in der Sprache der Drachen geschrieben, sondern in der Sprache der Faarih. Er war es die ganze Zeit”

„Was meinst du?“, fragte Milena.

„Das ist Han, der mit Zeraph kämpft” Bellami drehte sich wieder zu den anderen. „Er hat sich uns damals auch als Alexander vorgestellt. Doch wegen seines komischen Namensschilds haben wir ihn immer Han genannt”

„Der Drache soll ihn töten!“, schrie Kumi. „Der hat damals Shezzar umgebracht” Bellami sah Kumi angespannt in die Augen.

„Du wusstest das die ganze Zeit?“

„Ja”, antwortete Kumi. „Ajuki hat euch nicht die Wahrheit erzählt. Wir waren die ganze Zeit bei ihm. Auch bei seinem Kampf gegen dieses Ungetüm. Er sah genauso fürchterlich aus wie jetzt. Am Ende des Kampfes rangen beide um die Kontrolle über das Schwert. Es wirbelte durch die Luft und traf Alexander am Kopf.

Dann flog es hoch in den Himmel und fiel senkrecht herab. Es schlug mit der Spitze direkt in Shezzars Brust. Die Waffen der Menschen waren schon längst verstummt. Als Ajuki begriff, dass Alexander den Kampf gewonnen hat, nahm sie meine Hand und zerrte mich weg. Als ich mich das letzte Mal umdrehte, war Alexander verschwunden dafür kniete dieser Han neben Shezzar und schien ihm irgendwas zu sagen” Milena schüttelte traurig den Kopf.

„Aber er ist doch unser Freund. Er war wie ein Bruder für mich. Er war so nett und hat sich immer um mich gekümmert. Der Drache darf ihn nicht töten!“

„Wir können hier nichts mehr tun”, sagte Bellami resignierend. „Egal wer von beiden den Kampf gewinnt, sie werden dabei den gesamten Planeten vernichten” Val packte Bellami an den Schultern und schaute ihn angespannt an.

„Können wir sie nicht irgendwie zur Vernunft bringen?“ Bellami schüttelte den Kopf.

„Du hast vorhin doch gehört wie Zeraph von Oscha, dem Drachentöter, gesprochen hat?“ Val nickte. Bellami fuhr fort.

„Er hat mir einmal von ihm erzählt. Oscha ist ein Faarih der unzählige von Zeraphs Brüdern und Schwestern umgebracht hat. Ob aus purem Hass oder aus Spaß, weiß keiner. Dieses Wesen bestand aus einer schwarzen Substanz und konnte jede Form annehmen. Es lauerte den Drachen auf und riss ihnen die Köpfe ab. Das tötet einen Drachen nicht, deshalb hat er sich verflüssigt, ist in dessen Körper eingedrungen und hat ihn vollständig absorbiert”

Kumi stieß ein verächtliches Ihh aus.

„Zeraph wusste davon und er wusste auch, dass Faarih nur in der physischen Welt auftauchen, wenn sie beschworen werden. Es gibt da Ausnahmen, aber die sind selten. Also fand er den Beschwörer und wartete bis er Oscha erneut zu sich ruft. Da Zeraph nun wusste wann und wo Oscha auftauchen würde, war dessen Vorteil hinüber und er konnte ihn so letztendlich vernichten. So wurde er von seinen Artgenossen zu ihrem König gewählt. Allerdings wurde diese Welt durch Oschas tot vollkommen vernichtet. Das ist aber schon über eine Million Jahre her”

„Also ist es egal“, sagte Val traurig, „Wir werden alles verlieren. Unsere Freunde, unsere Heimat. Wir haben nur noch dieses Schiff hier. Und das alles, weil uns die Menschen hassen”, er schaute Bellami grimmig an, „Wieso konntest du nicht in Frieden mit den Menschen leben und deine Technologie mit ihnen teilen? Wäre das denn so schwer?“ Bellami schaute Val nachdenklich an.

„Weißt du, was ein Null-Punkt Emitter ist?“, fragte er. Val nickte.

„Ja das ist eine Art Energiegenerator, mit dem du Aletria mit Strom versorgt hast”, sagte er angeberisch.

„So?“, fragte Bellami, „Weißt du wie genau er funktioniert und was für Energie er erzeugt?“

„Nein”, murmelte Val, „Wie sollte ich auch. Ich weiß noch nicht, wie ich das Drachenherz richtig einsetzen muss.

„Da ist der Punkt. Du weißt nicht, was genau es ist und was es kann”, sagte Bellami auf eine altkluge Art, „Um es einfach zu machen, er erzeugt ein Phasenfeld indem eine Singularität entsteht, die immense Mengen an Energie ausstößt. Und das für scheinbar unbegrenzt lange Zeit”

„Und wieso erklärst du mir das?“, fragte Val abfällig.

„Als ich diese Technologie entwickelt hab, wollte ich sie sehr gern mit den Menschen teilen. Ein einziger NPE erzeugte damals schon das Tausendfache der Energie, die die Menschen weltweit benötigten. Ich dachte das führt zu einem neuen Bewusstsein und es würde endlich Frieden einkehren”

„Was ist passiert?“, fragte Milena.

„Millionen von Menschen, die in Kraftwerken, Kohleminen und auf Ölbohrplattformen arbeiteten, verloren ihre Existenzgrundlage. Und trotz der Tatsache, dass es nun unendlich viel Energie gab, schossen die Preise für Elektrizität und Wärme in die Höhe”

„Wie kann denn das passieren?“, fragte Val.

„Das konnte ich mir anfangs auch nicht erklären. Ich hab dann herausgefunden, dass die Konzerne, die damals die Kraftwerke betrieben, all ihr Geld dafür investierten, den NPE entweder zu zerstören oder ihn für sich allein zu beanspruchen. Letzteres wurde Wirklichkeit. Ein einzelner Konzern kontrollierte nun die Energieversorgung der gesamten Welt”

„Ja aber“, stotterte Val, „Wieso hat niemand was dagegen gemacht?“

„Das haben sie“, sagte Bellami bedrückt, „Es brachen unzählige Kriege aus, die den gesamten Planeten hätten zerstören können, wenn ich ihnen nicht ihre Massenvernichtungswaffen weggenommen hätte. Dennoch war es ein Massaker. Zeraph hat mich einen ganzen Tag lang für meine Naivität ausgelacht”

„Verstehe”, lenkte Val ein. „Doch wir dürfen nicht zulassen, dass die Beiden den Planeten zerstören” Bellami nickte.

„Aber ich weiß nicht wie. Selbst deine Kräfte reichen nicht um irgendetwas auszurichten. Wenn wir nur Ajuki finden könnten. Aber ich hab keine Ahnung wie” Bellami lief angespannt umher und dachte nach.

Es geht ihm gar nicht um Ajuki, sonst hätte er sie wohl kaum … aber um wen geht es dann? Er erinnerte sich an den Jungen am Waisenhaus, den er erst für Zeraph hielt. Ryu! Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Er war die ganze Zeit mit uns in Aletria. Und er hatte das Drachenfeuer. Wenn ich mich nur fest genug konzentriere kann ich ihn vielleicht …

Alexander konnte sich nur schwer bewegen, da er von rotglühenden Fäden festgehalten wurde.

„Wieso greifst du mich an?“, brüllte Zeraph, „Ich habe dich die ganze Zeit in Ruhe gelassen. Ich wusste von deinem Exil und habe dich ohne Widerstand bei uns aufgenommen. Das ist nun der Dank dafür?“, er öffnete sein Maul und biss Alexander in den Kopf. Mit letzter Kraft konnte er seinen intakten Arm befreien und schlug Zeraph von sich weg.

Dabei zerriss es die Hälfte von Alexanders Gesicht. Maschinenteile fielen herab und eine blutähnliche Flüssigkeit rann seinen Körper hinunter. Zeraph hob seinen Kopf und schleuderte den Teil von Alexanders Kopf weg, den er ihm gerade abgerissen hat. Dann bereitete er sich darauf vor, ihn in einem Meer aus Flammen zu versenken, doch plötzlich erschien ein großer, Gold leuchtender Ring unter Alexander.

„Du wirst jetzt nicht einfach abhauen!“, brüllte Zeraph und wurde immer wütender. Doch eine Wand aus Energie erhob sich und trennte die beiden voneinander. Alexander versank langsam in einem Portal unter ihm. Keara wurde von einer unsichtbaren Kraft aufgenommen und mit ihm hinuntergezogen. Immer wieder schlug Zeraph mit der rechten Kralle auf das Siegel ein. Rote flammen peitschten umher und ein markerschütterndes Krachen donnerte über das ganze Land. Immer stärker schlug er darauf, bis sich seine Krallen hindurch bohrten und tief in Alexanders Körper versanken.

„Drache!“, forderte Alexander, „Lass mich gehen!“

„Sonst was?“, erwiderte Zeraph.

„Verstehst du es nicht? Ich will dich nicht töten. Ich will nun verhindern, dass du sie tötest. Sie hat mich beschworen also muss ich es tun. Sie wird ihren Preis dafür Zahlen, aber das liegt nicht in deiner Gewalt” Zeraph zog ihn immer weiter aus dem Portal und streckte ihm sein Maul entgegen.

„Ihr seid so abhängig von euren Traditionen. Einmal beschworen müsst ihr eure Pflicht erfüllen”

„Das ist nicht der Grund! Sie hat diese Strafe nicht verdient also wirst du sie gehen lassen. Was auch immer du dir davon erhoffst, du wirst es nicht bekommen, wenn du sie tötest” Rote Flammen stiegen aus Zeraphs Schlund.

„Du bist töricht zu glauben, dass du mich damit aufhalten kannst” Brennender Speichel tropfte von seinen Zähnen. Die Flammen stiegen immer höher.

„Doch. Und das weißt du ganz genau. Du wirst nur noch von deinem Stolz geleitet und bist verblendet von deiner Arroganz”

„Stirb!“, brüllte Zeraph, doch bevor er seine Flammen spuckte irritierte ihn etwas.

„Zeraph!“, schrie Bellami, der sich im freien Fall auf ihn herabstürzte. „Ich weiß es jetzt! Die Beiden haben nichts damit zu tun. Vertrau mir bitte und lass sie gehen” Die Flammen verloschen und Zeraph schaute zu Bellami auf.

Sein rechtes Auge blitzte rot und Bellami viel in einen Nebel aus roter Energie, der seinen Sturz bremste. Er landete sanft auf dem Boden vor dem Drachen.

Zeraph ließ von Alexander ab und das Portal verschwand zusammen mit ihm und Keara. Der Drache verschwand ebenso und die Sonne schien nun auf eine zerfurchte, vom Kampf zweier riesiger Ungeheuer entstellte Landschaft. Alexanders abgetrennte Körperteile lagen noch immer in den Wiesen und Wäldern verteilt. Dennoch kehrte langsam wieder Ruhe ein und die Welt schien für den Augenblick mal nicht komplett aus den Fugen geraten zu sein.

Zeraph lag, wieder in seiner Menschenform, im Gras und tat so, als wäre nichts gewesen. Bellami saß neben ihm an einem Baum und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Die Adrastea landete ein Stück weiter. Die anderen stiegen aus und liefen zu ihnen.

„Weißt du noch“, sagte Bellami entspannt, „als wir Shezzar kennenlernten?“ Val und Milena setzten sich neben Zeraph ins Gras. Kumi setzte sich im Schneidersitz zwischen Bellami und die Anderen. „Es war genauso ein aufregender Tag“, fuhr Bellami fort, „und am Ende haben wir alle zusammen im Gras gelegen und Pläne geschmiedet” Zeraph stieß ein kurzes Lachen aus.

„Und hast du denn schon einen Plan?“

„Nein” Antwortete Bellami bedrückt. „Aber ich hab vorhin einen kurzen Puls gespürt. Er war sehr schwach. Du hast es wahrscheinlich nicht bemerkt, weil du dich auf Alexander konzentriert hast. Vielleicht können wir …“

„Ist schon gut”, unterbrach ihn Zeraph. „Kümmert euch erst Mal um eure Angelegenheiten” Zeraph drehte seinen Kopf zur Seite und starrte mit leerem Blick in den Himmel. Bellami lachte und schaute Milena interessiert auf die linke Hand.

„Darf ich das mal sehen”, fragte Bellami sie sehr höflich. Milena reichte sie ihm und er schaute sie sich genau an. Das Symbol darauf kannte er nicht. Es war ein einfacher Kreis in dem zwei kleine Dreiecke waren, die mit der Spitze aufeinander zeigten.

„Ist dir in letzter Zeit mal was Seltsames passiert?“, fragte er naserümpfend.

Milena sah zu Val, der nickte ihr zu und sie erzählte, wie sie sich mit dem Universum unterhalten würde. Bellami war sehr fasziniert davon und sein Forscherdrang zwang ihn geradezu, wilde Experimente mit ihr durchzuführen. Doch er kam schnell wieder zur Besinnung und beschloss, dass der Tag schon aufregend genug war und es für Heute gut sein zu lassen.

Kapitel 19

Die Hexe mit den roten Augen

Milena legte sich entspannt gegen Vals Schulter und genoss den Frieden und die Harmonie, mit der der Moment geschwängert war. Endlich war das anstrengende umherirren und suchen in der Leere nach Val vorbei, dass sie fast in den Wahnsinn getrieben hat. Doch ein kleiner, schwarzer Fleck trübte ihre Glückseligkeit immer weiter.

Sie erinnerte sich an die Geschehnisse nach ihrem Sturz vom Turm und ihrer Zeit in der unendlichen Einsamkeit der Leere. Sie erinnerte sich an Alexanders Worte, dass jeder der einen Faarih beschwört, einen Preis dafür zahlen muss und sie womöglich genau das getan hat, um Val wieder zu bekommen.

Ihre Erinnerungen waren noch klar, aber sie wusste nicht genau mit wem sie es damals zu tun hatte. In der Leere ist Zeit bedeutungslos und praktisch nicht existent. Dennoch formt sich das Bewusstsein seine eigene Idee von Zeit und eine gefühlte Stunde ist und bleibt eine Stunde, ganz gleich wie viel Zeit woanders vergangen ist.

Eine Suche ohne Aussicht auf Erfolg oder wenigstens Erlösung ist selbst über kurze Zeit eine extreme Belastung. So gab sie schließlich auf und forderte ihren Tod. Sie hegte keinen Wunsch nach Göttlichkeit, wie jene, die nach der Leere suchen um sich hier eine Welt erschaffen können, die ihren Vorstellungen von einem Paradies gerecht wird. Nein: Es interessierte sie nur die Rückkehr in die Welt, aus der sie gekommen war, genau diese und keine andere oder der Tod.

Sie verstand die Leere zwar, da sie nicht das erste Mal hier war, und dass sie alles könne real werden lassen, wenn sie es nur stark genug mit ihren Gedanken fixieren konnte. Aber ihre Traurigkeit versagte es ihr, eine schöne, neue Welt zu erschaffen. Immer wieder brach sie auseinander und sie verlor sich immer mehr in der Dunkelheit.

Sie versank so stark in Zweifel um ihre eigene Existenz, dass sie kurz davor war zu erlöschen, da tat sich ein seltsamer Gast vor ihr auf. Er hatte keine greifbare Gestalt, dennoch war er spürbar und zweifellos real. Schon einmal hatte sie diese große, einehmende Präsenz gespürt. Es war nicht vor ihr, hinter, über oder unter ihr.

„Du bist es, nicht wahr?“, fragte sie zögerlich in die Unendlichkeit. Ein weiches Raunen hallte um ihre Ohren, dass sich erst nach und nach zu einer verständlichen Sprache formte.

„Ich hatte gehofft, du kehrst zu mir zurück. Doch du bevorzugst es wohl, allein zu sein” Milena überlegte kurz.

„Nein, ich möchte nicht mehr allein sein” sagte sie traurig.

„Aber das bist du doch gar nicht”, raunte die Stimme wieder. „Du bist hier am göttlichsten Ort überhaupt”

„Aber ich will wieder zurück. Zu ihm zurück”, sagte sie etwas weinerlich. Die Stimme stieß ein verhaltenes Gelächter aus.

„Du bist unfreiwillig hier? Mir scheint es, als würdest du deine Fähigkeiten nicht richtig verstehen”

„Ich bin eben etwas tollpatschig”, sagte sie und drehte verlegen den Kopf zur Seite. „Kannst du mir noch einmal helfen?“ Wieder lachte die Stimme. Herzlich, aber auch etwas herablassend.

„Du bist wahrlich ein amüsantes Geschöpf. Ich hoffe du kommst mich eines Tages wieder in der Leere besuchen. Aber nur wenn du es willst und nicht wieder hineinstolperst, wie beim letzten Mal” Milena lächelte verlegen aber auch erleichtert.

„Ich verspreche es, Nakasch. Bitte hilf mir, ihn zu finden” Vor ihr erschien ein Tellergroßes Auge, das kirschrot glühte, mit einer kreuzförmigen Pupille, die durchdringend auf sie herabblickte.

„Ich bringe dich wieder zurück, wenn du es wünschst. Und deinen kleinen Freund werde ich auch finden. Mach dir keine Sorgen. Und übe dich in Geduld. Bis bald, kleines, tollpatschiges Menschlein”

Das Auge verschwand wieder und plötzlich stand sie vor ihrer Hütte im Wald. Sie war schwer beschädigt und völlig heruntergekommen. Das Dorf im Tal hingegen wurde wiederaufgebaut und war lebhafter denn je.

Als sie dort ankam wurde sie von den Dorfbewohnern herzlich empfangen und in der Familie aufgenommen, die jetzt in Hans Haus lebte. Als sie nach dem Datum fragte, stellte sie fest, dass sie über vier Monate in der Leere verbracht hatte. Die Zeit vergeht dort anders aber sie vergeht.

Sie erfuhr, dass die Götter den Menschen alles schenken, was sie brauchen. Und ein paar wenige Auserwählte werden in ihr Himmelreich, in einer fernen Welt, eingeladen und dort Vollkommenheit und Unsterblichkeit erfahren. Das Symbol auf ihrer Hand hielt sie so gut es ging verdeckt.

Sie machte sich einen sehr persönlichen Kleidungsstil zu eigen, den sie mit Erfolg als Vorwand benutzte immer Handschuhe zu tragen. Ihre Pflegeeltern gaben ihr schnell nach und nannten es eine pubertäre Marotte, wie sie so häufig bei Jugendlichen vorkommt. Ihr rotes Kleid und die Schleife bewahrte sie sehr sorgsam auf, da sie es auf jeden Fall anhaben wollte, wenn sie Val wiedersieht.



Ein Jahr verging und sie musste es immer wieder umnähen, da es immer kleiner zu werden schien. Tatsächlich war es Milena, die langsam zu einer Frau heranwuchs und an bestimmten Stellen etwas mehr zu wachsen schein als an anderen. Sie hoffte jeden Tag, dass Nakasch ihn ihr zurückbringt, doch nichts geschah.

Fast jeden Tag machte sie lange Spaziergänge durch den Wald und versuchte irgendwie Kontakt aufzunehmen. Erfolglos.

Acht Monate später feierte sie ihren siebtzehnten Geburtstag, zusammen mit ihrer Pflegefamilie. Der Sohn der Nachbarn machte ihr immer wieder schöne Augen. Anfangs lehnte sie jeden Gedanken daran, irgendeinen anderen Kerl als Val in ihr Herz zulassen, ab, doch die Hoffnung, ihn je wieder zu sehen, schwand Monat für Monat.

Der Nachbarsjunge war in ihrem Alter, nicht unattraktiv und auch immer sehr nett zu ihr. Er war ihr nicht egal aber das was sie mit Val erlebt hatte und die ganze Last, die sie dadurch mit sich herumtrug, wollte sie niemandem aufbürden, also lehnte sie ihn und jeden anderen immer wieder ab.

Seitdem fing sie an, sich mit ihren seltsamen Kräften auseinander zu setzen. Sie schloss die Augen und blickte in ein Gewirr aus unendlich vielen Möglichkeiten und Ereignissen, die sie nur fixieren brauchte, um sie auszulösen. Das totale Chaos aller möglichen Wahrscheinlichkeiten überforderte sie anfangs, doch sie lernte schnell, wie sie nur die für sie wichtigsten filtern konnte und begann immer wieder damit zu experimentieren.

Wollte sie zum Beispiel schnell an einen anderen Ort gelangen, brauchte sie nichts weiter zu tun als eine Wahrscheinlichkeit zu fixieren mit der sie verschwinden und an einem anderen Ort wiederauftauchen würde. Es war mit das einfachste, weil das auf Atomarer Ebene ständig passierte und sehr leicht zu erkennen war.

Sie konnte nur keinen Weg finden, in die Leere zurück zu gelangen, da sie nicht genau wusste, was diese überhaupt war. Hin und wieder ging Milena zu ihrer alten Hütte und nahm sich mehrere Stunden Zeit sie wiederherzurichten, um Val ein Zuhause bieten zu können, wenn er wieder da ist.

Als sie an einem schönen, warmen Frühlingstag die Hütte erreichte, fand sie dort einen seltsamen, aber vertrauten Gast. Es war eine ältere Frau in einem langen, braunen Filzmantel, die auf dem Brunnen saß und Milena mit einem weichen Lächeln empfing. Ihn ihren Gesichtszügen sah man Erfahrung und Weisheit, ihre Augen wirkten Klug und schimmerten in einem satten rubinrot.

Doch sie sah keineswegs alt und vergraut aus. Ihre Haut war glatt, hatte einen leichten Teint und sah sehr jugendlich aus. Die schwere Kapuze ihres Mantels verdeckte ihre schlohweißen Haare und ein großes Amulett zierte, die vom dicken Mantel verborgenen Konturen ihrer Brust.

Als Milena ihr sich weiter näherte stand sie auf und senkte zur Begrüßung ihren Kopf. Milenas Herz raste. Sie hatte eigentlich schon fast nicht mehr damit gerechnet, sie wieder zu sehen.

„Guten Tag”, begrüßte die Frau sie freundlich und hob ihre Augenbrauen. Milena blieb ein wenig verdutzt vor ihr stehen und blickte ihr erwartungsvoll in die Augen.

„Bist du es, Nakasch?“ Milenas Hände zitterten. Ein Besuch von ihr bedeutete entweder sehr gute oder sehr schlechte Nachrichten.

„Ja, ich bin es. Und ich freue mich, dich wieder zu sehen, Milena”, antwortete sie weich und lächelte wieder. Milena lief eine Träne über die Wange. Sie war so überwältigt, dass sie es kaum noch aushielt, sie über ihre Suche nach Val zu Fragen. Doch sie hatte große Ehrfurcht vor ihr und wollte sie nicht überrumpeln.

„Du hast dich verändert”, sagte Nakasch nach einem längeren Schweigen. Verlegen schaute Milena an sich herab, vorbei an ihrer etwas üppigeren Oberweite und ihrer schmalen Taille. Die Schamesröte schoss ihr in die Wangen und sie schloss behände ihre Jacke und starrte verlegen auf den Boden. Nakasch lachte neckisch.

„Du bist ein wahrlich faszinierendes Geschöpf, meine Liebe. Aber genug des albernen Geplänkels. Sicher brennst du darauf zu wissen ob ich deinen Freund gefunden habe” Milena nickte schweigend und schaute ihr erwartungsvoll in die Augen.

„Ich habe ihn gefunden. Aber leider reicht meine Macht nicht weit genug in die Leere hinein, um ihn zurück zu holen. Das tut mir sehr leid” Sie seufzte angespannt. „Er scheint so tief in Angst und Zweifeln gefangen. Die Leere hat ihn so weit in die Dunkelheit gezerrt, dass ich ihn nicht mehr erreichen kann”

„Heißt das, ich werde ihn nie wiedersehen?“, fragte Milena ängstlich.

„Nein, heißt es nicht” antwortete Nakasch schnell. „Aber es wird sehr schwierig ihn aus seiner Situation zu befreien. Allerdings kannst das nur du allein” Entschlossen stemmte Milena ihre Arme in die Hüften.

„Egal was es ist, ich werde es tun. Aber lass mich bitte noch eine Sache erledigen” Milena lief in die Hütte, die sie mittlerweile wieder in den Zustand gebracht hatte, in dem sie war, als Val bei ihr übernachtet hatte. Als sie wieder herauskam, trug sie ihr rotes Kleid und die rote Schleife in ihren Haaren. „Ich bin soweit”, sagte sie Mutig.

Nakasch nahm Milenas Hand. Ihre Roten Augen glühten, dann verschwanden beide und erschienen am Rand einer Lichtung, etwas weiter südlich. Als Milena Val auf der Lichtung liegen sah, stürmte sie sofort los und lief zu ihm. Seine Augen sahen Leer aus und er schien auf nichts zu reagieren. Milena konnte ihn weder berühren noch ansprechen. Es war als wäre er von einem unsichtbaren Kraftfeld umgeben. Nakasch ging zu ihr.

„Genau das habe ich gemeint. Er ist schon sehr lange hier. Ich versuche seit einem Jahr ihn aus dieser Situation zu befreien, doch ich vermag es nicht. Er ist eine Art Verbindung zwischen der Leere und dieser Welt. Die Verzweiflung in ihm scheint diese Konvergenz hervorzurufen und ich weiß nicht wie ich sie lösen soll” Milena wurde nervös. Er lag genau vor ihr und dennoch waren sie Lichtjahre voneinander getrennt.

„Aber was soll ich tun?“, fragte sie traurig und hoffnungslos. Nakasch streifte ihre Hand über Milenas Haare.

„Du hast etwas Besonderes an dir, dass wirst du sicher schon bemerkt haben, nicht wahr?“ Milena schaute auf ihre Hand.

„Ich kann das Universum ... fühlen”, sagte sie und machte sich schon darauf gefasst, ausgelacht zu werden.

„Es ist deine einzige Chance. Ab hier kann ich dir nicht mehr helfen. Aber wir werden uns wiedersehen und dann reden wir über dein Versprechen” Sie zwinkerte noch mit dem linken Auge, dann verschwand sie. Milena näherte sich Val und setzte sich zu ihm ins Gras. Der angenehme Duft von Wald und Wiese war sehr beruhigend und Milena konnte sich sehr gut konzentrieren.

Nach wenigen Stunden fand sie die Konvergenz. Ihr fiel sofort auf, das die Wahrscheinlichkeit so unglaublich gering war, dass es wesentlich einfacher gewesen wäre, mehrere Planeten durch Zufall mit einem Stecknadelkopf zu zerstören, als die Konvergenz zu lösen.

Die Leere ist selbst für die weisesten Kreaturen im Universum ein großes Mysterium. Sie hat keinen Ort, keine Zeit und keine Substanz. Sie ist etwas, das Alles und Nichts zur selben Zeit ist, obwohl Zeit wiederum auch Alles und Nichts ist, was die Suche nach Verständnis dafür so unendlich schwierig macht.

In Gedanken fuhr Milena durch sämtliche Verbindungen und Wechselwirkungen, die mit der Konvergenz einhergingen. Es war alles nur ein Gefühl, keine direkte Wahrnehmung. Nur selten konnte sie die Wahrscheinlichkeiten so direkt berechnen, wie sie es Tat als Val bei ihr abgestürzt ist.

Die Konvergenz war so stark und so filigran mit unendlich vielen Aspekten verwoben, dass Milena beinahe den Verstand verlor. Immer wieder musste sie sich besinnen und von vorne anfangen. Die Mühsal war schier endlos, doch sie spürte wie sie Stück für Stück löste und mit ihrem Eifer, Val wieder in den Armen halten zu können, gewann sie immer mehr die Oberhand über dieses verwirrende Zusammenspiel von Wahrscheinlichkeiten. Es zehrte unglaublich an ihrem Verstand. Sie stand den ganzen restlichen Tag und die ganze Nacht regungslos da und schaute ins Leere.

Am Morgen darauf fiel sie erschöpft auf die Knie. Die Sonne streichelte mit ihrer wohligen Wärme über Milenas Kopf und sie begann zu lächeln. Sie beugte sich herab und pflückte eine Blume. Sie stand wieder auf und fing an leise eine Melodie zu summen. Die unsichtbare Barriere um Val löste sich und er kam langsam wieder zu Bewusstsein. Milena wusste, dass sie sehr vorsichtig mit Val umgehen musste, da er seit über zwei Jahren in der Dunkelheit seiner eigenen Gedanken gefangen war.

Als Milena aus ihren Erinnerungen wieder in die Gegenwart zurückfand, saß Bellami vor ihr und musterte sie mit großen Augen. Dann setzte er sich im Schneidersitz vor sie und verschränkte die Arme.

„Ihr beide seid echt ... LANGWEILIG”, sagte er gähnend und ließ sich rückwärts ins Gras fallen. „Also hat jemand eine Idee, was wir jetzt machen oder bleibt wieder alles an mir hängen?“

„Können wir die Stadt wiederaufbauen?“, fragte Milena. „Ich habe gesehen, dass sich alles über sie in dem Kristall befindet” Bellami starrte leer in den Himmel.

„Ja, das ist schon möglich. Aber da ich meine Kräfte nicht mehr hab, weiß ich nicht, wo wir die Energie dafür herbekommen sollen. Außerdem würde der Bau diesmal länger als ein Jahr dauern. Und so lang ist die Stadt sehr empfindlich und würde sofort wieder angegriffen und zerstört werden” Val schaute auf seine Hand.

„Ich könnte dir doch mit meinen Kräften ..”

„Ja, das könntest du”, antwortete Bellami unvermittelt. „Aber erstens kannst du sie kaum kontrollieren und wer soll dann bitte schön die Stadt beschützen, während sie sich in der kritischen Phase befindet?“ Val schaute zu Zeraph.

„Wäre er nicht dazu in der Lage?“ Zeraph lachte spottend.

„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mich herablasse eure langweilige Stadt zu beschützen. Mich geht dieses kleinweltliche Gehabe überhaupt nichts an” Bellami zuckte nur mit den Achseln.

„War nicht anders zu erwarten”

„Aber du hast Bellami doch gerade vor Keara beschützt”, sagte Milena. Zeraph schwieg. Bellami stand auf und schaute Milena wieder musternd an.

„Sag mal” Er kniff die Augen zusammen. „Könntest du versuchen Ajuki zu finden?“ Kumi stellte sich dazu und schaute Milena traurig ins Gesicht.

„Bitte”, sagte sie und krallte sich an Bellamis Arm. Milena schaute in den Himmel. Ihr Blick wurde leer und ihr Atem schwer und langsam. Val schaute sie besorgt an und hielt ihre Hand. Ein paar Minuten später kam sie wieder zu sich und schüttelte traurig den Kopf.

„Es gibt keine Wahrscheinlichkeit, dass sie wiederauftaucht. Es ist als wurde sie vollständig ausgelöscht. Selbst wenn sie tot wäre hätte es Spuren hinterlassen. Aber da ist Nichts. Als würde ich nach jemanden suchen, der nie existiert hat und von dem es nicht einmal Erinnerungen gibt. Es tut mir leid”

Für Bellami war das der endgültige Beweis, dass Zeraph sie getötet haben muss. Nur das Drachenfeuer ist in der Lage eine Existenz bis zu ihrer Wurzel auszulöschen. Kumi lief eine Träne über die Wange. Zeraph stellte sich auf. Missbilligend und grimmig schaute er zu Val und Milena. Alle schauten zu ihm auf. Es sah aus als würde er gleich austicken. Bellami versuchte ihn zu beruhigen.

„Es gab wohl einen Grund dafür…“ Er wusste nicht, wie er die Situation entschärfen sollte.

„Ich werde deine Stadt beschützen”, herrschte Zeraph in einer harten und unzähmbaren Stimme. „Doch dafür wirst du mir was schulden” Val stand auf und beschwor sein Schwert.

„Ich kümmere mich um die Energieversorgung”, sagte er mutig, doch dann passierte etwas.

Vals Symbol leuchtete hell und seine Augen strahlten grün. Wie von Sinnen stand er da und holte mit dem Schwert aus. Er schwang es Bellami entgegen, der ihm gerade so noch ausweichen konnte. Der Baumstamm hinter ihm zerbarst und die Klinge seines Schwertes streifte Milenas rechte Schulter. Wieder holte Val aus. Zeraphs Augen glühten und er bereitete sich vor, Val auszulöschen, wenn es sein müsse.

Doch bevor Val zuschlagen konnte löste sich sein Schwert zu Staub auf und er fiel auf die Knie. Seine Augen wurden wieder braun und er fing sich wieder ein. Er fühlte wie Milena ihre Hand auf seiner Schulter hielt.

„Was ist passiert?“, fragte Val. Bellami stand auf und holte tief Luft.

„Du stehst immer noch unter Kearas Kontrolle. Also werden uns deine Kräfte nicht weiterhelfen. Außerdem bist du eine große Gefahr” Val schaute bedrückt auf den Boden. Milena schaute ihn mitfühlend an.

„Gibt es noch eine andere Möglichkeit, die Stadt wiederaufzubauen?“ Bellami nickte.

„Ja. Aber es ist zu gefährlich ihn bei uns zu haben. Tut mir leid, Val. Das ist alles meine Schuld. Ich habe Keara verärgert und Zeraph daran gehindert, sie zu töten. Aber ich werde eine Lösung finden. Bis dahin werden wir dich aber ruhigstellen müssen. Es geht nicht anders”, sagte Bellami traurig und eine kleine Nadel mit einer gelben Spitze erschien in seiner Hand.

„Nein!“, fauchte Milena und plötzlich waren die beiden verschwunden. Bellami schaute verwundert auf die Stelle an der Val und Milena eben noch standen.

Hoffentlich passt sie gut auf ihn auf. Dachte er sich noch, dann leuchtete eine Nachricht auf seinem Arm. Ein holographisches Bild erschien in der Luft, auf dem ein junger Typ zu sehen war, der freundlich lächelte.

„Du hast dich kein bisschen verändert”, sagte er und lachte.

„Sam!“, brüllte Bellami.

„Der einzig wahre”, antwortete Sam und lachte wieder.

„Wo bist du?“

„Direkt über euch” Bellami schaute nach oben und entdeckte ein riesiges Gebilde am Himmel. Es sah in etwa aus wie zwei Räder, die hintereinander auf einer großen Mittelachse angebracht waren und sich langsam in entgegengesetzte Richtungen drehten. Es war unglaublich weit weg und dennoch sehr gut zu erkennen. In etwa wie der Mond bei Tag, doch war es näher und wirkte größer.

„Forschungsstation Relia meldet Einsatzbereitschaft. Wir sind sofort hergekommen als wir von Aletrias Zerstörung hörten. Wir waren leider sehr weit draußen und die einzigen, die noch in direkter Verbindung zu Aletria stehen. Deswegen hat es etwas länger gedauert. Zwei flotten der Weißen und der Schwarzen Brigade sind bereits auf dem Weg und werden in weniger als zwei Tagen hier eintreffen. Ich bin wirklich froh dich wiederzusehen, Bellami. Es ist viel Zeit vergangen und es hat sich viel getan in deinem Königreich”

Bellami hätte am liebsten im Kreis gelächelt, wenn er könnte, so froh war er. Zeraph ging mit den Händen in den Hosentaschen Richtung Adrastea. Bellami schaute ihm kurz nach, dann lief er zu ihm.

„Wieso hast du das getan?“, fragte Bellami verwundert. „Ich dachte du liebst sie” Zeraph blieb stehen.

„Ich wollte es nicht sagen, solang ihre Schwester bei uns ist”

„Ich verstehe. Erzählst du mir, was passiert ist?“ Beide stiegen in das Schiff ein und Zeraph setzte sich auf den Pilotensitz.

„Ajukis einziges Ziel war es, Aletria zu zerstören und Shezzar an die Menschen auszuliefern. Keara bot ihr ihre Unterstützung an. Warum solltest du ja bereits wissen. Zusammen mit den Menschen hat sie einen Plan ersonnen, uns beide zu trennen, damit Keara dich in ihre Finger bekommt, ohne sich um mich sorgen zu müssen. Ihr ursprüngliches Ziel war dich mit der Vernichtung Celestis aus deinem Schlaf zu holen und Ajuki sollte mich davon ablenken” Bellami nickte.

„Aber da war ich schon wieder zuhause. Dank Val und Milena”

„Keara konnte alles vorhersehen, nur Milena war der X-Faktor. Ohne Sie wäre es ihnen vielleicht sogar gelungen”

„Deswegen haben sie Marista nicht angegriffen. Sie wollten sichergehen, dass ich vorher angreife, damit Milena sich nicht einmischt”, erkannte Bellami.

„Ja”, fuhr Zeraph fort. „Als das Schiff mit dir zusammen explodiert ist, hatte ich nur die Spur von Ajuki und hab sie durch die halbe Galaxie verfolgt. Somit konnte Keara mit dir machen, was sie wollte. Und nun konnten die Menschen Aletria angreifen und Shezzar gefangen nehmen. Doch Milena funkte ihnen wieder dazwischen. Sie hat eine Verbindung zum Universum, die nur schwer zu erklären und selbst für Keara unberechenbar ist. Somit landeten sie und Val in der Leere und Aletria wurde zerstört. Als ich Ajuki getötet hab, war schon zu viel Zeit vergangen”

„Sie hat sich als Köder geopfert, nur um sich an Shezzar zu rächen? Sie wusste doch, dass sie keine Chance gegen einen Drachen hat, oder nicht?“

„Sie wollte sich nicht rächen. Sie wollte ihn wieder zurück und das um jeden Preis. Keara hat sie ebenfalls zu einem Wächter gemacht, mit denselben Kräften wie du, und ihr eingeredet, sie könnte damit Shezzars Persönlichkeit wiederherstellen, wie sie vorher war” Bellami schüttelte den Kopf.

Man soll sich tote nicht ins Leben zurückwünschen” Flüsterte er.

Kapitel 20

Der weiße Drache

Milena und Val erschienen wieder vor ihrer Hütte. Val stand auf und schaute ihr traurig in die Augen.

„Bellami hat Recht. Ich bin eine Gefahr für alle, auch für dich” Er lief zum Brunnen, schnappte sich einen großen Stein und legte seine linke Hand auf die Kante. Dann schlug er wie wild mit dem Stein darauf. Schmerzschreie ließen die Vögel im Wald panisch ihre Nester verlassen. Blut spritzte ihm ins Gesicht und überall umher. Wie ein wahnsinniger schlug er immer wieder zu und schrie vor Schmerz auf.

Die Knochen zersplitterten und seine Haut riss auf, bis seine Hand nur noch ein matschiger Brei war. Milena lief zu ihm und versuchte ihn zu beruhigen. Doch es war hoffnungslos. Nach wenigen Minuten war die Hand wieder vollständig verheilt und das Symbol schimmerte wie eh und je. Wieder schlug Val darauf ein. Wieder brüllte er vor Schmerz.

„Hör bitte auf, das bringt nichts!“, schrie Milena panisch und entsetzt.

Sie schlang ihre Arme um ihn und zerrte ihn vom Brunnen weg. Sie riss ihn zu Boden, hielt seinen Arm und schlug ihm den Stein aus der Hand. Sie schrie ihn an und fluchte mit tränenden Augen. Dann setzte sie sich auf ihn und ohrfeigte ihn zwei Mal so stark sie konnte. Val atmete schnell und schwer.

„Ich bin eine Gefahr”, flüsterte Val. Tränen liefen aus seinen Augen. „Ich bin ein Monster. Mein Leben lang war ich ein Außenseiter. Alle hatten Angst vor mir und ich wusste auch warum. Auch in meinem letzten Leben habe ich versagt und in meiner Wut die ganze Menschheit ausgelöscht”

Milena legte sich auf ihn und schlang ihre Arme um seinen Kopf. Sie rieb ihre Wange an seiner und Val fühlte Milenas Tränen, die über ihre beiden Gesichter rannen.

„Ich liebe dich Milena und ich habe Angst davor, dass ich dir wieder wehtun werde. Ich kann das nicht zulassen. Ich ertrage das nicht” Milena schlang ihre Arme noch fester um ihn.

„Bitte gib nicht auf! Ich war so lange allein. Bitte ..”, flüsterte sie immer wieder. Ihr warmer Atem, ihre weiche, warme Haut und die zärtlichen Küsse, die sie ihm immer wieder auf die Wange gab, ließen seine Angst und seine Panik langsam wieder abklingen. Er legte seine Hand auf ihren Hinterkopf und streichelte sie sanft. Langsam hob sie ihren Kopf wieder und schaute Val mit ihren feuchten, verheulten Augen lächelnd ins Gesicht.

„Ich liebe dich auch”, flüsterte sie und stand von ihm auf. Sie reichte ihm die Hand und half ihm aufzustehen. „Ich hab dir ein Gulasch versprochen”, sagte sie und führte ihn in ihre Hütte. Val lächelte und half ihr beim Kochen.

Sie erzählte ihm lange und ausführlich von der Leere, Nakasch und ihrer Suche nach ihm. Er erzählte ihr von der Dunkelheit und seinen Versuchen der Leere zu entkommen.

Das Essen schmeckte beiden vorzüglich und der Tag verstrich sehr schnell. In der Nacht gingen sie ihrer Liebe mit viel Zärtlichkeit und ebenso viel Wildheit auf den Grund und lebten ihre Gefühle füreinander lange aus.

Am nächsten Morgen wachten beide mit dem Gesicht zueinander gleichzeitig auf und lächelten sich liebevoll an. Milena stand auf und ging in Unterwäsche ins Wohnzimmer.

Val errötete peinlich als er sich dabei erwischte, wie er ihr nachstierte. Sie streifte ihr Kleid über und richtete sich die Haare. Dann ging sie nach draußen. Val zog sich ebenfalls an und folgte ihr. Er fand sie vor der Tür wieder.

Sie stand aber nur regungslos und ängstlich da und schaute zu einer Frau, die den blutbespritzen Brunnen untersuchte. Als sie Milena bemerkte, richtete sie sich auf und lächelte.

„Hallo und guten Morgen, meine Lieben”, sagte sie warm um freundlich.

„Die Hexe”, flüsterte Val. Milena drehte sich zu ihm. „Du kennst sie auch?“

„Ja, sie hat mir damals gesagt, dass ich dich retten soll. Das war bevor wir über Celestis abgestürzt sind” Milena schaute Val besorgt an. „Dann schuldest du ihr auch was. Hast du ihr etwas versprochen?“ Val überlegte kurz.

„Nur dass ich sie wiedersehen werde” Milena schaute wieder zu der Frau.

„Ich bin sehr froh, dass du es geschafft hast, ihn zurück zu holen”, sagte Nakasch und ging zu den beiden. Milena schreckte ein wenig zurück.

„Wirst du uns jetzt beide in deine Welt entführen und uns fressen?“, fragte Milena als hätte sie zu viele von Grimms Märchen gelesen. Val schaute entsetzt zu ihr.

„Tut sie sowas wirklich?“, flüsterte er.

„Ich weiß es nicht. Aber ich weiß auch nicht, was sie ist. Sie könnte eine Faarih sein. Und wenn man sie beschwört, verlangen sie einen hohen Preis dafür, dass sie einem helfen”, flüsterte Milena.

„Ich bin doch keine Faarih!“, sagte Nakasch entrüstet. „Und ich verlange ganz bestimmt keinen Preis für einen freundschaftlichen gefallen. Was denkt ihr nur Schreckliches von mir?“

„Was willst du dann von uns? Du hast gesagt, wenn ich ihn zurückgeholt hab, reden wir über mein Versprechen. Genau das würden Faarih auch sagen”, fauchte Milena ängstlich. Nakasch lachte.

„Ach deswegen hast du so viel Angst. Mach dir keine Gedanken darüber. Ich mag euch beide wirklich gern und der Grund, warum ich euch so gern wiedersehen wollte ist, weil ich euch zeigen wollte, wer ich wirklich bin”

Sie legte ihren Zeigefinger aufs Kinn und schaute nachdenklich in die Bäume. „Halten mich diese jungen Geschöpfe wirklich für eine Faarih. Das ist doch nicht zu glauben. Also wenn das so ist, dann werde ich euch eines Besseren belehren. Wir Drachen mögen die Faarih nicht besonders und deswegen fühle ich mich jetzt auch ein wenig verletzt, wenn ihr so von mir denkt”

Sie verschwand kurz darauf und einen Augenblick später stand sie als ein großer, weißer Drache vor ihnen. Sie war zwar groß, aber lange nicht so groß wie Zeraph. Ein bisschen größer als Milenas Hütte, wenn man ihren langen Schweif nicht dazu zählt. Ihre Haut war von Myriaden stecknadelkopfgroßer, halbrunder, milchig weiß glänzender Schuppen bedeckt die das wenige Sonnenlicht, das durch die Baumkronen schien, in einem betörenden Lichtspiel funkeln ließen. Ihre Augen waren rubinrot, genau wie die von Zeraph nur waren sie mit noch mehr Symbolen der Drachensprache verziert. Die Größe ihrer Präsenz war noch viel intensiver und erdrückender als Zeraphs. Aber auch gleichermaßen beeindruckend und bezaubernd. Mit vorsichtigen Schritten kam Nakasch langsam auf die beiden zu und musterte sie.

„Habt keine Angst”, säuselte ihre Stimme durch Milenas und Vals Gedanken. „Ich werde euch nicht entführen, geschweige denn fressen oder derartiges“.

Ihr Kopf war nach vorne hin leicht spitz und bestand aus sehr weichen Linien und sauberen Konturen. Sie hatte keine Hörner, Zacken oder sonst etwas, was man oft mit Drachen in Verbindung bringt. Ihr Körper war kräftig und schlank und ihre Flügel waren gefiedert. Sie war vollkommen anders als Zeraph aber nicht weniger herrlich und beeindruckend.

Val streckte mutig seine Hand nach ihr aus und streifte sie behutsam über den Kopf des Drachen. Die weiche, warme Haut und die winzig kleinen Schuppen fühlten sich an als würde man seine Hand über ein Becken, gefüllt mit Millionen kleiner Kugeln streichen, die alle ein bisschen nachgaben.

„Das fühlt sich toll an”, schwärmte Val. Milena legte ihre Angst ab und tat ihm gleich. Nakasch war sichtlich amüsiert darüber.

„Also ..”, sagte Milena schüchtern. „Du erwartest also nichts dafür, dass du uns geholfen hast?“

Ein charmantes Lachen durchströmte ihre Gedanken. Gefolgt von Nakaschs Stimme.

„Aber nein. Ich mag euch beide einfach nur so gern. Ihr habt mein Interesse geweckt als ihr durch meine Welt gestolpert seid und nicht mehr wusstet wohin. Das fand ich einfach zu drollig”

Sie stieß Milena sanft mit der rechten Seite ihres Kopfes, sodass sie ihr Gelichgewicht verlor und sich an ihr festlagen musste. Dabei fing sie an zu lachen wie ein Kind, dass gekitzelt wird und Nakasch lachte ebenfalls unbekümmert. Dann steckte Nakasch ihren Kopf zu Val aus, stupste ihn in den Bauch und Val fiel mit dem Oberkörper auf ihren langen Kopf. Den hob sie sanft mit Val in die Höhe, streckte ihren Hals aus und er rutschte ihn entlang, bis er an ihren Schultern zu stehen kam und sich verdutzt aber lachend aufrichtete.

Dabei bemerkte Nakasch, dass Vals Lachen von Sorgen getrübt war. Die Verbindung zwischen den Herzen der Drachen zog sich durch jede Faser ihrer Seelen. Sie konnte genau fühlen, was in Val vor sich geht und was ihn bedrückte. Sie streckte ihr linkes Vorderbein aus und ließ Val absteigen. Sein Lächeln war aufrichtig, aber er kratzte sich dabei immer an der linken Hand. Nakasch streckte ihren Kopf nach seiner Hand aus und sah sich das Symbol darauf sehr genau an.

„Du wirst also immer noch von deiner Vergangenheit heimgesucht, obwohl du gar nichts dafür kannst. Damals hast du dich wohl freiwillig für diese Macht von den Nyx versklaven lassen. Aber wie ich sehe hast du dein Herz am rechten Fleck”

Sie lachte schelmisch und stupste ihn mit ihrer Nasenspitze auf die Brust, was sein Drachenherz zum Leuchten brachte.

„Ich kann dich von den Fesseln der Nyx befreien. Aber dein Herz hast du dir gewünscht, das kann dir niemand mehr nehmen” Schweigend hielt sich Val die Hand auf die Brust. Neugierig starrte Milena ihn an.

„Du kannst ihn davon befreien?“, fragte sie.

„Nur von dem Mal der Nyx. Wie gesagt, das Herz gehört ihm. Zeraph hat es ihm geschenkt und Val hat es angenommen. Es ist eine sehr große Würde und der Beweis einer sehr ehrlichen und innigen Freundschaft zwischen euch. Willst du es denn auch nicht mehr?“, fragte Nakasch in einem traurigem Ton.

„Doch!“, sagte Val, ohne zu zögern. „Ich finde zwar das Zeraph ein Arsch ist, aber er hat uns nie etwas Böses getan. Aber dieses Mal” Er kratzte wie verrückt an seiner linken Hand. „Ich hasse es! Bitte befreie mich davon, werter Drache”

„Aber bedenke: Du verlierst deine Fähigkeit das Terra zu kontrollieren und wirst sie nie wiedererlangen. Doch du musst auch verstehen, dass dieses Mal deinen Körper vollkommen verändert hat. Die Zellen in deinem Körper, deine Gene und dein Geist werden für immer mit Terra verbunden sein. Das heißt du wirst nie sterben, alt oder krank werden”

„Das ist mir alles scheiß egal. Ich will mit Milena zusammen sein, ohne mir die ganze Zeit Sorgen machen zu müssen, ich könnte sie versehentlich umbringen, weil diese blöde Keara gerade Lust dazu hat”

„Dann soll es so sein!“, sagte Nakasch und Val streckte ihr seinen linken Handrücken entgegen. Sie hielt ihren Kopf davor und stieß eine kleine purpurrote Flamme darauf. Das Mal verschwand, doch es blieb ein kleiner, weiß schimmernder Kreis zurück.

„Bin ich jetzt frei?“, fragte Val.

„Ja, das bist du. Frei von den Nyx und deiner Macht”

Vals Anspannung löste sich allmählich und er schaute lächelnd zu Milena. Sie lächelte ihn ebenfalls an und die beiden fielen sich in die Arme. Milena löste sich nach einer Weile wieder aus der Umarmung und schaute Nakasch begeistert lächelnd an.

Ihre Lefzen zogen sich auseinander und entblößten ihre dolchartigen, gezackten Zähne. Das sollte ein Lächeln darstellen sah aber eher furchterregend aus. Mit ihren roten Drachenaugen fixierte sie Milena wie in einem hypnotischen Bann.

„Ihr Beide sein wirklich faszinierend“, sagte Nakasch freudig. „Ich möchte gern deine Freundin sein. Und um dir zu beweisen, dass ich euch wirklich nichts Böses will, möchte ich dir mein Herz schenken. Du wirst in der Lage sein unsere Sprache zu sprechen und unser Wissen erlernen. Genauso wie Val” Milena schaute zu ihm. Er lächelte und nickte.

„Was sie sagt ist wahr. Es ist nur sehr anstrengend, es zu benutzen. Bellami hat es auch von Zeraph bekommen” Etwas zögerlich stimmte sie zu. Nakasch war immer sehr nett und mittlerweile vertraute sie ihr etwas mehr.

„Darf ich dabei seine Hand halten?“, fragte sie schüchtern. Nakasch lachte amüsiert.

„Aber sicher, meine Liebe. Du darfst nur einfach keine Angst haben, egal was gleich passiert” Wieder schaute sie zu Val, wieder lächelte und nickte er. Nakasch bäumte sich auf, spreizte ihre Schwingen und ein pulsierendes Glühen schimmerte durch die Haut ihrer Brust.

Sie sog Luft in ihre Lungen und blähte sich auf. Rote Flammen züngelten zwischen ihren Lefzen empor. Dann senkte sie den Kopf vor Milenas Brust und öffnete das Maul. Milena zuckte vor Schreck zusammen als sie die Marmorweißen, dolchartigen Zähne des Drachens sah. Sie krallte ihre Hand fest in Vals. Dann stieß Nakasch eine rote Flamme auf Milenas Brust. Sie empfand keinen Schmerz und ihr Kleid blieb ebenfalls unversehrt. Unter ihm zeichnete sich ein Symbol in der Drachensprache ab, das Val jetzt erst richtig erkannte und lesen konnte.

Auf ewig Verbunden - Mein Herz, unser Herz - alle Drachen, alle Freunde, alle Liebenden - durch Solaris Feuer.

Als es vorbei war, spürte Milena die Gefühle und die Gedanken von Nakasch auf eine einzigartige Weise. Sie fühlte das unschätzbare Wissen, dass sie mit sich trug und die Aufrichtigkeit, von der Nakasch zuvor gesprochen hat.

Plötzlich verdunkelt sich die Sonne. Zeraphs Schatten ließ den Tag zur Nacht werden, als er unvermittelt hinter ihnen landete. Majestätisch stand er da, thronend, wie immer, auf seiner Arroganz und seiner Eitelkeit. Doch etwas war diesmal anders.

Val fühlte eine Art Traurigkeit in Zeraphs Herz und ging mit Milena an der Hand ein paar Schritte zurück. Nakasch schaute zu Zeraph auf und funkelte ihn mit großen Augen an. Dann tat Zeraph etwas, an das sich Milena und Val noch lange erinnern würden:

Er spreizte seine gewaltigen Schwingen, legte sie behutsam über den Bäumen ab und senkte langsam und würdevoll seinen Kopf zu Nakasch herunter. Seine riesigen Augen waren halb geschlossen und sein Unterkiefer berührter beinahe den Boden.

Nakasch ging zu ihm und streifte ihren Kopf liebevoll an Zeraphs, wie zwei Katzen, die miteinander schmusten. Dieses Schauspiel war so imposant und würdevoll, dass Milena und Val beinahe der Atem stehen blieb. Die Gefühle der beiden Drachen strömten auch durch ihre Herzen und erfüllten sie mit tiefer Freude und Glückseligkeit.

„Nakasch”, fuhren Zeraphs Gedanken durch die Köpfe der Beiden. „Dein Volk vermisst dich. Unsere Herzen sind vom Makel deiner Abwesenheit befleckt und bluten in Strömen” Er sprach in der Sprache der Drachen, in der die Gefühle, die er empfand, noch viel intensiver zum Ausdruck gebracht wurden als in jeder anderen.

„Zeraph” Antwortete sie auf die gleiche Art. „Ich habe viel von deinen großen Taten gehört. Du hast uns von einem unermesslichen Leid befreit und dir deinen Titel ehrenvoll verdient” Die unglaublich starke Präsenz der Beiden verschmolz zu einer noch größeren, noch intensiveren.

„Es ist mir eine große Ehre. Ich empfinde tiefe Freude für eure Anerkennung”

Noch nie hatten sie Zeraph so unterwürfig und respektvoll erlebt. Es war geradezu absurd, da er sonst immer extrem eingebildet und arrogant wirkte. Selbst Bellami und Ajuki gegenüber. Aber in diesem Moment war es als würde ein Untertan mit seiner Königin sprechen, ihr die höchsten Würden entgegenbringen und ihr jeden Wunsch von den Lippen ablesen.

„Dein Volk vermisst dich ebenfalls, Zeraph Darthas - König der Drachen. Ich bin sehr froh, dass du ihnen eine neue Heimat gefunden hast, nachdem Oscha alles zerstört hat”

„Ihr wisst auch davon?“

„Ich habe euch nie verlassen. Ich war immer bei euch. In der Leere vergeht die Zeit so schnell, aber ich hab nie aufgehört an euch alle zu denken und euch genauso schrecklich vermisst. Ich werde bald wieder zurückkehren” Zeraph streifte noch einmal sanft an ihrem Kopf entlang.

„Ich sehne diesen Tag herbei, Nakasch Ayralin” Sagte er, richtete sich auf und flog davon. Die Sonne strahlte wieder auf die Drei herab und ließ Nakaschs Schuppen glitzern und funkeln.

„So hab ich Zeraph noch nie erlebt. Seid ihr ein Liebespaar?“, fragte Val frech.

„Wie kommst du darauf?“ Nakasch fand die Frage sichtlich amüsant.

„Na diese starken Gefühle. Diese große Liebe. Ich empfinde das genauso, wenn ich an Milena denke” Milenas Gesicht wurde feuerrot vor Verlegenheit, als sie das hörte.

„Nein, wir sind kein Liebespaar”, antwortete Nakasch. „Wir sind ein sehr altes Volk. Ich gehöre zu den ältesten. Zeraph ist noch sehr jung und von sich selbst eingenommen. Aber dennoch begegnen wir einander immer auf diese Weise. Liebe ist eine so wichtige und mächtige Kraft, dass wir nicht mehr ohne sie auskommen können. Sie stärkt uns und hält uns zusammen”

„Das ist ja der Wahnsinn”, sagte Val fasziniert und hielt Milenas Hand fester. „Aber ich dachte Zeraph ist schon eine Million Jahre alt. Wieso sagst du das er noch sehr jung ist?“

„Eine Million Jahre sind kein Alter für einen Drachen. Ich bin ein alter Drache - besser gesagt ein uralter”

„Ist das der Grund, warum er so viel größer ist als du?“ Val machte sich sogleich Vorwürfe, dass er sie damit eventuell beleidigt hat.

„Es hat damit zu tun”, antwortete Nakasch prompt. „Es gibt Drachen in Millionen verschiedenen Welten. In jeder dieser Welten herrschen andere Bedingungen, an die wir uns anpassen. Dazu kommt, dass wir Drachen unser Aussehen auch nach der Persönlichkeit verändern”

„Also ihr habt einander noch nie gesehen und dennoch empfindet ihr eine so starke Liebe?“, fragte Milena. Nakasch streckte ihren Kopf nach ihr aus und leckte ihr über die Wange.

„Ja, so ist es, meine Liebe. Und genauso sehr lieben wir euch, weil ihr durch das Herz mit zu unseren Artgenossen zählt. Aber keine Angst, die Liebe zwischen euch beiden ist von einer ganz anderen Art und gehört nur euch allein” Milena war sprachlos. Sie streichelte über Nakaschs Nase und bestaunte sie fasziniert. Val tat ihr gleich.

„Bleibst du bei uns?“, fragte er zurückhaltend. Nakasch leckte ihm ebenso übers Gesicht und stupste ihn mit der Nase an die Stirn. Dann verschwand sie und die Hexe mit den roten Augen stand wieder vor ihnen.

„Ich werde euch auf jeden Fall hin und wieder besuchen kommen. Aber ihr solltet euch erst mal ausruhen und die verlorene Zeit miteinander aufholen. Ich werde für eine Weile zu meinem Volk zurückkehren. Aber ihr seid bei uns immer willkommen. Und wenn es euch gefällt, dürft ihr auch bleiben” Sie streifte ihre Kapuze ab und nahm die Beiden in die Arme.

„Macht keine Dummheiten, ja? Und kommt uns besuchen. Bringt Zeraph mit, wenn er will” Val und Milena nickten zum Abschied. Nakasch verließ die Lichtung und verschwand im Wald.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Val. Milena antwortete nicht und zerrte ihn einfach entschlossen hinter sich her.

Die riesige Forschungsstation schwebte friedlich im Orbit und wurde schon bald von zwei Staffeln großer Kampfschiffe begleitet. Die Vorbereitungen für den Wiederaufbau Aletrias waren im vollen Gange. Die Welt schien für den Moment in Ordnung.



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Tag der Veröffentlichung: 11.08.2020

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