Ich lief durch den Wald, Äste peitschten mir ins Gesicht und mein Handrücken brannte. Er war von Kratzern und Schürfwunden übersäht. Aus einer der Wundel lief das dunkelrote Blut über meine Bleiche Haut. Gespannt verfolgte ich wie sich die rote Linie einen Weg über meine Hand bis zum Handgelenk bahnt und von dort abprällte. Ich stöhnte leicht bei dem Anblick der immernoch schmerzenden Wunden des Nachmittags. Sie schmerzten mehr, als die Aufschürfungen, die ich mir im Wald zugezogen hatte. Ich wandte den Blick ab und sah nach oben in den Himmel. Ein dunkles Rot schlich sich über den unendlich weiten Horizont. Es wurde Abend. Schon in weniger als einer halben Stunde würde sich der Himmel schwarz färben und mir die sicht nehmen. Einen Moment dachte ich daran, zurück zu kehren, aber diesen Gedanken verwarf ich sogleich wieder. Ich hatte mich dazu entschlossen zu gehen und dieses Ziel würde ich nicht aufgeben, es war das Letzte was mir blieb. Und mit einem weiteren, kurzen Blick auf meine zahlreichen Wunden, die nicht nur meinen rechten Arm zierten, zwang ich mich dazu, weiter zu gehen. Ängstlich wanderten meine Augen zwischen den unendlich wirkenden Baumgruppen umher, wie die einer Verrückten. Langsam kam ich mir in diesem, riesig wirkenden, Wald ziemlich verloren vor.
Ich wusste, dass es gefährlich war allein in einem so großen Wald, aber zurück zu laufen war für mich undenkbar. Lieber würde ich Tagelang hier verschollen sein, als dorthin zurück zu kehren, von wo ich erfolgreich geflohen war. Mein Blick wanderte erneut auf meine Hand. Es war nicht das erste Mal, dass ich solche Schmerzen hatte. Ich war daran gewöhnt. Viel schlimmer waren die Narben der Schläge, mit dem Gürtel. Ich zuckte bei dem Gedanken zusammen. Ich wollte um jeden Preis weg. Sicher würde ich meinen Bruder vermissen, aber er fühlt sich dort wohl. Ich -im Gegensatz- hielt es keinen Tag mehr aus. Ich lief immer tiefer in den Wald und hatte keine Ahnung, wo er hinführte.
Es wurde immer Dunkler und bald würden sie sicher nach mir suchen. Bei diesem Gedanken lief ich schneller und wurde panisch. Was war, wenn sie mich finden würden? Dann konnte ich meine Zukunft vergessen. Meine Kindheit war sowieso ruiniert, aber wenn ich hier weg konnte, hatte ich noch Hoffnung auf ein normales Leben. Je schneller ich lief, desto öfter fiel mich hin und verletzte mich, aber mich hielt nichts auf. Wenn ich nicht so große Angst gehabt hätte, könnte ich diesen Wald vielleicht sogar schön finden. Die Bäume waren riesig und es gab kaum braune Stellen. Meine Kraft ging langsam den Bach runter und ich wurde langsamer. Ich bildete mir ein, Schritte hinter mir zu hören und drehte mich refleksartig um, doch es war niemand da.Stimmen in meinem Kopf, fremde Stimmen. Ich wurde wohl verrückt!
Brian kannte sich in den Wäldern zwar gut aus, aber selbst für ihn sollte es unmöglich sein, mich binnen weniger Stunden zu finden. Das Blut in meinen Adern pulsierte. Mein Herz begann zu rasen, aber es war unmöglich für mich weiter zu laufen. Ich fuhr mir erschöpft durch die dunklen, fast schwarzen Haare, meine Haut war kalt und nass vom Schweiß. Ein plötzliches Knacken hinter mir lies mich hochfahren, ich wandte mich nicht um, blieb nur erstarrt stehen. Erneut knackte es, aber über mir und refleksartig hob ich meine Arme und bekomme einen schweren Ast über mir zu fassen. Die Kraft, die ich benötigte den Ast weg zu hiefen um mich drauf zu setzen, zerrte an mir. Ich versuchte mich zu beruhigen, wissend, dass das Geräusch von eben nur der Ast war und nicht etwa, jemand, der mich suchte. Doch als ich weiter gehen wollte, hörte ich erneut Geräusche hinter mir, ein scharren, und ich schreckte auf. Plötzlich war es leise und diese Stille machte mir fast noch mehr Angst, als das merkwürdige Scharren. Nun konnte ich mich nicht mehr beruhigen und jedes winzige Geräusch lies mich zusammenfahren. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging weiter. Früher hatte ich große Angst vor der Dunkelheit gehabt und meine Mutter, meine leibliche Mutter, sagte mir, ich solle mir vorstellen, dass es hell wäre und mir gedanken darum machen, woher diese Geräusche kämen. Ich hörte eine Eule, das Rascheln eines Busches, den Wind. Am Himmel ließen sich langsam kleine Sterne sehen. Ich schaute hoch,seuftze und flüsterte: "Mom, bitte hilf mir." Nach einer erneuten kurzen Pause spürte ich, wie ich wieder mehr Kraft in mir hatte und maschierte weiter durch die Dunkelheit. Doch der Boden wurde immer unebener, bis ich schließlich über einen Ast auf einen spitzen Stein fiel. Ich setzte mich hin und hielt meine Hand an meinen scherzenden Knie. Meine Hose verfärbte sich Rot an der Stelle. Ich konnte mich nicht mehr aufstellen, da die Schmerzen in meinem Knie und meinem Fußgelenk zu stark waren. Ob mein Fuß wohl verstaucht war? Ich schüttelte den Kopf, natürlich nicht. Aber es wäre eine gute Ausrede gewesen, wieder zurück zu laufen. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen und dachte angestrengt nach. Willst du das wirklich aufgeben? Die einzige Chance, die dir bleibt? Ich schluchzte nur als Antwort auf meine eigene stumme Frage. Willst du zurück zu Stacy und Brian? Nein, aber Cowen. Ich würde meinen Bruder wiedersehen. Wäre er sauer auf mich? Ja, das würde er sicher sein, aber nicht, weil ich abgehauen war, sondern, weil ich zurückgekehrt war. Ich bildete mir ein, seine ruhige Stimme zu hören. "Man muss entscheidungen treffen, Vic." würde er sagen und mich ruhig, aber zugleich durchdringend anschauen. "Du hast eine getroffen, warum vertraust du nicht auf dich?" Stöhnend lies ich mich auf den kühlen Waldboden sinken und atmete tief ein und aus. Mit einem Lächeln schloss ich die Augen und stellte mir Cowens Gesicht vor. Wie er breit lächelte und mich amüsiert anschaut, dann wurde es dunkel und der Schlaf überkam mich.
Ich war mir zwar sicher, dass ich nur träumte, aber es kam mir sehr realistisch vor. Ich sah meinen Bruder, ganz klein, neben meiner Mutter stehen. Nicht meine wahre Mutter, meine Stiefmutter. Sie lächelte meinen Bruder an und ich wunderte mich über diesen Anblick. Es war ein echtes, böses Lächeln. Plötzlich sakte mein Bruder zu Boden und fing laut an zu weinen. Ich wollte zu ihm, ihn fragen was los sei, aber er sah und hörte mich nicht, ich war unsichtbar.Stiefmutter Stacy lachte nur. Cowen schaute nach vorn. Neben ihm lag ein Blumenstrauß und er legte es auf das Grab, das plötzlich vor ihm war. Ich erschrack, wer war denn gestorben? Ich versuchte mich dem Grabstein zu nähern, aber stattdessen näherte er sich mich. Je näher es kam, desto besser konnte ich die Buchstaben erkennen. Ich schreckte auf. "Victoria Bennert." las ich es flüsternd vor. Dann war ich wach und es war noch dunkler, als vorhin. Nur der Mond und die Sterne erhellten den Wald. Ich war entteuscht. Entteuscht von mir selbst. Eigentlich wollte ich schon längst woanders sein, stattdessen sitze ich hier im Wald fest. Seufzend stand ich auf, doch der Schmerz in meinem Bein lies mich wieder zu Boden sinken, das hatte ich ganz vergessen. Ich krämpelte ich mein Hosenbein hoch. Die Wunde war tief, aber nicht allzu groß. Ich bereitete mich darauf vor, die ganze Nacht hier zu verbringen. Meinen Kopf gen Waldboden gesenkt, dachte ich nach. Wieso waren meine Gedanken immernoch von diesen Taten und Worten geprägt? Der Tod meiner Eltern war schließlich 4 Jahre her. Zwei Jahre im Heim und zwei Jahre bei Stacy und Brian, die nur von der Aussicht erhellt wurden, dass ich diesen Ort bald verlassen könnte. Wenn ich erst Volljährig wäre und das bin war ich nun seit 4 Monaten. Ich hatte nicht besonders viel von meinem Hab und Gut eingepackt und mitgenommen, das wäre meiner Familie sicher sonst aufgefallen. Ich zitterte. Das Fieber hatte mich geholt. Ich tastete meine Stirn ab. "Nein, nein!" Meine Stimme war leise, kaum ein Flüstern. Ich legte mich seitlich auf den Boden und meine Augen schlossen sich erneut wie von selbst. Doch die Geräusche des Waldes ließen mir keine Ruhe und ich wälzte mich unruhig hin und her. Der Geruch von Harz und Erde stieg mir in die Nase und ich musste husten. Also packte ich mir den kleinen roten Rucksack, den ich mitgenommen hatte und suchte meine Wasserflasche. Ich stieß eine Taschenlampe, 2 Tüten mit Essen und ein Foto meiner Eltern beiseite, bis ich schließlich die Wasserflasche fand. Ich drehte den Deckel auf und nippte am Wasser. Dummerweise hatte ich nur eine eingepackt, da ich fest damit gerechnet hatte schon längst fort zu sein. Als das Kratzen im Hals aufhörte, beschloss ich einen geeigneten Schlafplatz zu finden, um mich auszuruhen. Ich legte mir den Ruchsack so zurecht, das er mir als Kopfkissen diente. Ich versuchte es mir gemütlich zu machen und mich zu beruhigen, als ich schließlich Wassertropfen auf mir spürte. Bitte kein Regen! Das kann ich grad' echt nicht gebrauchen! Mir wurde kalt und ich erinnerte mich an die Wolldecke meiner Mutter, die ich eingepackt hatte. Zum Glück hatte ich bereits eine Regenjacke an. Ich zog die Decke aus meinem Rucksack und umschloss mich damit. Dann nickte ich ein, oder war ich wach? Etwas twischen beiden Welten. Irgendwann öffnete ich schließlich meine Augen und Sonnenlicht schien durch die dichten Blätter des Waldes, immerhin etwas, es war Tag. Ob mein Fuß wieder belastbar war? Ich stand langsam auf und trat vorsichtig auf und es schmerzte tatsächlich kaum noch. Und plötzlich stieg ein gutes Gefühl in mir auf. Ich fühlte mich frei. Das Brian und Stacy mich noch nicht gefunden hatten, war ein gutes Zeichen. Bestimmt gingen sie davon aus, dass ich den Weg über die Landstraße genommen habe. Hatten sie die Polizei gerufen? Würde dieser Wald bald erfüllt sein von Polizisten die meinen Namen riefen? Ich wollte auf keinen Fall wieder zurück in die Pflegefamilie und dazu konnten sie mich schließlich auch nicht zwingen. Ich hätte natürlich auch einfach so gehen können, aber sie hätten mich nicht gelassen und selbst wenn, würden sie auf den ständigen Kontakt bestehen. Cowen war jedoch erst 16 und durfte nicht gehen und er wollte auch nicht. Denn Brian und Stacy verehrten ihn und behandelten ihn prima. Cowen war gut in der Schule, sehr intelligent.
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2013
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