Feste der Winterzeit
Dieses Jahr kam ein kalter Winter schon zum Nikolaustag nach Deutschland. Oma Marie lernte den Nikolaustag erst hier in Deutschland kennen. Zu ihrer Zeit gab es andere Feiertage.
Sie schaute mit einem verträumten Lächeln auf den Lippen durch das Fenster in den verschneiten Garten. Lilafarben verabschiedete sich dort ein frostiger Dezembertag. Eine Weile lang bewunderte sie die langsam fallenden Schneeflocken und versank nach und nach in der Gedankenwelt. Geistesabwesend tauchte sie wie durch eine dicke Nebelwolke der Vergangenheit in ihre Kindheit im weiten Russland ein …
…Das dreijährige Mariechen saß beängstigt in einem großen, schwarzen Ledersessel ihrer Oma. Sie war so klein, dass ihre Füßchen in dicken Schurwollsocken noch nicht mal bis zur Kante des Sitzes reichten. Es war dunkel. Aus der entferntesten Ecke der Küche schimmerte ein schwaches Licht einer Petroleumlampe. Durch die Belüftungsgitter des Ofens fielen flackernde Abbildungen der lodernden Flammen auf den Fußboden, die dem Mariechen wie tanzende Lebewesen vorkamen. Von draußen durch die eisverzierten Fenster hörte man den heulenden Wind und die Schneeverwehungen reichten schon bis zur Mitte der unteren Fenstersprossen. Mama drehte den Docht der Lampe runter, sodass nur noch das Lichtspiel der Flamme das Zimmer erhellte, und ging aus dem Raum. Mariechen klammerte sich an die Armlehne des Sessels. Oma sagte, dass das Christkind nur zu frommen Kindern komme. Waren ihre älteren Geschwister denn nicht fromm? Mussten sie im anderen Zimmer warten, weil sie vor dem Pelznickel Angst hatten? Aber Mariechen hatte doch noch mehr Angst, weil sie jetzt ganz alleine in der Dunkelheit warten musste. Sie schaute seufzend die Tür zum Nebenzimmer an, die hinter ihrer Mutter zuging, und blickte zur Eingangstür. Das kleine Mädchen hate aus Omas Geschichten vom Christkind gehört, dass es an so einem kalten Tag wie heute geboren wurde und in einer Krippe lag. Sie sah in ihrer Fantasie ein niedliches Baby in Windeln. Wie sollte es denn jetzt, so klein es doch war, durch diese Tür hereinkommen? Würde es von seiner Mutter oder vielleicht selbst vom lieben Gott auf dem Arm hereingetragen? Ihre Gedanken wurden durch leises Klopfen an der Tür unterbrochen. Was sollte sie tun? Sie drückte sich noch tiefer in den Sessel hinein und zog ihre Füßchen unter sich. Das Klopfen wiederholte sich… nach kurzer Pause, die für Mariechen aber wie eine Ewigkeit erschien, ging die Tür langsam auf und eine große, weiße Gestalt trat durch die Türschwelle ins Zimmer. Mariechens Augen wurden immer größer. Das Gesicht des Wesens konnte sie durch einen Tüllüberwurf nicht sehen. Ein langes Gewand verdeckte den Körper vollkommen, sodass man noch nicht einmal feststellen konnte, ob es ein Mann oder eine Frau war. Diese „Tüllwolke“ näherte sich dem Sessel und sprach sie, ganz überraschend für Mariechen, mit einer piepsigen Stimme an. Durch das Staunen wechselte Mariechens Angst in Neugierde. Sie richtete sich im Sessel hoch, auf die Knie, um näher an das Gesicht des Ankömmlings zu kommen, aber, trotz aller Anstrengung, konnte sie hinter den Gardinen nichts erkennen und nahm die an sie gewandte Frage gar nicht wahr, vernahm aber noch, dass sie ein Gedicht aufsagen solle. Ach ja, wie konnte sie das vergessen? Oma sagte noch, sie solle vor dem Christkind knien und die Hände dabei wie zu einem Gebet falten. Weil sie ja schon auf ihren Knien saß, musste sie nur noch die Hände falten. Sie holte Luft und trug das Gedicht in einem Atemzug vor:
"Christkind,komm,
Mach mich fromm,
Dass ich mit Dir
In das Himmelreich komm."
Das „Christkind“ streichelte Mariechen über den Kopf und reichte ihm ein Päckchen mit einem riesigen roten Apfel darauf. Strahlend nahm Mariechen den Apfel in beide Hände, ließ ihn aber sofort auf den Tisch fallen, weil ihre warmen Finger an ihm wie an einem Eisbrocken klebten. Enttäuscht schob sie den gefrorenen Apfel beiseite und wandte sich dem Päckchen zu. Plötzlich vernahm sie das Geräusch der zufallenden Tür. Sie drehte sich um – das „Christkind“ war weg.
Auf einmal wurde es hell. Die ganze Familie, Oma, Mama, Papa, die ältere Schwester Lida und Bruder Viktor, kamen in die Küche und fragten mit gespielter Neugierde Mariechen über den Christkindsbesuch aus. Vor lauter Begeisterung verschluckte sich die Kleine fast mitten in ihrem eifrigen Bericht.
„Zeig mal, was du da bekommen hast“, fragte Lida. Mariechen packte aus dem Karton ein paar winzige, rote Schuhchen aus. Die musste sie sofort anprobieren. So klein sie auch waren, aber Mariechen passten sie sogar mit ihren dicken Schurwollsocken. „Die kannst du gleich morgen zum „Jolka-Fest“ in dem Klub anziehen“, freute sich Lida. „Sie passen ja auch noch so schön zu deinem Schmetterlingskostüm“, stimmte Mama zu.
Die Winterferien in der Sowjetunion krönten die Jolka-Feste (Tannenbaum-Fest). In allen Kindergärten, Schulen und Betrieben begann schon eine Woche vor Silvester das fröhlichste Fest des Jahres. Weil die christlichen Feste der Zarenzeit, wie die Kirche selbst, in der atheistischen Gesellschaft keine Rolle mehr spielten, suchte man einen Ersatz dafür. Das Christkind mit Konfekt-Taschen für Kinder wurde durch Opa Frost und seine Enkelin – Schneemädchen (Ded Moros & Snegurotschka) ersetzt. Der Weihnachtsbrauch, den Tannenbaum zu schmücken und sich einander zu beschenken, wurde aus der alten Zeit übernommen und nur auf den Silvesterabend verschoben. Der Tannenbaum spielte, wie eigentlich auch im Christentum, eher eine dekorative Rolle. Aber die Feier selbst bekam einen ganz anderen Charakter. Aus einer Stillen Nacht wurde eine laute, kostümierte: mit Singen, Spielen und Tanzen um den Baum. Silvester wurde zu einer Party mit vielen Facetten. Es vereinte gleich drei Feiertage von früher in sich: Weihnachten, Silvester und Karneval. In diesem bunten Durcheinander hatte jeder seinen Spaß gehabt.
Zu Mariechen kam aber noch das Christkind. Es war Omas Idee, die sich in der neuen Zeit nicht richtig zurechtfand. Ihre größeren Enkelkinder waren schon durch und durch sowjetisch, unter Omas Einfluss stand nur noch das kleine Mariechen. Und ihr wurde fast schwindelig von den verschiedenen Fabelwesen der Winterzeit.
Am nächsten Tag kam Mariechen in Begleitung von Mama und Lida zum traditionellen Jolka-Fest für Kinder in den Club. Zuerst ging es in eine Garderobe zum Umziehen. Mariechen sollte heute als Schmetterling auftreten. Sie konnte es kaum erwarten, das von der ganzen Familie mit Liebe angefertigtes Kostüm anzuziehen. Als sie das kurze Kleidchen mit dem gestreiften Brust und Bauchteil anhatte, sah sie schon fast wie ein Schmetterling aus. Aber es fehlte noch das Wesentliche – die bunten Flügel, auf die sie sich ganz besonders freute. Mama und Lida befestigten vorsichtig diese Pracht mit Gummibändchen an ihrem Rücken und setzten der Kleinen einen feinen Haarreifen mit glänzenden Fühlern auf. Mit jedem Schritt bewegten sich die Fühler und brachten die winzigen Glasperlen an deren Ende zum Glitzern und Funkeln. Mariechen zog ihre Winterstiefel aus und durfte jetzt ihre neuen roten Schuhchen zum ersten Mal tragen. Als die Dreijährige sich im Spiegel sah, schlug sie begeistert die Hände zusammen und begann zu hüpfen. Gerührt schauten Mama und die große Schwester den „geschlüpften“ Schmetterling an und waren mächtig stolz auf ihr Werk. Sie hatten sich viel Zeit für dieses Kostüm genommen. Lida hatte das Modell entworfen und die Flügel bemalt. Dafür hatte sie aus einem Biologiebuch den schönsten Schmetterling ausgesucht und diese Abbildung als Vorlage benutzt. Für das Nähen war die Mama zuständig gewesen. Oma hatte das Kleid gestärkt und gebügelt, Papa hatte für eine Verstärkungskonstruktion der Flügel gesorgt, damit sie beim Laufen nicht zusammenfielen, und Viktor hatte den Haarreifen mit Fühler angefertigt. Diese Teamarbeit kam nun zum Tragen.
Jetzt kam der Moment des großen Auftritts. Alle Kinder stellten sich paarweise hintereinander und warteten nur noch darauf, dass sich die große Tür zur Festhalle öffnete.
Neben Mariechen stand ein Junge in einem quadratischen Roboter-Kostüm, das ihm fast keine Bewegungsfreiheit ließ. Die Kinder wurden aufgefordert, sich an den Händen zu halten. Der kleine „Schmetterling“ musste dafür einen Schritt zur Seite treten und seinen Arm nach oben strecken, um die Hand des breiten „Roboters“ überhaupt zu erreichen.
Plötzlich erklang eine fröhliche Polka-Musik und die Tür ging auf. Die lange Kinderschlange zog in die halbdunkle Halle und bildete einen Riesenkreis um den Tannenbaum. Abrupt brach die Musik ab und in die Mitte des Kreises rannte schreiend ein kostümierter Hase. „Hilfe, Hilfe!“, schrie er. „Böse Wölfe haben Ded Moros und Snegurotschka im Wald überfallen!“ Durch die Kindermenge trat brüllend auf schweren Tatzen ein riesiger Bär hervor. „Wer wagt es, in meinem Wald den Frieden zu stören?“
Mariechen erlebte das Christkind, sowie auch dieses Jolka-Fest zum ersten Mal. Sie wusste, dass Ded Moros und Snegurotschka den Kindern Geschenke brachten und erschrak wirklich wegen der Nachricht des Überfalls. Sie schaute sich hilflos nach Mama um. Der Bär versprach den Kindern inzwischen, die Zwei zu befreien, aber sie mussten ihm dabei helfen. Alle sollten laut nach Ded Moros und Snegurotschka rufen, damit die räuberischen Wölfe hörten, dass er nicht allein war und ihm jederzeit Beistand geleistet wurde. Er rannte aus der Tür und vernahm hinter sich das laute Rufen der Kinder. Aus den Lautsprechern hörte man den Wind pfeifen und das Knirschen der Bäume aus dem Wald. Durch den Sturm vernahm man plötzlich mehrere Stimmen, die durcheinander „Sie sind frei, Sie sind frei“ riefen.
Die zwei massiven Türflügel gingen auf und durch die Schwelle fuhr, von vielen Waldbewohnern gezogen, ein riesiger Schlitten an den Tannenbaum. Mariechen klatschte vor Freunde in die Hände. Aus dem Schlitten erhob sich Ded Moros mit seiner Enkelin und begrüßte laut die Kinder. Mariechen bestaunte seine rote Kutte und seinen schneeweißen Vollbart. Die zierliche Snegurotschka in ihrem weißen Mäntelchen und einer wie aus Eiszapfen geformter Krone gefiel ihr ganz besonders. Nachdem sich die Aufregung ein wenig gelegt hatte, schlug der alte Mann vor, die Kerzen auf dem Tannenbaum anzuzünden. Dafür mussten die Kinder dreimal in die Hände klatschen. „Eins, zwei, drei, hell soll es sein!“, rief Ded Moros und der Baum leuchtete in blinkenden bunten Farben auf. „Wenn wir den Zauber rückgängig machen wollen, müssen wir nur alle zusammen pusten. Wollt ihr das versuchen?“ Sie hatten es versucht, aber danach auch gleich wieder dreimal in die Hände geklatscht - auf das Lichtspiel am Baum wollten sie nicht verzichten. Danach ging es im Reigen und Singen um den Baum. Mariechen war so von dem Zauber fasziniert, dass sie ihn wiederholen wollte. Sie verließ den Reigen und näherte sich vorsichtig dem leuchtenden Baum. Am unteren Ast blinkte eine rote Kerze. Aus der Entfernung gesehen, stellte es eine rührende Szene dar: Ein niedlicher, kleiner Schmetterling beugte sich zu der Kerze nieder und versuchte, sie auszupusten. Es funktionierte nicht. Sie stand noch einen Augenblick gebeugt vor der Kerze, dann holte sie tief Luft und pustete erneut mit der ganzen Kraft ihrer kleinen Lunge. Als es wieder nicht funktionierte, drehte sie sich um und ging enttäuscht zur Mama, die auf einem Stuhl im hinteren Teil der Halle mit anderen Eltern saß. Mariechen war die Jüngste hier in der Halle und von all diesen Ereignissen heute ein wenig überfordert. Mama setzte das Kind auf einen Stuhl neben sich und drückte es an sich. Die Aktivität am Baum ließ nicht nach. Einige Kinder trugen Gedichte vor und wurden dafür von Ded Moros und Snegurotschka beschenkt. Auf einmal sagte Mama: „Es wäre schön, wenn du jetzt auch wieder hingehst, die besten Kostüme werden bewertet.“ Mariechen und die anderen kostümierten Kinder bildeten mitten im großen Kreis einen kleineren. Sie gingen um den Baum, damit alle aus dem äußeren Kreis die besten drei Kostüme auswählen konnten. Der kleine Schmetterling war nicht zu übersehen und bekam den ersten Preis – eine große Puppe. Und damit war die Feier noch nicht zu Ende. Ded Moros wandte sich an die Kinder und sagte, dass keiner heute ohne ein Geschenk nach Hause gehen werde. Der Reihe nach gingen alle am Schlitten vorbei und holten sich bei Ded Moros ihre Tüten mit Süßigkeiten ab…
…Eine helle Kinderstimme holte Oma Marie plötzlich aus ihrer Verträumtheit: „Oma, Oma, schau, was mir der Nikolaus gebracht hat!“ Oma drehte sich um und sah ihre kleine Enkelin, die ihr zu Ehren auch Mariechen hieß, mit einem roten Plastikstiefel voller Schokolade auf sich zukommen. Das Mariechen sprang ihr auf den Schoß und schmiegte sein Gesicht an Omas Wange. Die alte Frau drückte den kleinen Körper ihrer Enkelin an sich und dachte glücklich: „Alles wiederholt sich, wenn auch auf eine andere Art und Weise.“
Texte: Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 05.12.2010
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