Seien sie nett!
Das Gute - dieser Satz steht fest -
Ist stets das Böse, was man lässt.
Wilhelm Busch
Horst und Helga wohnten am Ortsrand im Grünen. Ihr gepflegtes Haus in blühender Blumenpracht schenkte ihnen nicht nur Ruhe und Geborgenheit, sondern auch Neid.
Nach dem Abbau von Arbeitsstellen in ihrer Berufsbranche genossen sie den Status „Frührentner.“ Gut situiert, hielten sie mit der Zeit Schritt und rüsteten sich technisch mit HiFi Geräten modern ein. TV und Heimkino, Notebook und PC, Foto- und Videokameras, Blu-ray Player und Handys - alles sollte vom feinsten sein.
Fit und gesund pflegten sie ein ausgewogenes Leben mit viel Bewegung.
Heute stand eine Radtour auf dem Plan. Horst ölte noch vorsorglich die Fahrräder und stellte sie vor das Tor. „Helga“, rief er auf dem Weg zur Garage, „wir können fahren“. Von dort vernahm er noch Helgas laute Stimme aus dem Haus: “Ich hole nur noch Getränke aus dem Keller.“ Horst schmunzelte, er kannte die kleinen Schwächen seiner Frau, die im letzten Moment immer noch etwas zu erledigen hatte. Diese kleine Verzögerung vor jedem Ausflug gehörte zum Ritual.
Endlich erledigten sie auch die letzten Vorbereitungen und gingen aus dem Tor.
…Von den Fahrrädern fehlte jede Spur.
Verblüfft stand das Ehepaar vor ihrem Gartentor und schaute sich ratlos um: außer Vögel Gesang war kein Laut zu vernehmen und weit und breit kein Mensch zu sehen. „Wir müssen es bei der Polizei melden“, schlug Helga vor. Ohne langen Überlegungen stiegen sie ins Auto und fuhren in die Stadt, um den Diebstahl zu melden.
Der Tag war viel zu schön, um ihn jetzt in Trauerstimmung zu versenken. Horst und Helga beschlossen, ins Planetarium und anschließend essen zu gehen. Erst gegen Abend kamen sie wieder nach Hause. Was sie da sahen, verschlug ihnen die Sprache: Ihre zwei Fahrräder, ohne einen Kratzer oder sonst einen Schaden, standen an der Stelle vor dem Tor, wo Horst sie morgens rausstellte. Helga fand plötzlich in dem Körbchen vor dem Lenkrad einen Briefumschlag mit folgendem Inhalt: „Liebe Unbekannte, wir bedanken uns herzlich für die geborgten Fahrräder, die wir in unserer Eile notgedrungen „entführten“. Unsere Absichten, sich in aller Form für die Unannehmlichkeit bei Ihnen zu entschuldigen, ist fehlgeschlagen. Weil wir Sie nicht persönlich erreichen konnten, hinterlassen wir Ihnen als Wiedergutmachung zwei Karten für das moderne Theaterstück „Seien sie nett!“ und hoffen, Ihnen einen schönen Abend damit zu schenken.“
Das plötzliche Auftauchen der Fahrräder überraschte die zwei Rentner mehr als ihr Verschwinden heute Morgen. Sie schauten sich fragend an. Was sollte man von all diesem halten? „Na ja“, meinte Helga versöhnlich, „letztendlich haben sie sich doch entschuldigt. Wir sollten die Anzeige bei der Polizei zurückziehen.“ Sie riefen an und erklärten den Fall als erledigt. Die Stimmung sprang wieder nach oben. Man kam ins Philosophieren über das Gut und Böse in der Welt. „Eigentlich besteht unsere Welt nur durch das überwiegend Gute in uns“, gab Horst seine Gedanken frei. „Hätten wir mehr Vertrauen zueinander“, führte Helga seine Gedanken fort, „wäre die Menschheit schon längst weiter in ihrer Entwicklung.“
Der nächste Tag verlief im Theaterfieber. Helgas beste Kleider sind nach langer Zeit wieder zum Vorschein gekommen und Horst zwang sich nach Helgas Forderung in die engen Lackschuhe. Während der Vorbereitung kamen sie im Gespräch immer wieder auf die Wohltäter, die sie heute in den Aufregungszustand versetzten. „Ich überlege immer noch, was die Leute so drängte, dass sie uns noch nicht einmal um die Erlaubnis fragten?“, gab Helga vor sich hin. „Waren sie vielleicht auf der Flucht?“, folgte Horst mit seinen Überlegungen ins Gespräch. „Aber vor wem?“ „Für Verbrecher sind sie zu nett“, widerlegte Helga seine Vermutungen. „Waren sie in Lebensgefahr?“ „Am frühen morgen in unserer Gegend? Das glaubst du doch selbst nicht.“ Wie sie das Geschehen auch drehten, es blieb für sie ein unlösbares Rätsel.
In dem Theaterstück handelte es sich um einen gegenwärtigen „Hans im Glück“, der in seiner Naivität oder Genialität, was zur Debatte stand, sich eine scheinbar glückliche Welt verschaffte. Horst und Helga diskutierten im Auto auf dem Weg nach Hause darüber. Sie konnten nicht auf einen Nenner kommen. Als sie glaubten, eine logische Antwort gefunden zu haben, sprach jedes Mal ein anderes Argument überzeugend dagegen. In Einem waren sie sich aber einig – man sollte mehr Vertrauen in die Menschheit setzen …
Nach der Rückkehr erlebten sie, versetzt in Ohnmacht, die schockierende Ernüchterung – ihr Haus stand völlig ausgeraubt da.
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2010
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