Tanja
1. Abschied
Heute begann für Tanja ein neues Leben. Sie konnte ihre Gefühle nicht richtig definieren. Einerseits war es ein kribbelndes Gefühl der Freiheit, der abenteuerlichen Lust auf Neues, der Selbstachtung für den gewagten Schritt ins Unbekannte, andererseits war es ein unbe-schreiblicher drückender Schmerz des Verlustes und der Trennung, der ihr fast den Atem raubte. Sie ging durch das Haus ihrer Eltern, fasste jede Türklinke an, als ob sie die Hände ihrer Freunde zum Abschied drückte. Vierunddreißig Jahre war sie hier zu Hause gewesen, kannte jeden Winkel und jedes Quietschen der Türen und Bodenlatten.
Sie stand mitten in dem Zimmer, das lange Jahre ihres gewesen war. Es sah hier noch alles so aus wie immer, so, wie sie es sich selbst einmal eingerichtet hatte, sogar die kleine Orgel aus ihrer Kindheit stand noch da. Die überladenen Bücherregale mit ihren Lieblingsromanen und Fachbüchern hingen an einigen Stellen mitten durch. Der Kleiderschrank war noch voller Kleidung, die sie nicht mitnehmen konnte. Sie packte nur einen Koffer mit Sachen für sich und eine Reisetasche für ihr vierjähriges Mäxchen, mehr durfte sie nicht mitnehmen. Das Bett machte sie heute das letzte Mal ganz liebevoll und ordentlich auf Mamas Art. Die stramm gezogene Tagesdecke und die aufeinander gesetzten Kissen mit einem gestärkten Tüllüberwurf sahen ganz festlich aus. Mit dieser kleinen Geste wollte Tanja heute ein Zeichen ihrer Tochterliebe setzen. Ihr Blick wanderte zu dem Schreibtisch rüber. Neben akkurat gestapelten dicken Heften mit Konzepten und Plänen für den Unterricht stand eine orangefarbene Vase, die sie von ihren Schülern zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Nebenan das Glas mit Stiften und Malpinseln und unter einem dicken Glas auf der Tischoberfläche der Stundenplan und der Kalender.
Tanja blieb vor dem großen Spiegel in der Ecke stehen. Aus der Tiefe des Spiegels schaute sie eine junge, elegant gekleidete Frau mit großen, traurigen Augen an. Die helle, figurbetonende Jacke mit Stickereien an den Ärmeln aus eigener Kreation, ein enger Rock und hochhackige, braune Stiefel aus Wildleder unterstrichen ihre schlanke Figur. Die Eleganz dieser Gestalt vollendeten ein kleines Käppchen aus dem gleichen Stoff wie ihr Rock, ein langer, heller Schal mit Fransen und eine kleine Handtasche, die sie über die Schulter an einem langen Riemen trug. Die Handschuhe aus weichem Leder hielt sie zusammengedrückt in einer Hand. So stand sie eine Weile da, betrachtete ihr Abbild in der gewohnten Umgebung und wünschte sich, dies alles nie zu vergessen.
3. Die Politstunde
Tatjana Nikolajewna hätte nie gedacht, dass sich die nationalen Konflikte in der Sowjetunion so dramatisch verschärfen würden. Die einzelnen Republiken spielten mit dem Gedanken, sich unabhängig zu machen. Auch wenn die Verfassung diese Freiheit zuließ, stellte die Regierung Schranken auf, und die ersten Aufstände wurden schon im Keim erstickt. Die verhassten Politstunden in den Betrieben nahmen eine gefährliche Wendung: Die früheren „Schlafstunden“ wurden plötzlich zu heißen Diskussionen mit gegenseitigen Beleidigungen. Lange Zeit dachte Tatjana Nikolajewna, dass ihr Leben in Kasachstan sogar glücklicher wäre als sonst wo in der Sowjetunion, weil hier so viele Völkergruppen vertreten waren, sodass man von einem Schmelztiegel der Nationen sprechen konnte. Ihr Städtchen war ein Exilort. Hierher wurden zum Beginn des Zweiten Weltkrieges alle möglichen Minderheits-gruppen, die aus Stalins Sicht eine Gefahr darstellten, verschleppt. In dieser Umgebung war das Leben der Deutschen aus der früheren Autonomie an der Wolga leichter als sonst wo in Russland. Aber in der neuen Zeit wurde Tanja klar, es würde nichts mehr so sein wie bisher.
Für eine der Politstunden wurde Tatjana Nikolajewna beauftragt, einen Bericht über die Freiheitsbewegungen in den baltischen Republiken vorzubereiten.
„Warum geben Sie den Auftrag ausgerechnet mir?“, wollte sie von der Parteiorganisatorin wissen. „Ich als Deutsche bin doch nur der Auslöser für weitere Aufregungen.“
Die überzeugte Parteiaktivistin ließ sich aber von ihrem Standpunkt nicht abbringen und duldete keinen Widerspruch.
„Sie sind genauso wie alle anderen ein Mitglied unseres Kollektivs, und ich werde aus welchem Grund auch immer keine Ausnahme für Sie machen.“
Es war nichts zu machen. Tatjana Nikolajewna, wie schwer ihr es auch fiel, sammelte aus den verschiedenen Zeitungen das Neueste über die baltischen Republiken, von den Berichten über die Wolgadeutschen distanzierte sie sich aber absichtlich. Sie wollte nicht provozierend wirken, konnte dieses Thema aber nicht mehr umgehen. Tanja war schon immer eine gute Rednerin gewesen, was auch zu ihrem Beruf gehörte, zu diesem Thema aber wollte sie sich nicht äußern, da es für sie fast eine persönliche Frage war. „Falls ich heute Abend meine Emotionen nicht unter Kontrolle bekomme, wird eine Bombe platzen“, dachte Tanja.
Es kam, wie sie es geahnt hatte. Nach ihrer kurzen und trockenen Berichterstattung über das Baltikum wollte sie auch schon zu ihrem Platz zurückgehen, wurde aber mit einer Frage aufgehalten. „Spielen Sie vielleicht auch mit dem Gedanken, nach Deutschland zu flüchten?“
Tatjana Nikolajewna überlegte, was sie sagen sollte. Sie wusste nicht, warum dieser Gedanke ihr fremd sein sollte, wollte jetzt aber nicht darüber diskutieren, da das zu einem längeren Gespräch führen würde. Die Frage stellte ausgerechnet dieselbe Parteiaktivistin, die ihr den Auftrag gegeben hatte. Also war das ein überlegter Schritt gewesen, um Tanja zu provozieren.
„Was wäre daran so falsch, wenn ich umziehen würde? Meine Zugehörigkeit zu dem deutschen Volk können Sie doch nicht abstreiten. Hätte man den Deutschen die Autonomie an der Wolga zurückgegeben, käme keiner auf den Gedanken, ins Ausland zu gehen. Aber in den Nachrichten aus Russland steht ja der plakative Entschluss fest: Lieber AIDS als Deutsche.“
„Von welcher Autonomie träumen Sie?“, rief eine zornige Stimme aus der Reihe. „Ihr seid schon immer Kolonisten auf unserer Erde gewesen. Die Deutschen haben das Unheil über unsere Heimat gebracht, und wir sollen ihnen dafür noch eine Autonomierepublik schenken?! Das hättet ihr wohl gerne, was?“
„Wenn es so ist, solltet ihr doch froh sein, dass die Deutschen wegziehen, damit wären alle Probleme gelöst. Keiner würde mehr Ansprüche auf Autonomie stellen, ihr hättet euer Land für euch, und die Deutschen wären wieder dort, wo sie hingehören, in ihrer historischen Heimat. Wo liegt das Problem? Warum legt ihr den Leuten, die wegziehen wollen, Steine in den Weg?“
„Ihr seid hier geboren, durftet hier studieren, und als Dank dafür verratet ihr bei erster Gelegenheit eure Heimat. Bei den heutigen wirtschaftlichen Schwierig-keiten im Land seid ihr die Ratten, die das sinkende Schiff verlassen.“
Eine andere Stimme aus der Menge meinte:
„Was wollt ihr schon in Deutschland anfangen? Das Land ist doch nicht aus Gummi, dass es euch alle aufnehmen kann. Oder glaubt ihr, dort willkommen zu sein? Wer braucht euch schon?“
Zuerst meldeten sich nur die Russen zu Wort, aber plötzlich äußerte sich eine parteitreue Griechin – wie gesagt, Tanjas Kollegen vertraten verschiedene Völkergruppen.
„Ihr sucht doch nur ein besseres Leben dort. Ich persönlich werde nie nach Griechenland gehen, um mir einen wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen. Die Heimat ist dort, wo man geboren ist, und die verlässt man nie. Das ist wie eine Ehe – zusammenhalten in guten wie in schlechten Zeiten.“
Kaum war sie fertig, erhob sich eine männliche Stimme. Diesmal war es ein Deutscher. Er zeigte sich als patriotischer Bürger der Sowjetunion und opponierte gegen Tatjana Nikolajewna:
„Ich bin auch Deutscher, aber was soll ich in einem Land, dessen Sprache ich nicht mächtig bin?“
„Da können Sie aber wirklich nur von sich selbst sprechen. Sogar für Sie hätte ich einen Trost: Was nicht ist, kann ja noch werden“, meinte Tanja. „Und jetzt meine Antwort auf alle bisher gestellten Fragen. Ich glaube schon, dass es ein befriedigendes Gefühl ist, eine Heimat zu haben, aber dieses Gefühl kommt erst dann, wenn man gleich wie alle anderen behandelt wird und nicht wie ein Stiefkind. Heimat ist nicht dort, wo man geboren wurde, sondern dort, wo man sich zu Hause fühlt. Ich möchte, wie jeder Mensch auf der Erde, die Zugehörigkeit zu meinem eigenen Volk genießen können, die Kultur und die Sprache meines Volkes kennen und bewahren. Wir leben hier alle zusammen in Kasachstan, aber die kasachische Sprache beherrscht hier fast keiner. Aus allen Medienquellen der Sowjetunion wird verkündet, der große Bruder Russland sei mit seiner Sprache das Vorbild. Majakowskij zufolge sollte man die russische Sprache schon alleine deswegen lernen, weil es Lenins Sprache war. Dieser Spruch ist doch fast in jedem Klassenzimmer zu lesen. In Kasachstan wurden kasachische Schulen schon längst zur Ausnahme, und viele kasachische Kinder beherrschen ihre Muttersprache nicht mehr. Muss man sich da wundern, dass die Republiken ihre Unabhängigkeit zurückfordern? Kann man den einzelnen Nationen ihren Protest gegen die russische Arroganz noch verübeln? Wenn schon Leute, die ihre eigene Republik haben, sich diskriminiert fühlen, wie, glauben Sie, geht es der Minderheit, die noch nicht einmal statistisch aufgeführt wird? Den Deutschen wird es immer noch zur Last gelegt, den Zweiten Weltkrieg angefangen zu haben, obwohl sie hier geboren wurden. Die unbegründeten Vorurteile gegen diese sowjetischen Bürger sind für euch so selbstverständlich, dass ihr euch nie darüber Gedanken macht. Und jetzt, wo für sie endlich die Möglichkeit besteht, weggehen zu können, um sich von diesen Vorurteilen freizumachen, sind sie plötzlich die Verräter? Ich komme zurück zu der Frage, die mir als erste gestellt wurde, nämlich ob ich mit dem Gedanken spiele auch wegzuziehen. Ja, ich spiele mit diesem Gedanken, konnte aber bis jetzt keinen Entschluss fassen. Diese Politstunde hat mir allerdings endgültig die Augen geöffnet. Ich hätte nicht im Traum gedacht, dass meine Kollegen, die ich für gebildet und intelligent hielt, mir heute so einen ungebremsten offenen Hass ins Gesicht sprühen würden. Es ist wie nach einem durchbrochenen Furunkel – ich verspüre eine Erleichterung, meine letzten Zweifel sind damit weg.“
Was Tatjana Nikolajewna damals nicht wissen konnte, ausnahmslos alle, die sie in dieser Politstunde so fertiggemacht hatten, zogen innerhalb von drei Jahren von hier weg. Die Russen zogen nach Russland, die Griechin nach Griechenland und der „sprachlose“ Deutsche nach Deutschland.
6. Sonja
...Sonjas Onkel Alexej hatte sie gleich nach dem Schulabschluss vom Ural nach Kasachstan geholt. Nach dem Wiedersehen mit seiner Schwester nach zehn Jahren erkannte er die katastrophale Lage ihrer zwei unehelichen Kinder. Die Väter waren ihnen unbekannt geblieben, und durch Mutters schwere Alkoholprobleme wurden sie sich selbst überlassen. Der kleine Sascha war erst fünf Jahre alt, Sonja siebzehn und gerade mit der Schule fertig. Als Onkel Alexej ihre ausgezeichneten Zeugnisse sah, konnte er es kaum glauben und entschloss sich spontan, die schöne Nichte zu sich zu holen. Sie sollte studieren. So kam Sonja in das gastfreundliche Haus ihres Onkels, der noch drei eigene Kinder hatte. Seine gütige Frau Jefrosinja akzeptierte alle Entscheidungen ihres Mannes, und so wurde Sonja von vornherein als gleichberechtigtes Mitglied der Familie aufgenommen.
Das zierliche junge Mädchen kämmte ihr schönes dunkles Haar der Mode nach glatt von der Stirn zum Hinterkopf, wo sie es zu einem Pferdeschwanz zusammenhielt. Ihr offenes, etwas blasses Gesicht mit den niedlichen kleinen Sommersprossen auf dem Nasenbein wirkte durch die markanten dunkelblauen Augen mit dem herausfordernden, direkten Blick besonders ausdrucksvoll. Sie ging auf eine beneidenswert ungenierte Art auf die Menschen zu. Bei der Aufnahmeprüfung im pädagogischen Institut lernten Tanja und Sonja sich kennen und blieben unzertrennlich bis zum Abschluss.
Sonja besaß schon damals eine ungebremste Schwäche für Männer, was sie wohl von ihrer Mutter geerbt hatte. Ihr Onkel ahnte diese Neigung seiner Nichte und kontrollierte sie auf Schritt und Tritt, weil er ihr das elendige Leben ihrer Mutter ersparen wollte. Seine Moralvorstellungen waren altmodisch und nicht ohne Grund streng. Er sah das Schicksal seiner Schwester vor Augen: Sie hatte die Schule schon nach der achten Klasse abgebrochen, hatte sich von einer unglücklichen Beziehung in die andere gestürzt, war in Verruf geraten und kam mit ihrem Leben nicht mehr zurecht. Die gelegentlichen Jobs konnte sie wegen ihrer Alkoholabhängigkeit nicht halten und lebte so an der Armutsgrenze. Sonjas Mutter entwickelte ein Trinkritual. Nach der geleerten Flasche Wodka saß sie in den langen Winterabenden am Tisch und sang. Sie hatte ein musikalisches Gehör und eine kräftige Stimme. Die von ihr gesungenen Volksballaden erzählten von Einsamkeit und unerwiderter Liebe. Die kleine Sonja konnte Mamas Lieder bald auswendig und sang sie immer mit. Dem begabten Mädchen gelang es intuitiv, die zweite Stimme zu singen. Sie passte sich dem Gesang ihrer Mutter an, sodass sich diese Darbietung schon bald wie bei einem eingespielten Duo anhörte.
Diese Stunden wurden für die beiden die glücklichsten in ihrer Mutter-Tochter-Beziehung. Die Mutter weinte sich in den Liedern die Seele aus, und die Kleine ahmte es ihr nach, indem sie theatralisch einen dramatischen Gesichtsausdruck aufsetzte und die langen Laute des Liedes vibrieren ließ, was dem Gesang den typischen Volkscharakter verlieh.
Sonja vermittelte Tanja ihre Liebe zur Volksmusik. Sie musste beim Singen unbedingt eine zweite Stimme haben, wie sie es gelernt hatte. Onkel Alexej war ihr treuester Zuhörer.
Tanja war ein gern gesehener Gast im Hause von Onkel Alexej. Er mochte die Freundin seiner Nichte und schmiedete heimlich Zukunftspläne für sie und seinen gleichaltrigen Sohn Wasilij. Sonja nutzte die Sympathie ihres Onkels für Tanja aus. Sie wollte oft bei Tanja übernachten, unter dem Vorwand, einen Bericht vorbereiten zu müssen oder was auch immer. So verschaffte sie sich freien Ausgang und traf sich ungestört mit Jungs.
Tanja erinnerte sich noch an den Tag, als Sonja sie früh morgens im Studentenheim aus dem Bett holte. Sie stand plötzlich ganz aufgelöst und zitternd vor der Tür und schwieg. Ihre fieberhaft glitzernden Augen hatten den seltsamen Ausdruck eines gefangenen Tierchens. In diesem Moment wusste Tanja, dass ihrer Freundin etwas Schlimmes widerfahren war. Sie bat Sonja herein, half ihr aus dem Mantel und griff nach ihrer Hand.
„Du fühlst dich ja wie ein Eisbrocken an, komm ins Bett.“
Sie nahm ihre noch warme Decke und wickelte Sonja bis zum Kinn ein.
„Wo kommst du her?“ Vergeblich wartete sie auf eine Antwort. Sonja schloss die Augen und schwieg. Es war offensichtlich, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte.
Langsam erwachte ein grauer Wintertag. Es war Sonntag. Die meisten Bewohner des Studentenheimes waren schon am Tag davor nach Hause gefahren, und die, die übers Wochenende hierblieben, schliefen noch. Darum herrschte im Haus eine gemütliche Stille. Tanja setzte sich am Fuße des Bettes nieder und sagte sanft: „Schlaf ein wenig, ich mache uns Frühstück.“
Sie stellte den Teekessel auf eine kleine Herdplatte und holte die Reste von Vorräten aus dem Schrank – das war noch ein Stück Rinderwurst, Brot und Marmelade. Ihre Mitbewohnerin Ludmila würde heute Abend bestimmt einige Lebensmittel aus ihrem Heimatdorf mitbringen. Als Tanja den frisch gebrühten Tee in die Tassen goss, kam Sonja an den Tisch. Sie saß, immer noch in die Decke gewickelt, am Frühstückstisch, rührte aber nichts an.
Tanja kannte ihre Freundin zu gut, sie hatten keine Geheimnisse vor einander. Sie musste ihr jetzt nur Zeit geben und durfte keine Fragen stellen.
„Ich war heute Nacht bei Anatolij“, gab Sonja plötzlich von sich. „Wie? Er wohnt doch mit Sergej zusammen. War er diese Nacht nicht zu Hause?“
„Doch, das ist es ja. Ich glaube, er hat alles mitbekommen. Es ist mir so peinlich.“ Tanja schaute ihre Freundin ungeduldig an.
„Was ist dir peinlich? Was hat er mitbekommen?“
Sonja ärgerte diese Frage dermaßen, dass sie vom Stuhl aufsprang. „Wie kannst du nur so blöde Fragen stellen?“
Tanja schwieg. Sie wirkte ein wenig überrascht, verwirrt und neugierig zugleich.
„Schau mich nicht so vorwurfsvoll an. Ja, ich habe mit ihm geschlafen!“, schrie Sonja gereizt und sackte plötzlich weinend zusammen. „Wie konnte das passieren?“, fuhr sie weinend fort. „Ich dachte doch, wir würden nur ein wenig kuscheln, draußen war es doch so kalt. Bei Onkel Alexej konnte ich mitten in der Nacht nicht aufkreuzen, und bei euch im Studentenheim kommt man nach 23 Uhr auch nicht rein, das weißt du doch besser als ich.“
„Hat er dir Gewalt angetan?“, fragte Tanja vorsichtig.
„Nein, nicht direkt … ach, ich weiß auch nicht. Ich hätte, wie geplant, nach dem Kino gleich zu dir gehen sollen.“
Aus Sonjas kurzen Sätzen konnte Tanja den gestrigen Abend und die vergangene Nacht wie in einem Film vor Augen sehen.
„Wir saßen gemütlich auf der Bank an der Bushaltestelle vor dem Kino. Dort, hinter den Glasscheiben, waren wir vorm Wind geschützt und küssten uns. Er hatte mich schon im Kino die ganze Zeit geküsst. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was dort lief. Als der Bus kam, wollte ich einsteigen, Anatolij hielt aber meine Hand fest und flehte mich an: ‚Geh noch nicht, nimm den nächsten.’ Ich blieb bei ihm. Wir wussten noch nicht einmal, wie spät es war, kuschelten noch lange in der geschützten Ecke der Bushaltestelle, bis uns klar wurde, dass heute kein Bus mehr kommt. Mir war kalt, ich zitterte am ganzen Körper. Die einzige Möglichkeit, ins Warme zu kommen, war seine WG. Dahin gingen wir auch. Anatolij schloss leise die Tür auf. Um Sergej nicht zu wecken, zogen wir unsere Schuhe schon vor der Tür aus und gingen auf Zehenspitzen zu Anatolijs Bett. ‚Du brauchst keine Angst zu haben, Sergej schläft wie ein Stein’, flüsterte er und zog mir vorsichtig den Mantel aus. Wir schafften es in voller Dunkelheit, und soweit es ging, geräuschlos ins Bett zu kommen. In der Enge des Einzelbettes wurde es mir plötzlich so gemütlich warm, dass ich auch bald einschlief. Irgendwann bin ich wach geworden, mein Freund glühte, seine Hände waren gleichzeitig überall an meinem Körper. Ich konnte noch nicht mal was sagen, seine Zunge drängte sich tief in meinen Mund hinein. Zitternd massierte er meine Brüste. Seine Hand zog ungeduldig an meiner Unterhose. Als sie halbwegs hängen blieb, zog er sie mit dem Fuß runter. Mit einem Ruck war er über mir, schob meine Beine auseinander und … ich schrie plötzlich vor Schmerzen auf. Er hielte mir reflexartig den Mund zu und stieß wieder und wieder in mich hinein. Erst als er fertig war, nahm er seine Hand von meinem Mund. Immer noch schwer atmend flüsterte er: ‚Entschuldige, bitte, ich hatte Angst, du würdest Sergej wecken.’ Ich weinte, richtete mich im Bett auf und fühlte unter mir eine Pfütze. Im ersten schwachen Morgenlicht sah ich entsetzt das blutverschmierte Betttuch … Mir tat alles weh …“
„Hat er dich hierher gebracht?“, wollte Tanja wissen.
„Nein. Als er wieder eingeschlafen war, bin ich unbemerkt raus. Die ersten Busse fahren schon um sechs.“
„Wie unbemerkt? Hat er geschlafen, obwohl du weintest?“
„Er meinte, es wäre beim ersten Mal ganz normal, schob uns ein Badetuch unter und meinte, ich solle mich beruhigen und ein wenig schlafen, er wird schon alles regeln.“
Sonja saß eine Weile ganz stumm da und starrte mitten in den Raum, ohne was zu sehen. Ihr Blick und ihre ganze Haltung zeichneten ein trauriges Bild von Reue und Verzweiflung.
„Was soll ich nur machen? Onkel Alexej wird mich umbringen, wenn er das erfährt.“
Tanja umarmte ihre Freundin, wünschte sich, ihr helfen zu können, wusste aber nicht wie. Sie konnte nicht aus Erfahrung reden, alles, was ihr zu dieser Situation einfiel, waren Ausschnitte aus unzähligen Romanen, die jetzt nutzlos waren.
„Kannst du mir eine Schüssel warmes Wasser besorgen?“, fragte Sonja leise.
In Tanjas Studentenheim gab es noch nicht mal eine Dusche geschweige denn warmes Wasser. Sie holte aus einem Waschraum, der sich am anderen Ende eines unendlich langen Flurs befand, einen Eimer Wasser und stellte ihn auf die kleine elektrische Platte zum Aufheizen. Sonja nahm eine große Waschschüssel und verschwand lange hinter dem Paravent. Von dort hörte man nur das Wasser planschen und ein leises Schluchzen. Nach dem Waschen brachte Tanja ihre Freundin ins Bett. Heute war Sonntag. Ludmila war übers Wochenende zu ihren Eltern gefahren, und Sonja konnte daher hierbleiben, was sie gestern auch geplant hatte.
Tanja war für Sonja in den vier Studienjahren zur besten Freundin geworden. Ihr gab sie jedes Geheimnis preis, trug gerne ihre Schuhe und Kleider, weil sie gleich groß waren, und ging in den Ferien mit zu Tanjas Eltern.
„Liebst du ihn?“, fragte Tanja.
Sonja zögerte mit der Antwort. Nach einer Pause sagte sie endlich: „Bis heute Nacht hatte ich es geglaubt.“
Nach diesem Vorfall nahm Sonjas Leben eine Wendung. Sie war nicht mehr so aufgeschlossen wie früher, traf sich noch ein paar Mal mit ihrem Freund, dann hörte man lange Zeit nichts mehr von dieser Beziehung. Sonja kam nicht mehr zum Übernachten, hatte immer neue Freunde und gab sich nach außen ganz zufrieden. Sie ließ sich von niemandem etwas sagen und verärgerte ihren Onkel dermaßen, dass er eines Tages ausrastete und sie sogar ohrfeigte, nachdem er sie zufällig mit einem neuen Freund knutschend hinter seinem Haus erwischte. Der Abschluss im Institut stand kurz bevor. Von da an redeten Onkel und Nichte fast nicht mehr miteinander und warteten nur auf die kommende Trennung. Sonjas Referendariat sollte in einem abgelegenen Dorf stattfinden. Kurz vor der Abreise trafen sich Tanja und Sonja noch ein letztes Mal bei der Abschlussfeier. Tanja wollte wissen, ob sie noch Kontakt zu Anatolij hatte.
„Was geht es dich schon an?“, kam die zornige Antwort. „Du hast es gut, du brauchst dir doch keine Sorgen zu machen, mal schwanger zu werden.“
Tanja schluckte. Es war jedem in der Gruppe bekannt, dass sie keine Kinder bekommen konnte. Sie war verletzt, wollte es aber nicht zeigen. Das hatte noch gefehlt, dass sie im Streit auseinandergingen. Darum beherrschte sie sich und fragte nur: „War das der Grund, warum ihr euch getrennt habt?“
„Er muss noch ein Jahr studieren. Seiner Meinung nach soll die Trennung eine Probezeit für uns sein. Es hat ihm noch nicht mal leidgetan um unser Kind. Er hat mich quasi gezwungen abzutreiben.“
Tanja öffnete erschrocken ihre Augen.
„Ist das wahr? Warum hast du mir nichts davon erzählt?“
„Damit du mir vor Augen hältst, wie schlecht ich doch bin?“
Ein Jahr war seit ihrem letzten Gespräch vergangen. Tanja arbeitete in ihrer Heimatstadt und Sonja achtzig Kilometer entfernt in einer Dorfschule. Eines Tages stand überraschend Anatolij vor Tanjas Tür. Er suchte durch Umwege und Nachfragen bei ehemaligen Studenten nach Sonja. Tanja sollte ihm auf der Suche nach ihrer Freundin weiterhelfen.
Anatolij war jetzt frischgebackener Ingenieur, sah gut aus, war groß, gut gebaut und fiel durch sein sicheres und selbstbewusstes Auftreten auf. Er hatte rote Haare, aber im Vergleich zu vielen anderen Rothaarigen hatte er keine Sommersprossen. Auf Tanja wirkte er, angesichts der ihr bekannten Vergangenheitsgeschichten mit ihrer Freundin, eher arrogant als selbstbewusst. Sie wollte aus seinem Benehmen keine voreiligen Schlüsse ziehen und führte ihn zu Sonja. Als sie dort ankamen, war Sonja nicht zu Hause. Eine neugierige Nachbarin schaute aus dem oberen Fenster des zweistöckigen Gebäudes und rief einem spielenden Mädchen auf der Straße zu:
„Anüta, hol mal Sonja zurück, sie ist mit Konstantin zum Kino unterwegs. Sag ihr, dass sie Besuch hat.“
Prima, auch das noch, dachte Tanja. Sie schaute Anatolij verstohlen an. Auf seinem erstarrten Gesicht zuckte kein Muskel, aber die Haltung verriet seine Anspannung. Er ging zu einer Bank unter einem riesigen Ahorn vor dem Haus und nahm dort eine auffallend lässige Pose ein. Er schlug die Beine übereinander und streckte beide Arme die Banklehne entlang. Als Tanja sich neben ihn setzte, sah es so aus, als würde er sie umarmen. Er trommelte mit den Fingern auf der Holzlehne der Bank und versuchte, seine Nervosität in Griff zu bekommen. Die neugierige Nachbarin war schon unten. Sie wollte unbedingt wissen, wer sie waren und woher sie kamen. Anatolij blickte sie nur verächtlich an und schwieg. Tanja sagte, dass sie Studienfreunde von Sonja waren.
„Ach, das ist ja schön, dass Sie mal vorbeikommen. Wir haben hier so selten Besuch aus der Stadt. Kommt doch herein, ihr könnt auch bei mir auf Sonja warten“, fuhr sie ungestört von Anatolijs Schweigen fort, als ob sie ihre eigene Gäste wären. Während dieser Unterhaltung kam auch Sonja, aber ohne Begleitung.
„Was verschlägt euch denn hierher?“, sagte sie und ging zur Begrüßung auf ihre Freundin zu. Sie umarmten sich. Sonja reichte Anatolij die Hand, er reichte ihr schweigend seine, blieb dabei aber sitzen.
„Wir müssen reden“, sagte er nach einer Pause und stand auf. Tanja schaute die Nachbarin an und meinte:
„Wir können uns ja solange hier unterhalten, wenn Sie nichts dagegen haben.“
„Wir haben uns ein ganzes Jahr nicht gesehen, willst du nicht reinkommen?“, fragte Sonja.
„Ihr könnt euch ein anderes Mal unterhalten, ich habe nicht viel Zeit und möchte mit dir unter vier Augen sprechen“, unterbrach Anatolij Sonja. Tanja zuckte nur mit den Schultern und blieb mit der Nachbarin auf der Bank sitzen. Nachdem die Tür hinter den beiden zufiel, drehte sich die Nachbarin zu Tanja um und fragte besorgt:
„Was soll das denn werden? Wir alle dachten, es gibt bald eine Hochzeit im Dorf. Was wird denn Konstantin von all dem hier halten? Ach!“ Sie hielte plötzlich erschrocken ihre Hand vor den Mund. „Er ist ja gar nicht mitgekommen. Heißt das, sie haben sich wegen des Besuches zerstritten?“ Darja, so hieß die Nachbarin, musste man nichts fragen. Sie redete noch lange ununterbrochen über Sonja und Konstantin, darüber, dass sie wohl bald ein Kind bekommen würden und es doch an der Zeit wäre, dass sie bald heiraten, sonst würde es schon bald zu sehen sein. Tanja wusste nicht, was sie von all dem halten sollte. Sie kannte Konstantin nicht, aber alles, was sich heute hier abspielte, versprach ein ziemlich heftiges Gewitter.
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Texte: Alle Rechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 16.02.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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Roman "Tanja",
erschienen 11-2010,1.Auflage Verlaghaus Schlosser.
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