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Vorahnung oder Zufall?




Das globale Wissen in allen Bereichen des Lebens verbreitet sich heute so schnell, dass man gar nicht nachkommt. Es wird Unsichtbares sichtbar gemacht, egal ob Makro oder Mikrokosmos. Es werden unhörbare Töne und Frequenzen, die vorher nur einige Spezies aus der Tierwelt, wie Fledermäuse oder Delfine wahrnahmen, für unser Ohr verstärkt und vermessen. Unsere sensiblen Geräte nehmen sogar die Geräusche des Uhrknalls noch war. Die Protonen Geschwindigkeit, die schneller, als die Zeit ist, wurde gemessen und beschäftigt uns mit dem Traum von der Zeitmaschine. Wir können sogar die Aura von Menschen vermessen und sichtbar darstellen. Das Wissen ist ein Universum für sich, das sich unendlich verbreitet und ausdehnt. Solange die Neugierde die Menschheit vorantreibt, werden auch Antworten gefunden, alles ist nur eine Frage der Zeit.
Welche Phänomene beschäftigen uns heute? Das Unerklärliche in unserem Leben ist sogar in Begriffen gefasst: Wir reden von Telepathie und parallelen Welten, von anderen Dimensionen und schwarzen Löchern, von Leben im Jenseits und unbewussten Wahrnehmungen in unseren Träumen. Verläuft unser Leben nach einem bestimmten Plan und können wir vorahnen, was auf uns zukommt? Das sind alles Fragen, die mich genauso, wie viele Andere beschäftigen. Ich möchte aber heute nur über meine persönlichen Erlebnisse berichten, auf die ich keine Antwort habe.
Mein jüngerer Bruder Andreas machte seinen zweijährigen Militärdienst in weitem Aserbaidschan. Wir alle in der Familie freuten uns natürlich über jede Nachricht von ihm. Eines Tages bekam ich Besuch von meiner Mutter. Wir tranken Tee und redeten über belangloses Zeug, über das und jenes. Als sie gehen wollte, fiel mir plötzlich ein, dass ich von Andreas nachts träumte. In meinem Traum erhielten wir einen Brief von ihm. Er war so groß, dass er nicht in den Briefkasten rein passte. „Na, das wäre doch schön“, meinte meine Mutter. Das Erste, was sie zu Hause erwartete – war ein riesiger Briefumschlag, der in der Mitte gefaltet aus dem Briefkasten herausragte. Er war von Andreas Vorgesetztem und erhielte eine Urkunde mit Danksagung an die Eltern für die vornehme Erziehung ihres Sohnes.
Woher konnte ich von diesem Brief wissen?
Ein anderes Mal war es kein Traum.
Zur Prüfung in Geschichte stand ich mit anderen Abiturienten vor der Tür des pädagogischen Institutes. Jeder war vor der Prüfung ein wenig nervös und versuchte auf eigene Art, mit der Situation zurechtzukommen. Ich atmete tief durch, nahm mein Geschichtebuch in die Hand und sagte zu meiner Freundin: “Jetzt schlage ich willkürlich eine Seite auf, lese das erste Kapitel, was vorkommt, und gehe rein.“ Das aufgeschlagene Kapitel berichtete über die Kulikowskaja Schlacht. Ich las es durch und ging rein. Auf dem Tisch, mit der Rückseite nach oben, lagen Fragezettel. Ich zog ein, drehte ihn um und konnte es kaum glauben: Ich sollte von der Kulikowskaja Schlacht berichten. Mir standen noch die Zeilen vor Augen. Ich konnte praktisch die Seite ablesen, ohne etwas auszulassen. Darum erklärte ich mich bereit, ohne Vorbereitung zu antworten. Ich konnte sogar die Aussagen von Historiker auswendig vortragen. Der Prüfer hörte mich neugierig an und stellte mir eine zusätzliche Frage über die Rolle von Interventen und Weißgarde im Bürgerkrieg Russlands in den 20-er Jahren. Erst vor einer Woche musste ich dieselbe Frage in meiner Abschlussprüfung beantworten. Jetzt war es für mich natürlich unproblematisch, es zu wiederholen. Meine Antworten überzeugten den Prüfer.
Was für ein Zufall!
Die nächste Geschichte befasst sich wieder mit Träumen.
Als junge engagierte Lehrerin kam ich in eine neue Schule. Mir wurde ein sanierbedürftiges Klassenzimmer zugeteilt. Unter dem abgefallenen Putz an den Wänden schauten Backsteine heraus, von den Fensterrahmen schälte sich die Farbe ab und die Tischoberflächen waren so vollgekritzelt, dass man die eigene Farbe fast nicht mehr erkennen konnte. In diesem Zimmer sollte ich meine berufliche Karriere starten. Damals war es üblich, dass man die Klassenzimmer selbst renovieren musste. Weil ich noch keine Klasse hatte, hatte ich auch niemanden, der mir ein wenig Arbeit abnehmen konnte. Aus Verzweiflung ging ich zu meinen Eltern. Sie und mein Bruder krempelten die Ärmel hoch. Wir spachtelten die Löcher zu, strichen frisch die Wände, Fensterrahmen, Tischflächen und den Fußboden. Das alles war mir aber noch zu wenig. Ich wollte ein fachgerecht eingerichtetes Klassenzimmer haben, wo das Unterrichten auch Spaß macht. Wir bauten Regale und Schaufenster für die besten Aufsätze, Wandzeitung und Informationen auf. Eine Kinokamera am hinteren Ende des Raumes steuerte ich vom Tisch aus mit einer Fernbedienung. Die Fenster bekamen ferngesteuerte schwere Vorhänge. Die Räume zwischen den Fenstern verzierten rankende Blumen. Im Wandschrank ging, genauso fern bedingt, der Plattenspieler an und die Leinwand über der Tafel rollte sich aus einem Gehäuse runter. Aus zwei hübschen Glastürchen, die von einem entsorgten Wohnzimmerschrank zurückblieben, bastelte mein Vater einen Bücherschrank. Sogar meine Wanduhr brachte ich von Zuhause mit.
Für dieses „Werk“ opferte ich meinen ganzen Urlaub. Das, so entstandene, gemütliche Klassenzimmer schenkte uns Zufriedenheit und lud zum Unterricht ein. Zu damaliger Zeit war so ein Zimmer etwas zum Vorzeigen, was die Schulverwaltung auch gerne machte. Nach kurzer Zeit folgte meinem Beispiel eine andere Schulkollegin, Anna Petrowna, und richtete sich ein ähnliches Klassenzimmer ein. Die beiden Räume waren mit technischen Hilfsmitteln ausgerüstet und wurden zur Besichtigungsattraktion.
Eines Tages kam ich zur Schule und traf, wie gewöhnlich, die Schulkollegin im Lehrerzimmer. Wir wechselten ein paar Wörter miteinander und ich erzähle ihr von meinem Traum heute nachts. Wir hätten gleiche Wohnungen in demselben Haus bekommen. Als ich im Traum in ihre Wohnung kam, staunte ich über deren feine Möbelausstattung. Meine Wohnung dagegen stand noch leer.
Nach der kurzen Unterhaltung beeilten wir uns zum Unterricht. Mitten in der ersten Stunde klopfte es an der Tür. Es war ein Botenjunge mit Direktors Bitte, in der Pause bei ihm vorbeizuschauen. Die gleiche Botschaft bekam auch Anna Petrowna.
„Meine lieben Damen“, fing der Direktor an „Wir haben für die Schule eine komplette Klassenzimmer-Ausstattung bekommen, leider nur eine. Ich muss mich entscheiden, wer von euch sie bekommt. Ihr habt beide einiges geleistet und habt es sicher alle beide verdient, es zu haben. Wir müssen nun jetzt zusammen und in Frieden eine Lösung finden.“ Lilija Nikolajewna war eine erfahrene ältere Lehrerin, die auch ohne das Klassenzimmer schon längst eine Vergünstigung verdient hätte. Ich entschied mich aus Respekt zu ihrem Alter und ihrer Erfahrung auch gleich für sie. Damit war jeder Streit aus dem Weg geräumt und der Direktor konnte erleichtert aufatmen. Plötzlich viel mir mein Traum ein und ich fragte: „Hätten sie mir geglaubt, wenn ich ihnen meinen Traum erst jetzt erzählt hätte?“ „Wahrscheinlich nicht“, meinte sie.
Aber woher kam diese Vorahnung? Es war doch vorher keine Rede von neuen Möbeln.
Eine ganz merkwürdige Geschichte passierte mit meinem kleinen Sohn. Er war noch ein Baby, gerade erst sechs Monate alt.
Ich, als junge Mutter, fixierte mich voll und ganz auf mein Kind, wollte alles richtig machen und übertrieb sogar manchmal mit den Vorsichtsmaßnahmen. Als Mäxchen mit sechs Monaten eine Erkältung bekam, fuhr ich mit ihm sofort ins Krankenhaus, wo ein guter Freund der Familie, Oleg, als Kinderarzt tätig war. Er untersuchte das Baby und meinte: „Kein Grund zur Aufregung. Ein geröteter Hals und mehr nichts. Das werden wir schon bald im Griff haben. Bleib mit dem Kind hier, wir beobachten es ein paar Tage.“ Ich bin geblieben und, wie der Arzt auch sagte, war mein Kleiner nach drei Tagen wieder ganz gesund und munter. Ich wollte mit ihm auch schon nach Hause gehen, aber Oleg meinte scherzhaft: „So schnell kommt man bei uns hier nicht raus, wenn du schon da bist, bleibst du auch bis zum Ende der Woche hier.“ Und wir sind geblieben. Weil Mäxchen sich von der Krankheit so gut erholte, ging ich mit ihm in den großen Aufenthaltsraum zu den anderen Müttern. Ich setzte den Kleinen auf den Schoß und blätterte in einem bunten Kinderbuch. Plötzlich kam an den Tisch eine schwarzhaarige Frau mit ihrem Kind dazu. Sie trug ein schwarzes Kleid und ein schwarzes Tuch, das nicht nur den Kopf, sondern auch noch den ganzen Oberkörper verdeckte. Sie war eine Tschetschenin und hatte wie fast alle ihre Landsleute, schwarze Augen. Ihre Kleidung war auf einen Trauerfall in der Familie zurückzuführen. Bei diesem Volk ist es üblich nach der Beerdigung vierzig Tage lang schwarz zu tragen, es muss noch nicht einmal ein Verwandter ersten Grades sein. Die Männer durften sich in dieser Zeit nicht rasieren. Hier, mitten in einem farbenfrohen Raum mit den kleinen Kindern, wirkte die Frau unheimlich. Ihr Baby war ebenfalls schwarzhaarig und schwarzäugig, wie seine Mutter, und trug ein, bis an die Augenbraue gezogenes Häubchen, lange Strampelhose und ein langärmliges Hemdchen. Sein Handgelenk schmückte eine Reihe bunter Perlen, was zum Schutz vom bösen Blick gedacht war. Mein Mäxchen war in seinem Erscheinungsbild ein totales Gegenteil zu diesem Kind. Er hatte blaue Augen, sein unbedecktes weißblondes Haar lockte sich am Nacken. Er trug nur ein kurzes Höschen und ein kurzärmliches Hemdchen. Die Tschetschenin beobachtete eine Weile mein Kind und sagte plötzlich: „Du sollst dein Baby auch schützen.“ Am Käppchen ihres Kindes waren aus diesem Grund weitere Kügelchen angenäht. Weil ich nicht abergläubisch war, lachte ich nur darüber. Nach dieser kurzen Unterhaltung ging ich mit dem Kleinen aufs Zimmer, weil es Zeit zum Schlafen war. Knapp dort angekommen, machte der Kleine in die Windeln, aber nicht so wie sonst, sondern ganz dünn und giftig grün. So etwas sah ich bei ihm noch nicht und wurde natürlich unruhig. Ich suchte einen Arzt auf, der gerade nach seiner Schicht gehen wollte, und zeigte ihm die Windel. Der meinte nur, es wäre nichts besonderes, kommt schon mal vor. Seine Gelassenheit beruhigte mich ein wenig, aber nicht für lange. Nach kurzer Zeit machte das Baby weitere Windeln voll, genau so dünn und grün. Der Arzt war aber schon weg. Es wurde immer schlimmer. Ich verbrauchte in kurzer Zeit alle fünfundzwanzig vorhandenen Windeln. Mein armes Kind weinte nicht mehr und lag nur blass und regungslos in meinem Arm. Vergeblich suchte ich in meiner Verzweiflung Hilfe, sie konnte ich nicht finden. Die Nachtschwester meinte nur, man sollte bis Morgen warten, bis ein Arzt kommt. Die ganze Nacht wachte ich am Kinderbettchen. Als Windelersatz benutzte ich den Kissenbezug, den Lacken von meinem Bett und zuletzt auch noch mein Nachthemd. (Pampers kannte man damals nicht). Am Morgen war Mäxchen nur noch ein Schatten: Er machte noch nicht mal die Augen auf. Das Gesichtchen wurde in seinen Zügen spitz, rund um den kleinen Mund bildete sich ein grauer Schatten. Nach dem endlich ein Arzt am Morgen auftauchte, brachte man das Kind sofort auf die Intensivstation und ließ ihm eine Infusion geben, weil es durch den Durchfall fast ausgetrocknet war.
Für die Untersuchungen ist ein Konsilium von Ärzten aus verschiedenen Bereichen zusammengerufen worden. Die plötzliche gesundheitliche Veränderung des Kindes stellte jeden Arzt vor ein Rätsel. Trotz guten Blutergebnisses und einem negativen Infektionsbericht lag das Kind wie tot in seinem Bettchen. Ich konnte in diesen Tagen weder weinen noch schlafen, mich quälte ein Verdacht – Ärzte verheimlichen mir etwas, ihr Verhalten in aussichtslosen Situationen kannte ich noch aus der Zeit meiner eigenen Krankheit. Bevor die Untersuchungen nicht abgeschlossen sind, wird über Vermutungen nicht spekuliert. Nach drei Tagen war ich selbst wie ein Schatten. Das kleine Mäxchen hing am Tropf und bewegte sich nicht. Ich reichte ihm, wie von Ärzten empfohlen, alle fünf Minuten ein Teelöffel Wasser. In dieser Nacht entdeckte ich plötzlich auf dem Tisch die vergessene Patientenakte und machte mich sofort auf die Suche nach irgendeiner Information über den Zustand meines Babys … Ich ließ müde ihre Hände mit dem Bericht in den Schoß fallen. Jeder einzelne Bericht von verschiedenen Ärzten endete in der Spalte „Diagnose“ mit einem Fragezeichen. Dem Kleinen ging es nicht besser und meine Verzweiflung wuchs von Stunde zu Stunde. Niemand, wie es aussah, konnte meinem Kind helfen. Drei Nächte wachte ich schon vor dem Bettchen, gab Mäxchen immer wieder einen Teelöffel Wasser zu trinken und notierte die getrunkene Menge in ein Heft, wie es mir von den Ärzten empfohlen wurde.
Die Frauen, mit denen ich vorher auf der Station war, kamen eines Tages zu mir mit der Vermutung – das Kind sei vom bösen Blick getroffen und zwar nicht von irgendeinem, sondern von der schwarzen Tschetschenin. Ich hielte davon nichts, wunderte mich aber, wie überzeugt Andere darüber waren. Sie holten sogar die Frau wieder ins Krankenhaus (sie war ja inzwischen schon entlassen worden). Die Tschetschenin kam ins Zimmer, starrte fassungslos das kleine Mäxchen an und wusste nicht, was sie tun sollte. Plötzlich sagte sie: „Ich werde für das Kind beten“, drehte sich um und ging.
Eines Tages bekam ich einen Besuch von meinem Bruder mit seiner Frau. Die beiden waren, wie alle in der UdSSR, überzeugende Materialisten, dachte ich jedenfalls. Aber die Frauen von der Kinderstation belehrten mich des anderen. Als meine Schwägerin die Geschichte von den Frauen anhörte, meinte sie auf einmal: „In solchen Situationen muss man zu allen Mitteln greifen. Ich kenne eine ältere Frau, die sich mit Esoterik beschäftigt und schon einigen Leuten geholfen hat. Sie ist so eine Art von Extrasens. Vergiss, dass du eine Lehrerin bist, es geht jetzt um Leben und Tod deines Kindes.“ „Wie stellst du dir das vor? Soll ich mein Kind zu ihr bringen oder sie ins Krankenhaus holen?“, fragte ich. „Ich weiß es nicht, am besten – wir suchen die Frau erst auf und reden mit ihr und dann sehen wir weiter.“ Sie gingen, aber nach zwei Stunden kamen sie zurück und wollten das Milchfläschchen vom Mäxchen haben. Sie hatten es eilig, packten das Fläschchen und ließen mich in meiner Verwirrung zurück.
Nach drei schlaflosen Nächten sah ich auch krank aus. Ich hatte dunkle Ringe um die Augen und konnte fast nichts essen. Meine Fingerknöchel waren wund vom vielen Windelwaschen. Die trockenen Krusten platzen immer wieder auf und bluteten. Heute wurde mir diese Arbeit endlich abgenommen. Ein Arzt sah zufällig meine Hände und ordnete an, mir die Windeln vom Krankenhaus auszuhändigen. Die gebrauchten Sachen konnte ich in einem Korb in die Waschküche abgeben. Das war ein Service, von dem hier keiner etwas wusste.
Abends kam mein Bruder zurück. Er drückte mir das mit Wasser gefüllte Milchfläschchen in die Hand und meinte: „Mit diesem Wasser sollst du den Kleinen einreiben, ein Kreuz auf der Stirn aufzeichnen und den Rest ihm zu trinken geben.“ Meine aussichtslose Lage zwang mich, trotz meiner Überzeugung, zu ungewöhnlichen Mitteln greifen, um mein Kind zu retten. Im Zimmer angekommen, holte ich ein sauberes Handtuch, tränkte eine Ecke mit dem Wasser aus der Flasche und wischte vorsichtig das Gesichtchen und den kleinen Körper meines Lieblings ab. Danach begann ich wieder, wie vorher, in kurzen Abständen dem Kind Wasser zu geben, nur trank es jetzt das Wasser aus seinem Milchfläschchen.
Kurz vor Mitternacht kam eine Nachtschwester ins Zimmer und löste mich am Kinderbettchen ab. „Sie sollten ein wenig schlafen, sonst fallen sie bald selbst um“, meinte sie. „Ich passe schon auf ihr Kind auf.“Ich gab nach. „Gut, aber wecken sie mich, bitte, in einer Stunde und geben sie ihm nur das Wasser aus der Flasche zu trinken.“ Auf der Intensivstation gab es keine Betten für Erwachsene, ich nahm an einem freien Kinderbettchen das Gitter herunter und rollte mich auf der kleinen Schlaffläche zusammen. In meinem Zustand konnte ich überall schlafen. Knapp war mein Kopf auf dem Kissen – fiel ich in einen tiefen Schlaf.
Plötzlich wachte ich auf und schaute erschrocken aus dem Fenster: Die Sonne schien hell in das Zimmer herein. Wie spät ist es? Ich konnte es kaum fassen – ich hatte zwölf Stunden in einem Stück durchschlafen! Sofort schaute ich auf die Flasche – sie war leer. Ich fuhr mit der Hand über Mäxchens Lockenköpfchen und schaute in das niedliche bleiche Gesichtchen. Er machte plötzlich die Äuglein auf und sagte leise das einzige Wort, das er kannte: „Mama.“ Mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, ich küsste ihn vorsichtig auf die Wange und konnte meine Träne nicht mehr halten. Sie liefen und liefen über mein Gesicht und mit ihnen gab der so lange anhaltende drückende Schmerz in mir nach. Mich überwältigte eine Palette von Gefühlen: Glück und Angst, unendliche Liebe zu dem kleinen Wesen und die Machtlosigkeit der Ungewissheit. Ab diesem Morgen ging es dem Kind von Tag zu Tag besser, für die Ärzte war seine plötzliche Genesung genau so rätselhaft wie auch der Ausbruch und Verlauf der Krankheit.
Mein Sohn ist heute zweiundzwanzig Jahre alt. Der schreckliche Vorfall in seiner Kindheit ist und bleibt für mich auf immer eine Geschichte von Unerklärlichem in unserem Leben.
Die letzte Geschichte betrifft mich selbst.
Mich plagten seit Langem furchtbare Alpträume. Mitten in der Nacht wachte ich vom eigenen Schrei auf. Es wurde mit der Zeit immer schlimmer, sodass mein eigenes Schreien mich nicht mehr weckte, ich musste wachgerüttelt werden. Mich holten Weinkrämpfe und Depressionen ein. Die besuchten mich meistens in der Nacht. Ich weinte mir ohne äußeren Grund die Seele aus dem Leib und konnte damit nicht aufhören. Zusätzlich bekam ich Schmerzen, die von der Wirbelsäule her strahlten. Schließlich ging ich mit all meinen Beschwerden zum Arzt. Die Computertomografie zeigte vergrößerte Lymphknoten und ich wurde zu weiteren Untersuchungen ins Krankenhaus geschickt. Hier suchten mich die Alpträume und die Weinkrämpfe mit einer verstärkten Intensivität heim. Ich schrie im Schlaf so lange hinter der geschlossenen Zimmertür, bis die Krankenschwester auf dem Flur darauf aufmerksam wurde. Meine Träume, in denen ich meinen zerstückelten Körper zusammensetzen versuchte, versetzten mich in Angst. Nach dem Aufwachen brauchte ich eine Weile, um das gesehene abzuschütteln und wieder zu mir zu kommen.
Die Untersuchungen im Krankenhaus zeigten ein schockierendes Ergebnis – Krebs! Mir wurden Beruhigungsmittel verschrieben und es begann mit der Chemotherapie. Schon während der Therapie hörten die Albträume auf und lassen mich bis heute in Ruhe.
Wollte mein Unterbewusstsein mich vor der schrecklichen Krankheit warnen? Objektiv gesehen hätte ich doch heute, in Anbetracht der Gewissheit meiner Diagnose, viel mehr Grund gehabt, Albträume zu kriegen.
Das sind alles Fragen, auf die ich keine Antwort weis.
Unsere Psyche ist auch ein Universum für sich, die noch weniger erforscht ist, als das Weltall. Ich komme immer wieder zu der gleichen Frage und bin damit bestimmt nicht allein: Ist alles in unserem Leben durch das Schicksal vorbestimmt oder ist es nur eine Reihe von Zufällen?


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Tag der Veröffentlichung: 04.10.2009

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