Ina lebte schon achtzehn Jahre in Deutschland, aber ab und zu wurde sie immer noch von Sehnsüchten heimgesucht und verspürte das Verlangen, irgendwann ihre Heimat zu besuchen. Sie heiratete in Deutschland Alfred, der im Gegenteil zu ihr noch nie woanders lebte, noch nicht einmal in einer anderen Stadt oder einem anderen Haus. Sein Zuhause war das Elternhaus in einem abgelegenen Örtchen am Rhein, mitten in Weinbergen, wo er auch geboren wurde. Die Gegend, wie eigentlich ganz Deutschland, kam Ina fast unnatürlich farbenfroh vor, was sie von ihrer Heimat so nicht kannte.
Die überwiegende Farbe ihrer Heimat war braun-gelb, die nur für kurze Zeit im Frühling bunter wurde. In Deutschland war sogar die Luft anders: Der Regen und mildere Temperaturen machten selbst das Atmen hier zum Genuss, was wahrscheinlich nur ein Mensch aus Inas Gegend beurteilen konnte. Als sie das erste Mal mit dem Zug die Strecke von Koblenz nach Bingen entlang des Rheins fuhr, konnte sie staunend von Fenster nicht abweichen: Die prachtvolle bergische Landschaft des Rheintals mit den mittelalterlichen Ritterburgen, die
in neu restaurierter Schönheit aus dem üppigen Grün von den Bergen herabschauten, versetzten sie in eine märchenhafte Welt. Die Vollkommenheit dieser Landschaft verschafften die idyllischen Siedlungen mit Ihren roten Dächern und hochragenden Kirchenspitzen dazwischen. Diesen malerischen Anblick umfassten, wie ein Rahmen, das saftige Blau des Himmels mit den weißen Kumuluswolken von oben und dessen verzerrtes Spiegelbild unten im Fluss.
Obwohl die klimatischen Verhältnisse und die Natur hier besser waren, konnte Ina nicht loslassen, ihre Gedanken waren immer wieder dort, wo sie
vierunddreißig Jahre Zuhause war. Sie sah in ihren Träumen nachts oft das kleine, akkurat gepflegte Elternhaus mit dem schattigen Hof unter den liebevoll gezüchteten Weinreben, die man über den Winter unter einer Schicht von Spänen und warmen Planen vor Frost schützen musste, weil das kontinentale kasachische Klima für diese Pflanzenart nicht geeignet war. Das machte die deutsche Siedlung dort so eigenartig, alle Anderen haben die Plage mit dem ewigen Einhüllen und Eingraben von Reben im Herbst und aufmachen im Frühjahr nicht auf sich nehmen wollen. War es vielleicht eine von den Uhrgroßeltern nostalgisch überlieferte Notwendigkeit, sich an die Hessische Heimat mit den Weinbergen zu klammern?
„Auf welche paradoxe Weise uns manchmal die „Heimat“ einholt“,
Dachte Ina. Ihre Oma erzählte oft von ihren deutschen Vorfahren aus Hessen und heute lebt sie selbst in Rhein-Hessen, was natürlich ein reiner Zufall ist.
Es läuft eine Sendung über Kasachstan im Fernseher. „… das Land, das weite Steppengebiete und Wüsten umfasst und in Süd-Osten Anteil am Tangshan Gebirge hat, wird weitgehend von kontinentaltrockenem Klima beherrscht …“, berichtete ein langweiliger Kommentar. Ina und Alfred schauten sich einander an. Alfred hörte schon viel von Inas Heimat und wurde langsam neugierig auf sie. Sie wollten diesen Sommer dorthin fahren, wo noch die Cousine von Ina lebte.
Sie entschieden sich für einen Flug, sonst wären sie den halben Urlaub auf dem Weg. Von Frankfurt bis nach Dshambyl wollten sie fliegen und die restlichen paar hundert Kilometer mit einem Mietwagen zurücklegen. Ina war sich nicht ganz sicher, ob man heute einen Wagen dort mieten kann. In der Sowjets Zeiten wäre es keinem in den Sinn gekommen. Aber heute sollte ja alles anders sein.
Die Vorbereitungen nahmen nicht viel Zeit in Anspruch. Alfred packte seine Jacke ein, worüber Ina nur lachte: „Die wirst du bei der Hitze bestimmt nicht gebrauchen.“ Er meinte nur: „Man kann nicht wissen, ich nehme immer auf die Reise eine Jacke mit.“ Sie schaute ihn nur belustigt an, seine Gründlichkeit kannte sie längst. Es wird ihm auf der Reise bestimmt an nichts fehlen, eingeschlossen Taschentücher und Zahnstocher. Sogar die Plastiktüte für die gebrauchte Wäsche wird vorsorglich eingepackt. Ina war da ein wenig lässiger. Sie vergaß schon mal etwas, fand aber immer eine spontane Lösung für das Ersetzen von fehlenden Sachen. Die Spontanität war in der Sowjetunion eine überlebenswichtige Eigenschafft, weil es ständig an irgendetwas mangelte. Alfred war in allen Sachen gründlich, sodass Ina sich an seiner Seite immer sicher und geborgen fühlte. Sie schaute ihn jetzt liebevoll an und dachte: „Ich hätte mich nie gewagt, alleine nach Kasachstan zu fliegen. Aber du wirst wahrscheinlich auch auf einige Dinge dort nicht gefasst sein. Ich möchte sehen, wie du in bestimmten Situationen improvisieren wirst.“
Ina und Alfred führten eine harmonische Ehe, waren wie abgestimmt aufeinander: sie fühlten den Stimmungsumbruch des anderen, kannten gegenseitige Neigungen und Geschmacksrichtungen und verstanden sich ohne Worte. Es passierte ihnen schon, dass sie gleichzeitig einen Satz anfingen und in der Mitte lachend abbrachen, weil jeder schon Bescheid wusste, um was es geht.
Sie mieteten einen uralten „Lada“ ohne jeglichen Luxus. Die fehlende Klimaanlage vermissten sie unterwegs am meisten. Trotz heruntergekurbelten Scheiben war die Hitze unerträglich. Die trockene Luft wehte ins Gesicht, ohne eine Erleichterung zu bringen. Das Wasser in den Plastikflaschen war unangenehm warm und löschte auch fast keinen Durst. Die Straße war uneben und voll Löcher, sodass man sich in der Geschwindigkeit mäßigen musste. Über achtzig Kilometer pro Stunde wäre es schon lebensgefährlich. Sie sind erst um elf Uhr weggefahren, jetzt waren sie schon eine Stunde lang unterwegs und fühlten sich wie in einer Bratpfanne, die gerade zum Brutzeln aufgeheizt wurde.
Links und rechts der Straße entlang sah man nur endlose ausgebrannte Steppe und in der Ferne – eine Kette von schwarzen Karatau Mittelgebirgen. Karatau bedeutet in Kasachisch „Schwarzer Berg“.
Plötzlich fing es an, unter der Haube zu dampfen. Alfred hielt an und stieg aus dem Auto, er öffnete die Haube und schreckte zurück – das restliche Wasser aus dem Kühler stieg wolkenartig empor, zischte und verdampfte rasch in der glühenden Hitze. Ina stieg auch aus, schaute hilflos Alfred an, der wusste aber auch nicht weiter. „Der Kühler hat ein Leck“, meinte er. „Hast du ein Kaugummi?“, wollte Ina zu einem alten Trick greifen. „Was nutzt uns ein Kaugummi, wenn wir kein Wasser haben“, meinte er grimmig. Die Situation wurde dramatisch ernst. Man musste sofort handeln, für lange Überlegungen gab es keine Zeit. Die restlichen zwei Liter Wasser im Auto konnten sie aber in keinem Fall dafür nutzen, denn es war ihre letzte Reserve von Trinkwasser. Wo sucht man hier Hilfe? ADAC konnte man bei dem Mietwagen vergessen. Sollte man vielleicht eine hiesige Pannenhilfe anrufen? Ihnen fehlte aber die Telefonnummer und sie wussten noch nicht einmal, ob vergleichbare Dienstleistungen hier angeboten werden. Inas Cousine hatte kein Telefon, also blieben die Handys in dieser Gegend nutzlos. Es gab noch eine Möglichkeit - auf ein vorbeifahrendes Auto zu warten, aber in der gottvergessenen Gegend trafen sie auf der gesamten Strecke kein einziges Auto.
Was jetzt? Sie waren der blendenden Sonne ausgeliefert, die gnadenlos aus dem unendlich weiten und wolkenlosen Himmel brannte. Ina schaute sich um, sie wusste, dass die Hirten ihre Schafe in die Berge treiben, wo es auch im hohen Sommer noch Weidenflächen zu finden sind. Sie strengte ihre ganze Sehkraft an, um irgendwas an den Bergfüßen zu erkennen. Es war an der Zeit, zu improvisieren. Ina überlegte – ihr Fotoapparat kann jetzt nützlich sein. Er wird ihr die Berge wie ein Fernglas beiholen. Sie drehte sich im Kreise und zoomte ein Berg nach dem anderem bei. Und tatsächlich sah sie plötzlich in der Ferne eine Jurta. Dort gibt es bestimmt eine Wasserquelle.
Ohne lang zu überlegen, schloss das Ehepaar im Kofferraum ihr Gepäck ein und machte sich auf den Weg.
Nach ein paar Schritten merkte Ina, wie der Schweiß an ihren Beinen herunterlief. Sie zögerte nicht lange, zog die Jeans runter und blieb nur noch in der Unterhose. Alfred versuchte, ein wenig die Stimmung zu erheitern. „Na, Schatz, möchtest du baden?“ „Ich bin bereits in Schweiß gebadet. Du solltest lieber das gleiche tun“, warf sie humorlos zurück. Er folgte ihrem Beispiel.
Sie wollte ihm Ihre Heimat in einem guten Licht zeigen, aber der erste Eindruck wird wohl nicht mehr zu korrigieren sein.
Wie es schien, schob sich die Sonne hier am frühen Morgen eilig in den Zenit und blieb dort für den Rest des Tages hängen. Sie versengte den Kopf und blendete gnadenlos. Zum Schutz ihrer Augen hielten die zwei Pechvögel die Handflächen wie ein Schild vor die Stirn. Sie versuchten auf dem untreuen Pfad zu bleiben, der sich zwischen großen, bis zum Horizont zerstreuten Felsen schlängelte. Die von Wind und Regen abgerundeten Granitschollen ragten wie Riffe aus dem Boden heraus. Durchzogen von Quarzschichten, glänzten sie reflektierend aus ihrer Tiefe. Der Weg wurde immer beschwerlicher, die Füße mit den bis aufs Blut aufgeriebenen Fersen, brannten wie Feuer. Sie beschlossen, den weiteren Weg barfüßig zu gehen. Es schien ihnen so, als wollte man sie auf ihre Ausdauer prüfen. In dieser wilden Gegend ist jede Pflanze längst verbrannt, außer den Kamelenstacheln. Feine ekelhafte Stacheln sind unter den Fußsohlen stecken geblieben und waren nicht herauszubekommen. Das Pärchen ist von Zeit zu Zeit stehen geblieben, setzte sich irgendwo in den Schatten eines Steines und zeigte Wunder der akrobatischen Kunst mit dem Versuch, fast mit den Zähnen die Stacheln aus den Fersen zu ziehen. Erschöpft sind sie im Schatten eines Steines entkräftet sitzen geblieben.
Plötzlich, wie durch Energieschub hochgetrieben, sprang Ina schreiend auf.
Was sie so plötzlich auf die Beine brachte, war etwas Lebendiges, das von der glatten Oberfläche des Steines runterrutschte und über Inas Hand und die am Boden liegende Jeans blitzte, ohne sich erkennbar zu machen. Ein paar Schritten von ihnen entfernt, ist es, wie versteinert, stehen geblieben. Jetzt sah man deutlich seinen grün-grauen schuppenhäutigen Körper mit einem langen Schwanz. Um den Kopf mit runden vorgequollenen Augen des Wesens erhob sich ein zackiger Kragen. Wenn das Geschöpf nicht so winzig klein wäre, könnte man denken, dass sie eine Art von Saurier vor sich hätten. Schnell befreit von dem ersten Schrecken, ist in Alfred plötzlich der Jägerinstinkt aufgewacht: geschickt lies er sich mit dem ganzen Körper nach vorne fallen und schnappte das Biest am Schwanz. Total begeistert von der erfolgreichen Jagt, hob er mit zwei Fingern die Beute in die Luft. Da mussten sie noch mehr staunen: Der zappelnde Körper der Eidechse hat sich abgelöst und ist im Augenblick genauso schnell verschwunden, wie er auch aufgetaucht war. In Alfreds Hand ist nur noch der lebenslose Schwanz zurückgeblieben, wie eine Visitenkarte des Ankömmlings. Auf diese Art retten sich diese Wüstenbewohner von den Feinden.
Das Ziel ihrer Strapazen konnte man schon ohne Fotoapparat sehen, es war aber immer noch sehr weit entfernt. Man sah an den Füßen der Berge eine Gruppe von Schafen. Niedergeschlagen von der Hitze, hielten sie ihre hängende Köpfe zusammen in einem Kreis und schützten sie auf diese Art instinktiv im Schatten von ihren Körpern. Alfreds und Inas Qual verstärkte der brennend heiße Wind, der ab- und zu eine kugelförmige „Kamelenstachel" - den ewigen Wüstenpilger - jagte. Bald zog ihre Blicke eine einsam stehende Jurta an. Dort, im Schatten des schweren Filzteppichs, der das halbrunde Gerüst der Behausung ummantelte, erwarteten sie ihre Rettung und beschleunigten ihre Schritte.
…Im rettenden Schatten der Jurta schlummerte in ausgestreckter Pose ein kasachischer schwarzer Schäferhund. Ein Stück weiter stand, wie erstarrt, ein Esel mit gesengtem Kopf. Nur die schaudernden Ohren und der pinselförmige Schwanz, mit dem er die lästigen Fliegen abwehrte, verrieten ein Lebenszeichen in ihm. In der Luft breitete sich eine drückende Faulheit und plagende Erwartung auf Abkühlung aus, die den hiesigen Bewohnern beim Eintritt der Dämmerung ihre belebende Glückseligkeit schenkte.
Der pechschwarze langhaarige Hund sprang bellend auf und kam Ina und Alfred entgegen. Er bemühte sich nicht besonders, wütend zu werden, erledigte nur gewissenhaft die auf ihn aufgelegte Pflicht – Unbekannte anzukündigen. Auf das Bellen hin erschien unter dem Vorhang der Türöffnung ein liebenswürdiges Geschöpf mit zwei langen schwarzen Zöpfchen über einem weißen, breitgeschnittenen Kleid. Zwei Schlitz-Augelein auf ihrem gebräunten Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen, musterten erstaunt die Besucher. Das Mädchen rührte sich nicht vom Fleck und schrie in Halbumdrehung über die Schulter: „Da ist Jemand gekommen.“ Auf den Ruf meldete sich zuerst eine alte Stimme und gleich danach schoss ein kurzhaariger Lausbube schreiend aus der Jurta heraus.
Sein Schrei war an den Hund gerichtet und zeigte auch gleich eine Wirkung: Das Bellen hörte sofort auf und der Hund ging gehorsam an seinen schattigen Platz zurück.
Die zwei „Gäste“ fragte man nicht, wer sie sind und was sie in dieser Gegend suchen. Sie wurden durch eine einfache Handbewegung ins Innere der Jurta gebeten. Das müsste man ihnen nicht wiederholen.
Gebeugt gingen sie nacheinander in die Jurta. Sie verspürten ein bisher noch nie erlebtes berauschendes Glücksgefühl durch die wohltuende Frische. Zuerst tasteten sie sich, wie erblindet, voran, ihre Augen passten sich an das Dämmerlicht im Inneren nur langsam an. Aus der Dunkelheit hörte man die kasachische Sprache. Alfred spürte plötzlich, wie eine Hand ihn nach unten zog. Er war etwas bestürzt und tastete um sich herum auf der Suche nach einem Stuhl, weil, wie er es deuten konnte, bot man ihm, Platz zu nehmen. So schnell, wie er auf dem Boden landete, konnte er gar nicht denken. Er spürte unter sich einen weichen Wellteppich aus Schafwolle. Als seine Augen nach einer Weile wieder sehen konnten, musste er feststellen, dass solche gewöhnlichen Dinge, wie Stuhl und Tisch, in dieser Behausung fehlten. Die einzigen Möbelstücke hier waren große, mit Eisen beschlagene Truhen, die sich im Halbkreis am Rande der Jurta aufbauten. Ihre Frontseiten und Deckel schmückten orientalische Muster. Auf jeder Truhe erhoben sich fast bis zur gewölbten Dachdecke mehrere Kopfkissen und bunte Steppdecken. „Wer sollte denn heute von uns die Prinzessin auf der Erbse sein?“, dachte Alfred belustigt und suchte vergeblich nach einem Bett, für das das ganze Schlafzeug hier aufgestapelt war? Jurta – das halbsphärische Haus aus filzbeschlagenen Gittern – hatte weder Zwischenräume noch Trennwände. Alfred saß mit angewinkelten Knien auf dem Teppich und stützte sich mit beiden Händen hinter seinem Rücken ab, als ob er von einem Sturz aufstehen wollte. Seine komische und unbequeme Pose reizte das Mädchen zum Lachen. Er schaute sich verlegen um und stellte zufrieden fest, dass die „Lotus-Pose“ auch Ina nicht so gelingt. Sie stützte sich auf die linke Hand und zog ihre Beine rechts an sich. Dabei versuchte sie das lange T-Schirrt tiefer über die Beine zu ziehen, weil sie darunter nichts außer ihrer Unterhose trug. Ihr Jeans lag am Boden neben dem Eingang. Bei der heutigen Glut draußen war es den Beiden in ihrer eigenen Haut zu heiß.
In der Jurta befand sich, außer ihnen und den Kindern, noch ein älteres Ehepaar. Alfred sah verwundert ihre Bekleidung an. Die Greisin hatte ein weißes, bis auf den Boden reichendes, Kleid mit langen Ärmeln an. Trotz Hitze trug sie über das Kleid noch eine aus blauem Samt bestickte Weste. Den Kopf bedeckte ein, bis auf die Augenbraue tiefgezogenes weißes Tuch, dessen Stoff fast den ganzen Oberkörper der Frau umhüllte. Die Tracht des Greises bestand (unbegreiflich bei dieser Glut) aus warmer Pelzweste und einer Fuchsmütze. Er trank dabei auch noch heiß dampfenden Tee aus einer Piala (traditionelle asiatische Tasse in Form einer Halbkugel). Hier, wie es schien, war alles rund. Sie saßen alle auf dem Boden, wie bei einem Picknick im Freien, um eine (auch runde) Decke herum. Der Greis stützte sich sich ganz gemütlich im Halbliegen auf zwei Kissen und reichte immer wieder die Teetasse der alten Frau zum Nachgießen hinüber.
„Wie alt sollte er denn sein?“, überlegte Ina und erinnerte sich plötzlich an eine Episode aus ihrer Kindheit. Sie wohnten damals gegenüber von einer Kinderreichen kasachischen Familie, dessen Vater schon in hohem Alter war. Eines Tages kam sein siebzehnjähriger Sohn bei Inas Eltern zum Plaudern vorbei. Irgendwie sind sie bei dem Gespräch auf seinen Vater gekommen und Inas Mutter fragte den Jungen: „Wie alt ist denn dein Vater?“ Der Nachbar machte ein nachdenkliches Gesicht und sagte plötzlich: „So genau weiß ich es nicht, aber den haben wir schon lange.“
Ina führte mit der Zunge über ihre trockenen aufgeplatzten Lippen und reichte nach einer Piala. Sie wünschte sich jetzt nichts sehnsüchtiger, als einen Schluck Wasser. Ihr hat man sofort Tee angeboten. Sie schüttelte aber den Kopf. Das schlaue Mädchen nahm ihr die Tasse wieder ab und reichte stattdessen eine andere, etwas größere, mit einem weißen saurem Getränk herüber. Es konnte, wie Ina wusste, entweder Kumys - gegorene Stutenmilch, oder Eiran - eine Art Joghurt sein. Der Durst war so groß und die Oberfläche des Gefäßes so angenehm kühl, dass sie die letzten Zweifel über den Tasseninhalt schnell aus dem Weg räumte. “Eiran“, erbat auch Alfred. Die alte Frau und das Mädchen sind in sofortiger Bereitschaft über dem Kessel mit dem Köpfen zusammengekommen und brachten damit alle zum Lachen. Aischa, die sich wie eine Hausherrin gab, reichte dem Gast die großzügig gefüllte Piala.
Alfred ging es genauso wie Ina – er musste etwas Kühles zu sich nehmen, das Geschmackliche war eine Nebensache.
Nach dem Essen packte die zwei Urlauber die Müdigkeit. Die gastfreundlichen Nomaden verstanden ohne Worte, wie es ihnen zumute war.
Die Gäste bekamen zuvorkommend Kopfkissen untergeschoben und schliefen auf der Stelle ein.
Alfred öffnete die Augen. Sie waren alleine in der Jurta. Ina behandelte ihren Sonnenbrand: Sie cremte vorsichtig ihr tomatenrotes Gesicht und Arme mit Schmand ein. Ihr Haut spannte und der ganze Körper brannte. Der Nase stand das Pellen bevor. Jetzt war sie rot, geschwollen und glänzte vom Einfetten.
Die unerträgliche Hitze gab nach. Die Sonne, erschöpft nach dem anstrengenden Tag, rollte zum Nachtquartier hinter die flachen Bergketten am Horizont, in deren Konturen im Abendrot man eine weibliche Gestalt erkannte. In der Weite der Steppe lag, in den Himmel schauend, eine steinerne Frau, die man hier „Dornröschen“ nannte. Die milden roten Sonnenstrahlen streichelten jetzt sanft über die Rundungen der schlafenden Schönheit.
Von den zerstreuten Felsen in der Steppe zogen sich lange Schatten. Die wohltuende Frische schenkte Ruhe und Frieden.
Der Esel kaute melancholisch sein Futter, der langhaarige Schäferhund jagte einen scheuen Ziesel und die Nomaden kehrten zu den alltäglichen Dingen des Lebens zurück. Die Greisin backte köstlich duftende Fladen in einem Steinofen. Sie drückte mit der Faust den Teig zu einem Fladen und klebte ihn geübt an die Innenwand des Ofens. Wenn der Fladen sich von der Wand zu lösen schien, griff sie ins glühende Innere des Ofens hinein und fing ihn geschickt auf. Das Frischgebackene legte sie auf ein ausgebreitetes Handtuch nebenan.
Der unwiderstehliche Duft des Fladenbrotes weckte in Ina und Alfred ein Heißhunger.
Es war an der Zeit, an die weitere Reise zu denken. Ina versuchte, sich mit den Kindern zu unterhalten. Sie wusste, dass die Meisten hier Russisch verstanden. In jedem Fall war es so in der Zeit,als sie in dieser Gegend lebte. Damals besuchten fast alle Kinder russische Schulen und kannten manchmal, zum Entsetzen von älteren Kasachen, ihre eigene Sprache nicht mehr. Heute ist Kasachstan unabhängig, die amtliche Sprache ist wieder Kasachisch. „Seit damaliger Zeit hatte sich hier wohl vieles verändert“, dachte Ina. Vor achtzehn Jahren wohnten in ihrer Stadt nur 15% Kasachen. Seit dem sind andere Völkergruppen, wie Deutsche, Russen, Griechen, Koreaner, Tschetschenen und so einige andere, die hier lebten, längst ausgesiedelt, sodass die Kasachen jetzt mehr oder weniger unter sich waren. „Verstehst du russisch?“ fragte Ina das Mädchen. „Ein wenig“, antwortete sie. “Wie heißt du denn?“ „Aischa.“ „Hör mal, Aischa, könntet ihr uns vieleicht helfen, Wasser ans Auto zu bringen? Wir haben kein anderes Gefäß, außer zwei Mineralwasserflaschen.“ Das Mädchen rannte zu ihren Großeltern, um Rat zu holen. Sie unterhielten sich eine Weile kasachisch. Der Greis lies übersetzen: „Warten sie noch ein wenig, bald kommt mein Sohn aus der Stadt, er kann ihnen weiter helfen. Solange seid ihr unsere Gäste.“ „Danke, können wir ihnen vielleicht auch irgendwie behilflich sein?“ Der Alte schmunzelte: „Bei uns arbeiten die Gäste nicht.“ „Wir sind ja auch keine willkommenen Gäste, eher zwei Trottel, die sich nicht richtig auf die Reise vorbereiteten und den Anderen auch noch Sorgen machen.“ „Bei uns ist jeder Gast willkommen, ob er eingeladen ist oder wie Schnee auf den Kopf fällt. Das ist unsere nationale Tradition. Sie kommen wohl von weit her. Ihr Mann, wie ich sehe, versteht weder kasachisch, noch russisch.“ Aischa übersetzte ihm, dass Ina und Alfred aus Deutschland kommen, und schaute dabei den Alfred wie einen Alien an. Sie kannten die hier lebenden Deutschen, aber einen „echten“, aus Deutschland, der nur deutsch spricht, kannten sie nicht. Kairat - der Lausbub- hörte sogar mit seinem Spiel auf und schaute erstaunt in Alfreds Richtung. Alfred beschäftigte sich während des ganzen Gesprächs mit dem Hund Scheitan, der sich erstaunlich freundlich gab. Er sprang hoch nach dem Stock, den Alfred hochhielt, rannte um ihn herum und wedelte wie verrückt mit dem Schwanz. Scheitan forderte immer mehr von dem Spiel, er kreiste um den „echten“ Deutschen und verstand ihn besser, als alle anderen hier. Hunde waren Alfreds Schwäche. Er hatte lange Jahre einen deutschen Schäferhund, der ihm nicht nur auf das Wort, sogar auf den Blick horchte. Ina wusste von Alfreds Hundekenntnissen, es war für sie nicht neu, dass alle Hunde ihn gut riechen konnten. Als alle plötzlich in Richtung ihres Freddys, wie sie ihn liebevoll nannte, schauten, musste sie lachen, worauf er sie nur fragend ansah.
Es wäre ziemlich kompliziert, wenn man auch noch sofort alles ins Deutsche übersetzen würde. Darum lächelte sie ihn nur an und sagte, er wäre aus der Nomadensicht ein exotischer Vogel. Er wusste jetzt nicht, wie er darauf reagieren sollte. Er war ein Fremder, das ist klar, aber was bedeutet hier, „fremd“ zu sein? Aus deutscher Sicht waren alle „Fremden“- Ausländer, die immer etwas von dem Steuerzahler wollten. Darum wurden sie zuerst immer skeptisch angesehen. Dieses Vorurteil war, wenn auch nicht offiziell, eine sehr verwurzelte Tatsache. Die Aussiedler in Deutschland trauten sich nicht, untereinander russisch zu sprechen, um nicht als „fremd“ abgestempelt zu werden. Alfred kannte aber hiesige Mentalität nicht, darum konnte er sich auch keinen Reim aus dem „Fremdsein“ machen. In diesem Land war viele Jahre der Russe der „Fremde“, den man aber gezwungener weise „Der große Bruder“ nannte. Russisch nahm Oberhand genommen und das Nomadenvolk „aus dem Feudalismus über den Kapitalismus zum Sozialismus hochgewirtschaftet“, wie die damalige Presse berichtete. Die Kasachen waren die Ersten von 15 sowjetischen Republiken, die ihren Wunsch nach Unabhängigkeit äußerten. Ina wurde hier geboren und kannte das Problem des „Fremdseins.“ Sie war, wie alle Deutschen hier, immer irgendwie fremd gewesen. In Russland (von dort wurden ihre Eltern mit Beginn des Zweiten Weltkrieges als Deutsche nach Kasachstan verschleppt), in Kasachstan, wo unter russischer Herrschaft sie immer noch die verhassten „Fritzen“ waren und auch in Deutschland, wo sie plötzlich zu „Russen“ geworden sind. Also, fremd zu sein, wusste sie, ist kein Leckerbissen. Aber Alfreds Situation war ganz anders. Er war hier kein Fremder, sondern ein Gast und das war ein großer Unterschied. Jeden Gast behandelten die Kasachen ehrenhaft, sie waren für Ina die besten Gastgeber der Welt, das wusste sie aus den Geschichten ihrer Eltern und auch aus eigener Erfahrung. Aus lauter Freundlichkeit entstanden manchmal kuriose Geschichten, wie die ihrer Mutter, als sie mit ihren Eltern von Rostow am Don nach Kasachstan kam. Die Kasachen behandelten sie wie unschuldige Opfer und nicht als Volksfeinde, wie die Russen. Eines Tages lud man die Deutschen zum Essen ein. Sie saßen, genau so, wie Alfred es heute kennenlernte, auf dem Teppich und aßen aus einer großen Platte ein Reißgericht mit Fleisch. Gegessen wurde ohne Besteck, einfach mit den Händen. Die Kasachen formten ein festes Bällchen aus dem Reis und schickten es geschickt in den Mund. Aber die Gäste bekamen Löffel. Ein alter Mann tat sein Bestes, um die Gäste zufriedenzustellen. Als Inas Mutter mit dem Löffel zum Reis reichte – presste er zuvorkommend ihr mit den Fingern ein festes Reishäufchen drauf. Er strahlte dabei über das ganze Gesicht und nickte, was eindeutig bedeutete: „Iss` nur, sei nicht so bescheiden.“
„Wo habt ihr euch kennengelernt?“ fragte plötzlich die alte Frau von ihrem Platz am Steinofen. Ihr kam es immer noch seltsam vor, dass ein Mädchen von hier einen Mann aus Deutschland heiratete. „Tja, die Deutschen sind nun mal in Germania oft zu treffen“, lachte Ina.
Kairat beteiligte sich an diesem Gespräch nicht, nahm aber jedes Wort neugierig auf. Er hätte eigentlich viele Fragen stellen wollen, traute sich aber nicht. Stattdessen tat er so, als ob es ihn alles überhaupt nicht interessieren würde, und spielte weiter sein merkwürdiges Spiel. Sein Spielzeug stellte ein rundgeschnittenes langhaariges Stück Ziegenfell mit einem Beschwerer aus Blei in der Mitte dar. Diesen Gegenstand jonglierte er auf seinen Füßen. Er warf das Stück mit einem Fuß hoch und fang es mit dem anderen auf, dann drehte er sich um und fing es mit dem Fuß hinter sich, dabei ließ er es nie auf den Boden fallen. Alfred wurde neugierig auf das Spiel. Er spielte früher Fußball und kannte diese Übungen, aber mit dem Ball. „Was ist das, was er da jongliert?“ fragte er bei Ina. Seine Frau kannte dieses Spiel zu gut. „Das ist eine sogenannte Länga. Die besaß jeder Lausbub in ihrer Schule. Sie wollte man damals aus hygienischen Gründen sogar verbieten, weil die zotteligen Dinger, die immer wieder aus dem Staub in die Hosentaschen gesteckt wurden, eine Infektionsgefahr darstellten. Daraus ist nichts geworden, dieses Spiel setzte sich hartnäckig durch und wurde tatsächlich zur Infektion, im Sinne hochgeliebt. Ob es heute immer noch in den Schulen gespielt wird?“
Inas Gedanken über das Früher sind durch den begeisterten Aufschrei Kairats unterbrochen worden. Er rannte plötzlich mit dem Hund einem Staubwölkchen in der Steppe entgegen. Man konnte ein, aus der Ferne kommendes Auto erkennen. Aus dem kleinen Laster, dessen Marke und Farbe man vor lauter Staub nicht mehr erkannte, stiegen die Eltern von Kairat und Aischa aus.
„A Salem Maleikum“, grüßte der Mann seine alte Eltern und drückte dem Vater kräftig die Hand. Danach ging er direkt zu Alfred, reichte ihm die Hand und stellte sich als Kuanysch vor. Den Frauen reichte man die Hand nicht, es war hier nicht üblich. „Ist es ihr Wagen dort am Straßenrand?“, fragte Kuanysch in seiner Sprache und zeigte mit der Hand in die Ferne. Alfred schaute sich hilflos zur Ina um. Der Mann merkte Alfreds Unbeholfenheit und wiederholte seine Frage in Russisch.“ Er versteht auch das nicht“, meldete sich belustigt die kleine Aischa zu Wort. Sie konnte es kaum erwarten, den Eltern von dem „echten“ Deutschen zu berichten. „Du sollst dich in das Gespräch von Erwachsenen nicht einmischen“, unterbrach sie streng ihr Großvater. „Geh und stell den Samowar auf.“ Er übernahm selbst die Berichterstattung. Jetzt erst wandte sich der Kuanysch zur Ina: „Fragen sie ihren Mann, ob er vielleicht einverstanden wäre, hier zu übernachten, morgen früh könnte ich ihm mit dem Auto helfen. Ich arbeite auf Montage und habe sogar das Schweißgerät bei mir im Auto und Kanister fürs Trinkwasser haben wir so wie so immer dabei.“ Alfred bedankte sich für das Angebot. „Für einen Gast haben wir immer ein Festmahl, oder?“, wandte Kuanysch sich zu seinem Vater. Der Greis schickte den Kairat zur Jurta, aus der er nach Kurzem ein scharfes langes Messer holte. Die Zeremonie der Gastfreundschaft begann. Zum Abendessen sollte ein Lamm geschlachtet werden. Kairat, ganz begeistert von dem abwechslungsreichen Tag, rannte zur Herde und kam mit einem jungen Lamm zurück, das er vor sich an seinen Körper presste. Er legte es auf den Boden und half dem Großvater, es festzuhalten, bis der Vater dem Tier die Kehle durchtrennte. Nachdem das Blut abfloss, zog Kuanysch geschickt dem Lamm das Fell runter, trennte ihm den Kopf ab und übergab ihn den Frauen. Heute gibt es Bischparmack – ein traditionelles kasachisches Fleischgericht. Die Ehefrau von Kuanysch –Aigul- stellte sich sofort an die Seite ihrer Schwiegermutter zur Hilfe. Sie erhitzte auf den Nomadenherd einen großen Kessel Wasser. Das Mädchen füllte den riesigen Samowar mit dem aus seiner Mitte herausragenden Schornstein mit Wasser und legte darunter Feuer. Nach kurzer Zeit fing er auch schon an, zu rauchen. Aigul kochte inzwischen große Stücke Fleisch ab und wälzte breite Nudeln auf. Alle, außer Ina und Alfred, beschäftigten sich mit der Zubereitung von Essen.
Es wurde inzwischen dunkler. Die ersten Sterne leuchten auf, aus der Weite der Steppe hörte man die Grillen zirpen, durch die angenehme Abendfrische verbreitete sich ein gemischter Geruch von frischgebackenem Brot und gekochtem Fleisch. Die späten Abendmahle gehörten hier aufgrund des Klimatischen Verhältnissen zu Normalität. Vor dem Sonnenuntergang wäre es keinem auf den Sinn gekommen, Feuer zu machen.
Endlich war es soweit. Das Fleischgericht mit Nudeln ergänzte der scharf gewürzte Fleischbouillon mit geschnittenen Zwiebeln. Bei dem herrlichen Duft konnte Alfred kaum erwarten, mit dem Essen zu beginnen. Aber plötzlich wurde alles anders. Kuanysch holte aus dem Auto eine Flasche Schnaps und schenkte ihn großzügig in kantige Cocktailgläser ein. Diese reichte er seinem Vater und Alfred, denn Frauen einzuschenken, wäre ihm nie eingefallen. Alfred musste erst mal schlucken. „Wenn ich das jetzt trinke, meinte er zur Ina, werde ich wahrscheinlich tot umfallen.“ Aber es kam noch schlimmer. Jeder, außer Alfred, bekam einen Teller mit dampfendem Bischparmack. Alfred bekam aber, zu seinem Entsetzen, einen Teller mit gekochten Schafkopf. Belustigt schaute Ina ihren Mann an, dessen Augen immer größer wurden, und hätte am liebsten hell losgelacht, konnte es sich aber nicht anmerken lassen, weil es eine Beleidigung für die Gastgeber wäre. Alfred hatte Hunger, aber der Kopf auf dem Teller mit den hervorstehenden weißen Augen löste in ihm fast einen Würge-Reflex aus. “Na prima“, dachte er „ist das so eine Art Mutprobe für einen Fremden?“ Ina wusste, wie wählerisch ihr Mann beim Essen war: Ihm wurde schon von Hühnerinnereien oder leicht angebratenem Steak schlecht und Alkohol trank er soviel wie nie. Die Situation entschärfte Aigul. Sie stellte den Teller mit dem Kopf zur Seite und reichte ihm einen anderen mit Bischparmack.
„Sie müssen es nicht essen, das ist nur ein uralter Brauch zur Ehrung des Gastes“, erklärte sie.
Nach dem üppigen Essen kam der Tee an die Reihe. Aigul brühte frischen Tee auf, nahm den Schornstein von dem Samowar herunter und stellte die Teekanne an seiner Stelle oben drauf. Solange der Tee zur richtigen Kondition auf dem heißen Samowar reifte, wurden einige Leckerbissen auf dem Teppich ausgebreitet. Hier war das eben gebackene Fladenbrot, kleine frittierte Teigbällchen, sogenannte Bauersaken, getrocknete salzige Kugel aus Ziegenkäse - Kurt, dünn geschnittene Scheiben Pferdewurst und getrocknete Früchte. Zum Verfeinern vom Tee gab es Sahne aus Ziegenmilch und Würfelzucker. Das Einschenken von Tee war die Sache der Schwiegertochter und beruhte auf einem festgelegten Ritual. Zuerst goss man in die Piala frisch aufgebrühten Tee aus der Kanne, danach verdünnte man ihn mit kochendem Wasser aus dem Samowar. Die Piala sollte dabei nur bis zu einem Drittel voll sein, so kühlte der Tee schneller ab. Außerdem zeigte sich bei diesem Brauch die Anständigkeit einer Schwiegertochter. Sie sollte schön fleißig sein und möglichst oft zugießen, hätte sie die Piala bis zum Rand vollgegossen - hätte man sie für faul gehalten. Also war sie nur damit beschäftigt, Tee einzuschenken.
Aigul und die kleine Aischa räumten den Teppich leer. Kairat brachte aus der Jurta Kissen für den Opa. Das Gästepaar lehnte sich zurück und hörte zu, wie Kuanysch von den letzten Neuigkeiten aus der Stadt erzählte. „Die Rasischa wurde entführt“, berichtete er von seiner Cousine. „Geht es auch alles mit rechten Dingen vor sich?“, fragte der Alte. „Das weis ich nicht so genau“, meinte Kuanysch. „Du kennst doch die Rasischa, von ihr konnte man noch nie etwas herausbekommen, sie ist schon immer ein stilles Wasser gewesen.“ „Und wer ist der Entführer?“ „So einer von den neuen Reichen, so gibt er jedenfalls an, das wird sich zeigen, sobald es um Kalym zahlen geht.“
Ina übersetzte das Gespräch. Alfred schaute sie misstrauisch an, um sich zu vergewissern, dass sie ihn nicht auf den Arm nimmt. Er fühlte sich wie im Krimifilm, gefangen in einem Mafiosi-Nest. „Was, schätzt du, werden sie verlangen?“, fuhr der Alte weiter fort. „Ja, wenn es tatsächlich so ist, wie er angibt, wird man wohl nicht nur um einen Pferd und ein paar Schafen handeln, heute wollen alle Geld, am besten in Dollar. Was sollen sie auch mit den Tieren in der Stadt anfangen? Einen Hirten können sie so- wieso nicht bezahlen.“ „Wird Sie auch Mitgift bekommen?“, interessierte sich der Greis. „So eine, wie Rasischa, braucht keine Ausstattung, sie ist selbst ein Schatz. Ganz abgesehen von ihrer Ausbildung und gesellschaftlicher Position, ist sie auch noch eine außergewöhnliche Schönheit. Er muss zufrieden sein, wenn sie ihm keinen Strich durch die Rechnung macht und sich mit seinem traditionellem Volksgetue zufriedengibt.“
So langsam kam es beim Alfred ang, dass es sich um eine Brautentführung handelt. Volkstümlich wurde ein Mädchen entführt, und wenn es nach drei Tagen nicht zurückkam – war es eine beschlossene Sache, es wurde geheiratet. Die Zeiten, in denen ein Mädchen ohne ihre Einwilligung entführt wurde, sind vorbei, aber an die Tradition hielte man sich. Das Paar sprach sich voraus ab, hielt sich aber formell an dem alten Brauch. Die Verpflichtungen von beiden Elternteilen nahm man noch ernst. Die Bräutigamseite musste an die Eltern der Braut einen Kalym (Entschädigung) zahlen. Der wurde in allen möglichen Varianten ausbezahlt: Es konnten Tiere (Kamele, Schafe oder Pferde), Stoffe, Edelsteine oder Geld infrage kommen.“ Anderseits sorgten die Brauteltern für die Mitgift ihrer Tochter. „Bei den Sowjets schaffte man die altertümlichen Traditionen ab, aber heute blüht alles wieder auf“, dachte Ina. Sie hörte, in Kasachstan wäre sogar die Polygamie in der Ehe wieder erlaubt.
„Na ja, das ist doch mal eine gute Nachricht“, mischte sich Aigul in das Gespräch ein. „Ich werde mit meiner ganzen Tanzgruppe dort auftreten, das wird eine Generalprobe für unsere Tournee sein.“ Aigul war eine erfolgreiche Choreografin in der Stadt und leitete eine Volksgruppe. Vor den Gastspielen, die sie erwähnte, kam für ihre Tanzgruppe so eine Hochzeit ganz gelegen. Aigul kam mit ihrem Mann Kuanysch heute aus der Stadt, um ihre Kinder vor dem Schulbeginn abzuholen. „Wir holten auf dem Weg hierher gerade erst die neu angefertigten Nationaltrachten für unsere Gruppe ab. „Könnten sie uns vielleicht zeigen?“, fragte Ina interessiert. „Alfred sah so etwas noch nie.“ „O ja, Mama, zeig es ihnen bitte“, meldete sich aufgeweckte Aischa. „Ich möchte sie auch sehen.“ Aigul musste man nicht lange anflehen, mit leichten Schritten ging sie zum Auto und verschwand nach Kurzem mit einer großen Tasche in der Jurta. „Haben sie ein wenig Geduld, es wird nicht lange dauern“, schrie sie heraus.
Inzwischen wurde es ganz dunkel. Alfred schaute in den Himmel und staunte über die funkenden Sterne in nie gesehener Leuchtkraft und Größe.
„… so täuschend nah sind uns die Sterne,
Aber wie immer, stolz und kalt,
Schaut uns gleichgültig aus der Ferne
Im Funkelglanz der Himmel an“,
deklamierte verträumt Ina.
Kuanysch zündete eine Kerze in dem Cocktailglas an und das warme Licht riss sofort die kleine Menschengruppe aus der schwarzen Umgebung heraus. Der Vorhang der Jurta ging auf und Aigul trat in einer Nationaltracht ins Licht. Ihr langes weises Kleid mit einem Glockenrock bestückten an dem Saum und Ärmeln unzählige Rüschen. Über das Kleid trug sie eine kurze, mit glänzenden Pailletten verzierte rote Weste aus Samt. Ihre Füßen schmückten gestickte weiche Stiefel und auf dem Kopf saß kokett ein kleines rundes Hütchen mit Fasanenfedern. Das Ganze rundete ein nationales Instrument in ihrer Hand - Dombra. Es sah einer Mandoline ähnlich, hatte aber nur zwei Saiten. Ina klatschte begeistert in die Hände. Aigul fühlte sich in ihrem Element vor Leuten. Sie drehte sich und zeigte ihr Kleid, danach reichte sie ihrem Schwiegervater die Dombra: „Sing uns was, bitte.“ Die Aksakalen (die Greisen) waren bei den Nomaden für ihre spontan entstandenen Lieder berühmt. Es wurden sogar Dialoge im Singen geführt: Einer fing mit dem Lied an und der andere führte es spontan weiter. Jedes Mal entstanden dabei neue Lieder. Der Greis nahm das Instrument, aber singen wollte er heute nicht: „Ich werde dich gerne beim Tanzen musikalisch begleiten.“ Alle um den Teppich rückten weiter zum Rand und machten für die Aigul eine Art Bühne frei. Sie stellte sich in die Mitte in Pose. Der Aksakal schlug plötzlich in die Saite und Aigul begann in kurzen leichten Schritten, elegant und weiblich, ihr Reigen. Sie streckte die Arme aus und machte mit ihren Händen Kreisbewegungen über dem Kopf. Dann lies sie sich runter in die Hocke und imitierte das Nähen, nach einem weiteren Kreis zeigte sie, wie man Filzteppich klopfte, danach - das Butterschlagen. Dieser Volkstanz, genauso wie die Lieder von Aksakalen, zeigte Szenen aus dem Nomadenleben.
Die Musik wurde langsamer, dementsprechend verlangsamten sich auch die Bewegungen der Tänzerin, bis sie zum Schluss sich in einer grazilen Haltung vor ihrem Publikum verneigte.
Die Aischa klatschte begeistert und umarmte ihre Mutter. „Und jetzt noch ein Lied bitte.“ Aigul lachte. Der Aksakal reichte ihr die Dombra. Sie setzte sich auf einem Stein nieder, nahm das Instrument auf den Schoß, schlug mit schnellen Bewegungen auf die Saiten ein und fing an zu singen. Ina und Alfred staunten über die kraftvolle Stimme, die sie von dieser zierlichen Person nicht erwarteten. In die Steppenweite floss in unendlich gezogenen Lauten ein Nomadenlied.
Ina schaute zum Alfred rüber. Er lag auf der Seite, stützte sein Kopf mit der Hand und genoss die exotische Nacht mit dem Gesang. „Was Besseres, als diese Panne heute Morgen, konnte uns gar nicht passieren“, dachte jetzt Ina.
„Wäre alles, wie geplant, gelaufen, hätte Alfred wahrscheinlich nie ein richtiges Nomadenleben kennengelernt.“
Tag der Veröffentlichung: 02.10.2009
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