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17.Provinzler


Die Mädchen schliefen auf den harten Lockenwicklern, ohne davon Schaden zu tragen.
Sie waren erfinderisch auf dem Gebiet „Vortäuschen“: Ihre Kleider sahen durch unendliche Umwandlungen mittels vorhandenen Accessoires ständig neu aus und den Begriff „Hunger“ ersetzten sie geschickt durch „In Form bleiben“. Den Komfortentzug ließen sie sich aber nicht anmerken.
Sie waren geübt und abgehärtet in Sachen „Schlangenstehen“, was in ihrem Studentenheim schon früh morgens an der Tür des Waschraumes begann. Mit Zahnpasta in der Hand und Handtuch über der Schulter standen sie eine kleine Ewigkeit hier.
Danach schafften sie es noch, die Haare hochzuschlagen, Mascara und Lippenstift routiniert einzusetzen, einen wirkungsstarken und verführerischen Blick am Spiegel hervorzuzaubern, in die Pumps zu schlüpfen und, wie immer ohne Frühstück, loszurennen.
Und so tauchten sie, Ludmila und Tanja, im Hörsaal ihres pädagogischen Institutes auf.
Sie wohnten zu zweit in ihrem Zimmer und waren sehr zufrieden, weil die anderen Studenten ein Zimmer mit vier Personen teilten. Ludmila war die vernünftigere von den Zweien. Sie brachte aus dem Dorf von ihren Eltern eingemachte Tomaten und Gurken mit, die sie mit ihrer Mutter für den Winter einmachten, und kümmerte sich um die Gemütlichkeit in ihrem Zimmer. An dem Fenster prangten kitschige Vorhänge mit bunten Rosen auf dem grünen Fond und die Betten bekamen „Unterröcken“ aus dem gleichen Stoff, um die darunter verstauten Reisekoffer zu verbergen. Ludmila erbte von ihrer Mutter und Großmutter strenge Moralvorstellungen. Um sich gegenwärtig zu präsentieren, ahmte sie gerne ihrer Freundinnen nach: unterstützte gerne ihren Ideen und war, wie gesagt, ein guter Kumpel. Als Tanja nach der Operation aus dem Krankenhaus zurückkam, übernahm sie alle häuslichen Aufgaben und verhielt sich ihr gegenüber großzügig und gütig, wie eine große Schwester. Tanja dagegen schwebte in den Wolken, träumte von Reisen, verfasste Gedichte, malte und befand sich in einem permanenten romantischen Zustand. Sie war klein, zierlich und zerbrechlich, ein Meter mit Käppi, wie gescherzt wurde; Ludmila dagegen – groß und mollig mit einem niedlichen, wie für die Werbung geschaffenen Kindergesicht. Unterschiedlicher konnten zwei Freundinnen nicht sein, aber, oder gerade deswegen, verstanden sie sich sehr gut. Sie waren beide aus der Provinz. Allerdings wohnten sie friedlich und träumten davon, einmal die große weite Welt zu sehen.

In der Welt zu reisen war damals ein besonderes Privileg und mit fünfundvierzig Rubel Stipendium, was sie eigentlich nur als beste Studenten erhielten, stießen solche Wünsche fast an die Fantasiegrenze. Aber träumen ist ja nicht verboten. Wie Glück im Unglück finanzierten Tanjas Eltern während ihrer Krankheit überraschend die Wunschreise nach Moskau.
Für Ludmila und Tanja war es eine Premiere. Die Bahnfahrt von Dshambyl bis nach Moskau dauerte drei Tage, aber sie konnten sich ja jetzt einen Flug leisten. Sie kannten niemanden in Moskau, außer Tanjas Kunstlehrer aus der Fernuniversität. Ob sie eine Unterkunft finden würden, war fraglich, aber das alles konnte ihnen die gute Laune nicht verderben. Die Mädchen stellten sich auf Abenteuer ein, sogar die vernünftige Ludmila war vor lauter Begeisterung nicht mehr zu bremsen. Was kommt das kommt. Mit dieser Einstellung begann die Reise ins Unbekannte.
Auf dem Flug lernten sie einen jungen Mann in Seemannsuniform kennen. Schön, jung und gesellig - ein Traum von einem Mann. Allein die Uniform brachte sie um den Verstand. In ihrer Steppengegend, wo man Meeresaussicht nur vom Bildschirm kannte, wirkte die Uniform magisch. Der Seemann mit dem schmunzelnden Gesicht und offenem Blick genoss ihre Aufmerksamkeit, die sie ihm und seinen witzigen Geschichten und Anekdoten entgegenbrachten, und nutzte die Gelegenheit, den Rest seines Urlaubs in Mädchen Gesellschaft zu verbringen.
Drei Stunden verflogen wie ein Augenblick. Moskau. Airport Domodedowo. Die Mädchen umgab die Januar-frostige Kälte und Dunkelheit. Die Zeit verschob sich. Sie sind um 21 Uhr gestartet und genau zu der gleichen Zeit in Moskau angekommen. Ihre innere Uhr stellte sich aber nicht so schnell um, darum kämpften sie mit der Müdigkeit. Eine Bleibe für die Nacht war nicht in Sicht und sie mussten sehen, wie sie in der neuen Situation zurechtkommen. Plötzlich, wie aus dem Erdboden geschossen, tauchten dienstbereite Taxifahrer auf, die sie in die Stadt bringen wollten. Mühsam konnten sie doch noch das Gedränge von Anbietern mit unmöglichen Preisen loswerden. Sie entschlossen sich, im Flughafen zu übernachten und morgen früh den Bus nach Moskau zu nehmen. Gesagt - getan. Ludmila und Tanja fanden in dem gewaltigen Menschenauflauf zwei gerade frei gewordene Sitzplätze, kuschelten, Kopf an Kopf stützend, aneinander, und schliefen gemütlich, soweit es eben ging, ein. Plötzlich wacht Tanja auf, weil sie jemand vorsichtig an der Schulter berührte. Kaum die Augen aufgeschlagen, blühte sie im glücklichen Lächeln auf – vor ihr stand der Seemann. „Mädels, ich habe jemanden gefunden, der euch in die Stadt bringt“. Mädels offensichtliche Sympathie, die sie ihm entgegen brachten, bewegte ihn, sich von der ritterlichen Seite zu zeigen. „Wo ist euer Gepäck?“ Sie drückten ihm vertraulich ihre Schließfachschlüssel in die Hand und er ging weg, um ihre Koffer abzuholen.

Als Tanja nach Jahren an ihre Zutraulichkeit zurückdachte, bewundere und beneidete sie ihre damalige Weltanschauung. Ludmila und Tanja waren die Offenheit selbst und erwarteten von jedem, der mit ihnen in Kontakt trat, das Gleiche. Und wenn der Seemann mit unseren Koffern verschwunden wäre? So etwas wäre ihnen damals nie in den Sinn gekommen. Er war für sie ein Traum von einem Mann, den ihnen ihre begeisterte Vorstellungskraft ausmalte. Was ist das für ein wunderbares Gefühl – das Gefühl der Vertrautheit!

Die Mädchen sind in der kurzen Zeit seiner Abwesenheit sogar noch mal eingeschlafen. Als er mit ihrem Gepäck zurückkam, deutete er mit kurzer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Er trug, ganz selbstverständlich für Ludmila und Tanja, ihre zwei Koffer zum Ausgang. Hätte er es nicht getan, wären sie wahrscheinlich enttäuscht gewesen – er war für sie die Verkörperung der Romantik und Vollkommenheit. Sie eilten ihm durch den nächtlichen Flughafenplatz hinterher, vorbei an einer unendlichen Taxi-Reihe, bis er endlich vor einem privaten Auto stehen blieb, wo auf sie schon ein Fahrer mittleren Alters wartete. Er packte zuvorkommend ihr Gepäck in den Kofferraum seines alten „Moskwitsch“ und öffnete ihnen die Autotür. Die Mädchen tauchten in die gemütliche Wärme des Autosalons. Der Seemann salutierte scherzhaft zum Abschied und meinte: „Chef bringt euch ins Hotel.“ Das dankbare Lächeln, das Tanja und Ludmila ihrem Wohltäter entgegen strahlten, war beredsamer als alle Worte.
Die abgenutzten Reifen des altgedienten „Moskwitsch“ drehten quietschend auf dem vereisten Boden durch. Das Auto brüllte drohend auf, drehte sich in der Kurve, spukte den Schnee unter den Rädern heraus, verhüllte in Abgase den am Straßenrand stehenden Seemann und nahm Anlauf in Richtung Moskau.
Unzählige flackernde Lichter der schlafenden Stadt flogen durch Schneefall an ihnen vorbei. Beruhigend schimmerte in der Dunkelheit der grüne Streifen des Autoradios. Die Anstrengungen des Tages und die gemütliche Wärme, die sie umgab, machten die Studentinnen müde. Leise Musik vom Radiosender „Majak“ schaukelte sie in den Schlaf. Wie durch eine Dämmung empfing das Gehör noch ein Teil des Satzes: „Von dieser Metrostation könnt ihr zum Zentrum fahren …“, aber ihre Wahrnehmung beschränkte sich auf einen einzigen weichen Zustand der Ruhe und Wohltat. Sie waren wie durch einen Schutzengel vor jedem Angst-Gedanken bewahrt.
„Wir sind angekommen“, holte sie eine laute Stimme aus dem Schlaf. Der erschöpfte Fahrer schaute sie trotz seiner Müdigkeit heiter und verwundert an. „Ihr seid ja zwei seltsame Vögel!“ Er schob seine Hasenmütze tief in die Stirn, öffnete die Autotür und verwandelte sich durch den Schnee in eine Mosaikgestalt. Er holte ihre Sachen aus dem Kofferraum. Der leichte freche Wirbelwind trieb seinen Unfug: schleuderte mit vollen Händen die Schneeflocken ins Gesicht und hinter den Mantelkragen. Die Mädchen mit dem Fahrer standen vor einem großen grauen Plattenbau. „Hier werdet ihr wohnen, bei meiner Schwiegermutter.“ Auf das Klingeln hin öffnete die Tür eine ältere mollige Frau, die ihnen als Marja Iwanowna vorgestellt wurde. „Nimm sie unter deine Fittiche“, wandte der Mann sich lächelnd an sie. Jetzt erst fragten sie, was die Fahrt kostet. Der erfahrene Blick des Fahrers, in dem man fast väterliche Anteilnahme lesen konnte, musterte sie prüfend. Er seufzte plötzlich und schwang hoffnungslos die Hand. Diese Geste konnte nur eines bedeuten: Heute Abend habe ich fast umsonst gearbeitet. „Was kann man schon von den armen Studenten verlangen? Fünfundzwanzig Rubel“. Das war ein königliches Geschenk für die Zwei. Die Taxifahrer am Flughafen verlangten 50 Rubel pro Person. Der Mann hielt sich nicht länger auf und ging schleunigst zum Auto zurück in der Absicht, heute Nacht vielleicht noch etwas dazuverdienen zu können.
Marja Iwanowna bat Ludmila und Tanja, leise zu sein, weil alles im Hause schlief. Im Gang brannte eine düstere Birne. Das große Licht schaltete sie nicht an. Sie führte sie durch den langen Korridor ins Zimmer und zeigte im schwachen Licht der Tischlampe auf eine breite Couch, die direkt neben der Tür stand. „Hier könnt ihr schlafen.“ Das musste sie nicht wiederholen. Das Mütterchen erwähnte noch flüchtig, sie sollten sich ihrem „Enkelchen“ wegen, das in der anderen Ecke des Zimmers schlief, nicht gestört fühlen. Das war ihnen egal, sie konnte wirklich nichts mehr stören. Die Mäntel legten sie noch schnell auf einem Stuhl ab und schliefen, vollbekleidet, sofort ein. Ihre Koffern blieben mitten im Zimmer stehen. So vertraulich, naiv und unschuldig, wie sie es waren, erwarteten sie in keiner Situation etwas Böses. Und bis jetzt hatten sie Glück. Sie schliefen wie der Gerechte selbst.
Morgen. Tanja schaute sich um. In der winterlichen Dämmerung erkannte sie in der Ecke am Fenster noch eine Couch, auf der jemand schlief. Vor dem Bett standen zwei riesige Schlappen – die größten, die sie je sah. Sie erinnerte sich … ach ja, das Enkelkind …? Tanja hob sich auf dem Ellbogen vorsichtig hoch und schaute genauer hin. Dem „Enkelchen“ war die Couch zu klein. Grotesk und ungeschickt streckten sich über die Lehne die lange haarigen Beine. Der Tag fing ja heiter an. Sie unterdrückte das Lachen und rüttelte Ludmila aus dem Schlaf. Die Situation war pikant. Das erwachte „Enkelchen“ fühlte sich entsprechend der Situation. Verwirrt zog er die Beine unter die Decke und stellte sich konfus vor: „Grischa.“ Die Mädchen lachten hell auf. Damals lachten sie viel. Sie lachten wie jetzt aus einer komischen Situation heraus, lachten bereit über jeden Witz, lachten über sich und einfach aus einer gesunden Begeisterung für das Leben selbst. Sie beherrschten noch nicht die hinterlistige Kunst, über andere aus dem Gefühl der Selbstsucht und Überheblichkeit zu lachen. Die Jugend selbst war der natürliche Grund ihres Glückes.
Die Nummer eins in ihrem Plan war, die berühmte Tretjakowskaja Galerie zu besuchen und sie lachten von Herzen über die überraschende Frage Grischas „Wo ist das?“ Sie versprachen, ihm es zu zeigen. Grischa kam ihnen ein wenig zurückgeblieben vor. In Moskau zu leben und noch nie in der „Tretjakowka“ gewesen zu sein, kam ihnen unglaublich vor. Ihnen war noch nicht bewusst, dass die Sehenswürdigkeiten von Moskau eher ein Touristenprivileg war, für die Einheimische war Moskau ein Ort fürs Leben mit beruflichem Alltag und ewigem Schlangenstehen in den Lebensmittelgeschäften.
Der vorgenommene Ferienplan verlangte von den Studentinnen vollen Einsatz von früh morgens bis spät abends. Statt Mittagessen gab es ein Päckchen Schokonüsse, die man unterwegs knabbern konnte, und erst zum Abendessen kamen sie ins Zimmer von Marja Iwanowna zurück, die mit ihrem Zeitvertreib sehr zufrieden war. Tagsüber war das Mütterchen in Grischas Gesellschaft, von dessen Beschäftigung die Mädchen nur rätseln konnten. Abends schlich sie sich durch die schmale dunkle Wohnungsdiele Ludmila und Tanja entgegen und führte sie eilig in ihr Zimmer. Sie bat sie allerdings, nicht zu duschen, bevor die Nachbarn einschliefen. Marja Iwanowna wohnte in einer gewöhnlichen Dreizimmerwohnung, einer sogenannten „Kommunalka“, wo jedes Zimmer einer Familie zugeteilt wurde. Das Badezimmer und die Küche diente für gemeinsames Nutzten. In dieser Wohnung waren schon die Nachbarn eine Last, ganz abgesehen von Gästen. Die Unterbringung von Fremden war eine unerlaubte Freiheit und Frechheit den anderen gegenüber. Marja Iwanowna nahm aber das Risiko des Friedensbruches mit den Nachbarn auf sich, um irgendwie über die Runde zu kommen. Ihre 45 Rubel Rente reichten noch nicht einmal für das Notwendigste, darum waren solche Untermieter wie Ludmila und Tanja ein gefundener Schatz.
Die Mädchen fuhren kreuz und quer durch Moskau, waren aber weit entfernt von der Erfüllung ihres Planes. Dass man allerlei Vorführungen und Besichtigungen schon längst im Voraus buchen musste, war für sie überraschend. In die Tretjakowskaja Galerie sind sie trotz aller Bemühungen nicht hineingekommen, obwohl sie es dreimal versuchten. Das Jahr 1975 war in der Moskauern Kulturgeschichte durch den „Besuch“ der „Mona Lisa“ von Leonardo da Vinci gekrönt. Sie hörten, dass diese Tour die Letzte für „Mona Lisa“ sein sollte. Danach wird sie für immer zurück nach Paris kommen und weiterhin ihre Fans in Louvre empfangen. Der häufige Ortswechsel war wohl nicht gut für ihre „Gesundheit“. Diese Nachricht führte dazu, dass die ganze Staatsbevölkerung, wie es aussah, nach Moskau strömte, um die letze Gastrolle von „Mona Lisa“ nicht zu verpassen. Obwohl der Tag für die Freundinnen schon beim ersten Morgengrau begann, war es leider immer schon für die „Tretjakowka“ Besichtigung zu spät. Die Galerie belagerte schon immer ein unübersehbares Menschengewimmel. Es kam ihnen vor, als ob die Leute hier trotz frostiger Kälte übernachteten. Einzelne Touristen und Gruppen drängten ungeduldig am Eingang. Von einer Gruppe sind Ludmila und Tanja nachsichtig „adoptiert“ worden und durften sich am Schlangenende bei ihnen eingliedern. Sie hofften, unauffällig mit der Gruppe zu verschmelzen, aber die strenge Ordnungspatronin ließ nur die gezählten Personen passieren. Nach der Zahl 20 fiel ihre Hand, wie ein Schlagbaum, kompromisslos vor ihren Nasen herunter. Sie blieben vor der Tür stehen. Als auch der dritte Tag in dieser Hinsicht keinen Erfolg brachte, gaben sie auf und richteten ihre Füße zum Russischen Museum. Vieles, was sie planten, mussten sie vergessen. Die Eintrittskarten für das Bolschoi Theater und den Moskauer Zirkus waren restlos für ein halbes Jahr im Voraus ausverkauft. Sie gingen dann zur Messe oder anders wohin, wo man noch hineinkommen konnte. Ihre Kontaktfreundlichkeit ermöglichte ihnen, immer lustige Begleitgenossen zu haben. Auf der Messe der Errungenschaft von Volkswirtschaft sind ihnen zwei junge Männer begegnet, die ihre Herkunftsgeschichten zu abenteuerlich fanden und sie ihnen nicht abkaufen wollten. „Zwei Deutschstämmige aus Kasachstan, hier in Moskau“? Sie glaubten offensichtlich, es sei eine spontan erfundene Geschichte und fanden es sehr witzig und bewundernswert, wie talentiert die Mädchen doch lügen konnten. In ihre Weltordnung passte die Geschichte nicht. Den Freundinnen war es aber nicht danach, sich weiterhin mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Darum lachten sie zusammen, aber aus verschiedenen Gründen: Die Jungs hielten sie für sehr originell und die Mädchen die Burschen - für ungebildet. Als Ludmila und Tanja zum Abschied ihre deutschen Familiennamen und Adressen zeigten, schauten sie die Mädchen fast flehend und enttäuscht an, dass man verstehen konnte: „Jetzt reicht es aber, Mädels, seid doch mal ernst“. Aus dem Fenster des abfahrenden Metrowaggons konnten die Freundinnen noch sehen, wie ungläubig sie ihre Zettel betrachteten.
Sie konnten es kaum glauben, dass hier in Moskau die Leute nichts von der Existenz der Russlanddeutschen wussten, obwohl die Deutsche Autonomie sich vor dem Krieg an der Wolga befand. Die Unwissenheit der Jungs führten sie auf das mangelnde Allgemeinwissen zurück. Wie fassungslos staunten sie erst, als die gleichen Fragen über ihre Herkunft ihnen Tanjas Kunstlehrer von der Fernuniversität stellte. Ihn konnten sie doch noch telefonisch erreichen und wurden zum Tee eingeladen. Er meinte, er hätte schon längst danach gefragt, hielte sich aber aus ethischen Gründen zurück. Aber jetzt, als er vor sich zwei gut gelaunte offenherzige Mädchen gemütlich Tee trinkend sah, fragte er sie ohne Hemmung, wie sie nach Russland kamen. Die Geschichten von den Wolgadeutschen hörte er noch nie. Es kam ihm alles märchenhaft vor und er staunte nicht weniger, als die Jungs auf der Messe. Ohne es zu wollen, sind die Mädchen zu einer Art Attraktion in Moskau geworden. Niedergeschmettert von der Unwissenheit der Moskowiter fragten sie sich, wie es sein konnte, dass man hier nichts von der Deutschen Republik wusste, die doch direkt vor der Nase, im Herzen Russlands war. Tanja und Ludmila erzählten von sich und ihren Eltern, aber das Lachen verging ihnen. Sie fühlten sich jetzt genau so, wie die Jungs in der Metro, als ob sie jemand an der Nase herumführte. Ein drittes Mal sind sie mit dieser Situation konfrontiert worden auf dem Weg nach Hause, im Zug. Sie teilten das Coupé mit einer sehr hübschen Blondine aus Iwanowo. Sie war in ihrem Alter, sehr beredsam und unterhielt sich mit ihnen über Gott und die Welt. So lange aber, bis es sich herausstellte, dass die Zwei Deutsche sind. Die Veränderung in ihrer Reisegefährtin war überraschend. „Deutsche?“ In dieser kurzen Frage und in dem Tonfall, wie sie gestellt wurde, hörte man unverfälschte Verachtung und Ekel heraus. Den Rest der Fahrt sprach sie mit Ludmila und Tanja nicht mehr.
Komplex- und vorurteilsfrei, offen für die ganze Welt, erwarteten die Freundinnen, dass auch der Rest der Welt ihnen mit offenen Händen entgegenkommt. Die Reaktion ihrer Mitfahrerin schien ihnen, ein Missverständnis zu sein. Das war aber später, auf dem Heimweg, jetzt aber waren Tanja und Ludmila in Moskau und noch lange mit ihren Entdeckungstouren nicht fertig.
Im Morgengrau standen sie schon in einer endlosen Menschenschlange, die sich durch den ganzen Alexandrowskij Park bis an die Kremlmauer windete. Paarweise bewegten sich die Leute durch den Park zu einem Treffen mit Lenin. Dieser Name begleitete sie von der Geburt an. Er war eine Legende, eine Verkörperung von Menschlichkeit und Altruismus. In Moskau sein und Lenin im Mausoleum keinen Besuch abzustatten, käme einem Verbrechen gleich. Erst am dritten Tag ist es ihnen endlich gelungen, in den Park überhaupt hineinzukommen. Knapp schlossen sie sich dem menschlichen „Tausendfüßler“ an, ging auch schon das schwere Gittertor hinter ihnen zu. Die Zahl der Besucher für heute war damit festgelegt. Nach zwei Stunden Schneckenmarathon, vollkommend durchfroren, kamen sie endlich an das Mausoleum. Fotoapparate und Handtaschen wurden ihnen schon unterwegs abgenommen und in Schließfächern untergebracht. Am Eingang zum Mausoleum, wo die Ehrenwache stand, herrschte eine totale Stille. Einige Treppen tiefer, im Inneren, stand im Dämmerlicht des Raumes der Sarg mit Lenin auf einem Podest. In der Zweierreihe stand Ludmila vor Tanja und versperrte ihr die Sicht, sodass sie überhaupt nichts sehen konnte. Deshalb erinnerte sie sich nur noch an die Wache und die totale Stille in diesem Raum. Kurz vor dem Ausgang drehte sie sich noch einmal um und sah noch kurz das kalkweißes, wie aus Wachs modellierte, Profil Lenins. In aller Stille gingen sie wieder in die frostige Winterkälte hinaus. Sie sprachen kein Wort miteinander und spürten ein gewisses Unwohlsein von eigener Gleichgültigkeit unter diesen Umständen. Sie fanden in sich keine Trauer oder Wehmut, was ihnen jetzt fast unanständig schien. Dieses komische Gefühl kannte Tanja aus einer früheren „Begegnung“ mit Lenin in Kujbyschew (heute Samara), in dem Quartiermuseum von der Familie Uljanows. Die Touristen Gruppe betrat den Flur des Hauses, wo sie Filzpantoffeln bekam, die sollte man über die Schuhe ziehen. Die Pantoffeln waren so grotesk riesig, dass Tanja bei allen Bemühungen, sich anständig zu benehmen, es nicht schaffte, das Lachen zu unterdrücken. Als die Reisebegleiterin, eine sehr elegante Frau mit einem koketten Hütchen, in den albernen Pantoffeln auf dem Parkett ausrutschte, ist es aus Tanja heraus geplatzt. Sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Ihr helles Lachen, das sie noch mit der Hand am Gesicht hoffnungslos verbergen versuchte, löste eine Kettenreaktion aus. Unabsichtlich steckte sie die ganze Gruppe an, eingeschlossen die Museumsführerin.
Damals, wie jetzt an dem Mausoleum, bedrückte Tanja so ein unwohles Schuldgefühl. Aus ihrer Sicht fehlte ihr die angebrachte Ehrfurcht für diese Situation.
Es gab damals in der Sowjetunion für jeden Anlass angepasste Gesichtsmasken und Gesprächsthemen. Man hätte noch nicht einmal sich selbst zugegeben, dass man im Inneren ganz anders empfand. Die Zweisichtigkeit wurde zur Gewohnheit, man trug festliche und häusliche Gesichter. Zu Hause, vor dem Bildschirm, empörte man sich über die Lügen und Korruption, aber in der Gesellschaft einer Betriebsversammlung fand man sich mit traditionellen Stempeln von Phrasen ab und fühlte sich dabei wie im Märchen von dem nackten König.
An einem anderen frostig kalten Wintertag, ziemlich durchfroren, sehnten sich die Mädchen nur noch nach einem warmen Unterschlupf. Das Erste, was ihnen in den Sinn kam, war das Historische Museum. Das befand sich direkt auf dem Roten Platz und versprach ihnen ein Dach über Kopf. Die Besucherzahl hielt sich in Grenzen und sie konnten sich in aller Ruhe ein Exponat nach dem anderen ansehen und die sie umhüllende Wärme genießen. Als sie sich einen riesigen Nomadenkessel betrachteten, hörten sie plötzlich hinter sich eine, an sie gewandte Männerstimme: „Das ist ein Exponat aus Mittelasien, wir sind auch von dort.“ Das hätte er gar nicht erwähnen müssen. Sein Akzent verriet in ihm einen Georgier, die man so eigenartig und sympathisch für ihr ausgeprägtes Humor-Gefühl fand. Vor den Mädchen standen drei typische Stellvertreter dieses Stammes. Unter den gleichen, tiefgezogenen breiten Schirmmützen, die in Volksmund „Airport“ genannt wurden, ragten prächtig ausgebildete in unverwechselbarer georgischer Hakenform riesige Nasen. Alle drei Männer setzten das gleiche breite Grinsen auf. „Was für ein Zufall! Wir kommen auch von Mittelasien, aus Kasachstan“, meinte Tanja. „Wau! Das ist ja eine Begegnung!“, breitete einer von ihnen theatralisch die Arme aus. Die Mädchen lachten. Es war schon angenehm, hier, weit von Zuhause, jemanden aus eigener Gegend zu treffen. Einem Georgier in Moskau zu begegnen, kam ihnen wie ein seltsamer Zufall vor. Ihnen war nicht bewusst, wie viele Georgier in verschiedenen krummen Geschäften hier verwickelt waren, darum nahmen sie den Vorschlag, zusammen essen zu gehen, ganz normal auf. Eigentlich hatten sie andere Pläne. Sie wollten doch in den zehn Tagen ihres Aufenthaltes in Moskau so viele Eindrücke wie möglich mit nach Hause nehmen. Tagsüber aßen sie immer nur eine Kleinigkeit unterwegs, aber für ihre „Landsleute“ beschlossen sie, ausnahmeweise in eine Kantine zu gehen. Draußen, auf dem Roten Platz, schauten die Mädchen ihre Begleitung genauer an: Die Männer waren schätzungsweise zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Von daher könnten sie fasst ihre Väter sein. Nach dieser Feststellung fühlten sich die Freundinnen fast geborgen, so natürlich und vertraulich kamen ihnen die Männer vor. Eigentlich war die Vertrautheit unter allen Umständen ihre besondere Eigenschaft. Aber in diesem Fall war sie noch größer. Den Jungen in ihrem Alter wollten sie gefallen, wollten schlagfertig und attraktiv wirken … kurz – sie wollten Eindruck hinterlassen. Bei diesen „Onkeln“ fühlten sie sich wie in der Gegenwart eines guten älteren Verwandten, den man zufällig in der Ferne getroffen hat. Die Männer ergriffen die Initiative. „Mädels, wir schlagen vor, mal menschlich essen zu gehen. Hier in der Nähe ist das Hotel „Budapest“, wo wir wohnen. Dort bieten wir euch ein gemeinsames Mittagessen an.“ Die Studentinnen wehrten sich, weil sie es sich gar nicht leisten konnten. Weil sie es aber nicht zugeben wollten, fielen ihnen alle möglichen Ausreden ein: „Dort ist es nicht angebracht, auf einen Sprung hineinzuschauen, man muss schon viel Zeit mitbringen, die wir aber leider nicht haben. Wir wollten heute noch das bekannte „Jungfrauenkloster“ besichtigen.“ „So ein Treffen …“, schmollte einer von ihnen „und ihr wollt euch drücken? Wir haben auch noch nicht viel gesehen in Moskau. Ich habe einen Vorschlag: heute kommt ihr mit uns essen, und Morgen fahren wir alle zusammen zu diesem, wie auch immer es heißt, Kloster“. Ludmila und Tanja schauten sich fragend an. „Ach, was soll`s“, dachten sie, willigten entschlossen ein und gingen alle zusammen in Richtung Hotel „Budapest.“
Das Hotel war ein altes Gebäude mit hohen ornamentverzierten Decken. Im prachtvollen Hotel-Restaurant fühlten sich die Mädchen plötzlich ganz klein und bedeutungslos. Galant nahmen die Kavaliere ihnen die Mäntel ab und führten sie in den Speisesaal. In der weitesten Ecke des Raumes hinter den vielen weiß gedeckten Tischen befand sich eine Bühne. Die Kellner mit gestärkten weißen Hemden hielten stolz die Köpfe über den schwarzen Fliegen. Auf sowas waren sie nicht vorbereitet und wurden von dem Ambiente ziemlich eingeschüchtert. Das Gespräch am Tisch stockte. Sie fühlten sich fehl am Platz. Um ein bisschen zu sich zu kommen, fingen sie an, sich vorsichtig umzusehen. Die Leute an den Nachbartischen führten ruhige Gespräche, rauchten, lachten, tranken und aßen. Kurz – alles lief völlig normal, nur in einem anderen Rhythmus. Tanja und Ludmila lebten noch im Rhythmus der Straße. Hier ging alles viel langsamer, nur sie stellten sich noch nicht um und fühlten sich deswegen unwohl. Die Georgier, im Gegenteil zu ihnen, waren die Gelassenheit selbst. Die lässige Haltung, in der sie sich in ihren Sesseln präsentierten, bedeutete, dass es eine gewohnte Situation für sie war. Tanja konnte ihre Vornamen nicht behalten. Die älteren Leute siezte sie gewöhnlich und sprach sie höflich mit dem zusätzlichen Vaters-Namen an. So einfach einen zwanzig Jahre älteren Menschen zu duzen hielt sie für unmöglich, darum vermied sie in den Gesprächen jede Form von Anrede. In der ihnen vorgelegten Menükarte schauten sich die Freundinnen als Erstes die Preise an. Aus Bescheidenheit wollten sie die Einladung nicht unverschämt ausnutzen und hielten Ausschau nach billigsten Angeboten. Die Männer durchschauten sehr schnell ihre Unsicherheit und schlugen vor, das Essen nach ihrer Wahl zu bestellen. Die Freundinnen hatten nichts dagegen. Als die Georgier aber auch die Getränke nach ihrer Wahl bestellten, ist in Tanja ein stummer Protest aufgestiegen: „Hier könnten sie doch uns wenigstens fragen!“ Bestellt wurde nur Wodka, den sie nie trank und Ludmila anscheinend auch nicht, weil sie sich wie abgesprochen fragend anblickten. Die ersten Schnapsgläschen zu trinken sind die Mädchen fast gezwungen worden. Tanja reichte es aber, um sich gänzlich von der quälenden Unbeholfenheit zu befreien. Alles schien jetzt wie selbstverständlich: dieses Restaurant, die Georgier und das Essen. Ihr zuvorkommender Tischnachbar servierte und bot ihr als Vorspeise eins nach dem anderen kleine Butterbrote mit schwarzem Kaviar an. Der schmeckte ihr nicht, sie aß ihn nur, weil sie bewirtet wurde und weil es eine teure Delikatesse war. Die salzigen Kügelchen erinnerten sie an die Kaulquappen, aber nach dem Wodka schmeckten auch sie. Als das Hauptgericht kam, war sie schon satt. Das Gespräch am Tisch wurde lebhafter. Die Studentinnen erzählten von ihren Erlebnissen und ihre „Gesprächspartner“ hörten zu, ohne zu hören, und gaben sich zufrieden, weil sie selbst nicht sprechen mussten. Sie hatten vor sich zwei unbeschwerte begeisterte Wesen, über dessen Witze sie lachten und sie dabei beobachteten.
Ludmilas niedliche Grübchen auf der tadellosen, durch Wodka rötlichen Wangenhaut, waren einfach umwerfend. Ohnehin strahlende Augen glänzten in feuchtem Blau. Das Bild der Vollkommenheit ergänzten volle, schön umrandete Lippen. Die Symmetrie und Proportionen dieses Gesichtes wirkten magisch anziehend und prägten sich unwillkürlich im Gedächtnis ein. Ludmilas Leiden war ihre Figur. Sie war groß und mollig, plagte sich mit verschiedenen Diäten herum und war in Männergesellschaft schüchtern.
Tanja gewann die Aufmerksamkeit mehr durch ihre kommunikative, lebhafte Art. Im Großen und Ganzen war sie mit sich zufrieden, Ihr Leiden waren die Sommersprossen, darum lernte sie ziemlich früh, mit Make-up und Kosmetik umzugehen. Im Vergleich zu Ludmila war sie quicklebendig in ihren Bewegungen und Mimik. Ihre zierliche Gestallt fiel erst durch die Erkennungszeichen ihrer Redensart und Bewegung auf.

Auf der Bühne herrschte ein Vorbereitungschaos. Musikanten nahmen an ihren Instrumenten Platz. Der Gitarrist holte die ersten tiefen Probetöne heraus … und die Stimmung am Tisch heiterte sich merklich auf. Ludmila versuchte, ein weiteres Glas Wodka abzulehnen. Der hartnäckige Georgier führte sich scherzhaft beleidigt auf, schaute ihr flehend in die Augen, holte aus sich seinen ganzen Charme und Schlagfertigkeit heraus und spielte den Clown, wusste aber ganz genau, was er wollte. Ludmila verstand die Unsinnigkeit ihres Wehrens, lachte und hob das Glas auf. Alle mussten natürlich mit anstoßen, weil es jetzt zu einem in Georgien beliebten Trinkspruch auf die Langlebigkeit kam. Ludmilas Tischnachbar sprach geübt: „Trinken wir auf die Särge, auf die Särge, die aus hundertjährigen Eichen angefertigt werden, aus den Eichen, die heute gepflanzt werden.“ Alle kippten die Gläser. Eigentlich redete man nur Ludmila zu, zu trinken. Die drei Freunde stellten wohl ohne Absprache fest, dass Sie die ernstere von den zwei Mädchen war.
Die Musik spielte …Die Kronleuchter über Tanjas Kopf präsentierten strahlende Reigen … Ludmila kippte ungeschickt ein Glas Wodka über ihr Kleid. Alle warteten noch auf den Nachtisch, der ließ aber auf sich warten. Von Tanja aus könnten sie längst aufstehen und gehen, aber sie wurden ja von Georgier bewirtet, die bekanntlich großzügig und gastfreundlich sind. „Hört mal“, meldete sich der „Clown“ an ihrem Tisch. “Wollen wir nicht lieber den Nachtisch ins Zimmer bringen lassen? Ihr habt doch nichts dagegen?“ Die Freundinnen hatten nichts dagegen. Ihnen gefiel alles. Die Welt um sie herum drehte sich verschwommen und sie fühlten sich auf einzigartige Weise großartig. „Ober“, rief der alles in Griff habender „Clown“. Er zahlte 120 Rubel für das Essen. Unerhört für die Mädchen. Soviel verbrauchten sie noch nicht mal in 10 Tagen fürs Essen in Moskau.
Der Lift fuhr ziemlich lang nach oben. Endlich kamen sie an. Sogar in ihrem Zustand merkten sie, dass sie in einer Luxus Suite gelandet sind: großes Gästezimmer mit einem Flügel am Fenster, Farbfernseher, Polstermöbel, in deren Sitzen man versinkt, Bar mit Getränken, in der Mitte - ein Tisch mit Obstschale. In beiden Richtungen aus dem Wohnzimmer führten zwei weitere Türen. Um die Mädchen noch mehr zu Beindrücken führten ihre Gastgeber sie durch die Suite. Es kamen noch ganze drei Schlafzimmer und ein Kabinett zum Vorschein. Jetzt saßen sie im Wohnzimmer und warteten auf den Nachtisch. Die neuen Bekannten fühlten sich wohl in dieser Umgebung und zeigten ihre Gastfreundschaft. Sosso, der jüngste und sympathischste von den drei Freunden, saß vor dem Fernseher und versuchte, ihn einzustellen. Auf dem Bildschirm sah man plötzlich nur noch Schnee, und er konnte daran nichts ändern. Er, die Stimmungskanone, nahm alle Organisationsangelegenheiten automatisch an sich. Das war seine zweite Natur. Am Tisch kümmerte er sich darum, dass es nicht langweilig wurde und jetzt, wo der Fernseher anfing zu streiken, war er sofort dabei, diese Unannehmlichkeit aus der Welt zu räumen. „Kein Problem. Es wird sofort erledigt“, bemerkte er kurz und ging aus dem Raum.
Bulat blätterte vor Ludmila im Kabinett einen ausländischen Autokatalog. Dort wählten sich die Georgier schon bestimmte Modelle zum Kaufen aus. Durch die geöffnete Tür zum Kabinett sah man gut das grobe und willensstarke Profil von Bulat. Stark und stämmig, mit sparsamen Bewegungen, er stellte in seiner Erscheinung einen sachlichen Geschäftsmann dar, für den die lyrischen Seiten des Lebens nicht existierten. Für solche, wie er, ist die Welt nur ein großer Markt, wo alle Zwischenmenschliche Beziehungen sich nur auf das Kaufen und Verkaufen beschränken. Noch unten im Restaurant beteiligte er sich nur dann am Gespräch, wenn es um Autos, Häuser oder Geld ging. Hier kannte er sich aus. Jetzt, satt und erregt durch die Nähe eines jungen gesunden Körpers, überlegte er fieberhaft, wie er vorgehen sollte. Intuitiv verstand er noch, dass die einfache und so von ihm beliebte Formeln des Kaufens und Verkaufens heute versagen werden, aber Ludmilas Nähe brachte ihn um den Verstand.
Der ruhige und gut gebaute Awas nahm die Stellung eines Seitenbeobachters ein. Beim Mittagsessen war er ziemlich zurückhaltend. Seine kurzen Bemerkungen waren nur ethikpflichtig, schlossen ihn aus dem Gespräch nicht aus, befreiten ihn aber vor geistiger Anstrengung. Unter seinem kniffligen Blick fühlte man sich eingeschüchtert und unwohl. Man konnte nicht richtig verstehen, lachte er dich jetzt aus oder hypnotisiert und unterdrückt er deinen Willen. Diesmal war Tanja sein Opfer. Er saß in einem tiefen Sessel und beobachtete sie von der Seite bei ihrer Anstrengung, ein Kinderlied am Klavier vorzuzaubern. Unter seinem Blick hörte sie damit auf und wollte ihn gerade umgehen, als er sie unerwartet an der Taille packte und auf die Lehne seines Sessels zog. Sie verlor das Gleichgewicht und fiel ihm auf den Schoß. Noch nie im Leben ist jemand mit ihr so umgesprungen. Benebelt im Kopf begriff sie noch, dass hier ein übles Spielchen vor sich geht. Sie versuchte sich vergeblich, aus seinen Händen zu befreien und schaute sich in ihrer Hilflosigkeit suchend nach Ludmila um. Sie konnte sie nirgendwo sehen und bekam Panik. Plötzlich ging die Eingangstür auf und zwei Bedienstete rollten auf einem Tisch das neue Fernsehgerät herein. Dazu kam noch ein Zimmermädchen, das den Tisch und das neue Gerät abstaubte. Durch diesen Wirrwarr um den Fernsehwechsel sah Tanja plötzlich Ludmila entschlossen auf sie zukommen. Ihre sonst so ruhige und ausgeglichene Freundin war kaum wieder zu erkennen. So aufgebracht sah sie Ludmila noch nie. Sie packte Tanjas Hand und ließ kurz fallen: “Schnell hier raus!“ Sie schnappten noch schnell nach ihren Mänteln an der Tür und stürzten durch den Gang an den wie für sie bereitgestellten offenen Lift. Der fassungslose Sosso rannte ihnen hinterher und schaffte es gerade noch, mit einem Sprung in das Innere des Fahrstuhles zu kommen, als die Tür auch schon zuging. Der Lift fuhr nach unten und brachte die Mädchen, wörtlich, auf die sündhafte Erde zurück. Die langsame Ernüchterung nach dem erlebten Schock verschlug ihnen die Sprache. Sie stießen sich in der Enge des Liftes gegenseitig an mit vergeblichen Versuchen, in die Mantelärmel zu kommen. Sosso, noch ganz verwirrt, schrieb eilig seine Adresse auf. Unten angekommen rannten sie durch das breite Foyer auf die Straße. Sie hörten noch: “Wohin rennt ihr den? Nimmt doch wenigsten die Adresse.“ Draußen sagte Ludmila plötzlich: “Weis du, was er mir sagte?“ Tanja schaute sie nur fragend an. Er meinte: “Ihr glaubt wohl, es sei alles kostenlos? Gegessen, getrunken … und das einfach so? So geht es nicht, meine liebe. Alles in dieser Welt hat seinen Preis.“
Wenn zu ihrem Glück der Fernseher nicht defekt gewesen wäre, hätte das alles womöglich traurig enden können. Erst jetzt begriffen sie, wie furchtbar ernst ihre Lage war. Sie liefen bei beachtlichem Tempo, schweigend und konzentriert auf die Füße schauend, der verschneiten Straße entlang. Keine von ihnen wusste, wohin sie gingen. Die Verarbeitung des Geschehenen nahm seinen Lauf. An einer großen Kreuzung blieben sie plötzlich, wie erwacht, stehen und schauten sich an. Einen Augenblick schauten sie sich ganz ernst an, dann aber … lachten sie so laut los, dass die Passanten sie fragend anstarrten. Zwei Mädchen standen an einer unbekannten Kreuzung irgendwo in Moskau, weit weg von Zuhause, und lachten sich die Seele aus dem Leib. „Dafür haben wir aber ein gutes Mittagessen gehabt …“ Der Satz brach unter neuem Lachanfall ab. Das war wie eine Schutzreaktion auf die Last des Erwachsenwerdens. Den naiven stellt das Leben Fallen. Erst an diesem Tag nahmen sie Abschied von der unbefleckten Welt der Kindheit, der Welt des grenzenlosen Vertrauens. Das Ende ihrer Kindheitszeit war sowieso längst überfällig, weil sie aus der Provinz waren, wo die Zeit ein wenig langsamer lief.
Tanja blickte in ihre Jugend zurück, wo sie in Erinnerung zwei lachende Mädchen an einer Straßenkreuzung sah, und dachte wehmütig: „Meine lieben Provinzler!“

Fortsetzung folgt

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Tag der Veröffentlichung: 30.09.2009

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