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Streich des Zufalls

Kurzgeschichte (aus der Reihe „Begegnungen“)

Sie lernten sich per Mausklick kennen. Martin war ein junger Dozent für Geologie bei der Uni, konnte auf charmante Art kommunizieren und sah vom Foto her sehr sympathisch aus. Gebildet und kultiviert – er gefiel ihr.



Sie war für ihn, in allen auf dem Bildschirm präsentierten Formen, eine feminine Gestalt mit klassischen Merkmalen: zierlich, gut gebaut und mit einem bezaubernden Lächeln auf einem mädchenhaften Gesicht. Beide hatten einiges gemeinsam und waren gegenseitig interessiert an weiterem Chatten. Obwohl so eine Art von Bekanntschaft nicht viel versprach, waren sie trotzdem neugierig aufeinander und gingen dem Bedürfnis, sich einmal zu treffen, nach. Darum führten sie zuerst längere Telefongespräche über Gott und die Welt und bauten nach kurzer Zeit völlig die Anspannung ab, sodass es sich fast wie eine vertrauliche Eheunterhaltung anhörte. Die Entfernung spielte dabei überhaupt keine Rolle. Sie fühlten sich nah durch die Kraft der Übereinstimmung.


Das Treffen sollte in Bonn stattfinden, wo sie sich vornahmen, das Kunstmuseum zu besuchen, das in diesem Winter gleichzeitig drei Ausstellungen präsentierte: die Hethiter, Troja und die persische Kunst. Martin interessierte sich für Geschichte, Lena - für Kunst, also war für Beide etwas Spannende dabei.




Martin studierte in Bonn, kannte sich dort gut aus und wollte Lena zusätzlich zu dem Museum auch noch die Stadt zeigen. Seine Chatt-Freundin sollte die Zugverbindung nutzen und er würde sie am Bahnhof abholen.

Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof ein. Schon aus dem Fenster des ankommenden Zuges erblickte sie einen Mann, dessen Erscheinung keinen Zweifel an dem Grund seines Daseins zulassen konnte: Sein Blick sprang von Fenster zu Fenster, seine ganze Haltung zeigte ein angespanntes Warten.

Lena stieg aus dem Zug und schaute sich um – niemand kam ihr entgegen. Langsam löste sich die Menschenmenge auf dem Bahnsteig auf und übrig blieben nur noch zwei Gestalten: sie und der gepflegte Mann, den sie aus dem Wagonfenster sah. Er wartete ohne Zweifel auf jemanden, aber nicht auf sie. Er nahm sie auch nicht wahr, sein Blick blieb noch nicht einmal für einen Sekundenbruchteil auf ihr stehen, er glitt weiter, in Richtung Bahnhof, wo sich noch einige Leute aufhielten.“Vielleicht war er es doch?“, dachte sie. Er sah Martin, den sie durch Fotos kannte, vom Typ her ähnlich, war auch ein Brillenträger, schien ihr aber viel älter zu sein. Ob sie jetzt auch so anders aussieht, wie auf dem Foto? Nein, das ist ausgeschlossen – sie schickte ihm doch ein aktuelles Bild von sich. „So“, dachte Lena „ich muss ihn jetzt ansprechen, er wird schon nicht beißen.“ Mit diesem Entschluss ging sie auf ihn zu. Er sah sie fragend an und schwieg. „Warten sie hier auf jemanden?“ „Ja“, meinte er. „Und auf wen, wenn ich fragen darf?“ „Auf Frau Malinowski.“ „Entschuldigung, es ist alles nur ein Irrtum“, musste sie darauf lachen. So etwas erlebte sie noch nie. Die Situation schien ihr komisch und irritierend gleichzeitig zu sein. Sie drehte sich um und ging in Richtung eines Reisebüros. Der Mann wurde aber jetzt neugierig und lief ihr hinterher: „Könnten Sie mir verraten, was sie so aufgeheitert hat?“, fragte er. „Mir scheint es, wir beide sind bestellt und nicht abgeholt worden. Wir sollten wohl versuchen, uns irgendwie weiter zu helfen“, lachte Lena verlegen und griff in die Tasche nach dem Handy. Der Unbekannte lächelte sie an, ging zur Seite und tat das Gleiche. Nach einigen Minuten musste die Arme eine weitere Enttäuschung einstecken – auf ihren Anruf hin meldete sich Martins Mailbox. „Es wird ja immer besser!“, dachte sie, starrte verzweifelt das Handy an, als ob es ihr verraten könnte, was das alles soll. Um jedes Hindernis von vornherein aus dem Weg zu räumen, tauschten Lena und Martin noch gestern ihre Handynummern aus und speicherten sie. Und jetzt schien es, dass alle Vorsichtsmaßnahmen umsonst waren. „Vielleicht verstand ich etwas falsch und sollte woanders auf ihn warten?“ Mit diesem Gedanken ging sie zum Haupteingang des Bahnhofes. „Na“, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich, „haben Sie auch schon Ihren Partner erreicht?“ „Nein. Sie hatten wohl mehr Glück.“ „Es wird schon alles wieder gut!“, ermunterte sie der Fremde und verabschiedete sich mit einem Lächeln. Ihr schien es alles ziemlich abenteuerlich und sie begann zu überlegen, was sie selbst unternehmen konnte, wenn sie schon den weiten Weg hierher machte. Als sie ins Reisezentrum kam, klingelte plötzlich das Handy. Diesmal hörte sie, die so bekannte Stimme Martins, die ohne jegliche Begrüßung ungeduldig und fast ängstlich fragte: „Wo bist du, Lena?“



„Ich bin in Reisezentrum, und du?“ Darauf kam keine Antwort, nur ein Kurzes:
„Augenblick, ich bin gleich bei dir“. Nach ein paar Minuten ging die Tür auf und ein großgewachsener Mann in hellem Mantel schritt eilig über die Schwelle herein. Es war ohne Zweifel der ihr von Fotos her bekannte Martin. Noch ganz außer Atem ging er auf Lena zu, umarmte sie wie eine alte Bekannte und zog sie an der Hand hinaus aus dem Reisezentrum.
„Ich muss dir etwas erzählen! Du wirst es mir nicht glauben!“
Leuchtende Augen, heiterer Blick und scharmantes Lächeln auf einem jungen Gesicht, das noch jünger durch das Lächeln aussah - all das realisierte sie mit einem Blick und gab sich mit dieser Beobachtung sehr zufrieden.
Er stand ihr gegenüber und schaute sie gleichfalls neugierig an. Er sah eine lachende Gestalt, die so etwas Niedliches wie ein Kind an sich hatte. Lena gefiel ihm und er wollte sie auch sofort küssen. Eine Sekunde lang zögerte er, aber wirklich nur eine Sekunde. Im nächsten Augenblick umarmte er sie schon und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihre Mütze, die herunter zu fallen drohte, festzuhalten. Lena zu küssen war eine Kunst, weil sie sehr klein war. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände und näherte sich zu ihren Lippen, sie schaute auf und die störende Mütze flog mit all ihrer Pelzpracht auf den Boden. Er versuchte sie noch aufzufangen, ließ es aber sein ... schließlich hatte er etwas Besseres zu tun ...
Martin bereitete Lena auf diese erste Begegnung gründlich vor. Sie sollte damit rechnen, dass er sie sofort knutschen würde, das sei so seine Art, was aber nichts zu bedeuten hätte. Sie sollte sich in keinem Fall in ihn verlieben. Ob das so funktionieren würde, wusste sie nicht, aber sie war bereit, es zu erfahren ...
Sie gingen durch den Park, an dem Schlossgebäude der Universität vorbei, und er erzählte ihr, noch ganz aufgeregt, von dem Geschehen vor ihrem Treffen:
„… ich kam am Bahnhof an, wartete ungeduldig auf dich ... Der Zug kam an ... Aus der Tür mir gegenüber stieg eine Frau aus und kam mir entgegen. Sie lächelte und breitete für eine herzliche Begegnung die Arme aus. Einen kurzen Augenblick lang hatte ich noch Bedenken: „Sie sieht ja gar nicht so aus, wie ich es mir vorstellte.“ Aber viel Zeit fürs Überlegen blieb mir nicht, ich musste handeln und zwar nicht nach meiner Empfindung, sonder nach der Situation, die in diesem Fall ohne weitere Alternative war.
Sie küsste mich leidenschaftlich ... mir ging durch den Kopf: „Lena war eher zurückhaltend am Telefon, aber was soll´s, wenn es ihr danach ist - habe ich auch nichts dagegen. Ich umarmte Sie und wir gingen, eng umschlungen, in die Stadt. Sie duftete herrlich, ich schnüffelte forschend an ihrem Haar, bis ich herausfand, was für ein Parfüm sie benutzte und sagte es ihr, sobald ich es erkannte. Sie staunte: „Woher weist Du das?“ „Habe so meine Erfahrung.“ Ich gefiel ihr und das machte sie noch entspannter. Sie rührte sich unter meinem Arm, führte ihre freie Hand zu meinem Gesicht und tätschelte mich unter dem Kinn, sodass ich fast zu schnurren anfing. Mein Hirn versuchte noch etwas zu realisieren: „Sie übertrieb aber mit der Körpergröße ein wenig“, dachte ich, „so klein ist sie ja gar nicht.“ Ich schnüffelte in ihrem blonden Haar und ließ unwillkürlich den Satz fallen: „Ich hatte eher eine Dunkelhaarige erwartet.“
Sie machte einen Schritt zurück, schaute mich kokett an und fragte: „Gefällt es dir nicht? Ich färbte sie gestern extra.“ Meine Zweifel waren damit auch dahin. Und sie sprach auch wie du, Lena, mit einem Akzent, die Stimme war zwar anders, aber ... die Telefonleitung könnte sie ja auch verändern.
Wir kamen in das Unigebäude hinein und ich erzählte ihr über die Geschichte und Architektur des Schlosses. Sie meinte: „Da bin ich wie zu Hause, schließlich studierte ich hier.“



„Wieso erzählte sie mir davon nichts?“, fragte ich mich. Wir fühlten uns mit jeder Minute rätselhafter, aber das machte das Ganze noch spannender. Sie schaute mich jetzt, wo wir einen kleinen Abstand gewannen, prüfend an und wunderte sich: „Die Fotos können aber manchmal mächtig täuschen!“ Ich konnte ihr nur zustimmen.“
Die kleine Lena schaute zu dem großen Martin auf und konnte kaum glauben, dass seine Geschichte sich tatsächlich so abspielte. „Plötzlich klingelte ihr Handy“, erzählte er weiter. „Ich schaltete ja meins gleich nach „unserem“ Treffen auf Stumm. Jetzt, wo sie telefonierte, holte ich meins aus der Jackentasche und starrte, ohne etwas zu begreifen, auf das Display, das deinen Anruf anzeigte. Ich schaute „Dich“ vor mir an und „Du“, noch mit dem Handy am Ohr, sprangst von mir weg mit der Frage: „Wer sind Sie?“ Darauf konnte ich nur noch stottern ...
Ich fasste mich aber schneller, als sie. Ihr Blick verriet eine Palette von Gefühlen: Enttäuschung und Erstaunen, Unsicherheit und Verzweiflung.“ „Was sage ich denn dem Mann jetzt?“ „Hören Sie, wir stellten doch nichts Unanständiges an, sagen Sie ihm doch die Wahrheit. Kommt, wir gehen zurück zum Bahnhof, dort warten schließlich zwei Leute auf uns.“ Ich näherte mich ihr, sie aber rannte weg, auf die andere Straßenseite. Dieses Benehmen konnte ich zwar auch nicht verstehen, aber akzeptieren musste ich es wohl. Wer weis, was für ein eifersüchtiger Typ es war. Mir ging durch den Kopf: „Wie schnell wir von „Du“ auf „Sie“ umgestiegen waren und wie augenblicklich alles im Leben sein kann.“ Für weitere philosophische Überlegungen hatte ich aber keine Zeit mehr ...“

Das Wetter war herrlich, dieser Morgen mit dem wolkenlosen Himmel und der blendenden Sonne war wie aus dem April herausgegriffen und wurde in diesem windigen Februar als Geschenk präsentiert. Lena und Martin genossen es aus vollen Zügen. Sie standen sich lachend gegenüber am Rhein und konnten nicht so schnell von dem, was geschehen war, wegkommen. Der Tag versprach ihnen noch viele schöne Stunden ... aber das ist schon eine andere Geschichte.




Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.09.2009

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