Der erste Schultag
Mariechen – ein begeistertes Küken mit frechen dünnen Zöpfchen und runden neugierigen Augen, lebte in einer kleinen Stadt. Das behaupteten die Erwachsenen. Für sie selbst war es eine riesige unbekannte Welt, wohin nur die Großen durften. Ihre Welt endete hinter dem Haus in ihrer Straße. Weiter in der Ferne, abgegrenzt von dem Nichts mit einer unendlichen Bergkette, war nur noch eine Heide mit einzelnen Felsensteinen.
Heute begann für Mariechen ein neuer Lebensabschnitt – sie geht das erste Mal in die Schule. Ihre Gedanken beschäftigten sich nur noch damit in den letzten Tagen. Ihr Zeigefinger tat immer noch von dem Dachspringen weh. Sie kam noch gut davon. Für die weiche Landung sorgte ein Berg von Kissen aus dem Nachbarhaus, den sie mit drei anderen Kindern auf dem Boden aufbauten. Die Freunde, bei denen zu Hause es stattfand, bekamen dafür noch Prügel. Mariechen dachte besorgt, wie sie mit ihrem verletzten Finger es schaffen soll, ihre Tasche zu tragen? Ihr Vater, ein ausgezeichneter Schuster, zauberte für sie ein hübsches Täschchen mit verchromten blanken Ecken und einer Verzierung aus ihren Namen auf der Verschluss-Klappe. Mariechen war so klein, dass es keine anderen Taschen tragen konnte. Sie probierte die Schultaschen von ihren älteren Geschwistern aus. Sie waren so groß, dass Mariechen sich beim Laufen nach links neigen musste, weil sonst die Tasche am Boden schleifte, und sah dann ganz schief aus.
Heute war es so weit. Das kleine Mädchen stand vor dem Spiegel und schaute sich in ihrem neuen dunkelbraunen Uniformkleidchen mit gestärkten weißen Kragen und Manschetten zufrieden an. Das festliche Bild vollendeten die weiße Trägerschürze über ihrem Kleid und die genau so weißen Schleifen im Haar. Ihre zehn Jahre ältere Schwester Anna flocht ihr die Zöpfchen vom Kopfwirbel an so fest, dass sie ihre ohnehin offene runde Augen gar nicht mehr schließen konnte.
Mariechen ging aus dem Hof durch das kleine Tor. Es fiel ihr schwer heute, an ihm vorbei zu gehen, ohne auf ihm herumzuklettern. Das Tor mit den fehlenden Pfosten am oberen Querbalken bildete eine bequeme Nische als Sitzplatz für Mariechen. Man musste dem Tor nur einen Schwung geben, damit es sich wie eine Schaukel hin und her bewegte. Seine Scharniere gaben dabei auch noch so lustige Töne von sich. Sie schwenkte es am Vorbeigehen doch noch an und es quietschte, als ob es sagen wollte: „Komm bald zurück.“
Mama und Anna packen Mariechen von beiden Seiten an den Händen und gingen alle zusammen Richtung Schule, die sich auf der anderen Seite der Stadt befand, wo Mariechen noch nicht war. Der Weg war unendlich weit. Sie gingen zuerst durch ihr Viertel, das hier scherzhaft „West-Berlin“ genannt wurde, weil sich hier die verschleppten Deutschen gleich nach dem Krieg ansiedelten. Die Siedlung bestand aus fast gleich aussehenden kleinen Satteldach-Häusern, die sich, umfast mit grünen Zäunen, entlang der Straße reihten. Weiter, Richtung Stadtmitte, wurden die Häuser immer größer und wuchsen in die Höhe. Hier fehlten die schönen bunten Vorgärten. Mutter und ihre Töchtern gingen über den breiten Platz vor dem Kinogebäude, lenkten mehrmals links und rechts in einige kleine Nebenstraßen ein, bis sie endlich an Mariechens Schule ankamen. Die große Anna (sie war schon in der zehnten Klasse) sagte noch kurz „Tschüs“ und ging weiter, in Richtung ihrer Schule.
Der Schulhof wimmelte gerade so von Menschen. Mariechen sah noch nie in ihrem Leben so viele fremde Leute auf einmal. Sie ging nicht in den Kindergarten und war in so einer Menschenmenge bis jetzt nur einmal bei ihrem Onkel auf der Hochzeit. Aber damals waren es Leute aus der Verwandtschaft, die sie kannte. Heute, in dem lauten Gedränge auf dem Schulhof, waren nur Fremde um sie herum. Sie fühlte sich verloren und klammerte ängstlich an der Hand ihrer Mutter.
Aus der Menschenmasse bildete sich ein riesiges Viereck um den Schulhof herum, das sich ordentlich in Gruppen aufgliederte. Eine fremde, gut gekleidete blonde Tante mit einem großen Buch in der Hand näherte sich der Gruppe, in der sich Mariechen an Mamas Hand klammerte. Plötzlich hörte das Mädchen, wie die blonde Frau ihren Namen aufruft. Die Mutter zog Mariechen an der Hand ein wenig nach vorne, damit die „Tante“ mit dem Buch sie sehen konnte. Die freundliche Dame bückte sich zu Mariechen herunter und sagte sanft: „Jetzt gehörst du zu mir, Mariechen.“ Oh Schreck! Mariechen versteckte sich hinter ihrer Mutter in den Rockfalten. Sie gehörte nur zur Mama!
Die Kinder gingen jetzt ohne Eltern mit der gut gekleideten Dame, die sich Anna Pawlowna vorstellte, in die Klasse herein. Mariechen hörte mit großem Erstaunen, wie man vorgehen muss, um etwas ganz normales zu machen. Bevor man was sagt, sollte man zuerst die Hand hochheben und auch noch abwarten, bis du gesehen und gefragt wirst. Sogar wenn man mal ganz dringend muss – sollte man erst fragen!? Wenn die Lehrerin in die Klasse hereinkommt, muss man aufstehen. Die Kinder, die dabei hintereinander eine gerade Linie bilden und ganz stillstehen bleiben, werden dafür mit einem roten Fähnchen belohnt, das auf dem ersten Tisch in der Reihe aufgestellt wird. Bis jetzt hatte Mariechen sich ja auch bei bestimmten Spielen mit ihren Freunden an gewisse Regeln halten müssen. Sie spielte ja sehr gerne, darum prägte sie sich diese Schulregeln gut ein. Die Schule versprach ihr, ein interessantes Spiel zu werden.
Die ersten Stunden in der Schule waren vorüber. Mariechen stand alleine auf dem Schulhof und wusste nicht weiter. Sie war heute Morgen in Begleitung von Mama und Anna hierhergekommen und jetzt musste sie ganz alleine zurechtkommen. Wie findet sie jetzt nach Hause? Sie schaute sich verzweifelt um und konnte gerade noch sehen, wie zwei bekannte Jungs aus ihrer Straße das Schulgelände verlassen. „Ich muss nur hinterher laufen, dann komm ich bestimmt nach Hause“, dachte sie. Mariechen atmete erleichtert auf und rannte den Jungs hinterher. Aber die Zwei, Sascha und Wanja, hatten es nicht eilig. Sie kannten sich in der Stadt, im Gegenteil zu Mariechen, sehr gut aus. Mit Mädchen wollten sie nichts zu tun haben, liefen deswegen jetzt immer schneller, sodass Mariechen ihnen fast nicht nachkam. Das Mädchen ließ sich aber nicht so leicht abschütteln und lief hinterher … und lief … und lief … Der Weg zog sich ins Unendliche. Die Lausbuben ließen sich auf dem Weg nichts entgehen und blieben an jeder Ecke stehen, weil die Stadt ihnen immer etwas Interessantes bot. Jetzt standen sie gerade vor einem riesigen Tor, aus dem zwei roten Feuerwehrautos herausfuhren, und schauten zu, wie zwei Männer aus dicken Schläuchen die Wassertanks füllten … Nach kurzer Zeit kletterten sie über den Zaun an einem Fußballplatz und schauten sich eine Weile das Spiel an, bis das Mariechen sie kläglich anflehte, doch endlich nach Hause zu gehen. Die Jungs wiesen sie aber mit Kurzem „Lass uns in Ruhe, du dumme Ziege“ ab. Es wirkte aber nicht, Mariechen kannte sich in der Stadt nicht aus, war auf die Zwei angewiesen und wurde immer aufdringlicher. Sascha und Wanja hatten endgültig die Nase voll, steckten ihre Köpfe zusammen, schielten schellmisch zu Mariechen rüber und … rannten plötzlich so schnell sie konnten von ihr weg.
Mariechen stand hilf - und hoffnungslos mitten in der Stadt vor dem Kinogebäude mit dem schwierigen und bedeutungslosen Namen „Avantgarde“ (sie erinnerte sich, wie Anna es heute Morgen las) und weinte. „Mama“, rief sie ganz leise und wischte mit dem Fäustchen die Tränen aus dem Gesicht. Sie drückte ihre Tasche mit beiden Händen an sich, als ob sie ihr ein Halt bieten konnte. Sogar die Zöpfchen mit den gelösten Schleifen, die heute Morgen noch so frech und stramm nach oben gezogen waren, sehen jetzt traurig aus. Eine Frau beugte sich zu ihr herunter. Mariechen fühlte sich so grenzenlos unglücklich und verlassen, dass es nur noch schluchzte und auf die Frage der Frau nicht antworten konnte. In diesem Moment hörte sie plötzlich ihren Namen. Sie drehte sich um und sah auf der Straße ihren dreizehnjährigen Bruder Viktor vom Fahrrad absteigend. Ihr nasses Gesicht leuchtete auf und sie rannte zu ihm. Noch schluchzend, aber überglücklich, sprang sie leicht auf die Fahrradstange vor ihrem Bruder. Viktor wurde zum Brot einkaufen geschickt und fuhr zum Glück zufällig vorbei. Mariechen, das oft und gerne ihren Bruder ärgerte, lehnte jetzt dankbar ihren Kopf an seine Schulter, er war schließlich heute ihre Rettung.
Der erste Schultag, voller Ereignisse und neuen Erfahrungen für Mariechen, war vorüber. Die unbekannte Welt erschreckte sie ein wenig, machte aber sehr neugierig auf sich und versprach ihr keine Langeweile.
Tag der Veröffentlichung: 24.09.2009
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