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VONNY

„Du willst wirklich abhauen?“ frage ich. „Hey, du weißt doch, dass es nicht anders geht. Du kommst schon klar, ohne mich.“ versucht Tar mich zu beruhigen.
Tars Leben ist echt hart. Zuhause prügelt ihn sein Stiefvater windelweich und in der Schule geht es ihm echt mies. Seine Noten werden immer schlechter in letzter Zeit und seit einigen Monaten geht er gar nicht mehr in die Schule. Er meint, da sowieso bald die Sommerferien beginnen würden, kommt es auf die letzten Wochen eh nicht mehr an.

Es fing an, als sein Stiefvater vor ungefähr einem halben Jahr ziemlich viel Geld bei einem fragwürdigen Aktiengeschäft verloren hat. Es war noch Winter und er ertrank seinen Frust darin, sich in Grund und Boden zu trinken, bis er mit einer ziemlich heftigen Alkoholvergiftung ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Als er dann am nächsten Tag heimkam, hat er Tar zum ersten Mal verprügelt.
Einmal hat mir Tar erzählt, was dann zuhause passiert ist: Er wollte gerade aus dem Haus gehen, als schon von außen jemand die Türklinke hinunterdrückte. Da stand er vor ihm, sein Stiefvater und er war sturzbetrunken. Anscheinend hatte er der Kneipe noch einen längeren Besuch abgestattet, bevor er heimkam. Er packte ihn am Genick und zerrte ihn in die Wohnung. Da begann er ihn anzubrüllen. Er gab ihm für alles die Schuld, seine Arbeitslosigkeit, die Schulden und dass er den wahrscheinlich letzten Kredit, den ihm die Bank je geben würde, bei einem Aktiengeschäft verloren hatte. Dann begann er ihn zu schütteln, er schüttelte ihn immer heftiger, aber er hörte nicht auf. Bis dahin hatte Tar kein Wort herausgebracht, aber nun begann er zu schreien. Da schlug ihn sein Stiefvater mit dem Kopf gegen die Wand. Jetzt endlich ließ er ihn los und schwankte ins Wohnzimmer, wo er sich aufs Sofa sinken ließ.
Eine Weile blieb Tar am Boden liegen, dann richtete er sich auf und verließ so schnell wie möglich die Wohnung. Er zitterte am ganzen Körper und seine Nase blutete wie verrückt. Jeder dem er begegnete, glotzte ihn unverschämt an, aber niemand hatte den Anstand ihm zu helfen.
An dem Tag, kam er irgendwann in Deutsch und setzte sich, ohne auch nur ein Wort zu sagen, auf seinen Platz in der letzten Reihe. Nicht nur seine Nase blutete, aus einer riesigen Platzwunde an seinem Kopf strömte Blut und rann ihm übers ganze Gesicht. Er sah total verwirrt aus und schien überhaupt nicht mitzukriegen, dass ihn die gesamte Klasse anstarrte. Die unsympathische Professorin, die ihn sowieso schon hasste, stand direkt vor ihm, aber er starrte sie an, als sähe er durch sieh hindurch. Dann fuhr sie ihn mit ihrer unangenehmen, scharfen Stimme, die sie verwendete um „an Disziplin mangelnde“ Schüler, wie sie das nannte, zu erniedrigen und zu demütigen an: „Wenn du schon nichts besseres zu tun hast, als dich mit irgendwelchem genauso niveaulosem Pack wie dir zu prügeln, dann brauchst du erst gar keine Hoffnung in deine verkorkste Zukunft zu setzen. Wenn du dich so geh´n lässt, kannst du deine Erwartungen noch niedriger setzen, als du es wahrscheinlich sowieso schon tust. Leute mit deiner Eigeninitiative enden als asozialer Schmarotzer oder landen auf dem Strich wo ihr euch dann mit Drogen voll pumpt, du und dein wertloses Pack……….Und jetzt gehst du sofort zum Direktor!!!“ Reden wie diese, hatte sie genug parat. Ganz besonders für ihren „herzallerliebsten“ Tar! Ich glaube, es befriedigt sie irgendwie, andere Leiden zu sehen. Es kam zwar selten vor, dass sie ihre Worte so extrem unpassend wählte wie an diesem Tag, aber trotzdem kam es ab und zu vor, dass sich jemand in seinem Stolz verletzt fühlte, nach einem solchen Vortrag. Aber Tar war viel zu Stolz, an diesem Tag. Er war vollkommen von sich überzeugt, so habe ich ihn noch nie erlebt!

„Fahr´n sie doch zur Hölle!“ zischte er sie in einem unheimlich monotonem Tonfall an und erhob sich von seinem Platz. Egal wie Nett er sonst auch war, in diesem Moment machte er mir Angst. Als er aufstand schleuderte er den Sessel so heftig gegen die Wand, dass ein Stück der Fassade abbröckelte. Die Professorin versuchte ihre feindselige Mine zu halten, doch man sah die Angst deutlich in ihren Augen. Sie verzog den Mund, als wolle sie um Hilfe rufen, ihre Lippen zitterten, sie presste sie fest aufeinander aber die Angst war ihr dennoch ins Gesicht geschrieben. Jetzt war sie schwach und Tar wusste das. Er rempelte sie mit voller Wucht an. Fast wäre sie gefallen.
In diesem Augenblick musste ich an eine Szene denken, die schon sehr lange in der Vergangenheit zurücklag, ich meine, es ist viel passiert seitdem. Ich war sechs oder sieben Jahre alt, als ich einmal mit Tar eine Landschaft aus Bergen und Schlössern und vielen kleinen Türmchen in der Sandkiste auf einem Spielplatz baute. Da kam ein älterer Junge und trat in einen Hügel, den Tar gerade mit viel Mühe aus Sand geformt hatte. Tar brüllte den Jungen so laut er nur konnte an und dieser schubste ihn in den Sand. Naja, nicht ganz, denn bevor er fiel, hat Ulf ihn aufgefangen. Wir hatten ihn den ganzen Tag lang mies behandelt, eigentlich seit wir ihn kannten! Doch er fing Tar trotzdem auf! Tar hätte das nicht getan, auch ich nicht. Jeder hätte ihn im Sand landen lassen und ihn ausgelacht. Seit dem haben wir ihn manchmal verteidigt, wenn es wirklich schlimm für ihn geworden ist, aber eigentlich hat sich nichts geändert. Wir behandeln ihn immer noch mies. Aber irgendwie, fühlt er sich wohl bei uns.
Und ausgerechnet Ulf, hinderte ihren Fall. So oft hatte sie ihn schon erniedrigt und gedemütigt und wir haben ihn dafür ausgelacht. Auch an diesem Tag, haben wir über ihn gelacht. Als er die Professorin auffing, wusste er, dass das passieren würde, doch er hat trotzdem getan, was er für richtig hielt. Nicht viele Menschen können sich so gut, in jemand anderes hineinversetzen wie er. Vor ihm ist wirklich jeder gleich, er ist total unvoreingenommen, was wirklich schwer fällt, in dieser materiellen Gesellschaft. Und dafür bewundere ich ihn.

Als Tar den Raum verlassen und die Tür hinter sich zugeknallt hatte, blieb es still im Raum. Ulf hatte sich wieder zurück an seinen Platz gesetzt und die Professorin lehnte am Lehrerpult. Niemand traute sich, mit auch nur einem Wort, das Schweigen zu unterbrechen.
Ruckartig stieß sich die Professorin vom Pult weg und hastete mit schnellen Schritten auf den Gang. Als sie ihre Hand vom Pult wegbewegte, konnte man deutlich sehen, dass sie noch immer zitterte. Sie hatte die Tür offen stehen lassen, also ging Sarah nach vorn um sie zu schließen. Sarah war echt O.K., sie war mit niemandem zerstritten und auch sonst sehr beliebt. Sie war immer bemüht, mit allen gut auszukommen und keine Missverständnisse entstehen zu lassen. Wenn man in einen Streit verwickelt war, konnte man sicher sein, dass sie einen mindestens dazu überreden würde, alles auszudiskutieren.
Sie schloss die Tür und bevor sie zurück auf ihren Platz ging, stellte sie eine offene Frage in den Raum:“ Ich glaube nicht, dass sich Tar geprügelt hat, dass ist so gar nicht seine Art, was meint ihr?!“ Das brachte viele dazu, noch einmal über die einseitigen Argumente der Professorin nachzudenken. Auch ich war der Meinung, dass Tar eine Prügelei vermeiden würde, es musste eine andere Ursache für seine Verletzungen geben. Schließlich kannte ich ihn schon lange genug. Um genau zu sein, kenne ich ihn schon mein ganzes Leben lang. Wir waren immer die besten Freunde und nichts konnte uns auseinander bringen. Viele behaupteten, dass wir ein Liebespaar wären, doch das ist bis heute nicht so.
Manche hatten echt ziemlich verrückte Ideen, wie Tar zu seinen Verletzungen gekommen sein könnte. Irgendwann sind wir dann auf die Frage gestoßen: Warum hat Ulf die Professorin aufgefangen? Da hatten viele sehr „pädagogisch wertvolle“ Theorien, die ich jetzt erst gar nicht anfange zu erklären! Die redeten zum Teil echt wirres, total kompliziertes Zeug. Irgendwer hat dann damit angefangen, dass Ulf eine Affäre mit der Professorin hat, was aber von all diesen „nahe liegenden“ Theorien, die unglaubwürdigste war. Dann fing so eine Stylertusse an zu rufen:“ Lehrerficker, Lehrerficker!!“ Innerhalb von Sekunden stieg die gesamte Klasse mit ein, inklusive aller Personen die ich sympathisch fand. Bis auf ein paar Ausnahmen, doch Sarah gehörte definitiv nicht dazu. So kann man sich eben in Menschen täuschen! Irgendwann habe ich dann durch die ganze Klasse geschrieen, dass sie ihre verfickte Fresse halten sollen. Als es einigermaßen still wurde, entschloss sich unsere Klassensprecherin die Professorin zu suchen.
Nach nicht einmal einer halben Minute, riss sie die Tür wieder auf und schrie durch den ganzen Raum:“ Er hat sie geschubst!! Sie liegt unten im Treppenhaus und rührt sich nicht!“ „Hast du ihr geholfen oder wenigstens einen Krankenwagen gerufen!? Oder die Schulärztin!?“, rief Sarah ihr zu.

Natürlich hatte sie nichts dergleichen getan, DAS warf ihr niemand vor. Aber alle beschuldigten Tar dafür, dass er sie geschubst hatte, was nicht mal stimmte!! Keiner machte sich Gedanken darüber, dass er wegen diesen falschen Beschuldigungen von der Schule hätte fliegen können. Das war wieder mal typisch für diese egoistische Gesellschaft.
Die Professorin war bewusstlos und hatte sich den linken Arm verstaucht. Es stellte sich heraus, dass sie in einer Pfütze ausgerutscht ist. Dazu, dass sie und alle anderen falsch lagen, hatte unsere „liebe“ Klassensprecherin folgendes zu sagen:“ Mann, bin ich erleichtert, dass das nicht Tar war, aber so wie der gestern drauf war, hätte ich ihm dass glatt zugetraut! Aber wer weiß, zu was der sonst noch im Stande wäre, er ist mir richtig unheimlich…..“

Dieses Gerede verfolgte Tar noch wochenlang, um genau zu sein, vier, denn da ging es mit den Prügelattacken seines Stiefvaters erst richtig los und es gab neue Gerüchte, anstelle der Alten.
Fast jeden, oder wenigstens jeden zweiten Tag, kam er mit einem neuen blauen Fleck in die Schule. Ab und zu kam er auch ein Paar Stunden zu spät und hatte Nasenbluten oder eine Platzwunde. Und manchmal schwänzte er auch.
Einmal habe ich ihn nach der Schule, an einem Müllcontainer lehnend gefunden. Er musste den ganzen Vormittag dort gesessen haben, denn er war total high. Ich weiß nicht, was er da genommen hat, aber Haschisch war´s nicht. Das er Haschisch rauchte wusste ich ja, ich hab ja auch oft genug versucht, es ihm auszureden, aber bei seinem Alten, konnte man ihm das nicht übel nehmen. Außerdem hat er mir versichert, dass er das Zeug nur raucht, wenn ihm alles zu viel wurde. Und ich vertraute ihm, ich vertraue ihm auch heute noch!
Er streckte mir die Arme entgegen und wollte, dass ich ihm aufhelfe. Da bemerkte ich den Gips auf seiner rechten Hand. Ich war echt geschockt, denn ich war mir ziemlich sicher, woher er diese Verletzung hatte. Aber trotzdem fragte ich:“ Mann, war das dein alter!?“ Er schien gar nichts mitzukriegen. Noch immer hielt er mir seine Arme hin und grinste mich an. Ich machte mir echt Sorgen um ihn und er hatte nichts Besseres zu tun, als mich blöde anzugrinsen!
Ich war total verzweifelt, ich ging mit ihm in den Park, wo wir den gesamten restlichen Tag, auf einer Bank verbrachten. Als es dunkel wurde, begann er über Kopfschmerzen zu jammern. Wir beschlossen ein bisschen spazieren zu gehen, damit er nicht ständig an seine Schmerzen denken musste. Anfangs versuchte ich noch, eine Unterhaltung zu Stande zu bringen, doch das war nicht möglich, er hörte mir kaum zu und es schien so, als wäre er geistig nicht anwesend. Dann begannen die Krämpfe, er bekam von einer Sekunde auf die andere schreckliche Magenkrämpfe und seine Hände zitterten. Alle paar Minuten mussten wir stehen bleiben und er wand sich vor Schmerzen. Die Abstände wurden immer kürzer, bis wir irgendwann gar nicht mehr vorankamen. Wenn die Schmerzen am schlimmsten wurden und nicht mehr zu ertragen waren, warf er sich auf den Boden. Nach und nach wurden die Krämpfe aber wieder weniger, bis sie ganz verschwunden waren. Plötzlich sank er auf die Knie und presste die Hände auf den Kopf, ich glaube, er hatte schreckliche Kopfschmerzen in diesem Moment. Ich kniete mich zu ihm und begann zu weinen. Aber dann kippte er um. Ich hatte schreckliche Angst um ihn und schrie ihn an:“ Lebst du noch!? Bitte sag, dass du nicht tot bist!“ „ Ja, ja…“, war seine Antwort. Ich war überglücklich, dass es ihm jetzt anscheinend wieder gut ging, und ließ mich neben ihn ins Laub fallen.

Am nächsten Tag sind wir dann irgendwo im Wald aufgewacht. Es war bestimmt schon nach zwölf und wir hatten uns total verlaufen, aber das spielte keine Rolle, denn Tar war jetzt wieder klar im Kopf und das war alles was zählte. Als wir auf dem Heimweg waren, erzählte er mir wie toll, abgesehen vom runterkommen, er sich gefühlt hatte. Bevor wir uns verabschiedeten musste er mir aber versprechen, dass er nie wieder so etwas machen würde. Als Gegenleistung musste ich ihm versprechen, dass ich nicht warten würde, ob sein Stiefvater schon auf ihn wartete.
Obwohl ich schon ziemlich weit entfernt war, hörte ich, wie sein Stiefvater ihn anschrie. Dann bin ich gerannt, ich hatte Angst. Ich wusste, dass er Tar wieder schlagen würde, aber Tar wollte nicht, dass ich warte. Also bin ich gerannt, ihm zu Liebe.

Danach ist er drei Wochen lang untergetaucht. Ich habe keine Ahnung, wo er war, wovon er gelebt hat und was er genommen hat. Heute weiß ich aber, dass er einen knallharten Entzug machte und tatsächlich, er war weg von allen Drogen! Aber als er wieder auftauchte, war er ausnahmslos bekifft. Zu seinem Stiefvater ging er aber nicht zurück, soweit ich weiß hat er in dieser Zeit bei einem Kumpel gepennt. Der versorgte ihn auch mit Kippen, aber ich hab keine Ahnung was Tar dafür, für ihn getan hat, denn er hätte sich das nie leisten können. In der Zeit machte ich mir echt Sorgen um Tar. In der Schule erzählte ich, dass er überstürzt weggezogen war. Das war Tars Idee und es funktionierte, niemand stellte, auch nur irgendwelche Nachforschungen an. Ich hätte das nicht so einfach geglaubt. Es gingen die wildesten Gerüchte, über Tars Verschwinden um.
Ich sah ihn fast nie, in dieser Zeit. Aber ich machte mir ununterbrochen Sorgen um ihn. In dieser Zeit freundete ich mich mit Ulf an. Wir verbrachten ziemlich viel Zeit miteinander. Er versuchte auch mich zu beruhigen und redete mir gut zu, wenn ich mir Sorgen um Tar machte. Außerdem freundete ich mich mit einem Mädchen namens Svenja an. Svenja war echt schräg drauf, sie trug fast ausnahmslos schwarz, dass sie ab und zu mit rot oder lila kombinierte. Ihre Kleidung war mit Schnallen, Nieten, Netzhandschuhen und all solchem Zeug überschüttet. Sie ging auf unsere Schule und sie fuhr sogar mit demselben Bus wie ich. Auch Ulf verstand sich gut mit ihr, denn in den Pausen hingen wir immer zu dritt ab. Manchmal stellten sich auch andere, aus unserem Freundeskreis dazu, aber die besten Gespräche führten immer noch wir drei. Svenjas große Leidenschaft war das Zeichnen, sie zeichnete dunkle, düstere Bilder, auf die sie meistens sehr schockierte Kommentare bekam.

Irgendwann stand Tar dann plötzlich vor meiner Tür. Er hatte so oft und so hektisch geklingelt, dass ich froh war allein zuhause gewesen zu sein. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an und kriegte kaum ein Wort heraus. Er stotterte irgendetwas vor sich hin und zerrte mich aus dem Haus.

Mit hektischen Handbewegungen steckte er den Schlüssel in das verrostete Schloss. Seine Hand zitterte und er wurde immer hektischer. Der Gang war staubig und an den Wänden wuchs Schimmel. Es war eine schreckliche Vorstellung hier wohnen zu müssen, aber ich vermutete, dass das die Wohnung seines Kumpels war, bei dem er mehrere Wochen verbracht hatte und der ihn mit Kippen versorgt hatte. Er trat zweimal mit dem Fuß gegen die Tür und endlich sprang das Schloss auf. Von Innen strömte mir stickige, verrauchte Luft entgegen. Tar schubste mich zur Seite und drängte sich in die Wohnung, die, wie mir erst jetzt auffiel, gar nicht möbliert war. Wir kamen an der Küche vorbei, die mit einer Mikrowelle, die auf einem Karton stand, einem Minikühlschrank und einem Wasserhahn, der frei an der Wand hing und darunter ein Eimer, der halb mit Wasser gefüllt war ausgestattet war. Die Wände waren mit Sprüchen beschmiert was eigentlich ganz gut aussah, aber trotzdem machte die Wohnung einen ungepflegten und heruntergekommen Eindruck. Eine Tür stand offen, ich glaube, das war der Schlafraum, denn am Boden lag eine staubige, dreckige Matratze, die sogar Brandflecken hatte. Daneben lag ein durchlöcherter Schlafsack und der Boden war mit Zigarettenstümmeln, leeren Bierflaschen und Dosen zugekleistert.
Plötzlich blieb er vor einer Tür stehen. Langsam bewegte er seine zitternde Hand auf die Türklinke zu. Dann riss er die Tür auf und hielt sich die Augen mit beiden Händen zu und stürmte aus der Wohnung.
Ich wagte einen vorsichtigen Schritt in den Raum und was ich da sah, konnte ich kaum glauben!

Ich stieß einen lauten Schrei aus. Auf dem Boden lag, an die Wand gelehnt, ein spindeldürrer Junge. Seine Wangen waren eingefallen und seine Augen waren weit aufgerissen und blickten starr geradeaus. Seine Haut war leichenblass, fast weiß und er hatte einen Arm weit von sich gestreckt. Um diesen Arm hatte er ein Band gebunden und eine Spritze steckte ein Stück weiter unten in seinem Arm. An vielen Stellen, hatte er rote Flecken, an denen er, wahrscheinlich die Spritzen eingestochen hatte. Die Venen zeichneten sich deutlich auf der blassen Haut ab, bestimmt hatte er seinen Körper schon über längere Zeit auf diese Weise zerstört.
Wie versteinert stand ich da. Ich versuchte hektisch seinen Puls zu finden, aber ich fand keinen! Ich stürmte aus der Wohnung und da saß Tar. Den Kopf in den Knien vergraben und laut schluchzend lehnte er an der Wand im Flur.
„Wie lange liegt er da schon?“ fragte ich ihn. Er zuckte zusammen, hielt die Luft an, atmete tief ein und unterbrach kurz sein Schluchzen:“ Seit drei Tagen.“ Dann brach er wieder in lautes Schluchzen aus. Als er aufstand, liefen ihm Tränen über die Wangen.
Ich machte einen anonymen Anruf bei der Polizei und meldete, was geschehen war. Dann hauten wir so schnell wie möglich von der Wohnung ab.

In dieser Nacht irrten wir wieder ziellos durch den Wald, wo niemand Tars lautes Schluchzen hören konnte. Aber ich glaube, es tat ihm gut, nicht alleine sein zu müssen. Wir vielen uns in die Arme und heulten gemeinsam. Irgendwann schliefen wir dann ein und wachten am nächsten Tag, ziemlich früh am Morgen wieder auf. Unsere Augen waren übelst angeschwollen und wir sahen nur verschwommen den Weg den wir zurückgehen mussten.


TAR

Nach dieser Aktion bin ich zurück nach hause gegangen. Mein Stiefvater packte mich an den Haaren und zerrte mich in die Wohnung. Das tat scheissweh. Ich fing an zu schreien, so laut ich konnte. Er begann mich zu beschimpfen und zerrte mich die Treppe hinunter, in den Keller. Das letzte Stück ließ er mich los und ich stürzte die Treppe hinunter. Ich fiel genau auf meinen Arm und das tat so FUCK weh!! Ich war mir sicher, dass er mir wieder den Arm gebrochen hatte.
Der Boden war staubig und im Keller roch es ranzig, aber ich hatte nicht die Kraft dazu, wieder aufzustehen. Er packte mich im Genick und schlug meinen Kopf gegen eine Metallstange. In dem Moment empfand ich nur noch Hass, Ekel und Verachtung für ihn. Mir wurde schlecht und ich kotzte mich an. Daraufhin warf er mich zu Boden und ließ mich in meiner eigenen Kotze liegen. Und wäre er dann nicht gegangen, dann hätte ich mir geschworen, ihn eines Tages kaltblütig abzuschlachten und ihn in seiner eigenen Pisse verrecken zu lassen.

Doch als er die Tür hinter sich zuschlug, sperrte er den Raum ab und ich war in diesem unbeleuchteten Raum eingeschlossen. Ich war so wütend. Als ich wieder aufstehen konnte, schlug ich meinen Kopf selbst mehrmals gegen die Wand, bis ich bewusstlos zu Boden fiel. Wenn ich mich schon nicht mit einer Droge betäuben konnte, dann musste ich wenigstens so, meinem Elend entfliehen. Irgendwann, Stunden später, wachte ich auf. Mein Kopf war blau angelaufen und mir rann Blut über das Gesicht. Ich fühlte mich einfach beschissen. Mein Kumpel Ted hätte jetzt bestimmt gesagt:“ Mann, alter dich ham´se echt ins Knie gefickt!“ Ted konnte jeden aufmuntern, mit seiner ironischen Art, genau wie Vonny. Plötzlich konnte ich mich an alles erinnern: Ted war tot! Er hatte sich eine Überdosis Heroin gespritzt. Fast hätte ich mich auch dazu überreden lassen, mir das Zeug zu spritzen. Wieder liefen mir Tränen über die Wangen. Ich wollte schreien, doch ich konnte nicht, stattdessen ballte ich meine Hände zu Fäusten, bis sich meine Fingernägel, tief in mein Fleisch bohrten. Blut rann über meiner Handfläche, als ich locker ließ.
Die meiste Zeit, saß ich zusammengekauert in einer Ecke und heulte. Ted gehörte zu den wenigen Leuten, die mich verstanden. Jetzt war er weg, für immer. In der Nacht wurde es eiskalt im Keller und ich zitterte am ganzen Körper. Ich hatte keine Decke, nichts zu trinken und nichts zu essen. Langsam bekam ich mordsmäßigen Hunger. Ich stellte mich vor die verschlossene Tür und schrie so laut ich konnte. Niemand antwortete mir. Durch das schmale vergitterte Fenster, sah ich, dass das Auto nicht mehr da war. Dieses ARSCHLOCH hatte mich hier eingesperrt und sich einfach aus dem Staub gemacht!
Ich schlug die Scheibe des vergitterten Fensters ein, sodass man mich besser hören konnte und schrie um Hilfe. Gerade zu dieser Zeit, wollte Vonny an unserer Haustür klingeln, da ich schon drei Tage lang verschwunden war. Sie hörte mich und versprach, Hilfe zu holen. Bald darauf kam eine Sozialarbeiterin und ein Polizeiwagen.

Daraufhin kam ich in ein Jugendheim. Außerdem habe ich meinen Stiefvater angezeigt. Es ging mir ganz gut, ich rauchte nicht, ich trank fast keinen Alkohol und ich nahm keine Drogen. Ich ging wieder regelmäßig zur Schule und ich verstand mich gut mit Vonnys neuen Freunden. Es war echt Klasse mit ihnen abzuhängen. Nur die anderen aus der Schule, sahen mich noch immer mit schiefen Augen an. Besonders die Deutsch-Professorin machte es mir jetzt besonders schwer, aber ich kam damit zurecht.
In dem Jugendheim war es auch erträglich, mein Zimmerpartner war ungefähr in meinem Alter, also ich war 16 und er war 17, ein Jahr jünger als Ted. Ted vermisste ich immer noch sehr, aber Vonny und die anderen halfen mir, darüber hinweg zu kommen.

Natürlich habe ich mich auch gefragt, wie es meinem Stiefvater jetzt ging. Einmal hat mir die Sozialarbeiterin erzählt, dass er in einem Monat wieder auf Bewährung raus kommen würde. Ich konnte nicht verstehen, wie das ging, dass er nach dem, was er getan hatte, wieder so schnell rauskommen konnte. Eigentlich war ich entsetzt darüber. Ich war auch ziemlich enttäuscht, über unser Justizsystem!

Zu Vonnys 14. Geburtstag sind Svenja, Uwe, Vonny und ich zu einem Rock Festival gefahren. Wir kannten keine der Bands die spielen würde, aber wir hatten uns lange vorher schon darauf gefreut. Das Konzert war in Köln, also mussten wir mit dem Zug hinfahren. Natürlich hatten wir kein Geld für die Zugfahrt, wir sind schwarzgefahren. Wenn ein Schaffner gekommen ist, sind wir entweder schnell aufs Klo, was echt eng werden kann, zu viert, oder wir sind einfach aus dem Zug raus. So dauerte die Fahrt zwar länger als geplant, war aber echt genial. Als wir zum dritten Mal aus dem Zug raus mussten, war es schon dunkel und wir konnten nicht mal sehen wo wir waren. Es interessierte uns auch nicht, es war kalt und wir zitterten am ganzen Körper. Wir wagten es nicht, uns zu weit vom Bahnhof fortzubewegen, weil es echt unheimlich war, in dieser fremden Stadt. Ein Junge in einer zerrissenen Hose und einer, mit Aufnähern übersäten Lederjacke, die ihm mindestens zwei Nummern zu groß war, quatschte uns an. Er dealte ziemlich wahrscheinlich mit Drogen, wäre ich allein gewesen hätte ich garantiert was von dem Stoff gekauft. Aber da ich das Versprechen dass ich Vonny gegeben hatte nicht einfach brechen konnte, lehnte ich ab und wir gingen bald darauf zum Bahnhof zurück. Gegen drei Uhr Morgens setzten wir uns in einen Zug und fuhren nach Köln, wir schliefen sofort ein, als wir einen Platz gefunden hatten. Einmal wachte ich auf, als der Schaffner unsere Fahrkarten sehen wollte. Ich blinzelte kurz in das grelle Licht und schloss blitzartig wieder die Augen, sodass er nicht sah, dass ich wach war. Also ließ er uns den Rest der Fahrt in Ruhe. Eine Station vor Köln, wachte Ulf auf und weckte uns alle.
Den Rest des Tages, lungerten wir in der Innenstadt herum und dösten vor uns hin. Später machten wir uns auf den Weg zum Konzert.

Das Konzert war total genial, wir tanzten Pogo und grölten lautstark mit. Wir sind sogar auf die Bühne geklettert und dann ins Publikum gesprungen. Vonny und Svenja haben es sogar geschafft, eine Weile auf den Händen der Leute getragen zu werden, was gar nicht mal so leicht ist!
Ich habe keine Ahnung wann das Konzert aus war, aber wir sind noch ziemlich lange geblieben.

Den Rest der Nacht haben wir durchgemacht, denn in der fremden Stadt, war es uns zu gefährlich, obwohl wir zu viert waren, auf einer Bank oder ähnlichem zu übernachten.
Am nächsten Tag dösten wir wieder irgendwo in der Innenstadt vor uns hin. Irgendwann bekamen wir Hunger und mein ganzer Hals brannte vor Durst. Doch wir waren pleite! Svenja war da unkompliziert. Sie stellte sich an eine Straßenecke und schnorrte die Leute an. Wir machten ihr das nach und stellten uns verteilt auf. So bekamen wir innerhalb von zwei Stunden, fünf Euro zusammen. Nicht sehr erfolgreich, aber immerhin ein Anfang! Es reichte um sich mit S-Budget Produkten einzudecken. Wir hatten Chips, Waffeln und Cola. Davon ernährten wir uns die nächsten zwei Tage, ab und zu schnorrten wir noch ein bisschen Geld zusammen und deckten uns wieder mit Chips, Cola und Waffeln ein. Ich glaube wir waren insgesamt vier Tage lang in Köln. Wir haben nur einen Tag die Schule geschwänzt, also haben wir fast nichts verpasst.

Als mein Stiefvater dann aus dem Knast zurückkam, bekam er irgendwie, ich hab keine Ahnung wie das ging, das Sorgerecht für mich zurück. Ich wusste nicht einmal warum er das überhaupt wollte! Anfangs ging ich ihm zwar aus dem Weg, aber dann ging alles wieder von vorne los. Ab und zu bin ich von zuhause weg und hab bei Kumpels gepennt, manchmal wanderte ich auch die ganze Nacht lang durch die Stadt und ab und zu pennte ich wieder Mal daheim. Wenn ich heimkam, erwartete mich mein Stiefvater meistens schon und er verpasste mir wieder regelmäßig blaue Flecken, Platzwunden und oft auch Nasenbluten. Ich wollte zwar etwas lernen, darum kehrte ich ja manchmal zurück nachhause, aber irgendwann hatte ich genug und ich zog bei einem Kumpel ein.

Dann hab ich es ein letztes Mal versucht. Vor ca. einer halben Stunde habe ich zum letzten Mal bei meinem Stiefvater angeklingelt. Er hat die Tür geöffnet und mich in die Wohnung gezogen, wo er mich wieder angeschrieen hat. Diesmal hab ich auch geschrieen. Immer wenn ich einen Schritt auf ihn zuging, machte er einen nach hinten. Bis er am Rand der Stiege, die hinunter in den Keller führte, stand. Ich machte noch einen letzten, großen Schritt auf ihn zu, er wich zurück und kippe kopfüber die Stiege hinunter. Dann blieb er dort im Dunkeln liegen. Ich sah nur seine Umrisse, er rührte sich nicht. Ich wusste nicht was los war, vielleicht war er tot, oder er tat nur so. Aber auch wenn er wirklich tot wäre, wäre mir das scheissegal gewesen. Ich hasse ihn! Ich konnte gar nicht wissen was ich hätte tun sollen, also blieb ich da stehen wo ich war und starrte die Stiege hinunter, ins Dunkel hinein.
Plötzlich zuckte ich zusammen. Es war die Tür, jemand klopfte an die Tür! Es war eine etwas beleibtere Nachbarin aus dem oberen Stockwerk, sie musste wohl etwas gehört haben. Ich riss die Tür auf und stürmte an ihr vorbei, ins freie.
Abhauen! Einfach weg, das war alles an das ich dachte. Weg von allen Problemen. Ein neues Leben anfangen, wo mir niemand mehr sagen würde was ich zu tun habe und was ich lassen soll, in dem ich mir nichts gefallen lassen muss. Ich hätte meinen Stolz, könnte meine Attitüde zu meinem Alltag machen und ich wäre frei! Aber wohin sollte ich nur, ich konnte nicht wieder bei einem Kumpel pennen. Ich müsste weg, weit weg. Köln! Dort könnte ich untertauchen. Ich würde mit dem Zug nach Köln fahren, wie damals mit Vonny und mit Svenja und Uwe. Ich musste mich noch von Vonny verabschieden. Ohne mich von ihr zu verabschieden konnte ich nicht gehen, dass wäre falsch gewesen. Also schrieb ich ihr eine SMS, dass sie zu dem Ort im Wald kommen sollte, wo wir schon einmal die Nacht zusammen verbracht hatten.

Und sie kam und ich erzählte ihr was ich vorhatte. Ich erzählte ihr auch dass ich meinen Stiefvater die Stiege hinunter geschubst hatte und dass ich nicht wusste was mit ihm los war, aber sie war besorgter, dass ich abhauen wollte. Sie wollte es nicht wahr haben, aber es ging nicht anders.


VONNY

„Du willst wirklich abhauen?“ frage ich. „Hey, du weißt doch, dass es nicht anders geht. Du kommst schon klar, ohne mich.“ Versucht Tar mich zu beruhigen. Es ist so ein schöner Sommertag, viel zu schade für solche Nachrichten. Warum kann dass alles nicht erst Morgen passieren! Aber er weiß ja nicht, was ich gerade durchmache, niemand weiß dass. Meine Eltern werden sich scheiden lassen, dass steht fest, schon seit zwei Jahren. Aber Mum will, dass ich es niemandem verrate, auch Tar nicht. Ich weiß nicht warum, aber sie meint, das muss man eben einmal so hinnehmen.
Eine Weile lang schweigen wir, dann versuche ich ein letztes Mal, ihn von seiner Idee abzubringen:“ Bitte geh nicht, wir würden dich alle so sehr vermissen! Außerdem, wohin willst du überhaupt!?“ Er starrt geradeaus, dann huscht ihm ein Lächeln über die Lippen: “ Nach Köln. Wie damals, als wir zu dem Konzert gefahren sind!“ Dann wendet er sich zu mir und schaut mich erwartungsvoll an. Doch ich reagiere nicht auf seinen Blick.
Er starrt wieder geradeaus. Dann meint er:“ Ich ruf dich auch mal an und ich schreib dir einen Brief! Keine Angst, ich werde dich nicht vergessen.“ Das fehlt ja noch, dass er mich vergisst, dann wäre ich ganz allein. Ich hätte zwar noch Svenja und Ulf, aber die sind beide kein Ersatz für Tar.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.04.2012

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