Bereits eine Stunde war vergangen, seitdem die Sonne sich über der Stadt erhoben hatte. Doch nahezu alle Straßen waren wie leergefegt. Alle Bewohner der Stadt, wie auch der Rest der Welt, waren damit beschäftigt das Essen und ihre Häuser für den großen Abend und die folgenden Nacht vorzubereiten.
K aum dass die Sonne sich am Horizont erhoben hatte und der Tag angebrochen war, kam auch schon Caterina und half ihr beim Waschen und Ankleiden. Kaum dass sie damit fertig waren, lief Felicitá auch schon die Treppen nach unten und betrat die kleine Kammer, in der sie gemeinsam mit ihren Eltern das Frühstück einnahm.
„Du bist sicher schon aufgeregt?“, fragte ihr Vater sie lächelnd. „Oh ja, das bin ich wohl. Eine solche Wende erlebt man schließlich nicht alle Tage!“, antwortete sie und schob sich den letzten Bissen ihres Brotes in den Mund. „Ja und ein solches Fest, wie ich es für dem heutigen Abend geplant habe auch nicht!“, entgegnete ihr Vater. „Ihr werdet sehen, so etwas, wie diese Dekoration, diese Speisen und Getränke sowie die Musiker und Gaukler, die ich bestellt habe, habt ihr in eurem ganzen bisherigen Leben noch nicht zu Gesicht bekommen! Außerdem habe ich noch einige sehr besondere Gäste geladen, aber da lasst euch mal lieber überraschen meine Lieben“ Seine Gemahlin berührte seine Wange und lächelte ihn an „Oh da sind wir aber schon sehr gespannt, nicht wahr Felicitá? Wir können den Abend kaum noch erwarten!“ Dem hatte Felicitá nichts hinzu zu fügen und nickte nur.
Kaum war es Mittag geworden, brach im ganzen Haus Hektik aus und die allerletzten Vorbereitungen für das seit Wochen geplante Fest wurden getroffen. Bereits seit Tagen wurden in der großen Küche Dutzend verschiedene Speisen und Getränke bereitet, im großen Saal wurden die Wände und Fenster mit bunten Wandteppichen und Pflanzen geschmückt und die langen Tische wurden von mehreren Dienern gleichzeitig gedeckt. Das ganze Haus schien in Aufregung zu sein. Am meisten aber Felicitá und ihre Mutter, denn sie wussten nicht, wer an diesem Abend alles anwesend sein würde, nur ihr Vater kannte jeden einzelnen der Gäste.
Während des Nachmittags wuchs in Felicitá die Aufregung immer mehr an. Immer wieder versuchte sie ihrem Vater Details über die Gäste, die erwartet wurden zu entlocken, jedoch ohne Erfolg und so blieb ihr nichts anderes übrig, die Zeit des Wartens irgendwie anders zu vertreiben. Nach kurzer Überlegung beschloss sie, wieder nach oben in ihre Kammer zu gehen und sich einfach etwas hinzulegen. Im Schlaf verging die Zeit schneller, als wenn man nur dasaß und wartete.
Wieder in ihrer Kammer, streifte sie achtlos ihr Kleid ab und legte sich wieder in ihr gemachtes Bett. Bereits wenige Minuten später fiel sich auch schon in einen traumlosen Schlaf.
A ls sie wieder erwachte, näherte sich die Sonne bereits dem Horizont.
Rasch setzte sie sich auf, als ein leises Klopfen an der Tür erklang. Caterina trat ein und lächelte entschuldigend.
„Bitte verzeiht mir, aber Euer Vater schickt mich um Euch in den Festsaal zu holen. Es sind bereits viele Gäste erschienen und er möchte Euch ihnen gerne vorstellen.“, erklärte sie und hob das Kleid vom Boden auf.
Noch etwas schlaftrunken schlug Felicitá die Decke zurück und kletterte aus dem Bett. Eine halbe Stunde später hatte sie mit Caterina´s Hilfe ihr Kleid wieder angezogen und ihre Frisur erneuert.
Nun gingen sie gemeinsam zum Festsaal. Die Tür stand einen Spalt breit offen und als Felicitá eintrat, schloss sie die Tür und mit einem Mal herrschte Stille im Saal. Alle Köpfe wandten sich der Tür zu und plötzlich fiel die Müdigkeit von ihr ab, als sie sich der Aufmerksamkeit, die sie soeben erregt hatte, bewusst wurde. Einen Augenblick stand sie nur still da und betrachtete die vielen ihr unbekannten Gesichter, dann erkannte sie ihren Vater und ihre Mutter an einem der Tische, die sich in der Mitte des großen Saals befanden. Schnell senkte sie den Kopf, raffte ihre Röcke und ging langsam auf den Tisch zu, an dem ihre saßen.
Dort angekommen, blieb sie einen Moment lang stehen und musterte die Gesichter der Personen, die am Tisch beisammen saßen und vollführte dann einen tiefen Knicks, wie es von ihr erwartet wurde wenn Gäste im Haus waren.
„Bitte verzeiht mir die Verspätung! Ich hatte mich nur etwas hingelegt...“, fügte sie hinzu, als sie aufblickte und den fragenden Blick ihres Vaters sah. Dieser nickte daraufhin und wandte sich dann an seine Gäste.
„Davio, darf ich Euch meine Tochter Felicitá vorstellen?“, fragte er den Mann, der ihm gegenüber saß. Dieser sah nun auf und musterte sie eingehend. „Oh ja, natürlich!“, rief er aus und erhob sich, ehe er nach ihrer Hand griff und sich leicht verbeugte. „Guten Abend, Signorina Felicitá. Es ist freut mich, Euch kennen lernen zu dürfen.“ Er lächelte kurz, bevor er ihre Hand losließ und sich wieder auf seinen Stuhl zurücksetzte.
„Ich freue mich ebenfalls, Eure Bekanntschaft machen zu dürfen, Signore.“, erwiderte sie.
„Das ist mein Neffe Lucián Tánaris“, stellte Davio nun auch den jungen Mann vor, der neben ihm saß. Sofort erhob dieser sich und vollführte dieselbe Geste, wie sein Onkel. Als er ihre Hand vorsichtig in seine nahm, begann ihre Haut zu prickeln, als würden sie viele kleine Nadeln stechen und als er dann langsam aufblickte und ihr Blick in seine Augen traf, blieb ihr für einen Moment die Luft weg und die Zeit schien still zu stehen. Seine Augen waren von einem geradezu himmlischen Blau und sie schien augenblicklich in sie eintauchen und darin zu versinken. Nach einigen Sekunden hörte sie ein leises Räuspern hinter ihr. Hastig ließ sie seine Hand los und blickte nach unten.
„Verzeiht mir...“, murmelte sie und ließ sich dann auf den Stuhl am Tischende fallen, sodass sie sowohl neben ihrem Vater als auch neben Lucián saß.
Unbemerkt legte Délia ihrem Mann eine Hand auf und warf ihm einen Seitenblick zu.
'Heute ist eine besondere Nacht, sei nicht so streng mit ihr', sollte dieser ihm sagen.
Er erwiderte den Blick seiner Frau kurz und nickte kaum wahrnehmbar, dann seufzte er und wandte sich an an seine Tochter: „Signore Tanárins und sein Neffe stammen aus einer sehr großen und weltbekannten Händlerfamilie und sind nicht nur hier, um mit uns gemeinsam das neue Jahrhunderts willkommen zu heißen, sondern auch um uns ihre Waren zu zeigen, ...“
„Ja, aber ich bitte Euch, Alessio.“, unterbrach ihn dieser und setzte ein Lächeln auf. „Lasst uns doch diese Nacht nicht von solch alltäglichen Dingen sprechen! Wie Ihr bereits angesprochen habt, beginnt heute Nacht ein neues Jahrhundert und das sollte man nicht mit so alltäglichen Dingen wie dem Handel begrüßen, findet Ihr nicht auch, Délia?“
Sie nickte und lächelte geschmeichelt. „Aber sicher, Signore Tanárins... Äh, ich meine Davio! Da habt Ihr vollkommen Recht!“
Als Davio Tanárins einen verwirrten Blick von Felicitá auffing, beugte er sich etwas vor, um sie besser ansehen zu können und erklärte: „Bei uns ist es nicht üblich die Menschen mit ihrem Titel und Nachnamen anzusprechen. Wir sprechen uns alle mit dem Vornamen an“
Felicitá wusste nicht recht, was sie darauf sagen sollte und nickte nur kurz.
(Fortsetzung folgt)
Sie erwachte als die warmen Sonnenstrahlen, die durch die Seidenvorhänge an ihrem Fenstern fielen, den Weg zu ihrem Bett gefunden hatten.Ihr Bett und auch ihr Körper, der noch immer unbekleidet unter der leichten Decke lag, waren sehr aufgewärmt.
Samira öffnete die Augen und blinzelte gegen das grelle Sonnenlicht an. Sie liebte diese Momente am Morgen, wenn die Sonne den Körper unter der Decke erwärmte. Dieses Gefühl war für sie immer sehr angenehm und sie blieb dann gerne noch einige Minuten liegen, um ein wenig wacher zu werden. Doch wenn die Sonne nach einer Weile zu warm wurde, konnte es auch schnell unangenehm werden.
Nachdem sie einen Moment dagelegen und ihren Gedanken schweifen lassen hatte, reckte sie ihre müden Glieder und schlug die Decke zurück. Heute war Markttag und sie musste zum Markt gehen, um frische Vorräte für die nächsten Tage einzukaufen. Langsam stand sie auf und ging zum Fenster, um es zu öffnen. Als ein leises Klopfen erklang, wandte sie sich um und ging mit ihren nackten Füßen leise zur Tür, um sie zu öffnen.
Vor ihr stand ihre Zofe, die an jeden Markttag früh morgens zu ihr kam, um ihr beim Waschen und Ankleiden behilflich zu sein. Sie hatte bereits einen großen Zuber, einige Kannen, voll mit lauwarmen Wasser und drei Badetücher dabei.
„Guten Morgen, Magdalena“, begrüßte Samira sie und nickte ihr kurz zu, ehe sie die Tür schloss und dann zurück ans Fenster ging, um die schweren Samtvorhänge zu schließen.
„Ich wünsche Euch ebenfalls einen guten Morgen, Signorina“, erwiderte Magdalena höflich, während sie den Raum betrat und begann ein großes Tuch auf dem Boden auszubreiten.
„Ich hoffe Ihr hattet eine angenehme Nacht“, sagte sie und half ihrer Herrin, in den Zuber zu steigen. „Ja das hatte ich.“, antwortet Samira, während Magdalena ihren Kopf mit Wasser übergoss und die Haare mit einem Gemisch aus verschiedenen Kräutern einrieb und es in die Kopfhaut einmassierte. Danach rieb sie mit Samira´s Hilfe auch den Rest des Körpers mit dem Kräutergemisch ein und spülte anschließend ihre Haare wieder mit reichlich Wasser aus.
Als sie fertig war und sich abgetrocknet hatte, half Magdalena ihr beim Anziehen ihres Kleides. Anschließend kämmte die seidigen Locken ihrer Herrin ordentlich durch und band sie zu einem Knoten zusammen, ehe sie ein wenig Lavendel-Öl hinein träufelte, um ihnen einen gut riechenden Duft zu verleihen.
B ereits eine halbe Stunde später verließ Samira, mit einem Beutel voll Münzen, das Haus und machte sich auf den Weg zum Mercato.
Es war ein angenehm warmer Frühjahrestag. Der Himmel war wolkenlos und leuchtend blau und die Sonne sandte ihre wärmende Strahlen herab, bis in die letzten Ecken der teils verwinkelten Gassen Messinas. Zu ihrem Erstaunen waren die Straßen, angesichts der großen Feierlichkeiten des vergangenen Tages und der darauffolgenden Nacht, sehr sauber.
Das stimmte sie nachdenklich, wurden doch an solchen Festen eigentlich mehr berauschende Getränke konsumiert als an allen anderen Tagen zusammen. Und wie jeder auf der Insel und auch sonst in ganz Italien wussten, wurde selbst der friedlichste und unauffälligste Mensch nach dem Trinken solcher meist übermütig, wenn nicht sogar streitlustig. Meist wurden dabei nicht nur die Menschen in unmittelbarer Nähe sondern auch die Umgebung in Mitleidenschaft gezogen. Doch in dieser Nacht schienen sichtlich weniger dieser Getränke getrunken worden zu sein oder die Feierlichkeiten nur in den Häusern und Gaststuben stattgefunden zu haben.
Dieser Gedanke erschien ihr beruhigend und sie schlenderte weiter, den leeren Korb baumelnd in der rechten Hand. Obwohl es noch ziemlich früh am Morgen war, waren in einigen der Straßen und Gassen bereits laute und leise Gesprächsfetzen zu hören.
„Was ist daran bitte so ungewöhnlich?“, hörte sie eine männliche Stimme aus einer Calle, an der sie soeben vorbei gegangen war, unterdrückt rufen. „Hast du etwa noch nie ein fremdes Schiff gesehen? Messina ist eine Handelsstadt! Es ist doch völlig klar, dass Händler aus anderen Ländern ebenfalls hier ihre Waren feilbieten wollen!“
Samira blieb stehen und überlegte einen Moment ob sie sich in einem der Häusereingänge verstecken sollte, um das Gespräch weiter verfolgen zu können, entschied sich dann aber dagegen. Es war mehr als offensichtlich, dass der- oder diejenige, mit dem der Mann sprach noch nie ein Schiff aus einem anderen Land gesehen hatte, was für sie eben sowenig nachvollziehbar war.
'Vielleicht ist er oder sie verwirrt...', ging es ihr durch den Kopf.
Dennoch war sie etwas neugierig geworden und beschloss, vor ihrem Marktbesuch zum Hafen hinunter zu gehen, um sich dieses Schiff anzusehen. Es kam nicht selten vor, dass sie vor einem Marktbesuch zum großen Hafen Dorate Porte di Messina (Goldene Tore von Messina) hinunter ging um den Fischern und Händlern dort beim Be- und Endladen ihrer kleinen und großen Boote und Schiffe zuzusehen.
Als dem Mann niemand antwortet, widerstand Samira dem Drang sich umzudrehen, um zu sehen, wer dessen Gegenüber war und bog auf die Salizada ab, die hinunter zum Hafen führte. Am Ende der Straße, die auf die Riva mündete blieb sie stehen und schaute sich um. Meist war es dasselbe Bild: Ein paar Fischerboote beinahe umringt von den Händler der Stadt oder auch des Landes.
Jedoch nicht Heute! Nicht am Tag nach der Jahrhundertwende.
Es stimmte, was ihr Vater und auch der Gelehrte Maestro Piero ihr erzählt hatten. Neben den Fischern und eher mittelständigen Händlern Italiens, waren auch einige Schiffe von Händlern, die aus fremden Ländern stammten gekommen. Die meisten davon waren, wie auch die Handelsschiffe Italiens mit den Insignien ihrer Familie versehen.
Langsam ging sie die Fondamenta entlang, um sich die fremden Boote und Schiff anzusehen und blieb dann vor einem fremden Schiff stehen, das so aussah, als gehörte es jemanden, der sehr wohlhabend war. Es war größer als die anderen Handelsschiffe und an den Seitenwänden mit goldener und roter Farbe bemalt. An einer der Seitenwände, die zur Hälfte im Wasser lagen, waren mit schwarzer Farbe Wörter aufgemalt, die man jedoch nicht erkennen konnte.
Plötzlich trat jemand aus dem Inneren des Schiffes ins Freie. Samira erkannte, dass es sich um einen jungen Mann handelte. Er hatte schwarze, schulterlange Haare, die ihm in der leichten Meeresbrise um das Gesicht wehten und seine Kleidung zeigte, dass er schon eine Weile lang auf See unterwegs war. Als hätte dieser ihre Blicke gespürt, hob er den Kopf und ihre Blicke trafen sich. Sie spürte wie ihre Wangen heiß wurden und sie versuchte verlegen den Blick abzuwenden. Doch obwohl sie seine Augen nicht erkennen konnte, schienen diese ihren Blick festzuhalten.
Die Glocken des Campanile auf dem Marktplatz begannen zu läuten, man konnte sie bis an den Hafen hören. Die neunte Stunde des Tages war angebrochen. In einer weiteren Stunde, würde der Markt enden und sie musste noch Brot und weitere Dinge die der Haushalt für die nächsten Tage benötigte, besorgen.
Als die Klänge der Glocken zu ihren Ohren drangen und sie sich endlich von dem Anblick des jungen Mannes lösen konnte, war der kleine Junge verschwunden. Sie sah sich kurz um, doch sie konnte ihn nirgends entdecken. Verwirrt und ohne noch einmal zum Kai zurückzublicken, machte sie kehrt.
Die Glocken schlugen noch immer, während Samira durch die Gassen zurück in Richtung Marktplatz rannte. Dong! ... Dong! ... Dong! Je näher sie dem Marktplatz kam, desto lauter wurden die Glockenschläge und als sie angekommen war, schlugen sie noch dreimal, Dong! ... Dong! ... Dong!, und verstummten schließlich. Insgesamt waren es neun Glockenschläge gewesen, die neunte Stunde des Tages war bereits angebrochen, im Laufe der nächsten Stunde würde der Markt enden.
Sie hielt inne und machte ein paar tiefe Atemzüge, um ihren rasenden Puls wieder zu besänftigen, bevor sie den Markt betrat. Sie sah sich um und versuchte mit aller Macht ihre Verwirrung und das beklemmende Gefühl, das die Blicke des Fremden in ihr ausgelöst hatten, zu verdrängen und sich auf den Markt zu konzentrieren. Sie dachte darüber nach, was ihr Haushalt in den nächsten Tagen benötigen würde und ging als Erstes zum Brothändler.
Er spürte die Wärme des Sonnenlichts, als es durch die kleinen runden Fenster der Kajüte in seine Koje fiel und allmählich seinen Körper erwärmte. Langsam öffnete er die Augen und nachdem er einigen Minuten nur still dagelegen war, bemerkte er, dass sie nicht mehr fuhren. Sie mussten geankert und in einem Hafen angelegt haben, denn das Schiff stand still. Und es schwankte kaum, was entweder bedeutete, dass sie tatsächlich angelegt hatten oder, dass das Meer heute sehr ruhig war.
Einen Moment dachte er darüber, ehe er beschloss der Sache auf den Grund zu gehen. Langsam stieg er aus seiner Koje und schlüpfte leise aus der Kajüte. Er stützte sich mit den Händen an den Seitenwänden ab und ging vorsichtig, Schritt für Schritt, den engen Gang entlang. Oben an der schmalen Tür, die hinaus aufs Deck führte, hielt er inne und hielt sich am Türrahmen fest. Auf dem Deck waren einige Männer damit beschäftigt, das Schiff zu befestigen.
‚ Dann sind wir also im nächsten Hafen unserer Route angelangt…’, ging es ihm durch den Kopf.
Er rief einen der Männer zu sich, der daraufhin einen der anderen Matrosen zu sich rief, damit dieser seine Arbeit fortsetzen konnte. Dann ging er langsam auf den jungen Mann zu, der, die Hände in den Türrahmen gestemmt, an der Tür stand, die ins Innere des großen Handelsschiffes führte.
„Bună dimineață – Guten Morgen, Nightel!“, begrüßte er ihn.
„Bună dimineață, Dánte!”, erwiderte dieser und verfolgte mit schmalen Augen das Treiben vor ihm.
Dánte betrachtete forschend sein Gesicht. „Du siehst etwas besser aus, als in den letzten Tagen.“, bemerkte er.
Nightel wandte seine Aufmerksamkeit wieder ihm zu und lächelte schwach. „Ja, mir geht es auch wieder ein wenig besser.“, antwortete er. „Vater und Maestru – Meister Cyriak (*: Der Name kommt aus dem griechischen und bedeutet dem Herrn gehörend) hatten Recht, man gewöhnt sich in nur wenigen Tagen an das Schwanken des Schiffes.“
Meister Cyriak war sehr erfahren, was das Reisen und den Handel betraf und erklärte sich immer wieder gerne bereit, anderen seine Erfahrungen in diesen Dingen beizubringen. Niemand wusste woher er stammte, viele nannte ihn den „reisenden Händler“ oder „Weisen Nomaden“. Da er aber allgemein als einer der ortskundigsten Händler und Nomade des letzten Jahrhunderts galt, kannte man ihn stets als „Meister Cyriak“.
„Ich hoffe nur, ich habe nicht allzu viel verpasst, als ich in meiner Koje lag und fast gestorben bin.“, fügte er nach kurzer Überlegung hinzu.
„Keine Sorge, wir sind erst drei Tage unterwegs. Außerdem haben mir Maestru Cyriak und dein Vater mir die Anweisung gegeben, im Abstand von ein paar Stunden immer wieder nach dir zu sehen und aufzupassen, dass du auch ja bei uns bleibst!“, erwiderte Dánte mit einem milden Lächeln und Nightel bat ihn mit in den großen Gemeinschaftsraum des Schiffes zu kommen, damit er ihn über die Ereignisse seit ihrer Abreise informieren konnte.
Da Nightel noch nie zuvor auf einem Schiff gewesen war, hatte er sich sehr gefreut, als er ein Schreiben erhielt, in dem stand, dass Meister Cyriak den Brief seines Vaters erhalten hatte. Dieser hatte ihn gebeten seinen Sohn in der Seefahrt sowie im Handel zu unterweisen und Meister Cyriak hatte sich mit Freude bereit erklärt seiner Bitte nachzukommen und Nightel auf seiner nächsten Reise willkommen zu heißen.
Doch nur wenige Stunden nach ihrer Abreise hatte ihn die Seekrankheit übermannt und seither hatte er sich Tag und Nacht übergeben müssen oder war in seiner Koje gelegen und hatte geschlafen. Meister Cyriak hatte Dánte jeden Tag für einige Stunden von seinen Pflichten entbunden, um sich um ihn zu kümmern.
Sie schritten schweigend einen Teil des Gangs entlang, bevor sie an einer größeren Tür ankamen, die, wie der Rest des Schiffes, auf Hochglanz poliert war. Auf der Außenseite war ein glänzend rotes Metallschild mit goldfarbenen Buchstaben, das die Aufschrift „Camera comună – Gemeinschaftsraum” trug. Dánte klopfte kurz und als niemand antwortete - oder herauskam - öffnete er die Tür. Dann vergewisserte sich er, dass sich niemand im Raum befand und ließ Nightel als Erstes+
96*/ hinein gehen, ehe er selbst eintrat und die Tür schloss.
Er setze sich in einen der gepolsterten Sessel und bedeutete Nightel ebenfalls Platz zu nehmen, während er das schmale Schubfach, das an einer Seite des Tisches angebracht war, öffnete und eine gefaltete Karte herausnahm.
Nachdem Dánte einen Teil der Karte auseinandergefaltet hatte, fing er an seinem Freund zu erklären, welche Strecke sie bereits zurückgelegt und an welchen Orten sie bisher Halt gemacht hatten.
„Hier haben wir vor drei Tagen abgelegt – Constanta (Rumänien), daran erinnerst du dich ja noch, oder?“, begann er und warf Nightel einen skeptischen Blick zu. Nightel verzog das Gesicht, erwiderte jedoch nichts darauf, da er wusste, dass sein Gefährte durchaus besorgt um ihn gewesen war, auch wenn er dies nie zugeben würde.
„Noch am selben Tag sind wir nach Tsarevo (Bulgarien) gefahren, um dort einige Waren zu holen, die wir eine Woche vor unsere Abreise dort schriftlich angefragt hatten. Bereits auf der Fahrt dorthin, hast du schon geschlafen, die Seekrankheit hatte dich sehr schnell und stark im Griff.“, berichtete Dánte weiter und erklärte ihm, dass er ihm später eine Liste der Waren zeigen werde, die sie sowohl in Tsarevo als auch in Nessebar (Bulgarien) eingeholt hatten. Nightel nickte dankend und lächelte kurz, ehe er den Blick wieder auf die Karte vor ihm richtete.
„Nachdem wir die Waren auf das Schiff gebracht und gut verstaut hatten, gingen wir an Land um dort etwas zu essen. Dich haben wir mit ein paar Matrosen an Bord gelassen, weil du meintest, dass du in deiner Verfassung kein Essen vertragen könntest. Auch wenn ich natürlich wusste, wie es dir tatsächlich erging, fand ich es dennoch schade, dass du nicht dabei warst, da die Stadt wirklich schön ist und das Essen hervorragend war.“, sprach Dánte weiter und zeigte mit dem Finger auf die verschiedenen Anhaltspunkte ihrer bisherigen Reise.
„Wir hatten jedoch nur drei Stunden Zeit, da der Tag schon bis zur Mittagsstunde fortgeschritten war und wir mussten ja noch die Seestraße Denince (Türkei) passieren, was zwei Stunden gedauert hat, ehe wir in Istanbul angelegt haben. Dort hatte eine Näherin drei verschiedene Stoffe bestellt, von denen wir noch einige an Bord haben. Da Maestru Cyriak vor der Dämmerung noch Bandirma (Türkei) erreichen wollte, um dort die Nacht dort zu verbringen, hielten wir uns nicht länger als eine halbe Stunde in dort auf.“
Dánte blickte auf und sah Nightel an. „Die letzten zwei Tage verbrachten dann fast ausschließlich auf See, genug Proviant hatten wir ja und Abends legten wir am nächstgelegenen Hafen an, um dort die Nacht zu verbringen. Hast du noch fragen?“
Nightel überlegte einen Moment, dann nickte er. „Also ich kann mich nicht erinnern, aber habe ich denn die ganzen drei Tage nichts… getrunken?“, fragte er leicht beängstigt und leise, weil er nicht sicher war, ob nicht gerade jemand vor der Tür stand oder daran vorbeiging.
Dánte verstand sofort was er meinte und legte ihm beruhigend die Hand auf. „Keine Sorge, Nightel“, antwortete er und sah seinen Gefährten direkt an. „Durch die Krankheit hattest du nur ein klein wenig mehr Durst, nicht aber so viel, dass es hätte gefährlich sein können. Ich habe dir einmal am Tag gerade so viel gegeben, dass ich keinen Schaden davon tragen konnte und dein Körper genug bekam, um bei Kräften zu bleiben.“
Einen Augenblick lang schaute Nightel durch eines der runden Fenster nach draußen und dachte über Dántes Worte nach. Seit sie sich vor nun mehr als zwei Jahren kennengelernt hatten, waren sie mehr als „nur Freunde“ geworden, es verband sie weit mehr als die Freundschaft oder gar Brüderlichkeit. Vor mehr als zwei Jahren, durchlebte Nightel eine sehr aufwühlende, schmerzliche und kräftezehrende Wandlung, die sein Leben auf eine sehr entscheidende Art und Weise verändert hatte. Damals hatte Dánte ihm sehr viel geholfen, als er sehr verzweifelt war und in die Gefahr geraten war, sich selbst und andere schwer zu schaden. Dafür war er ihm aus tiefsten Herzen dankbar und das wusste Dánte.
Dánte wusste, was er jetzt dachte und wollte gerade sagen, dass er sich der Dankbarkeit, der er für ihn empfinde, durchaus bewusst sei, doch Nightel kam ihm zuvor. „Dánte, du weißt sicher, wie viel mir das bedeutet. Ich kann dir gar nicht oft genug sagen, wie dankbar ich für alles bin, was du bis jetzt schon alles für getan hast!“
„Ja, ich weiß“, erwiderte er bedacht. „Wollen wir Maestru Cyriak und deinen Vater aufsuchen, um ihnen die freudige Nachricht zu überbringen, dass du dich erholt hast?“, schlug er dann vor, da er wusste, dass Nightel ebenso wenig wie er selbst, dieses Thema weiter vertiefen wollte und faltete die Karte wieder zusammen.
Nightel nickte motiviert und erhob sich, während Dánte die Karte wieder zurück in das Schulfach legte.
Zuerst gingen sie wieder hinauf aufs Deck, um dort nach Maestru Cyriak und Nightel´s Vater zu sehen, doch es befanden sich nur einige Matrosen auf dem Deck. Gerade als Nightel das Deck betrat, sah er ein Mädchen auf der Fondamenta stehen. Die Aufmerksamkeit des Mädchens war ganz auf das Schiff gerichtet und als er vortrat, hob sie den Kopf und sah ihn an. Er spürte ihren Blick auf sich ruhen, während sie ihn von unten nach oben hin musterte. Auch er begann sie mit Interesse zu betrachten.
Sie trug elegante Schuhe, die wie die einer Nobilaaussahen und in denen ihre bloßen, honigfarbenen Füße steckten. Sein Blick wanderte an den langen und schmalen Beinen empor, die unter ihrem Umhang zum Vorschein kamen. Am Ende des Umhangs sah er ein Stück des Kleides, das sie darunter trug. Es war von einem sehr schmeichelhaften Rot und hatte einen schmalen Goldrand. ‚Sie muss eine der Nobila dieser Stadt oder dieses Landes sein!’, ging es ihm durch den Kopf. Dann glitt sein Blick kurz über ihren Oberkörper, wo eine schlichte Verschnürung den Umhang zusammenhielt, und über ihre Brüste, bevor er ihr Gesicht erreichte. Dieses hatte den gleichen Farbton wie ihre Füße und war nicht zu voll, aber auch nicht zu schmal. Ihre Wangen waren leicht rosig und ihr Lippen mit einen nicht allzu intensiven Rot bemalt und leicht geschwungen. Er suchte ihre Augen und ihre Blicke trafen sich.
Er wusste, dass sie seine Augen nicht würde erkennen können, doch er konnte ihre Augen deutlich sehen.Sie waren von einem schönen Goldbraun. Einige Sekunden lang sah er ihr in die Augen und wollte sie mithilfe seiner Gedanken dazu zu bringen, näher zu kommen.
' Vino mia aproape, venit la mine, dragă! - Komm näher, komm her zu mir, Liebes!' , sandte ihr.
Ein glasiger Ausdruck trat in ihre Augen und ihr Lippen öffneten sich leicht, ein sicheres Zeichen, dass sie begann ihm zu verfallen, doch plötzlich hörte er eine Glocke schlagen. Das Geräusch war zwar nicht sehr laut, da sich die Quelle dessen weiter entfernt zu sein schien, dennoch war es laut und durchdringend genug, um seinen Bann aufheben zu können. Bereits im nächsten Moment wurde diese Überlegung jedoch überflüssig, denn das Mädchen wandte plötzlich den Blick ab, sah sich kurz etwas verwirrt um, ehe sie auch schon kehrt machte und in der nächsten Bandă verschwand.
Seufzend wandte er sich um. Hinter ihm stand Dánte, der das Mädchen ebenfalls gesehen hatte. Er sah Nightel fragend an. „Hast du…? Möchtest du…?“, er stockte. Obwohl er Nightel und sein „zweites Gesicht“, wie sie es unter sich nannten, schon genug kannte, um zu wissen woran er soeben gescheitert war, fiel es ihm oft dennoch schwer, darüber zu sprechen.
Nightel nickte nur schweigend. „Ein wenig…“, flüsterte er leise. Auch er kam nicht immer gut mit seinem „zweiten Gesicht“ klar.
Schweigend gingen sie in Nightel´s Kajüte und ließen sich in seiner Koje nieder. Dort lehnte sich Dánte an die Wand und bot Nightel, der ihm gegenüber kniete, seinen bloßen Arm. Nightel blickte seinem Gefährten kurz in die Augen, ehe seine Eckzähne zum Vorschein kamen und sich langsam in dessen weiche Haut bohrten. Dánte sog scharf die Luft ein, als er den durchdringenden Schmerz fühlte, als dieser sich jedoch innerhalb von Sekunden in ein angenehm wohliges Gefühl. Er schloss die Augen, lehnte sich weiter zurück und ließ es über sich ergehen…
Einige Minuten später, die ihm wie Stunden vorkamen, löste Nightel seinen Mund von Dántes Arm und dieser blieb noch ein paar weitere Minuten an die Wand gelehnt und die Augen geschlossen sitzen, bis das etwas berauschende Gefühl verschwunden war. Nightel leckte das restliche Blut von der Wunde und schloss diese.
Als er von ihm abließ, öffnete Dánte die Augen und sah ihn an. „Hast du genug?“, fragte er etwas schwach.
„Ja, danke!“, erwiderte Nightel. Dánte ersparte sich eine Antwort, setzte sich auf und öffnete das Fenster über seinem Kopf. Er rappelte sich auf und ging ein paar leicht schwankende Schritte in Richtung Tür.
„Willst du dich nicht noch ein paar Minuten hinlegen?“, fragte ihn Nightel, etwas besorgt.
„Nein, keine Sorge, es geht gleich wieder.“, beruhigte Dánte ihn und sah ihn über die Schulter hinweg an. „Komm mit, gehen wir deinen Vater und Maestru Cyriak suchen, um ihnen mitzuteilen, dass es dir besser geht! Außerdem weiß ich ehrlich gesagt gar nicht, wo wir im Moment sind.
Nachdem sie Brot, Wurst, Aufstrich und Käse sowie etwas frisches Obst und Gemüse gekauft hatte, schlug die Glocke erneut, dieses Mal jedoch nur dreimal, das Zeichen dafür, dass eine dreiviertel Stunde vergangen war.
Schnell packte Samira die Sachen ihren Korb, dass sie einigermaßen gut zu transportieren waren und machte sich langsam auf den Heimweg.
In dem Moment, als sie die Tür des Hauses erreicht hatte, läutete die Glocke, im gesamten Stadtteil Corsia Bronzea di Messina (Bronzene Gassen/Straßen von Messina), die zehnte Stunde des Tages ein.
Mit der freien Hand griff sie nach dem Seil, das ins Innere des Hauses führte und zog daran. Das Geräusch der Glocke war ihr nur zu gut bekannt.
Nur wenige Minuten später wurde ihr auch schon die Tür geöffnet und einer der Diener des Haushalts erschien.
„Guten Morgen, Signorina!“, begrüßte dieser sie und machte eine leichte Verbeugung.
„Wie ich sehe, wart Ihr wieder auf dem Markt. Kann ich Euch behilflich sein?“
„ Guten Morgen, Alfredo“, erwiderte Samira freundlich seinen Gruß: „Ja, kannst du! Du kannst diese Sachen hier nach unter in die Küche bringen und ein Frühstück für zwei bis drei Personen bereiten. Wenn du damit fertig bist, bring bitte es in das Gemach meines Vaters.“
Der Diener nickte und sie reichte ihm ohne ein weiteres Wort den Korb.
Während der Diener in die Küche eilte, betrat Samira das Haus, zog ihren Umhang aus, hängte ihn an einen der freien Kleiderhaken im Eingangsbereich und ging dann langsam nach oben.
Oben angekommen blieb sie vor der Tür des Empfangszimmers ihres Vaters stehen und zögerte.
‚Sollte ich Vater vielleicht von dem Fremden am Hafen berichten?’, überlegte sie, entschied sich dann jedoch dagegen. Vor einer Woche hatte er sie darüber unterrichtet, dass während und nach der Jahrhundertwende, viele neue Händler und andere Reisende kommen würden, um ihre Waren auch in den anderen Ländern feil zu bieten. Daher würde er sie wohl nur daran erinnern und ihr lächelnd mitteilen, dass sie sich um nichts Sorgen machen müsse, solange nicht jemand anfing Schaden anzurichten. Sie seufzte und wandte sich wieder der Tür zu.
Dahinter hörte sie gedämpfte Stimmen. Als sie näher herantrat, erkannte sie die Stimme ihres Vaters, doch die zweite Stimme war ihr unbekannt. Langsam öffnete sie die Tür und betrat den Raum.
Es befanden sich drei Personen im Raum: Ein Mann mittleren Alters, ein Mädchen von neun oder zehn Jahren und Signore Alrine Damenico, ihr Vater. Mit ihr selbst waren sie es nun vier.
Das Gespräch zwischen dem ihr Unbekannten und Signore Damenico verstummte, als sie Samira bemerkten, die noch immer in der Tür stand. Sie runzelte verwirrt die Stirn und ließ ihren Blick durch die kleine Runde vor ihr schweifen. Einen kurzen Moment lang musterte den zweiten Mann und das Mädchen eingehend und blickte dann zu ihrem Vater, der sich erhob.
„Guten Morgen, Samira“, begrüßte er sie und führte sie zu der kleinen Sitzgruppe, die er in der Mitte des Zimmers errichtet hatte.
„Guten Morgen, Vater“, erwiderte sie ruhig .
Signore Damenico ließ sich wieder in seinen Sessel nieder und fing an, ihr die ungewöhnliche Situation zu erklären: „Du weißt doch, dass wir schon seit längerer Zeit überlegen ab und an für einige Zeit Gäste bei uns aufzunehmen?“
Sie nickte und ließ sich in dem Sessel gegenüber der beiden Fremden nieder.
„Nun, das Schicksal hatte wohl genau dieses Vorhaben für uns vorgesehen, denn nachdem du auf den Mark gegangen warst, kam Magdalena, mit der Nachricht, das vor dem Haus zwei Reisende eine Unterkunft suchen würden, zu mir. Natürlich haben wir die Beiden sofort hereingeholt und ihnen angeboten, für einige Zeit bei uns zu bleiben.“
Als er inne hielt, forderte seine Tochter ihn erwartungsvoll auf, fortzufahren.
„Das ist Maestro Eldias Bertani.“, sagte er daraufhin und wies auf den Mann, der sich daraufhin erhob und sich vor Samira verbeugte, ehe er sich wieder setzte. „ Er ist einer der Höchsten Gelehrten. Und das ist Néla Coléra, seine Schülerin.“ Auch das Mädchen erhob sich und deutete eine Verbeugung an.
Der Gelehrte räusperte sich und richtete sich auf. Er sah Signore Damenico kurz fragend an und dieser nickte, zum Zeichen, dass er bereit war, ihn sprechen zu lassen.
„Ich gehöre erst seit einem Monat zum Kreis der Gelehrten.“, fing er an und wandte sich an Samira. „Ich musste sehr viele und schwere Prüfungen bestehen, um zu beweisen, dass ich genügend Wissen besaß, um dem Kreis betreten zu können. Nachdem ich alle diese Prüfungen bestanden hatte, schickte man mich vor dreizehn Tagen nach Florenz, um mir dort meinen ersten Schüler oder, wie in diesem Fall, meine erste Schülerin erwählen zu können.
Einen Tag nach meiner Ankunft in Florenz, traf ich bei einem Rundgang durch die Stadt auf Néla. Mir fiel sofort ihre Kleidung auf, die zwar elegant, jedoch sehr abgetragen und mit Schmutz bedeckt war. Dieser Anblick verwirrte mich und ich fragte mich, ob der Schmutz nur von der Straße stammte, oder ob vielleicht doch mehr hinter der abgetragenen Kleidung des Mädchens steckte, also ging ich auf sie zu und sprach sie an. Zuerst wollte sie nicht mir mir reden und als ich sie fragte, ob ich mit zu ihr nach Hause gehen könnte, lehnte sie sofort ab. Nach einer Weile gelang es mir schließlich sie in ein Gespräch zu verwickeln und als ich ihr etwas über mich erzählt hatte, willigte sie schließlich ein, mich mit zu ihrer Familie zu nehmen.
Als ich auf ihre Familie traf und sah unter welchen Umständen sie lebten, bekam ich Mitleid mit Néla und bot ihr und ihrer Familie an, sie in seine Obhut zu nehmen und zu Lehren. Ihre Eltern nahmen das Angebot dankend an und baten mich, wenn es möglich sei, mit ihrer Tochter ans Meer zu reisen, da dieses noch nie zuvor dort gewesen war und es in allgemein hieß, am Meer leben die Menschen am gesündesten. Diese Bitte konnte ich ihnen kaum ausschlagen und so machten wir uns bereits am nächsten Tag auf den Weg hierher und gaben den Eltern das Versprechen, ihnen sooft es ihnen möglich ist, eine Nachricht zukommen zu lassen.“
Er machte eine kurze Pause und nahm einen Schluck von dem Wein, der vor ihm auf dem Tisch stand. Dann sah er zu Néla, die unruhig auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. Ganz offensichtlich war es ihr sehr unangenehm, jemand über ihre Familie reden zu hören. Maestro Eldias lächelte ihr aufmunternd zu und fuhr dann fort: „Wir sind drei Tage vor der Wende in Villa San Giovanni angekommen und sind mit einem Fischer, der uns für ein paar Münzen in sein Boot hat einsteigen lassen hierher gekommen. Die folgende Nacht haben wir dann in einem kleinen Gasthaus verbracht.“, erklärte er. „Doch am nächsten Morgen teilte uns der Wirt bedauernd mit, dass wir leider nicht länger bleiben könnten. Den Grund wollte er uns nicht verraten, doch er gab uns etwas zu Essen mit und wies uns freundlich darauf hin, dass in diesem Stadtviertel noch mehr Unterkünfte angeboten würden.
Die letzten beiden Tage und Nächte konnten wir bei einer Händlerin verbringen, die uns jedoch auch nicht länger aufnehmen konnte, da ihr Gatte noch heute zurückkehren würde, wie sie sagte, und er es nicht duldet, wenn sich Fremde in seinem Haus aufhalten. So sind wir schließlich hierher gekommen und dein Vater hat uns angeboten für längere Zeit hier bleiben zu können.“ Damit schloss er seinen Bericht ab und nahm noch einen Schluck Wein.
Samira schluckte. Während er gesprochen hatte, hatte sein Blick unverwandt auf ihr geruht. Seine Augen hatten einen grün-braunen Farbton, seine Stimme klang sehr angenehm und er sprach sehr kultiviert. Sie wusste nicht recht, was sie hätte sagen sollen, deshalb war sie etwas erleichtert, als plötzlich ein zögerndes Klopfen an der Tür erklang.
Langsam öffnete sich die Tür und ein Diener erschien. Er verbeugte sich, ehe er zu sprechen begann. „Bitte verzeiht mir die Störung, Signore Damenico!“, sagte er hastig und schaute auf. „ Aber das Frühstück, das Ihr wünschtet ist bereitet. Es steht im Gästezimmer für Euch bereit. Möchtet Ihr es jetzt einnehmen, oder soll ich unseren Gästen zuerst Ihre Gemächer zeigen?“
Signore Damenico erhob sich und räusperte sich kurz, ehe er dem Diener antwortete. „Nun, ich denke, wir werden erst einmal essen! Ihr müsst sicher hungrig sein.“, entgegnete er und sah kurz zu Maestro Eldias und Néla hinüber, die kaum wahrnehmbar nickten.
„Sind die Gemächer denn schon bereitet?“, fragte er den Diener dann.
„Ja, so wie Ihr es wünschtet, Signore!“, entgegnete dieser.
Signore Damenico nickte dem Diener kurz zu. „Gut, aber ich denke, wir werden dennoch zuerst essen, bevor wir uns die Gemächer ansehen. Das werde ich später übernehmen, danke Alfredo!“ Damit wandte er sich wieder ab und der Diener zog sich mit einem kurzen Kopfnicken zurück.
„Nun, dann würde ich vorschlagen, wir machen uns auf den Weg in den Gastraum und essen. Wir können uns ja auch dort weiter unterhalten.“, rief Samiras Vater. Daraufhin erhob sich Maestro Eldias und trat neben seinen Gastgeber, auch die Mädchen erhoben sich von ihrem Sesseln und gingen zur Tür.
Der Rest des Festes hatte sich nicht nur für die Vielzahl der Gäste und ihre Familie sondern auch für Felicitá selbst sehr angenehm gestaltet. Am Morgen hatte ihr Vater nicht zu viel versprochen. Tatsächlich waren im Laufe der Nacht sehr viele Gaukler und Schauspieler in den großen Festsaal gekommen und hatten ihre Inszenierungen zum Besten gegeben, was sowohl die Gäste als auch ihre Familie sehr begeistert hatte. Dazwischen waren immer wieder Diener mit Getränken und kleine Leckereien, wie Süßspeisen mit Honig und Nüssen oder gefüllten Teigtaschen aus der Küche erschienen und gegen Mitternacht hatte es ein Festessen gegeben, das den Gastgebern und den Köchen große Bewunderung eingetragen hatte.
Danach waren noch einige Musikanten gekommen, die ihr Vater ebenfalls geladen hatte und hatten einige ruhige Lieder gespielt, um die aufgeheizte Stimmung wieder etwas abzukühlen.
Gutmütig hatte Alessio die stille Bitte seiner Frau erhört und Felicitá angesichts der großen Feierlichkeiten gewähren lassen. Nachdem sie ihr anfängliche Scheu nach und nach abgelegt hatte, war sie mit Davio Tanárins und seinem Neffen, Lucián ins Gespräch gekommen, indem sie alle drei immer mehr aufgegangen waren.
Nach einer Weile, als die Musikanten gerade ein neues Lied angestimmt hatten, hatte sich Lucian erhoben und war um den Tisch auf sie zugekommen. Sie hatte verwundert zu ihm aufgeblickt und er hatte ihr, ohne auf die Blicke der anderen zu achten, die Hand entgegengestreckt.
„Mylady", hatte er begonnen. „Darf ich Euch hier und jetzt zum Tanz bitten?" Schmunzelnd hatte er beobachtete, wie der leicht entsetzte Gesichtsausdruck verschwand und sich ein schmales Lächeln auf Felicitá´s Lippen ausgebreitet hatte.
„Ich kenne dieses Lied und es eignet sich zum Tanz, wie kein anderes", war er fortgefahren. „Es wäre Verschwendung, wenn ich – verzeiht – wenn wir diese Chance ungenützt ließen"
Nun hatte auch er gelächelt, doch dann zögerte Felicitá und ihr Lächeln verschwand. Mit fragendem Blick hatte sie sich zu ihrem Vater umgewandt und dieser hatte, entgegen ihre Erwartungen nur genickt und mit einem strahlendem Lächeln hatte sie sich wieder an Lucian gewandt.
Ohne etwas zu erwidern hatte sie einfach wieder seine warme und kräftige Hand ergriffen und hatte sich von ihm mitziehen lassen, in einen berauschenden Wirbel aus den Gerüchen, die von Lucian auszugehen schienen und den bitter-süßen Klängen der Musik um sie herum.
Verschlafen und verträumt lag sie nun in ihrem Bett und dachte über die vergangene Nacht nach. Sie dachte an die beeindruckenden Schauspiele und Tänze, die in dieser Nacht aufgeführt worden waren und zweifellos jeden der Gäste begeistert hatte und das hervorragende Essen. Vor allem aber dachte sie immer wieder über ihre Familie und die Familie von Davio und seinem Neffen Lucián Tanárins nach.
Es hatte sie gefreut und verwundert zugleich, dass ihr Vater seit Langem wieder nachsichtig mit ihr gewesen war. Früher war er wie ihre Mutter, fast immer nachsichtig, verständnis- und liebevoll gewesen, doch dann wurde mit einem Tag immer missmutiger und strenger mit ihr wie auch mit dem Rest des Haushalts, ohne dass irgendjemand den Grund dafür kannte. Auch ihre Mutter litt sehr darunter, weil er auch sie oft verletzte. Nicht selten kam es vor, dass sie alleine im Wohngemach saß, einfach nur aus dem Fenster sah und darüber grübelte, warum sich ihr Mann so sehr verändert haben könnte. Trotz allem hatte sie sich jedoch noch nie getraut, ihn darauf anzusprechen, da sie Angst hatte, er könnte sogar nicht davor zurückscheuen sie zu schlagen. Doch gab es dann wieder Tage und sogar Wochen, in denen er wieder der Alte zu sein schien, einfach der liebevolle Vater und Ehemann.
Sie seufzte. Wie sehr wünschte sie sich die alten Zeiten zurück, in denen ihr Vater noch der Alte gewesen ist!
Ein Klopfen erklang und riss sie aus ihren Gedanken. Langsam erhob sie sich und ging zur Tür. Als sie diese öffnete, stand Caterina mit einem kleinen Tablett vor ihr und lächelte entschuldigend.
„Bitte verzeiht mir, wenn ich Euch aufgeweckt oder gestört haben sollte, Señorita.“, begann sie und Felicitá bedeutete ihr einzutreten und schloss die Tür. Dann ging sie zurück zum Bett und ließ sich darauf nieder.
„Eure Mutter schickt mich, um nach Euch zu sehen. Es war eine sehr lange Nacht gewesen und Ihr braucht heute nicht runter zu kommen, sondern sollt Euch ruhig etwas erholen, sagt sie.“, erklärte Caterina, während sie das Tablett abstellte.
Felicitá nickte und als Caterina gerade an ihr vorbei zur Tür gehen wollte, hielt Felicitá sie plötzlich am Arm fest.
„Warte, Caterina!“, rief sie und sah ihr in die Augen. „Wenn du heute nichts mehr zu tun haben solltest, möchte ich dich gerne einladen mit mir zu essen.“
Caterina´s Blick flog kurz zur Tür hinüber. Dann drehte sie sich wieder zu ihrer Herrin um und nickte kurz. „Ja ich habe Zeit und nehme Eure Einladung sehr gerne an!“, sagte sie und musterte sie kurz. „Ihr seht … etwas bekümmert aus.“
Vorsichtig ließ sie sich neben ihrer Herrin auf das Bett sinken und beobachtete, wie sich deren Miene plötzlich verschloss. Da sie innerlich sehr aufgewühlt schien, wandte Caterina ihren Blick wieder ab, atmete kurz tief ein und wartete dann, bis ihre Herrin sich sammelte und bereit war zu sprechen.
Nachdem Dánte nach ein paar unsicheren Schritten zur Tür von Nightel´s Kajüte das Gleichgewicht verloren hatte und fast gestürzt wäre, hat er sich von Nightel doch dazu überreden lassen, sich noch einige Minuten auszuruhen.
„Hast du denn heute schon etwas zu dir genommen?“ Nightel kniete neben seinem Freund und Gefährten, der auf dem Boden saß, den Kopf an die Wand gelehnt und die Augen geschlossen, und sah ihn mit leichter Sorge im Blick an. Dánte antwortete nicht, sondern schüttelte nur den Kopf.
„Das hättest du mir sagen müssen, Dánte! Du weißt, dass -“, bevor er seinen kleinen Vortrag darüber, wie gefährlich es für ihn werden könnte, wenn er nicht genug aß und Nightel dennoch genügend trinken ließ, wurde er von Dánte unterbrochen.
„Aber ja doch, Nightel, das weiß ich!“, sagte er und seufzte. „Doch wenn du es brauchst, will ich es dir geben. Und du weißt genauso gut wie ich, das du dasselbe tun würdest, wäre ich an deiner Stelle.“ Mit leicht flatternden Lidern öffnete er die Augen und warf Nightel einen leicht vorwurfsvollen Blick zu. Schuldbewusst senkte er für einen Augenblick den Kopf, dann lächelte er leicht. „Tut mir Leid, ich weiß das zu schätzen, wirklich! Doch manchmal mache ich mir etwas Sorgen um dich“
Bevor sie dieses Gespräch weiterführen konnten, erhob sich Dánte langsam und streckte ihm die Hand entgegen. „Danke.. Ich denke jetzt geht es wieder! Komm mit, lass uns jetzt Maestru Cyriak und deinen Vater suchen.“, rief er mit einem Unterton in der Stimme, der keinen Widerspruch duldete. Sein Freund sagte kein Wort darauf, sondern nickte und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen.
An der Tür zur Kajüte von Maestru Cyriak, aus der leise Stimmen nach außen drangen, hielt Nightel inne und sah Dánte an. „Du musst mir aber versprechen, dass du gleich etwas essen wirst.“
Dánte lächelte und klopfte an die Tür. „Versprochen!“
Kurz darauf verstummten die Stimmen hinter der Tür und sie wurde geöffnet. Dahinter erschien Maestru Cyriak und schaute erstaunt auf. „Ah, guten Morgen Dánte“, rief er und musterte ihn. Besorgt runzelte er die Stirn, dann meinte er: „Du siehst irgendwie nicht gut aus... Geht es dir nicht gut? Hat dich Nightel etwa angesteckt?“
Dánte winkte ab und lächelte. „Nein, macht Euch um mich keine Sorgen, Maestru!“, erwiderte er. „Ich muss nur eine Kleinigkeit essen, aber darum bin ich nicht hier. Ich bin wegen Nightel hier...“
Sofort erhob sich dessen Vater und trat neben Maestru Cyriak in die Tür. „Was ist mit Nightel?“, fragte er sofort und konnte die Angst in seiner Stimme kaum verbergen. In all den Tagen, seitdem sein Sohn erkrankt war, ist Dánte nie zu ihm oder dem Kapitän gekommen, deshalb war er bisher davon ausgegangen, das alles soweit es ging in Ordnung sei. Doch Dánte legte ihm beruhigend die Hand auf und sah ihm in die Augen. „Keine Angst, Kos (griech.:κος) – Herr de Munteanu, Eurem Sohn geht es wieder gut! Deshalb bin ich auch gekommen.“
Belustigt beobachtete er, wie der Schreck langsam wieder aus dessen Miene verschwand.
„Das sind ja großartige Neuigkeiten!“, ergriff Maestru Cyriak wieder das Wort. „Dann kann er ja nun endlich mit seiner Lehre bei mir beginnen. Das was er während der letzten Tag verpasst hat, holen wir einfach auf der Rückfahrt wieder auf und dann kannst du dich etwas ausruhen, Dánte! Tut mir Leid, dass ich so wenig Zeit für dich hatte, in den vergangen beiden Tagen, aber du kannst sicher verstehen, dass ich zu sehr damit beschäftigt war, uns sicher hierher zu bringen. Und wegen dem Essen, mach´ dir mal keine Gedanken, wir haben noch einige Vorräte an Bord und werden hier heute neue beschaffen, wenn ihr wollt könnt ihr mitkommen.“
Daraufhin nickten die beiden Lehrlinge eifrig. „Außerdem würde ich sagen, dass wir zur Feier des Tages heute Abend ausgehen werden.“, fügte der Kapitän hinzu. „Und du, Nightel wirst uns natürlich begleiten!“
„Warum zeigst du Maestro Eldias und Néla nicht ein bisschen das Haus?“, schlug Signore Damenico seiner Tochter nach dem gemeinsamen Frühstück vor.
Samira nickte und leerte mit einem großen Schluck ihren Becher.
„Aber natürlich, Vater“, erwiderte sie und erhob sich.
Während des Essens hatte sie den Gelehrten und seine junge Schülerin aufmerksam beobachtete.
Néla war ihren Blicken stets ausgewichen und schien sich allgemein etwas unwohl zu fühlen, das konnte Samira sehr gut verstehen. Ihr würde es auch nicht sonderlich gefallen, mit eigentlich fremden Menschen zusammen zu sitzen und sie über sie reden zu hören. Nach und nach begann sie eine gewisse Sympathie für das Mädchen zu entwickeln. Sie hatte ihr zugelächelt, doch die Zehnjährige war auch diesmal ihrem Blick ausgewichen und hatte zaghaft einem Schluck Wasser genommen.
Der Hohe Gelehrte hatte weiter über seine Reise gesprochen und darüber, dass er und die anderen aus dem Kreis der Gelehrten seit zwei Jahren damit beschäftigt sind, ein altes, leerstehendes Schloss wieder bewohnbar zu machen, um darin eine Lehrstätte errichten zu können.
„Wir haben schon sehr lange die Vision unser Wissen den Menschen teilen zu können.“, hatte er erklärt. „Und nun scheint es uns endlich zu gelingen diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen. Um auch den Menschen, die sich in ähnlichen Situationen wie Néla befinden oder die eine schwierige Vergangenheit haben und weiter entfernt leben oder nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können die Chance zu geben, sich Wissen aneignen zu können, ohne dabei etwas zu befürchten zu haben müssen, haben wir die Räume des Schlosses so richten zu lassen, um all diesen Menschen auch eine sichere Unterkunft bieten zu können.“
Néla, die bisher sehr ruhig gewesen war, öffnete den Mund um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch wieder. Maestro Eldias lächelte, als würde er sehen, wie sich die Gedanken in Néla´s Kopf plötzlich zu überschlagen begannen und fuhr fort: „Obwohl das Schloss bereits vor sechs Monaten fertig wurde, wird jedoch noch eine Weile dauern, bis wir dort unsere ersten Schüler und Schülerinnen aufnehmen können. Noch immer gibt es einige Formalitäten, die geklärt werden müssen. Bis dahin sollten wir uns ein paar Schüler oder Schülerinnen gesucht und uns mit ihnen, sowie ihrer Vergangenheit vertraut gemacht haben.“
„Das klingt alles wahrlich interessant, Maestro.“, hatte Signore Damenico daraufhin Samira´s und Néla´s offensichtliche Gedanken ausgesprochen und warf den beiden Mädchen einen Seitenblick zu.
Samira kannte ihren Vater und wusste sofort was dieser Blick ihnen bedeutet sollte. Für ihn war dieses Thema nun abgeschlossen und er würde es nicht dulden, weitere Fragen dazu von ihnen zu hören.
„Könntet Ihr mir Pergament und etwas zum Schreiben in mein Gemachbringen lassen“, wandte sich Maestro Eldias an Signore Damenico, als dieser sich erhob.
„Aber natürlich!“, erwiderte er und verließ den Raum.
N éla, wie auch Maestro Eldias blickten sich staunend und sprachlos um, als Samira sie durch das große, durchaus edel eingerichtete Haus führte. „Es ist so viel größer, als es von draußen aussieht...“, stieß Néla hervor, bemüht mit den anderen Schritt zu halten, um sich nicht zu verlaufen. Doch immer wieder wurde sie von ihrer grenzenlosen Neugier gepackt und blieb stehen, um sich eine der Statuen oder Pflanzen anzusehen, die in unregelmäßigen Abständen in kleinen und großen Wandnischen aufgestellt waren.
Samira drehte sich überrascht um und blieb stehen, als sie sah, dass Néla etwas zurückgefallen war. Seit dem das Mädchen hier war, hatte sie nicht einen ganzen Satz gesprochen.
„Wir befinden uns hier in dem Korridor, der zum Arbeits- und Empfangszimmer meines Vaters führt.“, erklärte sie. „Mein Vater arbeitet mit den Ratgebern des Königs zusammen und empfängt daher auch oft dessen Abgesandte... Deshalb muss dieser Teil des Hauses auch entsprechend eingerichtet und gepflegt werden.“ Sie deutete auf einige Diener, die gerade damit beschäftigt waren die Statuen zu säubern und die Pflanzen von eingetrockneten Blättern zu befreien. Als Néla zu ihnen aufgeschlossen hatte, setzte sie ihren Rundgang fort.
Der Rest des Hauses war weniger prunkvoll aber dennoch nicht schmucklos. Néla bewunderte vor allem die hohen, gewölbten Decken und die großen, in Gold gerahmten Fenster, die sehr viel Tageslicht ins Haus strömen ließen.
Nachdem sie ein paar Minuten schweigend weitergegangen waren, betraten sie einen der schlichteren Korridore im oberen Teil des Hauses und Samira blieb vor einer der Holztüren stehen. „Dies wird für die kommenden Wochen Euer Gemach sein, Maestro.“, sagte sie und wandte sich zu Maestro Eldias um, der hinter ihr stehen geblieben war. „Wollt Ihr Euch mit uns noch weiter umsehen, oder wollt Ihr sogleich Euer Gemach beziehen?“
Sachte schob er sich an ihr vorbei, zur Tür und antwortete ihr mit einem leichten Lächeln: „Ich denke, ich werde mich erst einmal in meinem neuen Quartier einrichten und ein paar Briefe an meine Kollegen und Néla´s Eltern aufsetzen, um sie über den Verlauf unserer Reise und einen Bericht abzusenden“ Er wandte sich an Néla und fügte hinzu: „Wenn du möchtest, können wir ja den Brief an deine Eltern gemeinsam schreiben. Was hältst du davon?“
Schüchtern brachte sie eine Lächeln zustande und nickte. „Sehr gerne, Maestro!“
„Gut, dann werde ich in einer Stunde nach euch schicken lassen“ Damit wandte er sich ab und schloss die Tür hinter sich. Der Raum dahinter, war nicht sehr groß, aber dennoch annehmbar eingerichtet. Er verfügte über ein einzelnes Bett, einen Kleiderschrank, einem Regal und einem Schreibtisch am Fenster. Als er die Schreibutensilien auf dem Tisch erblickte, ließ er sich sofort auf dem Stuhl davor nieder und begann ohne Umschweife die Briefe aufzusetzen. Zeit, um seine Taschen auszupacken würde er später noch zu genügend haben.
Inzwischen führte Samira Néla zu ihrem Gemach, das sie sich von nun an teilen würden. Es bot ausreichend Platz für sie beide und die beiden großen Fenster ließen viel Licht in den Raum. Trotz der kurzen Zeit seit Nélas Ankunft hatte man es geschafft ein zweites Bett sowie eine kleine Kommode aufzutreiben.
C aterina hatte die ganze Zeit, in der Felicitá von dem Fest der vergangenen Nacht erzählt hatte, still neben ihr auf dem Bett gesessen und hatte ihr zugehört. So wie sie es immer machte, wenn sie bemerkte, dass ihrer Herrin etwas auf der Seele lag.
Seit Caterine vor fünf Jahren als ihre Zofe, und die ihrer Mutter, in den Haushalt aufgenommen wurde, hatte Felicitá in ihr eine Vertrauensperson und Freundin gefunden, mit der sie über alles reden konnte und Caterine hatte nicht einmal etwas dagegen einzuwenden gehabt. Obwohl eigentlich Felicitá´s Mutter Délia das Oberhaupt des Haushalts war, war sie für Caterine nie wirklich ihre Herrin gewesen, da sie neben ihr noch eine weitere Dienerin und Zofe besaß und so war für Caterine immer Felicitá ihre Herrin.
Obwohl diese ihr gleich zu Anfang angeboten hatte, sie könne auch mit ihren Sorgen und Problemen jederzeit zu ihr kommen, stellte sie ihre Sorgen stets hinter die ihrer Herrin und stand ihr gerne, wann immer es ging mit Rat und Tat zu Seite. Sie selbst sprach nur sehr selten über ihre eigenen Belange und verarbeitete diese, indem sie sie Abends in ihrer kleinen Kammer in ein leeres Buch niederschrieb.
Felicitá riss sie aus ihren Gedanken.
„Hörst du mir denn noch zu, Caterina?“, fragte sie ein wenig vorwurfsvoll.
Caterina blickte erschrocken auf. „Ohje, bitte verzeiht mir, Señorita! Ich war nur gerade... mit meinen Gedanken woanders“, gestand sie und senkte den Kopf.
Felicitá erwiderte nichts und griff nach einem der Becher. Sie trank einen Schluck, ehe sie weitersprach.
„Auch als Davio´s Neffe, Lucian, mich später zum Tanze forderte, ließ Vater mich einfach gewähren“, wiederholte sie das eben gesagte noch einmal und fuhr dann fort, ohne Caterina´s Reaktion abzuwarten. „Einerseits macht mich das überglücklich, weil dieser Tanz mit Lucian so überwältigend schön und atemberaubend sinnlich war und ich mich schon jetzt nach einem weiteren verzehre und weil Vater schon lange nicht mehr so großzügig zu mir gewesen ist... “ Sie hielt inne und dachte einen Augenblick darüber nach, schwieg. Dann seufze sie leise und etwas traurig.
„Andererseits jedoch macht es mich sehr traurig, Caterina“, sagte sie leise und sah ihrer Zofe kurz in die Augen, bevor sie den Blick wieder auf ihre nackten Zehen senkte. „Weil ich nicht weiß wie lange diese gute Laune meines Vaters diesmal anhalten wird. Vielleicht einen Monat oder gar zwei, eine Woche, nur ein paar Tage oder war sie doch nur gestern Nacht und wird schon heute wieder verschwunden sein?“
Caterina nickte kaum wahrnehmbar. Sie wusste um die übermächtig große Liebe, die ihre Herrin zu ihrem Vater wie auch zu ihrer Mutter empfand, aber auch um die scheinbar unendliche Ratlosigkeit und Traurigkeits mit der sie, ihre Mutter und auch der Rest des Haushalts zu kämpfen hatten, seit sich ihr Vater, Ehemann und Herr so sehr verändert hatte – und sie fühlte nicht anders als sie. Sie legte ihrer Herrin eine Hand auf und blickte sie verständnislos an.
„Ich kann es sehr gut nachempfinden, wie Ihr Euch jetzt fühlen müsst, Señorita. Ihr wisst, uns allen ergeht es sehr ähnlich mit unserem Herrn. Dennoch möchte ich Euch nun bitten, solange wir hier alleine unter uns sind: Versucht Euch nicht zu viele Gedanken darüber zu machen, das bekommt Euch und auch allen anderen nicht gut, und glaubt mir, ich weiß wovon ich spreche“
Felicitá sah auf. „Ja, ich weiß. Du hast Recht, Caterina!“, erwiderte sie und ihre Zofe forderte sie auf, ihr stattdessen zu erzählen, was nach dem Tanz mit Lucian passiert war.
„Nicht lange nach dem Tanz, nachdem Lucian mich wieder zu meinem Platz geführt hatte, begann der Morgen zu grauen und sein Onkel erklärte, dass es nun Zeit wäre für ihn und Lucian, aufzubrechen. Daraufhin reichte Lucian mir seinen Arm und bat mich, ihn nach draußen zu begleiten. Der Blick seiner Augen und das Flehen darin waren so intensiv, dass ich alle möglichen Einwände durch meinen Vater völlig vergaß und ihm folgte. Vor dem Haus, als Vater Davio zu seiner Kutsche begleitete, hielt Lucian mich zurück und wartete bis wir ungesehen waren. Dann nahm er meine Hand in seine und führte sie an seinen Mund.
'Oh Felicitá', hatte er gesagt. 'Nach dieser Nacht und diesem wunderbaren Tanz, verzehrt es mich schon jetzt danach, Euch wiederzusehen' Ich wusste nichts darauf zu erwidern, da er mir bereits die Worte aus dem Munde genommen hatte, denn mir erging es in diesem Moment nicht anders und ich glaube das wusste er. Kurz darauf wurde er gerufen. Von irgendwo her hatte er plötzlich eine Hand voll Rosen in der anderen Hand hinter seinem Rücken gehalten und mir mit einer überaus liebevollen Geste überreicht.
'Noch ehe die Hälfte dieser Rosen verblüht ist, werden wir uns wiedersehen, Chérry! Das verspreche ich!', waren seine letzten Worte gewesen, bevor er mich zärtlich geküsst hatte. Ich schloss die Augen und als er sich nach scheinbar endlosen Minuten wieder von mir löste und ich die Augen öffnete...“, sie hielt inne und holte tief Luft. Dann sah sie Caterine in die Augen und hauchte: „...war er weg.“
Es war bereits spät am Nachmittag, als er die mit schweren und tiefschwarzen Vorhängen bestückte Kutsche durch die Straßen des Ortes Sant O´ Derrie lenkte. Seine Herren waren eingeschlafen, sobald er die Kutsche in Bewegung gesetzt hatte und hatten somit nicht mitbekommen, dass eine andere Route genommen hatte als die, auf der sie hergekommen waren.
Seit nunmehr zehn Jahren war Daireen schon nicht mehr hier gewesen und er war erstaunt als er feststellte, dass sie seither nur wenig an den mit Efeu und anderen Kletterpflanzen bewachsenen Bauten verändert hatte. Einige sehr alten und baufällig gewordene Häuser hatte man erneuert und es wurden neuen Gebäude errichtet. Das zu einer Stadt werdenden Dorf hatte keine Mauern, um unerwünschte Beucher fernzuhalten, seine Bewohner schützten sich noch immer mit einen großen und starke magischen Schild, was ihn mit Freude erfüllte. Er erkannte auch, dass seine Befürchtungen die Menschen mögen mit der Zeit die Feen, Elfen und die wenigen Zwerge unter ihnen vertreiben, unbegründet war.
Sant O´ Derrie war noch immer das scheinbar immer friedliche Dorf von damals und er hoffte, dies möge sich nicht durch seinen Besuch mit seinen Herren ändern. Denn auch wenn er nicht alles, was seine Herren taten gutheißen konnte, war er ihnen seit einem halben Jahrhundert schon ein treu ergebener, gehorsamer und loyaler Diener, der sie verehrte wie niemand sonst und würde es auch bleiben, denn er konnte es nicht ungeschehen machen.
Als vor fünf Jahrzehnten ein großes Handelsschiff mit dem Namen 'Tanárins´ ewige Blüte' in seinem Heimathafen gekommen, hatte er sich davon geschlichen um es sich anzusehen und den Matrosen beim Entladen der kostbaren Waren zugesehen hatte, war ein Mann mit dunkelblonden Haaren, die einen rötlichen Glanz bekamen, wenn die Sonne auf sie herab schien und die ihm bis über die Schulter reichten auf dem Deck erschienen. Er war etwa Mitte Dreißig, besaß beinahe unnatürlich schöne Gesichtszüge und strahlte eine Energie aus, der man sich nicht entziehen konnte.
Obgleich Daireen keineswegs dem männlichen Geschlecht zugeneigt war, schien der Anblick des Mannes eine ungewöhnliche Faszination auf ihn auszuüben. Ohne darüber nachzudenken, war für ihn sofort klar gewesen, dass diesem Mann folgen wollte und mit ihm reisen. Daraufhin war er vor diesen Mann hingetreten und hatte ihm seinen Wunsch offenbart, doch der Mann hatte nur gelacht und gemeint, mit diesem Wunsch wäre er gewiss nicht alleine in dieser Welt. Doch er sah das Flehen in den Augen des Jungen und als dieser mit hängenden Schultern das Schiff wieder verlassen wollte, hielt er ihn an der Schulter fest.
„Warte, Junge!“, rief er und drehte ihn wieder zu sich um. „Wie alt bist du?“
Scheu hatte Daireen dem Mann in die Augen geblickt und geantwortet: „In einem halben Jahr werde ich fünfzehn, Mylord!“
„Ok und bist du dir auch ganz sicher, dass du mit uns kommen möchtest? Du müsstest deine Zuhause, deine Freunde und deine Familie hier zurücklassen, also...“
„Ja, Mylord das ist mir bewusst, aber ich bin mir sehr sicher, dass ich mit Euch reisen möchte!“, unterbrach Daireen ihn.
„Gut, dann soll es so sein! Im Laufe des nächsten halben Jahres wirst du dich unser beweisen müssen und dann werden wir entscheiden, ob wir dich für immer bei uns aufnehmen werden oder nicht, hast du das verstanden?“, fragte er und Daireen hatte eifrig genickt. Er konnte sein Glück kaum fassen. „Wir werden morgen Abend aufbrechen, bis dahin musst du deine wichtigsten Sachen an Bord gebracht haben. - Und erzähl niemandem davon!“,hatte der Mann, mit einem durchdringenden Blick, der die Worte in seine Seele zu brennen schien hinzugefügt und wandte sich dann ab.
Ein Geräusch holte ihn aus seinen Gedanken wieder in die Gegenwart. Es kam aus dem Wagen hinter ihm, seine Herren, oder mindestens einer davon schien wieder erwacht zu sein. Gemurmel erhob sich, dann wurde der dunkle Vorhang an der Vorderseite angehoben und ein Gesicht erschien.
‚Es ist noch genauso schön und vollkommen wie einst…‘, ging es Daireen durch den Kopf und er musste unwillkürlich schlucken.
„Halte die Pferde an, Daireen“, befahl sein Herr mit rauer Stimme und er tat, wie ihm geheißen. Nach einem kurzen Blick zu beiden Seite, erkannte er, dass er während seiner Gedankengänge nicht durch Sant O´Derrie, sondern lediglich am Stadtrand entlang gefahren war.
„Welche Zeit haben wir und wo befinden wir uns gerade?“, fragte Davio daraufhin und setzte sich auf, um sich nach vorne beugen zu können und so seinen Neffen nicht zu wecken.
Daireen wandte sich zu seinem Herrn um und antwortete: „Nach dem Stand der Sonne, ist es bereits spät am Nachmittag, Mylord. Und wir befinden uns gerade am Rande des Ortes Sant O´Derri. Ein sehr schönes Dorf, Mylord, das gerade wieder vergrößert wird. Ich bin vor zehn Jahren während einer Reise als Gesandter Eures Hauses hier hindurch gekommen.“
Davio nickte nachdenklich und sah ihn fragend an. „Steht die Sonne tief genug?“ „Gut, dann werden wir hier eine Rast einlegen“, beschloss er auf Daireens Nicken hin, holte die beiden langen, schwarzen Roben hervor und machte sich daran seinen Neffen zu wecken.
Währenddessen fuhr Daireen die Kutsche ein paar Minuten weiter um das Dorf herum, bis er der den Weg fand, der direkt in und durch dieses führte. Dann hielt er die Pferde wieder an. Sie standen vor einem großen Stall, vor dem mehrere junge Herren und wenige Zwerge mit der Bekleidung von Reitknechte standen. Da sehr viele Boten, Wanderer oder auch Reisende immer wieder an ihren Dorf vorbeikamen, hatten es die Bewohner vor Sant O´ Derrie sich zur Aufgabe gemacht, diesen Leuten eine gute Gesellschaft zu sein und hatten unter Anderem einige Häuser mit zusätzlichen Räumen für die vielen Gäste eingerichtet, ein großes Badehaus errichtet und einen großen Stall für die Unterbringung der vielen Pferde, die dort von den Reitknechten versorgt wurden.
„Diesen beeindruckenden Saal hast du uns auf unserem Rundgang gar nicht gezeigt.“, hatte Maestro Bertani mit einem Zwinkern in den Augen und einem kleinen Lächeln auf den Lippen vorgeworfen, als sie zum Mittagsmahl den Bankettsaal betreten hatten.
Samira, die gerade in den Saal hatte schreiten wollen, hatte inne gehalten und sich zu um umgewandt. „Ich habe Euch gefragt, ob Ihr Euch mit uns das Haus weiter ansehen wollt aber Ihr wolltet lieber Euer Gemach beziehen...“, hatte sie mit unschuldiger Mine entgegnet. Darauf konnte sich der junge Gelehrte ein Lachen nicht verkneifen.
„Ja aber, auch mir habt Ihr ihn nicht gezeigt...“, hatte Néla dann gerufen und war auf sie zugelaufen. Doch ehe Samira etwas hätte erwidern können, war Signore Damenico seiner Tochter zu Hilfe gekommen.
„Das sollte eine Überraschung sein!“, hatte er gesagt und die drei dann zu einem der langen Tische geführt, an dem sie sich alle niedergelassen hatten. Während der Hausherr seinen Platz am Kopfende des Tisches eingenommen hatte, hatten sich Samira und seine Gäste so platziert, dass seine Tochter an seiner Rechten saß und Néla zwischen Samira und Maestro Bertani.
Das Essen, das einer der Diener aus der großen Küche unterhalb des Saal servierte, begeisterte die beiden Gäste noch mehr als das Frühstück und die Zehnjährige kostete von allem etwas und aß so viel, dass man hätte denken können, sie hätte seit mindestens einem Monat nichts mehr zu Essen bekommen.
Nach dem Essen, als sich der Hausherr zum Zeichen, dass das Mahl nun enden würde erhob, erhob sich auch Maestro Bertani mit den Worten „Nach diesem wirklich hervorragendem Mahl, werde ich mich nun auf dem Weg machen, um einen Boten zu suchen und diesem meine Briefe mitgeben zu können“ und Signore Damenico begleitete ihn hinaus, während einige Diener kamen, um die Tische abzuräumen und sauberzumachen.
Nicht unweit vom Haus entfernt, fand Maestro Bertani einen Boten, der seine Briefe entgegennahm. Maestro Bertani steckte ihm auch eine Kupfermünze zu und sagte ihm, er solle nicht zu lange zögern, die Briefe an die angeschriebenen Empfänger zu überbringen. Der Bote nahm sowohl die Münze als auch die Briefe dankend an und machte sich sogleich auf dem Weg und der Gelehrte machte sich wieder auf den Weg zurück zum Haus der Damenicos.
Dort fand er Signore Damenico im Wohngemach mit seiner Tochter und Néla vor und bat ihn, ihn sprechen zu können. Dieser nickte und bedeutete ihn, sich zu ihm zu setzen. Maestro Bertani nahm im Sessel gegenüber seines Gastgebers Platz und sah ihn teils ernst, teils fragend an.
„Was gibt es denn so Wichtiges, dass Ihr mit mir besprechen möchtet, Maestro?“, fragte dieser gespannt.
Maestro Bertani warf einen kurzen Blick zu den beiden Mädchen hinüber und beugte sich dann ein wenig vor.
„Nun wie Ihr ja bereits wisst, ist der Kreis der Gelehrten gerade dabei das alte, leerstehende Schloss im Südosten Italiens wieder aufzubereiten um darin eine große Lehrstätte zu errichten. Bereits bei meiner Abreise nach Florenz teilte man uns mit, dass es bis zur Fertigstellung wohl nicht mehr allzu lange dauern würde.
Heute Vormittag habe ich neben Briefen mit den Eindrücken und dem Verlauf meiner Reise auch einen ersten Bericht mit meinem ersten Eindruck von Néla an den zukünftigen Hohen Lord, den Vorsitzenden unserer zukünftigen Lehrstätte gesendet.“, begann er und hielt inne. Seine nächsten Wort wählte er mit bedacht, weil er sein Gegenüber nicht verärgern wollte und fuhr dann fort: „Und... Nun, ich habe auch einen ersten Eindruck von Samira mitgeschickt, mit dem Gesuch, sie auch in unsere Schule aufnehmen zu dürfen, so bald ich Eure Erlaubnis dazu bekomme sollte. Ich hoffe, ich habe damit nicht Euer Vertrauen missbraucht, Signore. Ich weiß, dass ich Euch hätte fragen müssen...“
Signore Damenico brachte ihn zum Schweigen, indem er abwinkte. Dann erklärte er ihm, dass es ihm sogar sehr Recht war, dass er ein Gesuch mit der Bitte um Samiras Aufnahme geschickt hatte, obgleich es sehr wohl ein Vertrauensbruch gewesen war. Doch er wollte ihm verzeihen, denn es war weit mehr als er ihr jemals würde bieten können und er war ihm deshalb sehr dankbar dafür.
M it den Argumenten Dánte´s, dass er noch zur Hälfte ein Mensch war und daher auch noch etwas anderen zu sich nehme müsste, als nur Blut und dass er in der Stadt ja vielleicht eine junge, hübsche und mehr oder weniger bereitwillige Spenderin finden könnte, ließ sich Nightel schließlich dazu überreden, mit in die Stadt zu gehen.
Bereits am Nachmittag waren sie in der Stadt gewesen, um zusammen mit einigen der Matrosen, die den großen Karren zogen, den sie sich von einem der Hafenarbeiter geliehen hatten um die schweren Holzfässer- und Truhen, die mit Gewürzen und Stoffen gefüllt waren, von den Händlern abzuholen und auf das Schiff zu bringen. Obwohl es ziemlich warm war und er sich lieber ein erfrischendes Bad im Meer gegönnt hätte, hatte Nightel ein zunehmendes Interesse daran entwickelt, auf welche Arten die Gewürze und Stoffe sich unterscheiden ließen und war sogar mutig genug, von jedem Gewürz eine Brise zu kosten. Bald schon, ließ er sich etwas zum Schreiben holen, um seine neuen Erfahrungen und die Unterscheide nieder zu schreiben und festzuhalten. Dánte hatte gelacht, über den Ehrgeiz seines Freundes, doch Nightels Vater hatte ein Lob auf seinen Sohn ausgesprochen und Dánte gesagt, er können sich ruhig ein Beispiel daran nehmen.
„Du hast ja Recht, mein Freund. Ich verspüre nach den ganzen Tagen auf See und in meiner Koje wirklich schon wieder Hunger, großen Hunger und zwar... genau wie du, Meastru Cyriak und mein Vater – in meinem Magen!“, bemerkte er lächelnd, während er vor dem hölzernen Bottich vor ihm langsam in die Knie ging und vorsichtig den Kopf in das laue Wasser tauchte, und Dánte ein Stück duftende Seife ins Wasser tunkte und in seiner Hand rieb.
Wieder ersparte sich Dánte eine Antwort und begann Nightel´s Kopf ordentlich mit der Seife einzureiben, eher dieser ihn wieder eintauchte, um sich die Seife wieder aus den Haaren heraus waschen zu lassen. Schließlich seufzte Dánte.
„Manchmal scheint es mir wirklich, als wüsste ich mehr über dein 'zweites Gesicht' als du es selbst tust, obwohl du derjenige bist der es trägt und nicht ich!“, meinte er und warf seinem Gefährten einen Seitenblick zu.
Nightel erwiderte diesen Blick, sagte aber nichts. Sie hatten dieses Thema bereits unzählige Male durchgesprochen und manchmal fühlte Nightel sich sichtlich unwohl dabei, von Dánte zu trinken und zu wissen, dass er ihm das niemals würde zurückgeben können und obwohl Dánte sich dessen bewusst zu sein schien, ließ er es doch immer wieder zu. Obwohl er wusste wie Nightel sich fühlte und er die vielen Entschuldigungen und die Reue, die er dabei zeigte schätzte, missfiel es ihm sehr, darüber wieder und wieder zu sprechen. Nightel wusste es, dennoch verspürte er nach jedem Mal, wenn er von ihm trank das tiefe Bedürfnis, sich dafür zu entschuldigen und sich erklären zu müsste, was Dánte aber nicht wusste.
Einige Sekunden lang sahen sich einfach nur an, dann wandte Dánte seinen Blick ab, nahm ein einfaches Leinenhemd und eine Hose aus seiner Kleidertruhe und zog sich schweigend um. Sein Freund beobachtete ihn dabei, dann senkte den Blick und tat es ihm gleich.
Bereits ein paar Minuten später, in denen noch immer keiner von Beiden das Wort wieder erhoben hatte, waren sie gewaschen und angezogen. Dánte trat neben Nightel aus dem Inneren des Schiffs an Deck und als er ihm auf die Schulter klopfte, zuckte er zusammen und sah ihn an. „Lass es uns vergessen, ja? Nur für heute Abend. Lass es uns nach zwei Jahren einmal, einen Abend lang einfach vergessen, ja?“, fragte er und hielt ihm seine Hand hin.
Nightel wusste, dass er sein „zweites Gesicht“ meinte und zögerte einen Moment lang, dann jedoch lächelte er und schlug in Dántes Hand ein. „Nun gut, ich denke du hast wieder einmal Recht, Dánte!“, rief er. „Was würde ich nur ohne dich tun? Ich glaube ohne dich hätte ich mich schon damals irgendwo verkrochen und wäre nie wieder heraus gekommen... Manchmal frage ich mich, wie es eigentlich sein kann, dass du mich schienbar besser kennst, als ich selbst.“, mit einem kleinen, unsicherem Grinsen auf den Lippen hielt er einen Moment inne, ehe er hinzufügte: „Na egal, ich glaube es ist wirklich mal an der Zeit, dass wir das Ganze jetzt einmal ruhen lassen und einfach Spaß haben, wenn auch nur für einen Abend lang!“
D aireen hatte die Pferde den Reitknechten im großen Stall von Sant O´ Derri überlassen und sich bereiterklärt seine Herren durch die werdende Stadt zu führen. Gerade als sich die abendliche Dämmerung begann über das Land zu senken, erreichten sie eine durchaus ansehnliche Gaststube, die von warmen Kerzenlicht und gedämpften Stimmen erfüllt war. Ehe Daireen jedoch darauf zugehen konnte, erschien sein Herr neben ihm, streifte sich die schwarze, weite Kapuze seines langen Umhangs vom Kopf und packte ihn beinahe freundschaftlich am Arm.
„Daireen, ich muss ehrlich gestehen, ich habe niemals geglaubt, dass du so wunderbare Orte in dieser Welt kennst! Während unseres Rundganges hier habe ich ein bisschen nachgedacht und da wir all unsere Aufträge wie immer bis zum Jahreswechsel bereits abgeschlossen haben und nun eigentlich eine Menge Zeit haben, können wir uns ja eine Weile hier niederlassen.“, erklärte er und wandte sich dann an seinen Neffen, der vor der Tür des Gasthauses stehen geblieben war, um ihn ebenfalls anzuhören. „Was sagst du dazu, Lucián?“
„Oh, das ist wirklich ein großartiger Vorschlag, Onkel!“, rief dieser begeistert aus. „Wir werden sicher eine tolle Zeit hier haben“ Ein verräterisches Funkeln war in die Augen des Jungens getreten und Daireen atmete tief durch. Natürlich freute er sich auf die Zeit in Sant O´Derri und darauf, wieder seine alten Bekannten und Vertrauten zu sehen, doch er wusste, dass das Funkeln in Lucián´s Augen nichts Gutes zu bedeuten hatte.
Um nicht den Verdacht zu wecken, möglicherweise an den Vorhaben seiner Herren zu zweifeln, nickte er nur kurz und trat dann vor, um ihnen die Tür zu öffnen. „Mylords“, sagte er und bedeutete ihnen einzutreten. Als die Beiden durch die Türe traten, senkte er den Kopf, schloss die Tür hinter sich und folgte ihnen dann in einigem Abstand.
Lucián war nach ein paar Schritten stehen geblieben und sah sich um. Im Inneren war das Gasthaus sehr viel großer und prachtvoller, als es von außen den Anschein hatte. Von der Decke hingen sechs Leuchter mit jeweils fünf langen Kerzen und auch an den Wänden hingen einige Kerzenständer und tauchten den vollen Raum in ein angenehm warmes Licht. Um die runde Theke in der Mitte des großen Schankraumes waren hohe, rot gepolsterte Hocker angebracht und auch die unzähligen Sitzgruppen um die polierten Holztische herum waren mit rotem Samt überzogen.
Doch viel mehr, als die Innenausstattung beeindruckten ihn die vielen, graziösen und lieblichen Geschöpfe, die überall alleine oder Gruppen beieinander saßen. Noch nie in seinem Leben hatte er eine Elfe oder eine Fee gesehen. Obwohl im Kreise seiner Familie sehr wohl oft über das Feen- oder Elfenblut gesprochen wird, das neben einigen Gerichten und Getränken der „Normalsterblichen“ in seiner Familie als eine Art Delikatesse galt, war er bisher noch keiner begegnet.
„Wenn du noch länger hier stehst und vor dich starrst, mein Junge, dauert es sicher nur noch Minuten, ehe wir auffallen.“, die Stimme seines Onkels und die Hand auf seiner Schulter, riss ihn aus seinen Gedanken und er senkte hastig den Kopf. „Das wollte ich an diesem Abend eigentlich vermeiden.“, fügte Davio hinzu.
Schuldbewusst blickte Lucián zu ihm auf. „Verzeiht mir, Onkel!“
Davio nickte ihm kurz zu und führte ihn dann zu einer Sitzecke im hinteren Teil des Schankraumes. Daireen folgte seinen Herren langsam und sah sich dabei um. In den Jahren nach seinem eher kurzweiligem Besuch schien sich nicht allzu viel verändert zu haben. Und obwohl ihm in den Stunden seit ihrer Ankunft kein bekanntes Gesicht begegnet war, hegte er ein wenig die Hoffnung hier auf eines oder mehrere zu treffen. Auf eine bestimmte Art und Weise fand er es komisch, dass er sich von Anfang wohlgefühlt hatte, hier bei den Feen und Elfen. Müssten ihn diese nicht eher abschrecken, da er ja noch immer ein Mensch war? Vielleicht lag es am Blut seines Meisters, das er zu sich nehmen durfte, um nicht sterben zu müssen und ihm weiterhin dienen zu können...
„Ihr habt Recht, Onkel“, sagte Lucián und setzte sich auf die Bank vor dem großen, gerahmten Fenster. „Es ist in der Tat sehr schön hier. Auch ich könnte mir durchaus gut vorstellen, hier eine Weile zu bleiben, vielleicht sogar ein paar Monate.“
Sein Onkel ließ sich in dem Sessel zu seiner Linken nieder und sah sich nochmal im Raum um. „Wir wollen mal nichts überstürzen, mein Junge.“, erwiderte er ein wenig abwesend. „Ein paar Tage, vielleicht zwei Wochen werden erst einmal genügen, denke ich. Danach sehen wir weiter...“
Daireen begab sich zu der nächst gelegenen Sitzgruppe, seinen Herren Privatsphäre zu gewähren und auf Anweisungen zu warten. Da jedoch weder Davio noch sein Neffe sich hier auszukennen schienen, dauerte es nicht lange, bis er wieder zu ihnen gerufen wurde und sich sogar zu ihnen gesellen durfte. Es kam nicht selten zu Momenten wie diesen, in denen seine Herren seine Gesellschaft durchaus begrüßte, dennoch konnte er nicht umhin sich immer wieder daran zu erfreuen, wie ein kleiner Junge. Ohne überheblich zu wirken, genoss er die Aufmerksamkeit, die ihm seine Herren zuteil werden ließen sehr, wenn er auch nach fünf Jahrzehnten noch immer keinen besonderen Grund dafür finden konnte. Doch wusste er, dass er diesen erfahren durfte, sobald die Zeit dafür gekommen war.
Davio kannte die Gedankengänge seiner Ergebenen nur zu gut, so auch die Gedanken und Fragen, die den Jüngsten unter ihnen beschäftigten. Er schmunzelte und blickte zu dem Jüngling auf, der ihm gegenüber saß und genüsslich seinen Teller leerte.
‚Oh, hab´ keine Sorge, mein Kleiner.‘, grinste er in sich hinein. ‚Du wirst ihn schon erfahren, sobald die Zeit reif genug dafür ist. Und ich denke, bis dahin ist es nicht mehr allzu lang...‘
Texte: Lisa Tetzlaff
Tag der Veröffentlichung: 13.04.2013
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