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Die Mitfahrgelegenheit

Was hatte ich mir da als Mitfahrgelegenheit geangelt? Er war schlank, ja fast mager. Ich schätzte, dass er indischer Abstammung war, aber es fehlte das für Europäer so irritierende Kopfwippen. Seine Augen blickten freundlich und neugierig in die nicht ganz so freundliche Welt. Sein ganzes Wesen war angenehm, und ich möchte sogar behaupten, dass er auf mich wie ein vergeistigter Heiliger wirkte. Heiliger! Etwas zu viel Klischee. Egal - es versprach eine interessante Fahrt zu werden. Er hatte sich einfach als Hans Schmidt vorgestellt. Ein Allerweltsname! Einmal googlen zeigte mir, dass der Name Schmidt 190.000 mal in Deutschland vorkam - Platz 2 aller Nachnamen. Platz 1 war übrigens Müller. Der Vorname 'Hans' war auch nicht gerade selten. In Amerika hätte er sich wohl John Smith genannt. War der Name gefälscht? Hatte ich mir etwa einen Verbrecher ins Auto geholt? Ach was! Dieser zierliche Mann wohl nicht. Sicherheitshalber liess ich mir seinen Ausweis zeigen, welcher in Ordnung zu sein schien.

Er war etwas älter als ich und nur ein paar Kilometer von mir entfernt geboren. Also doch kein Inder. Schade, denn etwas fernöstliche Kultur hätte mich interessiert.

Seit neuestem musste ich einmal in der Woche quer durch Deutschland nach Berlin fahren. So hatte ich begonnen mir Gesellschaft einzuladen und etwas dazuzuverdienen. Es ging mir dabei weniger ums Geld, als vielmehr neue Bekanntschaften zu machen. Toll, was man über eine App heute alles erledigen konnte. Mich faszinierte immer mehr die Möglichkeit, der wir heute ausgesetzt waren - natürlich mit all ihren Gefahren. So nutzte ich die Taxi-App, drei verschiedene Chat-Apps, zwei Bezahl-Apps und so weiter. Ohne mein Handy wäre ich aufgeschmissen gewesen! Auch diesmal hing es an einem Magneten auf dem Armaturenbrett meines schwarzen BMW M2 Competition und wies mir den Weg. Die App, welche ich hier als Navi nutzte, war eine hervorragende Ergänzung zum BMW-Navi.

Höflich hatte ich mich als Anton vorgestellt. Das "Du" wäre einfacher als das ach so distanzierte "Sie". Schnell hatten wir seine kleine Tasche im Kofferraum verstaut - er reiste mit leichtem Gepäck. Im Nu hatten wir den Parkplatz verlassen und starteten unsere Reise in meinem kleinen Flitzer Richtung Autobahn. Einmal quer durch Deutschland. Genug Zeit zum Spass haben, sich zu unterhalten und die Höchstgeschwindigkeit meines neuen Heiligtums auszutesten.

Hans liess seine Blicke ehrfürchtig über die Armaturen schweifen. Alles roch noch neu, glänzte und das Chrom blitzte im Sonnenlicht. Er meinte aber nur so etwas wie "schönes Auto". Da hätte ich etwas mehr erwartet. Offensichtlich war er kein Autokenner. Schliesslich hatte ich diesen BMW nicht einfach vom Band, sondern ich hatte noch ein paar Extras einbauen lassen. Egal, es konnte nun endlich losgehen. In ein paar Stunden wollte ich in Berlin sein.

Das Wetter versprach laut meiner Wetterapp wunderbar zu werden - nur ein paar Wolken am Vormittag. Davon war aber jetzt nichts zu sehen. Ich freute mich auf die Fahrt.

Doch bevor wir die Autobahn erreichten, versperrte uns aber eine rote Ampel den Weg. Eine alte Frau bemühte sich über die Strasse.

"Was sucht die denn zu dieser Uhrzeit?", murmelte ich genervt, "sollte sie nicht ihr Frühstück in ihrem Altersheim geniessen?"

Hans lächelte nur gutmütig, sagte aber nichts.

Die Ampel schaltete auf Grün und ich drückte das Gaspedal durch. Aber schon musste ich wieder bremsen. Ein paar Kinder überquerten einen Zebrastreifen. Gemächlich schoben sie ihre Fahrräder neben sich her.

Ungeduldig liess ich den Motor aufheulen. Sollten die Bengel sich doch ein wenig beeilen!

"Die sollten doch schon lange in der Schule sein", brummte ich leise.

Hans lächelte wieder und meinte diesmal: "Heute ist keine Schule, es ist Sonntag. Sie müssen eben über die Strasse."

Seine Bemerkung quittierte ich mit einer hochgezogenen Augenbraue, antwortete aber nichts.

Endlich waren die Kleinen über die Strasse getrudelt - ist doch wahr (!) - wenn sie schon Fahrräder dabei hatten, hätten sie auch fahren können!

Ich gab Stoff und diesmal hielt uns nichts mehr auf. Lässig umging ich den Radfahrer der, wie ich fand, viel zu weit links fuhr, überholte einen Trecker und schaffte die letzte Ampel vor der Autobahn bei Orange - nein, Rot war es wirklich noch nicht.

"Aber auch nicht mehr Gelb oder gar Grün", wagte Hans zu bemerken. Schon wollte ich was sagen, dass er sich mit solchen Bemerkungen zurückhalten sollte, aber sein Lächeln war so ehrlich und entwaffnend, dass ich ihm nicht böse sein konnte.

Wir fuhren auf den Beschleunigungsstreifen und ich bretterte los. Leider musste ich sofort wieder abbremsen.

"Was macht dieser beschissene LKW hier?" fluchte ich und schnaubte vernehmlich, "Jetzt kann schon unser Hintermann auf die Bahn fahren. Na warte, Du fährst nicht an mir vorbei!"

Millimetergenau zwängte ich mich zwischen den LKW und dem nachfolgenden Audi und setzte gleich hinüber auf die linke Spur - die ganz linke Spur der dreispurigen Autobahn. Von da an ging alles wie geschmiert. Mein BMW beschleunigte und ich fing an mich zu entspannen, ganz entgegen zu meinem Beifahrer. Dieser versank regelrecht im Sessel und starrte nur noch angsterfüllt nach vorn.

Kopfschüttelnd lächelte ich in mich hinein. Er würde sich schon daran gewöhnen.

"Warte es ab, bis wir Hannover hinter uns gelassen haben, dann können wir richtig schnell fahren. Die Autobahnen im Osten sind ein Traum! Hier ist noch zu viel Verkehr und der Belag ist auch nicht ideal."

"Aha", meinte mein Beifahrer nur kleinlaut und man konnte ihm regelrecht ansehen, wie er sich wünschte in einer Ente oder einem LKW zu sitzen.

"Was machst Du so?" fragte ich ihn. Schliesslich hatte ich mir keine Mitfahrgelegenheit mitgenommen, nur um zu schweigen.

"Informatik", meinte er kurz und riss die Augen auf.

Das Auto, auf das wir zuschossen, wich aus. Zugegeben, etwas zu gemächlich, aber es war aus der Bahn, als wir an ihm vorbeiflogen.

"Halb so wild", tröstete ich ihn, "sie fahren alle zur Seite, wenn sie einen BMW wie diesen kommen sehen."

"Ich bin bei einem grossen Konzern angestellt", erzählte er bald nach seiner Schrecksekunde, "Aber nichts Besonderes - nur ein kleiner Fisch. Und du?"

"Financial Live-Cycle Controller bei SalutemArtis", antwortete ich stolz, "habe dort eine Gruppe übernommen und versuche jetzt die Stelle als Abteilungsleiter zu erreichen. Mein Ziel ist die CFO-Stelle."

Keine Reaktion von ihm.

"Um ehrlich zu sein, läuft die Sache ziemlich gut."

Hans lächelte und meinte, dass das erfreulich wäre. Ob mir meine Arbeit Spass mache, wollte er noch wissen.

Was für eine Frage! Spass? Natürlich machte mir die Arbeit Spass, oder nicht? Schliesslich hatte ich jetzt zehn Leute unter mir.

Kinder? Nein, hatte ich nicht - ich liebte die Unabhängigkeit. Deshalb nur ab und zu eine Freundin, aber bloss nichts festes und erst recht keine Ehefrau.

"Ich bin mit einer wundervollen Frau verheiratet", erzählte er mir, "Vier Kinder. Zwei Mädchen und zwei Buben. Alle im Alter von 5 bis 13."

"Da ist ja Action bei Euch zu Hause", wagte ich zu bemerken.

Hans lachte.

"Ja, manchmal wird es verrückt. Besonders die älteste kommt jetzt in das komische Alter."

"Oh ja, die Pubertät! Grausam! Man sollte sie während dieses Alters einfach mal wegsperren können, die lieben Kleinen."

"Naja, sie haben sehr zu kämpfen. Besonders die Mädchen leiden unter dem ... Umbau ... kein Wunder die Hormone bringen alles durcheinander. Es sind liebe Kinder und wir brauchen nur etwas Geduld."

Ich lachte. "Aber manchmal würde man sie schon gerne Knebeln und in die Kammer stellen. Dann ist endlich Ruhe."

Hans blickte mich mit seinem sanften Lächeln an und meinte nur: "Geduld zu haben ist nicht immer einfach."

Ich kramte nach der Sonnenbrille und setzte sie auf.

"Geduld? So etwas habe ich aus Prinzip nicht ... los verschwinde! ... nein, nicht Du, Hans."

"Schon klar", antwortete mein Mitfahrer ruhig aber sehr kurz.

Der holländische Audi zog nach rechts und liess uns durch.

Wunderbar! 190 kmh. Höhere Geschwindigkeiten liess der Asphalt nicht zu. Man musste ja auch an die Sicherheit denken. Es war warm, die Sonne schien vom Himmel - ein perfekter Tag.



Anhaftung - auch am Leben

"Denkst Du nicht auch, dass es einem regelrecht in den Füssen wehtut, wenn man nur mit 120 km/h die schöne freie Strasse entlangkriechen darf?" seufzte ich.

Verspannt rückte ich mich auf meinem Sessel zurecht. Wir waren erst 50 km gefahren und mitten in einer 120er Zone. Glücklicherweise war der grösste Teil der Strecke ohne Geschwindigkeitsbegrenzung. Freie Fahrt für freie Bürger! War da nicht mal so ein Slogan in den 70ern? Ja, das war auch meine Meinung.

"Du fährst 132 km/h", lächelte Hans.

"Komm schon", rechtfertigte ich mich, "10% kann man doch drauflegen. Ich kann damit umgehen."

"Die Knipser auch?"

"Pfft! Dafür habe ich ein Warn-App."

Hans blickte interessiert auf meine Konsole.

"Oh", meinte er nur, bemerkte aber sonst nichts.

Ich streckte mich so gut es ging hinter dem Lenkrad aus.

"Verspannt?" fragte er mitfühlend.

"Etwas."

"Im Nacken?"

"Ja."

"Du willst zu sehr."

"Ich will was?"

"Du bist regelrecht süchtig nach Geschwindigkeit. Das verursacht Leid. Buddha sagte schon: 'Lerne loszulassen, das ist der Schlüssel zum Glück.'"

Ich stutzte.

"Hä? Leid? Was weiss Buddha schon von Geschwindigkeitsbegrenzungen?"

Hans blieb locker.

"Es ging ihm nicht um Geschwindigkeit, sondern um die Vermeidung von Leid. Gib es doch zu. Du leidest."

Mit einem wehmütigen Blick auf den Tacho überprüfte ich die Nadel, ob sie auch wirklich bei 132 - äh 120 stand.

"Naja, ich gebe es ja zu."

Hans lächelte, weil ich wie ein Kind zu maulen schien.

"Dann verzichte doch einfach auf das schnelle fahren. Dann kannst Du Dich entspannen und Du leidest nicht mehr."

Prüfend betrachtete ich ihn von der Seite. Was war denn das für ein Rat? Wir sitzen hier in einem superteuren, schnellen Schlitten und er rät mir mich wie eine Schnecke vorwärts zu bewegen. Da hätte ich ja auch einen Käfer kaufen können!

"Ich weiss, dann hättest Du Dir auch einen Polo kaufen können", meinte er nickend.

"Kannst Du Gedanken lesen?"

Hans lachte aus vollem Herzen.

"Nein, aber das liegt nun wirklich auf der Hand. Fahre gemütlich und langsamer und Du leidest nicht. Du regst Dich weniger über die anderen Autofahrer auf und Dich stört dann auch nicht, wenn Kinder den Zebrastreifen überqueren."

"Philosoph, was?" meinte ich zynisch.

Hans wurde ernst und meinte nur: "Nein, Lebenserfahrung."

Dann verstummte er und sprach kein Wort mehr.

Wir fuhren weiter mit 132 km/h in der 120er Zone. Diesmal nahm ich mir aber vor, mich zu entspannen und machte die Musik an. Irgend etwas Langsames und Gemütliches.

"Stört Dich das?" fragte ich höflich.

Hans verneinte stumm. Er war mit seinen Gedanken woanders.

Dann endlich kam das lang ersehnte Schild: das runde weisse Schild mit rotem Rand und schwarzen Strichen quer über die hässliche Zahl.

Aber nein, wir wollten ja gemütlich ... ach Scheiss drauf!

Die Beschleunigung drückte uns in die Sitze. Ich atmete grinsend durch. Herrlich, wie die Landschaft an uns vorbeizog.

Hans blickte aus dem Fenster. Er schien sich langsam an mein Tempo zu gewöhnen.

Ein paar Kilometern später sagte er unvermittelt: "Weisst Du Anton, ich habe auch einmal sehr unter der Anhaftung gelitten."

"An ... was?"

Er schaute mich mitleidig an.

"Anhaftung", wiederholte Hans, "Bei mir war es die Angst, dass sich etwas ändern könnte. Ich hatte einen Job, aber furchtbare Bedingungen. Mein Vorgesetzter hatte mich tyrannisiert. Er war ein kluger Kerl, aber nicht zum Chef gemacht, eben nur zum Vorgesetzten. Er überschüttete mich mit Aufgaben und knebelte mich mit KPIs ... KPI, ist Dir bekannt?"

"Ja, natürlich", brummte ich düster, "Key Performance Indicator. Wie könnte ich das nicht kennen? Uns drangsaliert man auch damit. Das Management definiert irgendwelche Kennzahlen und diese dürfen nicht gerissen werden."

"Genau. Auch bei uns wurden die KPIs wichtiger als alles andere. Wichtige Arbeit musste liegenbleiben, um nur irgendwelche Zahlen zu erfüllen. Es waren Grenzwerte, von denen manche für das Geschäft absolut bedeutungslos waren. Natürlich konnte ich nicht alle KPIs einhalten und wenn doch, dann litt irgendein wichtiges Projekt darunter, weil ich die wirklich wichtigen Dinge vernachlässigen musste. Ich bekam die Schuld zugeschoben. Hätte ich mich anders entschieden und andere Arbeit priorisiert, hätte man mich für andere Dinge beschuldigt. Irgendwas musste immer leiden."

"Das hast Du Dir gefallen lassen? Wieso bist Du nicht einfach gegangen?"

Hans seufzte.

"Abgesehen von der Drangsaliererei und den Psychospielchen - weisst Du, wir Mitarbeiter wurden regelrecht gegeneinander ausgespielt - abgesehen davon war die Bezahlung gut und der Job sicher."

"Divide et impera", murmelte ich und nahm die Sonnenbrille ab, "Teile und herrsche. Das sagte schon Julius Cäsar. Aber gerade dann hättest Du gehen können. Jobs gibt es überall."

"Naja, der Job selbst war sehr interessant. So etwas bekommt man in der IT nur selten. Ich war in der Entwicklung von Prozessoren. Forschung vom Feinsten. Das lässt man nicht so einfach los."

"Aha, deshalb bist Du geblieben?"

"Und habe gelitten ... Vorsicht da vorne blinkt einer."

"Ich brems ja schon", brummte ich und wartete noch ein paar Sekunden, vielleicht überlegte es sich der Trottel da vorne nochmal anders. Nein! Mist! Also voll auf die Klötze und schleichen. Aber jetzt mach schon! Soll ich Dir den Kofferraum ins Handschuhfach schieben? Na, jetzt gib doch schon Gas! Jetzt! Der LKW ist vorbei und Du kannst nach rechts! Komm, hau ab! Na also! Wuuummm!

Seit der letzten Wirtschaftskrise durften die LKWs auch am Sonntag fahren. Nicht einmal an diesem Tag hatte man seine Ruhe. Durch die Brummies strömen alle Langweiler auf meine Spur. Einfach furchtbar! Was für eine Welt!

"Du bist also bei einem interessanten Job geblieben, obwohl man Dich gemobbt hat."

"Ja."

"Wieso hast Du nichts gegen den Chef unternommen?"

"Liebling des Chefchefs."

"Oh. Du hättest beide erledigen können."

Hans blickte mich nachdenklich an. Er wusste nicht, ob meine letzte Bemerkung ernst gemeint war oder ob ich nur Spass gemacht hatte. War es wirklich nur Spass? Irgendwie musste man sich ja wehren.

"Ich bekam Nesselsucht und drohte bald in einem Burnout zu enden. Meine Frau hat mir hundertmal geraten zu kündigen, aber ich wollte den Job nicht verlassen. Natürlich hatte ich auch Angst vor dem, was kommen würde und was die anderen Kollegen über mich sagen würden. In einem neuen Job hätte ich mich von vorne einarbeiten müssen, hätte möglicherweise ein Monster gleicher Art als Vorgesetzten gehabt ... und .... und ... und. Man hat so viele Ausreden."

"Du hast Dich also an den Job geklammert", stellte ich fest.

Hans nickte lächelnd.

"Anhaftung. Das wurde mir klar."

Die Sonne verschwand hinter den Wolken.

Unmerklich wurden wir langsamer - nicht viel, nur ein wenig. Ich hatte es erst bemerkt, als ich nach einigen Kilometern wieder auf den Tacho schaute.

"Und dann?"

"Als ich Herzbeschwerden bekam, liess ich mich zuerst krank schreiben und als sich herausstellte, dass nicht das Herz, sondern mein Ego krank war, kündigte ich. Ich musste an mir arbeiten, war arbeitslos und habe eine unschöne Lücke in meinem Lebenslauf. Aber bald fand ich die richtige Person in der richtigen Firma. Man glaubte an mich und ich glaubte an sie. Es passte. Wir hatten die gleichen Werte und Vorstellung vom Leben. Jetzt habe ich einen neuen Job. Er ist zwar nicht mehr in der Forschung, aber ich habe nette Leute um mich. Ich konnte loslassen und ..."

"...entspannen", beendete ich den Satz. Langsam verstand ich, was er meinte.

"Genau. Die Nesselsucht verschwand und meine Herzbeschwerden ebenfalls. Buddha sagte:

 

'Den Zorn gib auf, den Stolz!

Löse Dich von allen Banden!

Wo man nichts wünscht, nichts hat,

da ist kein Leid vorhanden'"

 

Herausfordernd fixierte ich ihn und meinte mit einem überlegenen Lächeln: "Trotzdem, ich werde weiterhin vernünftige Geschwindigkeiten fahren."

"Solange Du oder jemand anders deshalb nicht leiden muss..."

"Ach was!"

Ich atmete tief durch und jagte hinter einem Porsche her - diesmal ganz entspannt.

Hans versank wieder in seinem Sitz.

"Angst?"

Trotz allem lächelte er und meinte mit piepsender Stimme: "Naja, ich leide unter der Anhaftung an meinem Leben..."



Abneigung - auch gegen Stau

"Schau Dir das an! Drei verdammte LKWs fahren nebeneinander! Ein Pole, ein Holländer und ein Litauer! Alle nutzen unsere Strassen und wir hängen fest hinter diesem blöden Elefantenrennen! Schau es Dir an! Verdammter Mist!"

Das Wetter war schlechter geworden. Ab und zu gab es einen Schauer und auf den Wiesen lag dicker Nebel. Wie schnell das Wetter umschlagen konnte war immer wieder faszinierend. Ich nahm mir vor eine neue Wetter-App zu suchen. Wolken ja, aber von Regen oder gar Nebel stand nichts drin! Wenn ich etwas hasste, war es Aquaplaning. Meine Stimmung verdüsterte sich.

Hans beobachtete mich von der Seite.

"Was gibt es jetzt?" fragte ich genervt.

"Wieder Anhaftung?" gab er zurück, mehr als Feststellung, denn als Frage.

Ich schnaubte ein paarmal und murrte: "Groll! Groll ist das bessere Wort! Die fahren alle über unsere Autobahnen, blockieren, versperren, engen ein! Wenigstens zahlen sie jetzt Autobahngebühr. Scheint aber immer noch zu wenig zu sein. Schau Dir das an! Der rechts fährt 100, der in der Mitte 101 und der links maximal 102 km/h! Zum Mäusemelken!"

Aus den Augenwinkeln glaubte ich ein Lächeln zu bemerken, konnte aber meinen Mitfahrer nicht ansehen. Zu knapp musste ich hinter den LKWs herschleichen.

"Was ist?"

Diesmal war es Hans, der durchatmete.

"Abneigung", antwortete er nur.

"Das kannst Du laut sagen! Abneigung! Genau! Ich hasse diese verdammten Dinger sogar! Die machen das doch mit Absicht!"

"Der Geist ist durch seine Aktivität der leitende Architekt des eigenen Glücks und Leidens."

Hans wartete hoffnungsvoll auf eine Antwort und als keine Antwort von mir kam, fügte er hinzu: "Ist von Siddhartha Gautama, dem historischen Buddha."

"Hmpf", antwortete ich genervt und konzentriert zugleich. Genervt, weil ich jetzt sicher nicht über Religion oder so einen Mist sprechen wollte, und konzentriert, weil ich mich um den Verkehr kümmern musste. Langsam fahren war viel anstrengender als schnell fahren.

"Auch Abneigung führt zu Leid, wie Du jetzt sicher bemerkst."

"Ja, ich leide unter Anhaftung und unter Abneigung! Zufrieden? Elender Philosoph!"

Hans blickte bedrückt nach vorn und rezitierte kaum vernehmbar: "Geduldig wie der Elefant im Kampfgedränge ertrag' ich Kränkungen der sittenlose Menge."

'Elender Philosoph' hätte ich vielleicht doch nicht sagen sollen. Er war ja ein lieber Kerl und konnte sicherlich keiner Seele etwas zuleide tun. Aber er ging mir verdammt noch mal auf den Sack - besonders mit diesen scheiss Sprüchen!

Schweigend schlichen wir hinter den LKWs her. Ab und zu hupte ich, um meiner Seele Luft zu machen. Die Autos hinter mir veranstalteten ebenfalls ein Konzert.

Bald wurde uns klar, warum die drei LKWs nebeneinander fuhren. Hinter einer recht steilen Autobahnkurve begann ein Stau in einer dichten Nebelbank. Sie schienen sich ein paar Kilometer vorher abgesprochen zu haben und hatten das Tempo gedrosselt, damit niemand in das Stauende hineinrasen würde. Clever, aber das hätte man doch irgendwie anders regeln können.

Wir standen.

"Immer noch wütend?" meldete sich Hans zu Wort.

Ich brummte nur und versuchte einen Drängler abzudrängen.

"Genauso wie die Anhaftung schadet uns die Abneigung. Wir leiden, wenn wir etwas nicht bekommen können. Wir missbilligen alles, was uns daran hindert es zu bekommen."

"Du nervst!" brüllte ich ihn an.

Hans blickte mich erschrocken an.

"Auch Deine grossen, dunklen, unschuldigen Augen nerven! Wie lange muss man für diesen Gesichtsausdruck üben?"

Er schluckte und entschloss förmlich etwas zu erwidern.

"Dann werde ich jetzt nichts mehr sagen", piepste er.

"Besser so!" brüllte ich zurück.

Wir schwiegen wieder ein paar Minuten im Stau stehend.

Leise, um mich nicht zu stören flüsterte Hans vor sich hin:

 

"Überwinde den Zorn durch Herzlichkeit.

 Vergelte Böses durch Gutes.

 Den Geizigen überwinde durch Geben.

 Durch Wahrheit überwinde den Lügner.

 Sieg erzeugt Hass,

 denn der Besiegte ist unglücklich.

 Niemals in der Welt hört Hass auf durch Hass.

Hass hört durch Liebe auf."

 

Durch ein tiefes Schnauben gab ich meinem Missfallen zum Ausdruck. So fromme Sprüche konnte er sich in die Haare schmieren, aber nicht jetzt! Nicht in einem Stau! Staus nerven! Hans nervt! Beide nerven! Selbst das Nerven nervt!

"Abneigung, Anhaftung und Unwissenheit", murmelte er kaum hörbar vor sich hin.

"Was?"

Mein 'Was?' explodierte förmlich heraus, so dass mein armer Mitfahrer erschrocken zusammenfuhr.

Mit zitternder Stimme erwiderte er: "Abneigung, Anhaft..."

"Raus! Das ist ja nicht mehr auszuhalten!" brüllte ich ihn an und drängte ihn zum Aussteigen.

"Aber ... auf der Autobahn? ..."

"Egal! Raus! Es fährt sowieso keiner mehr! Das ist keine Autobahn, sondern ein langer Parkplatz! Also raus!"

Grob drängte ich ihn nach draussen und warf ihm seine Tasche hinterher. Einem hupenden Autofahrer zeigte ich im Vorbeigehen den Stinkefinger. Ich war ausgestiegen, um meinem ehemaligen Mitfahrer sein weniges Gepäck entgegenzuschleudern. Das geht diesem doofen Autofahrer nichts an. Binnen Sekunden war ich wieder im Fahrzeug und Hans stand draussen. Sein Glück, dass der Regen aufgehört hatte.

Seinen Anblick werde ich wohl nie vergessen. Wie ein begossener Pudel stand er am Fahrbahnrand und blickte mich traurig an. Verdammt! Er hatte wirklich den nicht zu übertreffenden Dackelblick! Angewidert wandte ich mich ab.

Irgend jemand hupte und schon wollte ich zu einer weiteren Fluchtirade ausholen, als ich sah, dass sich ein anderer Verkehrsteilnehmer des armen Hans erbarmte. Schnell stieg er in das fremde Auto - ein kleiner pissgelber Toyota. Die ältere Frau am Steuer fuchtelte wie wild und zeigte mehrmals auf mich. Was sollte ich tun? Ach was! Ich hatte ihn los! Dieser ewige Philosoph! Scheisse!

Der Verkehr setzte sich wieder für ein paar Meter in Bewegung, aber ich wurde grob abgedrängt. Irgendwie gelang es mir nicht mehr auch nur einen Schritt nach vorn zu gelangen. Ständig stand mir ein anderes Auto im Weg. Plötzlich stand neben mir ein pissgelbes Etwas - der Toyota mit meinem Hans auf dem Beifahrersitz. Unsere Blicke kreuzten sich. Seine Augen blickten nicht wütend. Warum? Er müsste allen Grund haben mich zu hassen! Er hatte zwar Glück, dass ihn diese Frau, welche immer noch gestikulierend schimpfte, mitgenommen hatte. Aber sie würde ihn mit Sicherheit nicht bis nach Berlin fahren. Er war irgendwo in Süddeutschland gestrandet. Weit weg von seinem Ziel. Und doch blickte er mich nicht wütend an, oder gar zornig. Es war Mitgefühl und Verständnis in seinen Augen. Verdammt!

Konnte er nicht wenigstens auf mich wütend sein? Schliesslich hatte er allen Grund dazu.

Ich liess das Fenster herunter und brüllte zu ihm hinüber.

"Jetzt tu mal nicht so heilig! Beschimpfe mich, wie ich es verdient habe!"

Die Frau im Toyota tat mir den Gefallen. Sie kurbelte wild das Beifahrerfenster herunter und brüllte mich mit erstaunlich kräftiger Stimme an. Ich wurde alles mögliche geheissen, und ich war überrascht, welch schlimmen Wörter die ältere Dame kannte. Selbst moderne Kraftausdrücke waren dabei, die nicht einmal mir geläufig waren. Eine regelrechte Hasspredigt prasselte auf mich hernieder.

Nur dieser Hans blickte mich stumm und mitfühlend an, als wäre ich derjenige, welcher wie ein Hund auf die Strasse gesetzt worden wäre.

Der Stau liess wieder ein paar Meter zu und ich brüllte noch hinüber: "Na, dann viel Spass mit diesem Hobbyphilosophen! Lassen Sie sich bekehren!"

Als ich losfahren wollte, wurde ich wieder von einem anderen Wagen geschnitten - ein Käfer! Der Glatzkopf hinter dem Lenker blickte mich finster an und zeigte mir den wohlüberlegten Stinkefinger. Nach und nach wurde ich immer weiter zurückgedrängt. Man liess mich keinen Zentimeter mehr vorwärts. Alle Verkehrsteilnehmer hatten gesehen, wie ich Hans auf die Strasse gesetzt hatte, und sie waren sich einig. Dieser, mein (!) Wagen durfte nicht mehr vorwärtskommen.

Der gelbe Toyota mit Hans war nun schon fast 100 m entfernt. Dann verschwand er ganz aus meinen Augen. Die Autofahrer schienen sich einen Spass daraus zu machen, den hässlichen Toyota durch den Stau zu geleiten und die Distanz zu mir zu vergrössern.

Mit der Zeit wurde ich immer weniger geschnitten. Die jetzigen Lenker hatten die Hans-auf-der-Strasse-Szene nicht gesehen, und behandelten mich höflich oder unhöflich, wie es eben in einem Stau üblich war. Ich konnte mich wieder nach vorn arbeiten, aber der Stau wollte und wollte nicht enden. Was war eigentlich der Grund? Baustelle? Unfall? Im Verkehrsfunk hatten sie nichts gesagt. Aus den 10 km wurden 20 km. Die Umgehungsstrassen waren genauso verstopft. Keine Chance dem Stillstand zu entfliehen.

Regen setzte ein und prasselte gegen das Blech. Ich biss mir auf die Unterlippe, klopfte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum, fluchte leise und später laut. Jeder versuchte sich nach vorn zu drängeln. Rettungsgasse? Fehlanzeige! Niemand hielt sich daran - nur ab und zu standen einige Kleinwagen vorschriftsmässig weit links, bzw. rechts. Ein BMW-Fahrer versuchte sich in die zwei Meter Rettungsgasse zu

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 25.09.2020
ISBN: 978-3-7487-5865-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Autofahrer, mögen sie bei diesem saumäßigen Verkehr Ruhe bewahren können. ...und vergesst nicht zu Atmen...

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