Ich habe Leben und Tod gesehen.
Ich habe Glück erfahren, Sorge und Schmerz.
Ich lebe ein Felsenleben.
Ich bin ein Teil unserer Mutter, der Erde.
Ich habe ihr Herz an meinem schlagen gefühlt.
Ich habe ihren Schmerz gefühlt und ihre Freude.
Ich lebe ein Felsenleben.
Ich bin ein Teil unseres Vaters, des Grossen Geheimnisses.
Ich habe seinen Kummer gefühlt und seine Weisheit.
Ich habe seine Geschöpfe gesehen, meine Brüder
die Tiere, die Vögel, die redenden Flüsse und Winde,
die Bäume, alles, was auf der Erde,
und alles, was im Universum ist.
Ich bin mit den Sternen verwandt.
Ich kann sprechen, wenn du zu mir sprichst.
Ich werde zuhören, wenn du redest.
Ich kann dir helfen, wenn du Hilfe brauchst.
Aber verletze mich nicht,
denn ich kann fühlen wie du.
Ich habe die Kraft zu heilen,
doch du wirst sie erst suchen müssen.
Vielleicht denkst du, ich bin bloss ein Felsen,
der in der Stille daliegt auf feuchten Grund.
Aber das bin ich nicht,
ich bin ein Teil des Lebens,
ich lebe, ich helfe denen,
die mich achten.
Cesspooch (Dancing Eagle Plume)
Aus den Akwesasne Notes 1973
Das Feuer des Hades und das Wasser des Lebens
(vor 4,6 – 4 Milliarden Jahre)
Wann er sein Bewusstsein erlangte, konnte er nicht sagen. Es muss schon einige Millionen Jahre her gewesen sein, als er sich seiner Umgebung gewahr wurde. Irgendwann lag er eingeklemmt im Fels. Erst viel später hatte er erfahren, dass er sehr langsam aus einer heissen Magma-Schmelze hervorgegangen war, aber er konnte sich nicht daran erinnern. Wahrscheinlich konnte sich kein fühlendes Wesen an seine eigene Geburt erinnern.
Es war dunkel, heiss und ständig bebte es um ihn. Das Rütteln liess seine harte Kruste am Fels kratzen. Es knirschte und krachte. Der Stein kümmerte sich nicht weiter drum. Er existierte einfach und wusste nicht, was um ihn herum vor sich ging. Es war ihm nicht langweilig, denn er wusste nicht, was Langeweile war. Er sah nichts, denn er war tief in gigantischen Gesteinsmassen versteckt, welche über ein Meer aus Feuer rasten. Das kalte Licht der jungen Sonne erleuchtete nur schwach die Oberfläche des noch jungen Planeten.
Das Einzige, was er kannte, war Bewegung. Das ständige Rütteln und Schütteln, das ihn zwischen seinen Nachbarn zu zerquetschen drohte. Doch war er hart genug, um den rauen Kräften Widerstand zu leisten.
So konnte er auch nicht den Einschlag des riesigen Protoplaneten kommen sehen, den man 4,5 Milliarden Jahre später Theia nennen würde. Der "Giant Impact"! Er konnte die gigantische Erschütterung spüren. War er die üblichen Bewegungen gewohnt, so riss ihn die Schockwelle plötzlich aus den Gedanken. Welche das waren, hatte er vergessen. Sie konnten nicht viel Inhalt gehabt haben.
Es war ein Schlag, ein Hinausschleudern und schliesslich ein Fallen. Er flog mit unvorstellbaren Massen an festem und flüssigem Gestein durch die giftige Atmosphäre aus Kohlendioxid, Methan, Ammoniak und Schwefelwasserstoff. Ein Tohuwabohu biblischen Ausmasses! Das Magma spritzte um ihn herum, Gesteinsmassen neben ihm begannen zu schmelzen und verschwanden im Innern des Chaos. Überall herrschte ein Feuerregen in der schwarzen Nacht. Stein, Feuer und Gase – mehr schien es in dieser aufgewühlten Welt nicht zu geben. Er beobachtete, wie riesige Felsen in der Ferne in die Höhe geschleudert wurden, schmolzen und sogar verdampften. Hoch oben in der tiefen Nacht kondensierten sie wieder zu glühendem Magma und ihr Glühen erleuchtete die aufgewühlte Szenerie.
Sollte er Angst haben? Er wusste nicht, was Angst war. Ja, er hätte wie die anderen Felsbrocken ins Magma fallen und schmelzen oder wie sie verdampfen können. Aber wäre das sein Tod gewesen? Das Ende seines Bewusstseins? Er hatte noch keine Erfahrung, solche Fragen stellen zu können - er war erst ein paar Millionen Jahre jung. Im Moment war er auch viel zu sehr damit beschäftigt das Schauspiel um sich herum zu betrachten. Er flog mit anderen Steinen durch die dicke Luft, krachte mit ihnen zusammen und änderte seine Bahn. Während er wieder der Oberfläche entgegenraste, blickte er hinauf in den Himmel. Dort sammelten sich Magma und Gestein zu einer riesigen glühenden Wolke aus Fels, die der Erde immer weiter entfloh.
Unsanft schlug er auf dem Basalt auf und kam auf einer Insel zum Liegen. Die Insel fegte über das Feuermeer. Dort angekommen, wurde er unsanft durch die Gegend geschleudert, sodass er seine Aufmerksamkeit nicht mehr dem Himmel über sich widmen konnte.
Der Planet war in Aufruhr. Durch den Einschlag des fremden Himmelskörpers hatten sich die Kerne der beiden Planeten verschmolzen und die Erdmasse hatte um 30% zugenommen. Gleichzeitig verdoppelte sich die Erdumdrehung von 8 auf 4 Stunden pro Tag, welches unglaubliche Kräfte freisetzte. Allein die Felsspalte, in die er eingeklemmt war, verhinderte, dass er von der Insel ins glühende Magmameer geschleudert wurde. Die Oberfläche bäumte sich auf und wölbte sich zu riesigen, flüssigen Bergen, welche wieder sofort in sich zusammenfielen. Langsam gewöhnte er sich an die unkontrollierten Kreiselbewegungen, die ruckartig die Richtung änderten und sich irgendwann dann doch langsam beruhigten.
Endlich konnte er sich wieder die Zeit nehmen, in den Himmel zu blicken. Ein leuchtend rot schimmernder Ring aus Staub und Steinen hatte sich um den Planeten gebildet. Staunend beobachtete Stein, wie sich die Gesteinsmassen am Firmament zu verdichten begannen. Zunächst klebten nur einige Magmaklumpen aneinander, dann zogen diese weitere Brocken an, bis sich eine kleine Kugel zu bilden begann. Durch die eigene Gravitation formte sich die Ansammlung glühender Steine und Magma zu einer immer grösseren Kugel, welche die Materie aus dem Ring förmlich aufzusaugen begann. Immer gigantischer wurde sie und entfernte sich weiter und weiter von der Erdoberfläche. Dies geschah in sehr kurzer Zeit - vielleicht wenige Jahre oder Jahrhunderte - ein Zeitgefühl hatte er noch nicht entwickelt. Was war Zeit? Die Dauer zwischen zwei Ereignissen? Welche Ereignisse kannte er? Der Great Impact, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. War da noch mehr? Und war die Zeit überhaupt wichtig? Stein wusste es nicht. Es war ihm nicht wichtig. Zeit war lediglich ein Faktor ohne Bedeutung. Noch!
Das Gebilde über ihm gewann immer mehr an Höhe, wobei es zunächst einen Abstand von 22.000 km erreichte. Kilometer eine Masseinheit, die er erst 4.5 Milliarden Jahre später kennenlernen sollte. Das Himmelsobjekt schien genauso zu glühen wie seine Umgebung. Etwa tausend Jahre würde diese Kugel in einer elliptischen Bahn um den Planeten torkeln, bis sie sich 10 Millionen Jahre später in eine stabilere äquatoriale Bahn einpendeln würde, nachdem sich die Rotationsachse der Erde von 10° auf 23.5 verschoben hatte. Aber es würde fast zwei Milliarden Jahre dauern, bis sich die Umlaufbahn tatsächlich stabilisieren würde und 4.5 Milliarden Jahre, bis ein paar Steine von dort wieder auf die Erde gelangen würden.
Ein ganzes Leben lang würde er dieses Objekt vor Augen haben – auch dann, wenn sich die Erde beruhigt haben würde.
Der Stein lächelte in sich hinein und meinte, einen grossen Bruder gefunden zu haben. Er nannte ihn "Mond". Ein Bruder war er tatsächlich, denn viele Steine, die er gekannt hatte, lagen nun auf der Oberfläche des neuen Erd-Begleiters. Wäre er nur etwas näher am grossen Einschlag des fremden Himmelskörpers gelegen oder etwas höher hinauf geschleudert worden, hätte auch er sich dort befunden.
Nach Millionen Jahren der Finsternis und der Ruhe – nur gestört durch die Gewalt der Erdkräfte – hatte mit diesem Great Impact eine Zeit der Bewegung begonnen. Die Erde erbebte unter den neuen Mächten, welche die Gravitation des jungen Mondes auf sie ausübte. Es gab Gezeiten, die das Gestein aufbäumen liessen, ganz so wie es der Mond noch Milliarden Jahre später mit dem Wasser der späteren Meere tat, wobei sich Ebbe und Flut bildete.
Die Erdkruste verformte und erhitzte sich. Mal rollte der Stein hierhin, mal dorthin, bis er eines Tages an den Rand einer Klippe kugelte. Unter ihm brodelte die glühende Masse. Ein Sturz hätte für ihn fatale Folgen gehabt, wie er bei einigen anderen Steinen hatte sehen können. Immer wieder schleuderten die Erschütterungen Felsbrocken in die Tiefe, wo sie langsam aber unnachgiebig im heissen Brei aufgelöst wurden.
Zum ersten Mal dachte er wirklich über den Tod nach und fühlte etwas, das er als ‚Angst’ bezeichnete. Angst vor dem Ende des Seins. Mit einem Blick nach oben erkannte er, dass es Geburt und dessen Gegenpart den Tod gab. Alles dazwischen bezeichnete er als Existenz. Das musste die Zeit sein! Die Spanne zwischen Geburt und Tod war die Zeit, die an die Existenz gebunden war. Er unterteilte die Zeit nach den ihm bekannten Masseinheiten: Tage, welche der Erdumdrehung und Jahre, welche dem Umkreisen der Sonne entsprach.
Ihn beschäftigte nun die einfache Frage: Was war danach? Was war nach der Existenz? Existierte dort auch die Zeit? Was ist das Nicht-Sein? Er versuchte, sich das Nichts vorzustellen, brachte es aber nicht zustande. Das Nichts war nicht dunkel, es war auch nicht hell, es war nicht etwas, es war nichts. Konnte nach der Existenz das Nichts folgen? Ein Nichts ohne Zeit? War das Nichts überhaupt möglich? Nach so etwas wundervollem wie der Existenz? Was danach war, konnte er einfach nicht ergründen – egal wie viele Millionen Jahre er darüber philosophierte.
Nur durch Glück blieb Stein vor der Schmelze verschont. Am oberen Rand der Klippe war es zwar heiss, aber die paar hundert Grad machten ihm nichts aus. Erst bei 1450°C würde er Gefahr laufen zu schmelzen.
Als Stein die Schmelze anblickte, dachte er bei sich: "Wie kann es sein, dass so etwas hartes wie Steine weich werden?"
Er richtete seine Aufmerksamkeit nach innen und betrachtete sich selbst. Was er sah, waren viele kleine Teilchen, aus denen er bestand. Sie waren alle unterschiedlicher Art. Im Zentrum erkannte er positiv geladene und ungeladene Teilchen, welche von negativ geladenen Wolken umschwirrt wurden. Sie verbanden sich zu einem Ganzen, die sich scheinbar nicht zerstören liessen. Sie waren so stabil, dass sie eigene Einheiten bildeten. Stein taufte sie Atome und die festen Strukturen, die sich aus ihnen wie ein Gitter zusammensetzten, sollten Kristallgitter heissen. Je nachdem, welche Atome in den Kristallgittern sassen, handelte es sich um verschiedene Kristalle, welche zahlreiche Mineralien bildeten.
Stein erkannte, dass er hauptsächlich aus etwas bestand, welches er Quarz und Feldspat taufte. Weitere Mineralien vervollständigten sein Kristallbild.
Aber noch hatte er nicht verstanden, wie diese festen Kristalle schmelzen konnten. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die kleinen Atome, welche in starrer Anordnung seine Kristallgitter bildeten und er erkannte, dass sie schwingen konnten. Nach weiterer Beobachtung fand er heraus, dass sie bei höherer Temperatur viel stärker schwangen als bei niedrigen. Also, so dachte er sich, wenn die Temperatur immer weiter anstieg, würden die Atome so stark schwingen, dass die Kristalle ihre Struktur aufgeben würden und die ganze Materie würde weich und flüssig werden. Also schmelzen.
Zufrieden mit sich und seiner Erkenntnis ließ er seine Gedanken weiter schweifen und beobachtete das wilde Geschehen um sich herum.
Jahrtausende vergingen. Die junge Sonne konnte den Planeten mit ihren schwachen Strahlen noch nicht aufheizen. Trotzdem herrschten immens hohe Temperaturen von mehreren hundert Grad. Die meiste Hitze kam aus dem Inneren der Erde, von radioaktiven Reaktionen strahlender Elemente oder von der Reibungsenergie einschlagender Himmelskörper. Kohlendioxid und Methan in der Atmosphäre verhinderten eine Abkühlung und so dauerte es eine Ewigkeit, bis die Temperatur sank.
Auf einmal schlug etwas auf den Boden auf - dann wieder und wieder. Kleine und grosse Gesteinsbrocken fielen vom Himmel. Erschrocken blickte Stein zum Mond, aber dieser stand fest über ihm. Die Brocken mussten von woanders her stammen. Woher konnte sich Stein nicht erklären. Wie sollte er auch wissen, dass die Erde für einige Millionen Jahre mit Meteoriten beschossen wurde. Er hatte Glück. Auch wenn sie nahe in den Boden einschlugen und die Felsen aufspritzen liessen, wurde er nicht getroffen. Anderen Steinen erging es nicht so gut. Erbarmungslos wurden sie zerquetscht, zerbröselt und verdampft. Das Bombardement mochte keine Ruhe einlegen. Es krachte Tag und Nacht, Jahr um Jahr. Explosionen, wohin man blickte.
Kleine und grosse Meteoriten mit über 50 km Durchmesser schlugen auf der Oberfläche ein, landeten mit riesigem Getöse und bildeten tiefe Krater. Es herrschte zwar ein unglaubliches Chaos, aber die Energie war doch nicht so gross, wie einige Millionen Jahre zuvor, als der Mond entstanden war. Immerhin blieb diesmal der Erdmantel einigermassen fest und er begann nur hier und dort aufzuschmelzen.
Stein fügte sich schliesslich seinem Schicksal und wartete darauf, getroffen zu werden. Angst hatte er schon erfahren. Nun musste er sich mit ihr beschäftigen. Wie konnte er sie bezwingen? Er hatte es ein paar Jahrhunderte mit Panik versucht, aber das brachte nichts. Panik strengte zu sehr an. Eines Tages - es war einer der ruhigeren Tage - beschloss Stein, einfach loszulassen. Er konnte nichts gegen die Meteoriten machen, also versuchte er sich zu entspannen. Wenn er getroffen werden würde, dann war das eben so.
Es war nicht so einfach, der Angst Herr zu werden, aber nach wenigen hundert Jahren gelang es ihm, einen Zustand der Ruhe zu erreichen. Er hatte sich an seinem Platz eingekugelt und wartete auf das Ende.
Als er so ruhig da lag, bemerkte er etwas, was ihm zuvor nicht aufgefallen war. In der Atmosphäre hatte sich zu den üblichen Gasen ein neues Gas gebildet. Zunächst schenkte er diesem neuen Gas nur wenig Aufmerksamkeit, aber es sollte noch ein Teil seines Lebens werden.
Stein war zu dem Schluss gekommen, dass dieses neue Gas aus dem Gestein verdampfte und gleichzeitig ein grosser Teil von den Meteoriten auf die Erde gebracht worden war. Er nannte es: Wasser!
Tatsächlich hatten die einschlagenden Himmelskörper im tiefsten Innern die Wassermoleküle aus dem Weltall auf die Erde transportiert. Jeder Meteorit nur eine geringe Menge, aber im Laufe von 200 Millionen Jahren Meteoritenschauer, konnte doch eine beachtliche Menge an Wasser transportiert werden.
Langsam kühlte sich die Umgebung ab und es begann zu regnen. Die Atmosphäre war mit heissem Wasserdampf gesättigt, der zuerst zögerlich, dann aber in dicken Tropfen kondensierte. Bald platschte das unbekannte Nass auf unseren Stein. Fürchtete er zuerst, dass es eine neue Art von Magma wäre, die ihn zum Schmelzen bringen würde, so erkannte er, dass diese Flüssigkeit das neue Gas in kondensierter Form war. Er taufte es Wasser. Die Umgebungstemperatur war auf unter 100°C gesunken.
500 Millionen Jahre waren vergangen seit der Entstehung des Mondes. Die Erdoberfläche war erstarrt, aber von einer festen Kruste konnte man noch nicht sprechen. Einzig der ständige Regen liess die heissen Lavaströme abkühlen. Es regnete unentwegt auf die heisse Oberfläche. Die Wolken bildeten sich immer wieder neu und schienen einen unendlichen Vorrat dieser Flüssigkeit zu haben.
Unser Stein blickte hinauf und fragte sich viele Jahrhunderte lang, wann es aufhören würde.
Noch immer bebte die Erde und ein besonders starkes Beben liess ihn dann doch die Klippe hinunterfallen, an der er gelegen hatte. Er fiel in die Tiefe und bestaunte das riesige Felsmassiv, an dem er vorbeiflog. Vorher hatte er sich kein Bild machen können, wie mächtig das Gestein war. Von oben hatte alles so klein ausgesehen.
Mit einem lauten Platsch landete er in einem flachen See. Die Flüssigkeit reichte ihm bis zur Hälfte und neugierig blickte er sich unter Wasser um. Es regnete weiter und schliesslich war er völlig bedeckt. Es war eine völlig neue Erfahrung für den Stein. Er kannte die dunkle, feste Enge des Gesteins und er kannte die heisse, mit Gas gefüllte Umgebung der Erdoberfläche. Dies hier war aber etwas dazwischen – irgendwas zwischen Gas und festem Fels.
Dieses Wasser war ein faszinierendes Phänomen. Er kannte es nun als Dampf, als Regen und nun als - wie sollte er es nennen? Er taufte es "See”.
Immer weiter entfernte sich die Wasseroberfläche und er konnte nicht mehr sagen, ob es noch regnete oder nicht. Es wurde ruhig um ihn. Einige Millionen Jahre dämmerte er vor sich hin und philosophierte über das Dasein im Gestein, in der Atmosphäre oder im Wasser, als es vom Neuen zu rütteln begann. Ein weiteres Bombardement erschütterte die Erde.
"Geht das schon wieder los", dachte Stein und wehrte seine Angst ab.
"Denke positiv", sagte er zu sich selbst, "Es ist nicht so schlimm wie bei der Geburt des Mondes. Die Meteoriten werden Dich auch dieses Mal verfehlen. Denke positiv!"
"Was?"
Stein zuckte zusammen. Hatte da noch jemand anders gesprochen?
"Was hast Du gesagt?"
Ein anderer Stein lag neben unserem Stein und wiederholte ständig dieselbe Frage.
Unser Stein wusste nicht, was er antworten sollte, so überrascht war er von der Existenz des Anderen, so dass er einige hundert Jahre später ganz schüchtern antwortete: "Ich meinte, es wäre nicht so schlimm, wie bei der Mondentstehung."
"Mond?"
"So nenne ich unseren grossen Bruder da oben. Er sieht jetzt etwas anders aus. Jetzt hat er viele tiefe Krater, die er zuerst nicht hatte."
"Oh!"
"Ich nenne mich Stein. Und wie nennst Du Dich?"
Unser Stein war neugierig geworden, aber der andere blickte ihn nur ratlos an.
"Dann nenne ich Dich Stone", beschloss unser Stein endlich, "klingt doch hübsch, oder?"
"Stone", wiederholte der Andere unsicher und murmelte seinen neuen Namen ständig in sich hinein, als müsse er ihn auswendig lernen.
Stein erzählte seinem neuen Freund, dass er im dunklen Gestein gelebt hatte, dann an die Oberfläche geworfen wurde, zusah, wie der Mond entstanden war und schliesslich im Wasser versank. Stone hörte sich alles interessiert an und begann, jedes Wort zu wiederholen. Nach einigen Fragen stellte Stein fest, dass Stone erst vor kurzem aus dem Gestein befreit worden war. Stein vermutete, dass Stone etwas jünger war als er selbst.
Sie unterhielten sich nur wenig, denn es gab nichts, über das sie hätten sprechen können. Jeder Tag war gleich. Ab und zu bebte die Erde, was aber nichts wirklich Neues brachte. Einzige Neuigkeiten waren die Orte, wo sie gerade lagen. Mal unter Wasser, mal an Land. Sie wurden aber nie sehr weit voneinander getrennt. So konnten sie sich aneinander gewöhnen. Steine waren in diesen Dingen sehr langsam und benötigten viel Zeit, um sich irgendwo wohl zu fühlen.
Inzwischen hatte sich ein Ozean auf dem gesamten Planeten gebildet. Einzelne Vulkaninseln schauten aus der Wasseroberfläche und fügten sich im Laufe der Zeit zusammen, bis grössere karge Landmassen entstanden.
Stein war neugieriger und wissensdurstiger als sein Freund. Er hatte bereits herausgefunden, dass alle Materie aus Atomen bestand, wir er die kleinsten Teilchen nannte. Die Häufigsten, so hatte er entdeckt, waren Silizium, Eisen, Aluminium und Sauerstoff. Insgesamt zählte er 90 verschiedene Atome. Die meisten bildeten Kristalle wie solche, aus denen er selbst bestand. Aber dann gab es einige Atome, welche sich nicht zu Kristallen verbanden, sondern zu anderen Strukturen, welche weniger starr zu sein schienen. Es waren hauptsächlich Verbindung aus Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff. Stein dachte lange nach, wie er sie nennen sollte und erfand den Namen "Moleküle".
Diese Moleküle hatte er vor dem Meteoritenbombardement nicht gesehen. Sie mussten mit den Himmelskörpern auf die Erde gekommen sein. Stein schätzte, dass sie sich tief im Innern der Felsbrocken befunden hatten und in der Tiefe des Ozeans freigesetzt worden waren.
Eines Tages - Stein und Stone hatten den Meteoritenhagel gut überstanden und lagen im Dunkel des 300 m tiefen Ozeans - brach in Sichtweite der beiden Freunde der Boden auf und heisses Wasser strömte aus der Tiefe. Im Laufe der Jahre entstand ein kleiner hohler Berg. Das Wasser brachte Minerale aus der Tiefe mit sich, welche sich in der kälteren Umgebung ablagerten. Ein Schlot wurde gebildet, der immer weiter anwuchs. Es entstanden weitere Schlote und immer mehr heisses Wasser wurde aus dem Grund gepresst.
"Schau Dir das an, Stone!" rief er seinem Nachbarn zu, der sich aber in seinem Dämmer nicht stören lassen wollte.
"Jetzt schau schon her, ich glaube, da passiert was."
"Ist doch ständig was los", antwortete Stone und döste weiter, "Diese Schlote habe ich schon gesehen. Ganz interessant."
"Nein, da ist etwas anderes! Schau genau hin."
Zuerst völlig desinteressiert, dann aber doch zunehmend gebannt vom Geschehen blickte Stone in die gezeigte Richtung.
Die neuen Moleküle, welche später als Aminosäuren bezeichnet werden sollten, begannen zu reagieren. Sie fügten sich zu grösseren Molekülen zusammen und bildeten bald lange Ketten, welche sich zu kugeligen Gebilden falteten. Die Proteine waren geboren.
Es war kein einmaliger Prozess. Die Freunde konnten diesen Prozess auch an der Oberfläche beobachten, wo die Bedingung ganz ähnlich war. In carbonsauren Pfützen, in den Ritzen des Gesteins fanden die gleichen Reaktionen statt. Wichtig schien eine hohe Mineralkonzentration zu sein, eine Temperatur, welche nicht zu niedrig oder zu hoch sein durfte, und vor allem schien auch der Schutz vor der harten UV-Strahlung von Bedeutung zu sein. Diese konnte die neuen Moleküle zerstören, so dass nur toter Schleim zurückblieb.
Eine halbe Milliarden Jahre später sollten sich die ersten Mikroben im Wasser tummeln. Stein taufte dieses Phänomen "Leben".
Das Leben und ein Kontinent
(vor 4 – 2,5 Milliarden Jahre)
"Mich juckt es!" meldete sich Stone eines Tages.
Stein und Stone lagen im seichten Wasser und liessen sich vom feuchten Nass umspülen. Die dicke Luft war immer noch voll von Schwefelwasserstoffen, Methan und Kohlendioxid, was den Himmel cremegelb erscheinen liess. Eine Ewigkeit hatte es gedauert, bis sich eine feste Kruste auf dem jungen Planeten bilden konnte. Noch war sie aber von vielen Lavaströmen unterbrochen, die sich mal hier, mal dort auftaten und wieder verschlossen.
"Dich juckt es?"
Stein war verwundert und blickte Stone erstaunt an.
"Schau doch mal nach, bitte!"
"Ich seh nichts. Wo?"
"Sieh genauer hin!"
"Ich seh nichts", beharrte Stein, fügte aber bei genauerem Hinsehen sofort hinzu: "Doch! Da ist was unter Dir! Irgendwelche Fäden. Komisches Zeug. Schleimig. Hey,
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 30.12.2015
ISBN: 978-3-7396-2976-6
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Zum Titelbild:
Das Bild enstand im Juni 2016 im Innern des Vulkans Þríhnúkagígur (Thrihnukagigur) auf Island. Der letzte Ausbruch fand vor 4000 Jahren statt. Dabei ist der 120m tiefe Schlot nicht eingestürzt und seit 2010 mit einer Gondel bis zum Grund begehbar.
Wo bleibt das “ß”?
In diesem Buch wird vollständig auf den alten Buchstaben “ß” verzichtet, weil der Text mit einer Schweizer Tastatur geschrieben wurde.
Schon 1938 entschied die Erziehungsdirektion des Kantons Zürich, dieses altehrwürdige Sonderzeichen nicht mehr zu benutzen. Dennoch hielt es sich standhaft bis 1974 in einigen Schweizer Texten. Erst mit der Schweizer Rechtschreibreform 2006 wurde es offiziell abgeschafft.
So auch auf der Computer-Tastatur und in diesem Buch.