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Chimica Mala

die Rache des Chemikers 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Nebenreaktion I

Vor einigen Wochen:

 

Es war ein gelungener Schlag. Der Golfball flog im hohen Bogen über die Bunker hinweg und landete auf flachem Grün fast direkt neben Loch 8.

„Bravo!“ applaudierte ein älterer, fülliger Herr in modischer Golfsportbekleidung, „Das war ein hervorragender Schlag, Karl!“

Karl von Münchenstein, ein schlanker Mann mittleren Alters lächelte bescheiden. Er fuhr sich mit der Linken durch die schon grauen Haare und nickte dem älteren Herrn dankbar zu.

„Ich habe Dich nur beobachtet und imitiert, David.“

Der Golfplatz war doppelt so groß geworden, seit man den Stadtpark in die Vorstadt verlegt hatte. Nur ausgesuchte Mitglieder hatten Befugnis hier im Grünen auszuspannen. Wer Mitglied werden wollte, musste einen Mentor vorweisen, der für ihn um Aufnahme warb. Nicht jedem war es vergönnt vom Kreis der Ausgesuchten akzeptiert zu werden. Vor einigen Jahren hatte es der ehemalige Konzernleiter von Chem&Nova versucht. Aber er hatte niemanden gefunden, der ihn vorgestellt hätte – also keine Chance. Sein Nachfolger war wesentlich erfolgreicher gewesen. Er hatte schnell einen Fürsprecher finden können, sein Netz genutzt und wie David gerade erkennen musste sein Golfspiel wesentlich verbessert.

Chem&Nova war als altes Traditionsunternehmen - würdig genug, um beim Golfclub vertreten zu sein. Die Mitglieder, die dieser Konzern einbrachte, leisteten wertvolle Arbeit für die verschworene Gemeinschaft.

„Ein Hoch auf unser Netzwerk“, dachte David.

Während beide Männer dem Loch 8 entgegenschlenderten, bemerkte David quasi im Nebenbei: „Karl, bei Euch will ein gewisser Manuel Sopher in der Analytik beginnen. Balz – äh – Balthasar Anders hat bei mir nachgefragt. Ich habe nichts negatives über diesen Bewerber in Erfahrung bringen können. Er scheint in Ordnung zu sein.“

Von Münchenstein hob die Augenbrauen.

„Um solche Dinge kümmern wir uns eigentlich nicht. Wo kommen wir hin, wenn wir uns um jeden Mitarbeiter von Chem&Nova kümmern würden. David, ich bin Konzernleiter! Aber wenn Balz so viel Wert darauf legt, richte ich es ihm aus.“

Sie näherten sich Loch 8 und von Münchenstein suchte sich einen Putter aus. Er visierte an – es war kein Problem den Ball jetzt noch ins Loch zu bekommen. Nur wenige Zentimeter trennten ihn vom Ziel. Er holte ganz sachte aus...

„Wie geht es eigentlich der entzückenden Frekja?“ fragte David und registrierte mit einem tückischem Lächeln, dass der Ball das Loch verfehlte.

Von Münchenstein blickte ärgerlich auf. Er sollte es langsam wissen, dass David mit allen Mitteln Golf zu spielen pflegte.

„Sie ist fix und fertig“, antwortete er dumpf, „Seit dieser Hans Zimmermann sie begrapscht hat, kann sie sich nicht mehr beruhigen.“

„Was habt ihr mit diesem Zimmermann vor? Nein, mach nur den nächsten Schlag – ich bin sowieso fertig.“

„Er bekam eine Fristlose – natürlich.“

„Und wer hat nun seine Stelle als Marketingleiter?“

„Noch nicht besetzt.“

Von Münchenstein versuchte sich auf den Schlag zu konzentrieren. Diesmal trennte ihn ein ganzer Meter vom Loch.

„Gib Frekja die Position.“

Von Münchenstein blickte auf: „Warum? Zum Trost?“

„Sie hat es verdient“, antwortete David mit einem Zwinkern, das der Konzernleiter von Chem&Nova nicht richtig deuten konnte.

„Im Gegenzug zu meinem weisen Rat könntest Du Jakob Jiper, deinen Finanzchef, etwas unter die Arme greifen. Er wäre eine gute Partie in der Konzernleitung. Nicht wahr, Karl?“

„Ich weiss nicht, er war damals in den peinlichen Fall mit der Explosion verwickelt. Wir hatten zwei Tote. Dumme Sache.“

„Aber die Staatsanwaltschaft hat ihn von jeder Schuld freigesprochen, Karl. Du weisst doch, dass dieser Chemiker – wie hiess er noch - Jens - egal. Dieser Chemiker war einfach zu ungeduldig und hatte die Produktion unnötig beschleunigt. Es ist ganz richtig, dass er ins Gefängnis ging. Schliesslich sind zwei Mitarbeiter tot.“

David schwang seinen Golfschläger, um einen fiktiven Ball abzufeuern.

„Ach ja, der Herr Staatsanwalt lässt Dich grüssen“, fügte David hinzu.

„Wie geht es Kai?“

„Er kommt erst nächste Woche wieder her. Muss sich noch um seinen Fuss kümmern. A propos ‚kümmern‘: kümmere Du Dich um Köbi.“

„Wen mache ich dann zum Finanzleiter?“ fragte von Münchenstein.

„Da wird sich schon jemand finden“, grinste David, „Ach ja, wann wolltest Du meinen Hubschrauber mieten?“

„Nicht den Hubschrauber, den Jet.“

David tat überrascht. „Ach so ja, dann den Jet. Zum üblichen Preis?“

„Kein Problem, jetzt bitte Ruhe ich muss mich konzentrieren.“

David verstummte immer noch mit einem boshaften Lächeln auf den Lippen.

Von Münchenstein schlug ab und der Ball landete endlich im Loch.

„Meinen Glückwunsch, Karl!“ rief David aus, „Ach ja und dieser Hans Zimmermann. Dem geben wir eine Lektion. Ich habe schon etwas in die Wege geleitet. Besser, dass Du nichts davon weißt. Ich kümmere mich um ihn.“

Von Münchenstein nahm seinen Ball zu sich und nickte dem älteren Herrn dankend zu.

„Heute wirst Du wieder gewinnen, David.“

„Ist doch klar, ich habe auch etwas mehr Übung als Du. Schliesslich bin ich schon seit 20 Jahren Konzernleiter meiner SalutemArtis.“

Gemütlich schlenderten die beiden Herren weiter. David war zwar nicht mehr zu schlagen, aber Karl von Münchenstein wusste aus Erfahrung wie wichtig diese Treffen mit ihm und den anderen Herren des Clubs waren. Netzwerken war alles!

 

Mit einem Ende beginnt alles

(Phosphor, Natrium, Magnesium, Petroleum)

 

Schwarze Wolken hüllten das Gelände des Chemieunternehmens ein. Schornsteine und Destillationstürme ragten bedrohlich in die Höhe, als könnten ihnen die Rauchschwaden nichts anhaben. Der giftige Rauch zog an dicken Rohren vorbei zum marmorweißen Gebäude der Konzernleitung und färbte die blank polierte Fassade grau. Es war von einem renommierten Architekten gebaut worden und die Kosten kamen dem Turm von Babylon gleich. Der beste Carrara Marmor war verwendet worden und sollte an die Anfangsjahre des stolzen Konzerns erinnern, indem kunstvolle Steinmetzarbeiten angebracht waren, so wie es in der Gründerzeit üblich gewesen war.

Auf dem Marmor ragten Glasaufbauten in Form eines riesigen Dodekaeders empor und symbolisierten die moderne Zeit. An den geschlossenen Fenstern standen Menschen, die entsetzt auf die Szene im Hof starrten. Auch aus den anderen Gebäuden blickten erschütterte Gestalten hinaus. Im Vergleich zu diesem Tempel der Macht wirkten die anderen Gebäude eher schäbig oder besser gesagt sie waren für einen Chemiekonzern zweckmäßiger erbaut worden. Alte Backsteinbauten mit Büros, ältere und neuere Laborgebäude, deren Fassaden reich an Blech und Glas waren, und die Produktionsgebäude, bei denen die Erbauer die Außenwände vergessen zu haben schienen. Tatsächlich waren bei modernen Produktionsgebäuden keine Außenwände nötig, weshalb sie irgendwie nackt aussahen. Die Eingeweide standen offen für jedermann sichtbar: Rohre, Kessel, Ventile, Förderpumpen, Steuereinheiten, et cetera, et cetera. Aber an diesem Tag interessierte sich niemand für das Gedärm eines Chemieprotzes. Die Augen aller waren auf den Hof gerichtet. Die Zeit schien still zu stehen. Selbst an den drei Fahnenmasten hing das Firmenlogo nur in Form von traurigen Stofffetzen schlapp herunter.

Die firmeneigene Feuerwehr war schnell vor Ort gewesen und kämpfte die Flammen nieder. Das düstere Schwarz mischte sich mit dem Feuerschein und den lustig tanzenden blauen Lichtern der roten Laster. Die Männer verstanden nicht sofort, warum das Feuer immer wieder aufflammte, obwohl es gerade gelöscht worden war. Es mussten Chemikalien im Spiel sein, die sich immer wieder von selbst entzündeten. Sie vermuteten weißen Phosphor und elementares Natrium – Substanzen, mit denen man besser nicht herumspielte. Ersteres war hochgiftig und es bestand die Gefahr, dass es sich in den Ritzen und Nischen des Hofes festsetzte, um dort weiterzuglühen. Der zweite Stoff war hochreaktiv und hatte die Fähigkeit mit dem Löschwasser heftig zu reagieren.

Dem Menschen, der in der Mitte des Infernos lag, konnten sie nicht mehr helfen. Er war nur noch ein Stück Kohle inmitten des feurigen Spektakels. Es war das Ende eines Mannes, der betrogen worden war. Hatte er der Firma jahrelang treu gedient, so war er plötzlich ausgestoßen worden – ein Aussätziger im eigenen Leben. Kollegen, Freunde, ja gar seine Frau hatten ihn geächtet. Dabei hatte er sich nichts zu Schulden kommen lassen. Vielleicht nur eines: Er war einer Kollegin im Weg gestanden und ohne es zu wollen ihre steile Karriere behindert. Sie hatte ihn verleumdet, belastet und wie Müll zur Seite geräumt. Ihre Anschuldigung war so ungeheuer gewesen, dass sich seine Frau scheiden ließ und sich selbst seine Kinder von ihm abwandten. Durch die Scheidung hatte er Haus und Vermögen verloren. Aber nicht die materiellen Dinge hatten ihn zerstört. Es hatte ihn geschmerzt zusehen zu müssen, wie Frau und Kinder gegen ihn aufgehetzt worden waren. Wie sie Opfer von Manipulation und Intrigen geworden waren, ohne dass jemand etwas hätte dagegen tun können. Es quälte ihn auch die Verachtung, die Respektlosigkeit, die Hilflosigkeit und schliesslich die Einsamkeit – selbst sein Hund war vergiftet worden. Kaum noch jemand wagte es sich mit ihm zu zeigen – nur wenige Freunde waren geblieben und davon traute sich nur ein Einziger mit ihm in der Öffentlichkeit aufzutreten. Fast alle blickten verschämt zur Seite, wenn er auftauchte. Der Raum wurde von einer unerträglich lauten Stille erfüllt, so dass er sich gezwungen sah, zu gehen. Dabei wusste er, dass viele Kollegen die ungeheure Anklage bezweifelten, und doch blieb ein Schandfleck an ihm haften, so dass man Abstand zu ihm hielt. Nun waren sein Leid, seine Schmerzen und sein Leben in Rauch aufgegangen.

Vom Flammenmeer führte eine Feuerspur den Platz entlang. Der Noteinsatz glaubte, dass das Brandmittel quer über den Platz verschüttet wurde. Sie konnten sich aber keinen Reim darauf machen.

Schließlich deckten sie den Ort mit Sand zu, bis auch der letzte Funke erloschen war. Bedrückt machten sich einige an die Arbeit, den Platz wieder zu säubern. Der Sand musste entsorgt werden, vermuteten sie doch jede Menge Phosphor darin. Andere fluchten leise ob dieser Sauerei.

Der Aufsichtsrat hatte seine Sitzung in dem riesigen Dodekaeder unterbrochen und stand wie alle anderen Mitarbeiter an den Fenstern. Schweigend blickten sie auf das Inferno und mit Grauen erkannten sie eine Nachricht, die die Feuerspur neben dem Flammenmeer hinterließ. Auf dem Platz brannte die Spur in Form von Buchstaben, die sich zu einem Wort zusammensetzten – ein Wort, das Jeden erschaudern ließ und das besonders gut vom Hauptgebäude der Firma zu lesen war: Dort unten loderte die Nachricht „Mörder“.

Jeder, der fünfzehn Personen im Raum, war sich im klaren, dass schnell gehandelt werden musste. Es musste sofort eine Pressemeldung heraus, deren wichtigster Inhalt die Unschuld der Firma sein musste. Der Unfall war ein persönlicher tragischer Unfall eines verzweifelten Privatmannes. Es musste klargestellt werden, dass dieser arme Mensch diesen Ort nur deshalb gewählt hatte, um an die Chemikalien heranzukommen. Dass er ein Mitarbeiter des Unternehmens war, sollte eher eine nebensächliche Rolle spielen. Die Firma war das Opfer! Das Wort Täter durfte erst gar nicht erscheinen.

 

Mein Name ist Manuel Sopher (38) und ich bin erst seit wenigen Wochen bei Chem&Nova tätig. Von Beruf bin ich Chemiker – eigentlich Analytiker, eine Art chemischer Detektiv. Schon als Kind fühlte ich mich zu dieser Tätigkeit berufen. Alle Dinge wurden untersucht, auseinandergenommen – wenn auch meist irreversibel – aber dafür gründlich. Ziel war es herauszufinden, wie etwas funktionierte. Egal, ob es ein Wecker, ein Playmobilmännchen oder später ein Mineral war. Natürlich stand bei Steinen nicht die Funktionalität im Vordergrund, sondern hier war die Frage: Was hab ich mir da nach Hause mitgenommen? Konnte ich das Fundstück gefahrlos in meinem Kinderzimmer aufbewahren, oder musste ich einen radioaktiven Strahler in Nachbars Garten entsorgen? Im Schwarzwald konnte man sich nie sicher sein, ob man gerade ein Uranmineral nach Hause geschleppt hatte, wie zum Beispiel die Pechblende oder ein Uranophan mit seinen wunderschönen gelben Kristallen.

Waren im Kinderzimmer die Möglichkeiten noch auf Härte, Bruch, Strichfarbe und Dichte beschränkt – letzteres hatte ich versucht mit einer alten Goldschmiedewaage zu bestimmen - so konnte ich mich im und nach dem Studium nach belieben austoben.

Im Laufe der Jahre hatte ich gelernt in jeder Lebenslage analytisch und distanziert zu denken. Es war praktisch eine Berufskrankheit geworden, die sich nicht abschütteln liess. Manchmal bezeichnete ich mich auch ganz salopp als ‚Laborratte’, was regelmäßig Unverständnis oder Gelächter beim Gegenüber hervorbrachte. Gefährlich war es bei Vorstellungsgesprächen das Labor als ‚Spielwiese’ zu betiteln. Hatte ich jemanden vor mir, der genau wusste, wovon ich sprach, war alles in Ordnung. Aber meist wurde ich vollkommen missverstanden. Im letzteren Fall meinten die Leute meistens, dass ich nicht gerne arbeiten würde. Solche Personen begriffen einfach nicht das Wesen eines Analytikers wie mich. So wie sich Kinder im Sandkasten mit ihren Spielsachen durch ihr Spiel ‚arbeiteten’, so benutzten wir Analytiker im Labor unsere Instrumente, um die Arbeit zu erledigen. Dabei waren wir so begeistert, ja gar gefangen in unserer Aufgabe, dass die Analysengeräte zu unseren Spielsachen und das Labor zu unserer Spielwiese wurden. Wohlgemerkt war das der Idealfall eines Analytikerlebens.

Leider ist mein alter Job einer Fusion zum Opfer gefallen. Die Firma hatte sich mit einem größeren und mächtigeren Konzern zusammengeschlossen. Meine Abteilung wurde zuerst reorganisiert, dann ausgeschlachtet und schließlich geschlossen. Die Arbeit machten nun andere Kollegen an einem anderen und billigeren Standort. Natürlich interessierte solche Konzerne nicht, dass zu einem Mitarbeiter nicht nur die Arbeitskraft gehörte, sondern eine jahrelange Erfahrung. Diese liess sich nicht so einfach von Arbeiter A zu Arbeiter B übertragen. Es war das Filigrane an der Arbeit, welches zwischen Erfolg und Misserfolg entschied. So konnte ich schon am Klang meines Massenspektrometers hören, dass etwas nicht stimmte. Es würde Jahre dauern, bis ein neuer Mann mit dem Gerät so eins werden könnte, um auf ihm so virtuos spielen zu können, wie ich es getan hatte. Solche Dinge brauchten Zeit.

 

 

--- Anmerkung des Autors ---

Massenspektrometer (MS): Bei der Massenspektrometrie handelt es sich um ein analytisches Verfahren, bei dem eine Substanz auf Grund der Molekülmasse identifiziert werden kann. Es gibt zahlreiche verschiedene MS, die aber immer einen ähnlichen Aufbau aufweisen:

Ionisator: das Molekül muss verdampft und ionisiert werden, d.h. das Molekül erhält eine Ladung. Das geladene Molekül wird ‚Ion’ genannt.

Analysator: mehrere ionisierte Moleküle (Ionen) werden voneinander getrennt.

Detektor: die ankommenden Ionen werden elektronisch registriert.

Da das Thema sehr weitläufig ist, empfehle ich ein Chemiestudium oder wenns etwas schneller und nicht so genau gehen sollte: frage Tante Google und Onkel Wiki von Pedia.

--- Ende der Anmerkung ---

 

 

 

An meiner alten Arbeitsstelle war das geschehen, was wir schon zuvor befürchtet hatten. Die Fusion hatte sich als eine heimliche Übernahme entpuppt. Wir wurden geschluckt, verdaut und ausgespuckt. Das Sagen hatten die Herren, die unsere Chemiefabrik übernommen hatten. Die meisten hohen Manager unserer Firma hingegen hatten sich an sichere Plätze gerettet. In großen Firmen gab es dafür mannigfaltige Möglichkeiten. Die unteren Kader aber hatten das Nachsehen. Es fand ein Abbau von über 70% statt. Man hatte diesem Projekt den klangvollen Namen „fast to success“ gegeben – mit einem wunderbaren Plakat – eine Straße, die in den Sonnenaufgang führte. Oder war es der Sonnenuntergang?

Aber täuscht Euch nicht. Nicht alle waren unglücklich. Viele Kollegen wurden schon mit jungen 57 Jahren frühpensioniert – wir sagten auch ‚vielzufrühpensioniert’. Leider war mir dieses Glück nicht beschieden.

 

 

--- Anmerkung des Autors ---

Pensionierung: Dabei handelt es sich um den meist wohlverdienten Ruhestand. In den letzten Jahren wurde sie von großen Firmen gerne zum Abbau verwendet – wenn es auch ein recht teurer Abbau war. Immerhin mussten die restlichen gesetzlichen Rentenbeiträge und zahlreiche andere Zahlungen bis zum eigentlichen Pensionsalter geleistet werden.

Für viele Mitarbeiter ist eine solche Frühpensionierung ein willkommenes Ereignis. So kann man ab 57 in Rente gehen (wie bei einigen meiner Kollegen 2010-2018 der Fall war).

Manche Mitarbeiter fürchten aber eine Frühpensionierung, da die Rente auf Grund der fehlenden Jahre wesentlich kleiner ausfällt.

Zuletzt gibt es auch Mitarbeiter, die einfach ihren Job lieben und sich nicht vorstellen können ohne ihn auszukommen. Solche Mitarbeiter haben meist ihr ganzes Leben der Firma gewidmet, keine Hobbies – außer ihrer Arbeit – und stehen bei einer Pension vor einem schwarzen Loch. Ich habe Kollegen erlebt, die noch am letzten Arbeitstag abends um 17 Uhr ihrer geliebten Arbeit nachgingen.

Solche Phänomene gibt es aber immer seltener. Die Konzerne sind auf die hohen Kosten aufmerksam geworden und stoppten bald die Frühpensionierungen. Mitarbeiter ab 55 werden nun leider nur allzu oft einfach entlassen, wenn jüngere, günstigere Mitarbeiter nachrücken wollen.

--- Ende der Anmerkung ---

 

 

Bei mir fehlte die Gnade der frühen Geburt – auf deutsch: ich war zu jung. Mir wurde eine Abfindung ausbezahlt und tschüss! Also musste ich mir einen neuen Job suchen.

Diesen fand ich hier in der angesehenen Spezialitätenchemiefabrik: Chem&Nova AG.

Hätte ich allerdings gewusst, was dem Job in dieser modernen Analytik nachfolgen würde, ich hätte abgelehnt. Denn an dem Morgen, an dem die schwarzen Rauchwolken im Hof vor dem Konzerngebäude aufgestiegen waren, sollte sich ein Mechanismus in Bewegung gesetzt haben, den die Polizei nicht durchschaute und ich nicht verhindern konnte.

 

Für alle, die noch nie in einem großen Konzern gearbeitet haben, sollte ich einige erklärende Worte verlieren. So eine riesige Firma ist auf mehrere Gebäude verteilt – meist auch auf mehrere Werke oder Standorte. Es gibt eine Konzernleitung, die verschiedene Divisionen oder Segmente leitet. So kann eine Division zum Beispiel Farbstoffe produzieren und eine andere konzentriert sich auf Polymere. Diese Divisionen werden von einem Management geleitet, welche sich in mehrere Ebenen unterteilt, bis die ‚normalen’ Angestellten auf dem Organigramm erscheinen. Diese sind es, die in der Fabrik, am Kessel, an der Destillationsanlage, im Labor oder in der Buchhaltung, Marketing, Regulatorik und so weiter arbeiten.

Niemand kennt alle Angestellten und in der Regel lebt man in einem Mikroklima mit seinen direkten Kollegen und denjenigen, mit denen man außerhalb seiner eigenen Abteilung zu tun hat. Es ist also völlig unnötig zu fragen: „Oh, Du arbeitest im Konzern XYZ, dann kennst Du sicher auch Hans Mustermann. Wo er arbeitet? Nein, keine Ahnung.“

Den meisten Werken ist eine Kantine angeschlossen und gerade bei Chemiewerken eine eigene Feuerwehr, sowie ein Werksarzt, der nicht nur für Notfälle zuständig ist, sondern auch für die jährlichen Untersuchungen an den Mitarbeitern, die direkt mit Chemikalien zu tun haben.

So arbeiten alle zigtausend Mitarbeiter zusammen, um das Ziel eines möglichst hohen Profites zu erarbeiten. Nein, eigentlich nicht. Viele kämpfen um vernünftige Entscheidungen, einige arbeiten vor sich hin und leben erst im privaten Umfeld wieder auf. Dann gibt es noch die, welche ihren Job oder ihre Position für ihre eigenen Zwecke nutzen. Das kann das stibitzen von Firmeneigentum sein – von Klopapier bis hin zu Firmengeldern. Das kann aber auch aktives Mobbing und zerstören anderer Existenzen sein. Natürlich passiert das nie mutwillig, sondern immer mit guten Gründen und mit freundlicher Genehmigung der oberen Kader.

 

In der neuen Firma fühlte ich mich zunächst gut aufgehoben, aber dann kam der Tag an dem sich Hans Zimmermann selbst entzündet hatte. Es hatte sich mit dem Rauch eine bedrückende Stimmung ausgebreitet. Unsere Gruppe war nicht mehr fähig zu arbeiten. Einige saßen im Labor, andere im Kaffeeraum. Unser Teamleiter Justin Laurenz hatte sich in sein Büro zurückgezogen. Ich war ihm kurz nach dem Unfall auf dem Gang begegnet. Er war von draußen herein gekommen, das Gesicht tränenüberströmt. Er hatte nichts gesagt, nicht gegrüßt – nur einen leeren, hohlen Schockblick ins Nichts gerichtet.

Dieser Mann war ursprünglich der Grund gewesen, warum ich dieser Stelle ohne zu überlegen zugesagt hatte. Seit sechsundzwanzig Jahren war er in der Firma tätig gewesen und machte den Eindruck eines Logikers und zugleich eines sozialen Menschen. Selten fand man noch solche Eigenschaften bei den Managern vereint. Er war immer für die Belange seiner Mitarbeiter da, auch wenn es ihm gerade nicht zu passen schien. Seine Leute, zu denen nun auch ich gehörte, schätzten es, dass er die Politik von ihnen fernhielt, damit sie in Ruhe ihre Arbeit machen konnten. Seine Vorgesetzte Regula Govern kam zwar regelmäßig vorbei, aber dann verschwand sie doch nur bei ihm im Büro, ohne uns groß lästig zu werden. Sie hatte immer besonders wichtige und dringende Dinge zu besprechen. Priorität eins, verstand sich.

Aus meinen Erfahrungen wusste ich aber, dass es entweder wichtige oder dringende Angelegenheiten gab. Nur selten waren in unserem Job die Belange wichtig und gleichzeitig dringend. Meistens waren die Priorität-eins-Aufträge für ein hohes Tier oder einem seiner Bekannten. Die Deadline musste auf jeden Fall eingehalten werden. Es spielte keine Rolle wie viel wirklich wichtige Aufträge liegen bleiben mussten, die neue Erkenntnisse gebracht hätten oder einfach Geld in die Kasse fließen lassen würden. Schnell hatte ich bemerkt, dass Justin ein Mensch war, der die Dinge ähnlich einschätzte wie ich. Im Laufe der ersten Tage bei Chem&Nova, hatte ich einiges über ihn erfahren. Er war verheiratet gewesen. Kurz vor meinem Eintritt in die Firma war seine Frau gestorben. Über die Hintergründe hatte er sich ausgeschwiegen, aber Olivia Schmid, unsere IR-Spezialistin, hatte mich aufgeklärt. Olivia – wir nannten sie kurz Livia – war seit mehreren Jahren bei der Laurenz-Truppe, wie sich die Analytiker hier nannten.

 

 

--- Anmerkung des Autors ---

IR (Infrarotspektrometer): Dabei handelt es sich um ein analytisches Gerät, mit dem man hauptsächlich Substanzen identifizieren kann. Gemessen wird die Schwingung der Moleküle in Abhängigkeit zur Wellenlänge eines Infraroten Lichtes.

Jeder spürt Wärme, wenn er die Hand unter eine IR-Lampe hält. Diese Wärme kommt daher, dass die Moleküle in der Haut in Schwingung versetzt werden.

--- Ende der Anmerkung ---

 

 

Livia war Halbitalienerin und vereinte viele der italienischen und teutonischen Gegensätze. Einerseits war sie impulsiv, andererseits war sie logisch denkend und analysierend. Im Laufe der Zeit wurde sie mehr und mehr zu meiner Bezugsperson in der Analytik, denn jeder Neuling benötigte einen Mentor, der ihn in die ganz eigene Kultur der neuen Firma einführen konnte. Sie war bereit mir alles zu erläutern, was mir neu und fremd erschien. So auch die vielen Geschichten aus vor meiner Zeit.

Justins Frau Lina Laurenz hatte in der Forschung gearbeitet. Sie war eine sehr gewissenhaft arbeitende Persönlichkeit, die ihr Fach beherrschte und schon einige Patente anmelden konnte. Aber in den letzten Jahren hatte sie immer wieder eigenartige Krankheiten gehabt: Nesselsucht, dann diese Gastritis und schließlich kam der Herzinfarkt.

„Das ganze waren Auswüchse eines Burnouts“, erläuterte Livia, „Sie hätte sich krank schreiben lassen können, hatte aber Angst geschnitten zu werden. Wer hier einen Burnout hat, der kann sich am besten gleich einen neuen Job suchen. Denn danach bekommst Du keinen Fuß mehr auf den Boden. Man nimmt Dich einfach nicht mehr ernst, obwohl Du hervorragende Arbeit geleistet hast.“

„Aber ein Burnout ist doch kein Grund jemanden derart fertig zu machen!“

„Unsere Zeit ist brutal.“

„So brutal, dass sich die Burnout-Fälle jährlich häufen.“

„Da gibt es noch mehr. Es ist sogar so, dass man das Wort ‚Burnout‘ bei uns nicht mehr sagen darf – Weisung von oben. Das macht sich nicht gut für die Abteilung. Zu viele Burnouts fallen auf.“

„Wer hat das bestimmt?“ fragte ich fassungslos.

„Na wer wohl – Balz, Regula, Frekja, Köbi – es ist in der ganzen Firma so…ein Burnout wirft eben ein schlechtes Licht auf die Abteilung.“

„De Deifel soll des Sauweib hole! Sell daube Bloder!“ platzte Verena heraus, „Die un de Luschtmolch! Des Arschloch des verkommene!"

 

--- Anmerkung des Autors ---

Da Verena einen

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 21.08.2016
ISBN: 978-3-7396-6991-5

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch ist all meinen Kollegen gewidmet, mit denen ich so viel schöne und spannende Zeiten erlebt habe. Nein - die Charaktere sind keinem von Euch nachempfunden - das hätte ich mich nie getraut.

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