„Nichts ist weder gut noch schlecht. Das Denken macht es erst dazu.“ (Hamlet)
Noch bevor Manuel die Augen öffnete fühlte er, welche Art von Tag ihn erwartete: Schmerz! Zwischen seinen Augen pochte ein Dampfhammer. Er bohrte sich tief in die Stirn hinein und er wusste, dass die Pein im Laufe des Tages - oder gar im Laufe der nächsten drei Tage – vom linken zum rechten Auge wandern würde, dann wieder nach links und wieder nach rechts – immer wieder hin und her. Erst nach einer unerträglichen Zeit würde der Schmerz nachlassen. Das Monster hatte sich an seiner Stirn festgefressen und wütete wie wild. Seine Klauen hielten den Hals umschlungen und scharfe Zangen steckten in Manuels Augen. Die krebsartigen Mundwerkzeuge arbeiteten sich in den Schädelknochen und schließlich bis ins Gehirn vor.
Manuel versuchte sich auf den Schmerz selbst zu konzentrieren, um ihn zu fassen. Wenn er ihn isoliert von seinem Körper betrachten könnte, wäre es nur ein einfacher Schmerz. Ganz so, als wenn der Fuß wehtun würde. Aber dem war nicht so. Die Bestie, namens Migräne, fraß nicht nur an seinem Kopf, sondern lähmte den gesamten Körper mit einem grauenvollen Gift. Es ließ Magen und Gedärme rebellieren, die Gedanken zu schwerfälligen Ambossen werden und die Körpertemperaturen hinauf und hinunterjagen.
Alle Sinne waren erlahmt und doch waren sie so empfindlich, wie selten. Von draußen drang das Geräusch der Autos und der Eisenbahn zu ihm. Töne, die in seinem Zimmer kaum zu hören waren, weil die Straßen und die Trassen weit entfernt lagen. Doch heute bedrängten sie Manuel, wie hundert Menschen, die gleichzeitig auf ihn einredeten.
Irgendwo - außerhalb seines Bewusstseins - nahm er eine Stubenfliege wahr. Ihr sonst so leises Summen schwoll zu dem Getöse eines Düsenjägers an. Seine Ohren überschlugen sich und meldeten sich schließlich mit einem nervendem Pfeifen bei dem ach so gequälten Gehirn. Die Fliege setzte sich auf den Arm und die Haut meldete den Reiz als das Brennen eines glühenden Eisens. Instinktiv schlug er nach der Fliege, doch die rasche Bewegung ließ ihn aufstöhnen. Es war, als würde ihn ein riesiger Fels niederschmettern. Sein Körper erschlaffte wieder und alles was er in diesem Moment war, war eine fühlende Masse, die nichts weiter vernahm als Getöse, Schmerz, Schwäche und Lichtblitze. Polarlichter vor seinen geschlossenen Augen tanzten den lustigen Reigen kleiner Geister. Sie ließen seine Pupillen nicht ruhen und lockten sie von links nach rechts und von oben nach unten.
Dann machte Manuel den Fehler, dass er seine Augen öffnete. Zwar waren mit einem Mal die Geister verschwunden, aber das gleißende Sonnenlicht des jungen Tages erfüllte den Raum. Es blendete seine Augen, die die Tausend und Abermillionen Photonen als nackte Folter weitergaben. Sofort schloss er wieder die Lieder. Der scharfe Schmerz wirkte nach und verebbte bis auf das Pochen des Dampfhammers auf Manuels Stirn, die Schwäche und dem Getöse in seinen Ohren. Wann verlässt die Fliege endlich den Raum! Aus den Augenwinkeln schlichen sich die “Polarlicht-Geister” vor die Pupillen und vollführten wieder ihre Tänze - schnell und immer schneller bewegten sie sich...
Manuel vergrub sein Gesicht im Kopfkissen und versuchte an etwas Bestimmtes zu denken. Irgendetwas Beruhigendes musste ihn ablenken. – Berge, Seen, Blumen...
“Irgendwo sind doch Tabletten, die dir sicher helfen”, meldete sich das Kleinhirn tückisch und vertrieb die beruhigenden Bilder. Dabei wusste bei ihm jede einzelne Gehirnzelle, dass Tabletten eine sehr trügerische Hilfe waren. Am Anfang einer chronischen Migräne mochten sie noch helfen, aber bald schon gewöhnte sich der Körper an die Medizin - egal, ob man nun mit den verschiedenen Wirkstoffen abwechselte oder nicht. Manuel hatte angefangen die Dosis immer weiter zu erhöhen, aber er endete in einer Sackgasse und in der Falle der Pharmaindustrie. Die Schmerzen waren von Mal zu Mal stärker geworden und die Dauer der Qualen hatte begonnen länger zu werden. Der Entzug war eine psychische und physische Folter. Schon lange hatte er alle Schmerzmittel in seiner Wohnung entfernt. So konnte er nicht in Versuchung kommen in einem schwachen Moment nach einer Tablette zu greifen.
Jahrelang war Manuel von diesen Objekten der Täuschung abhängig gewesen. Jahrelang war der erste Gedanke an die Medizin. Er war zu einem Tabletten-Junkie geworden. Aber im Laufe der Zeit veränderte sich der Schmerz; er wurde stärker, lähmender, quälender und endloser.
Hilfesuchend war er zu den verschiedensten Ärzten und Therapien gerannt: HNO-Ärzte, Augenärzte, Allgemeine Ärzte, Orthopäden, Neurologen, Massagen, Chiropraktik, Akkupunktur, Psychophonie, Hochtonmittelfrequenztherapie, Entspannungsübungen, Wunderheiler, chinesische Medizin, Ayurweda, und so weiter. Selbst eine Reise nach Tibet hatte er unternommen. Seinen Schmerz war er nicht losgeworden – nur sein Geld.
Weder Arzt noch Heilpraktiker konnten helfen. Im Grunde war ihnen das nicht vorzuwerfen. Migräne war ein sehr schwieriges Gebiet, wenn man analytisch an das Problem herangehen wollte. Eine Diagnose der Ursachen scheint fast unmöglich. Aber während sich der verkrampfte Körper in die Decken drückte, hörte Manuel noch die frechen Antworten der Götter in Weiß: “Nehmen Sie doch Aspirin – das hilft. Andere Menschen nehmen das täglich...”, “Damit können Sie hundert Jahre alt werden...das ist nicht tödlich”, “Das liegt an ihrem Blutdruck. Der ist bestimmt zu hoch...da muss ich gar nicht erst messen.”, “Wenn Bier und Wein die Migräne auslösen, dann verzichten Sie halt. Oder trinken Sie doch etwas mehr, vielleicht wird es dann wieder besser...(breites Grinsen)”, “Trinken Sie doch einfach viel Kaffee. Das hilft auch...sie können auch Zitronensaft hineintun...”, “Da kommen Sie einfach jeden Tag zum Inhalieren, dann sehen wir weiter - nein, das Inhalieren können Sie nicht zu Hause machen...”, “In welcher Krankenkasse sind Sie?”...
... ihre Worte hallten in seinem Hirn wieder und vermischten sich mit dem Brausen der Ohren und den Lichtblitzen vor den Augen. Das Monster an seiner Stirn stillte seinen unbändigen Hunger an den Schmerzen und die Fliege im Zimmer ließ ihn schier wahnsinnig werden. Die grelle Sonne verbrannte Haut und Augen. Manuel schlug die Bettdecke zurück, weil er schwitzte, zog die Bettdecke wieder hoch, weil ihm sofort kalt wurde, der Magen meldete sich mit Hunger aber gleichzeitig würgte es Manuel bei dem Gedanken an Essen. Bilder und Klänge vermischten sich zu einem Getöse des Schmerzes und ihm schwindelte - alles drehte sich. Er streckte den Fuß aus dem Bett, aber die "Bremse" die normalerweise nach allzu intensiven Alkoholgenuss funktionierte, versagte ihren Dienst. Klänge und Bilder aus der Vergangenheit schlichen sich ins Bewusstsein. Der ganze Körper schrie nach Ruhe und Erholung, aber je verzweifelter der Schrei wurde, desto zudringlicher wurden Schmerz, Bilder und Töne.
So verging Stunde um Stunde. Wer weiß, wann es besser werden würde. Diesen Nachmittag? Heute Abend? Morgen oder Übermorgen? „Oh Gott! Hilf mir! Ich werde alles tun, um diese Schmerzen loszuwerden! Oh Gott, bitte hilf! Warum ich?“
Zwei Jahre nach der Scheidung Manuels Eltern hatte die Migräne angefangen. Zuerst nur schwach, dann aber immer öfter und intensiver. Vielleicht hätte er nicht so oft versuchen sollen zwischen seinen Eltern zu vermitteln. Er hätte nicht versuchen sollen Frieden zu stiften und Harmonie herzustellen, so wie es sein Wunsch gewesen wäre. Natürlich war ihm das nicht gelungen – auch nicht im kleinsten Ansatz. Oft wünschte er, dass er die Zeit zurückdrehen könnte, für einen anderen Weg. Vielleicht wären ihm dann die Folter erspart geblieben. Aber diese Chance hatte er leider nicht. Unbeirrt bohrten sich die Schmerzen tiefer und ließen ihn nicht mehr aus.
Einen einzigen Erfolg hatte er gehabt. Ein Heilpraktiker konnte ihm den Ablauf dieses Martyriums erklären. Eine schlechte Erfahrung im Leben hatte die Leber geschwächt.
‚Manuel war etwas über die Leber gelaufen’. Manchmal ist die deutsche Sprache erschreckend erleuchtend.
Ärzte konnten nichts diagnostizieren, denn organisch war die Leber in Ordnung. Nach chinesischer Medizin, konnte aber die Schwäche der Leber festgestellt werden. Den Chinesen war auch bekannt, dass die Leber und die Augen medizinisch zusammenhingen. Sie wussten, dass zum Beispiel Schweineleber gut für die Augen war. Immerhin steht schon im ersten Buch der Menschheit – ein chinesiches Medizinbuch – dass am Schwein alles Gesundheit bringt, ausser das Fleisch.
Manuel trug eine Brille. Die Augen waren belastet – und nun auch von der Leber negativ beeinflusst. Auch in der westlichen Medizin war bekannt, dass man den Nacken verspannt, wenn man die Augen zu sehr anstrengt – noch dazu mit einer schlechten Haltung im Bürojob. Das kennt wahrscheinlich jeder. Nackenverspannung endet in Spannungskopfschmerzen.
Wenn diese mit Tabletten behandelt werden, mögen die Tabletten zwar helfen, aber die Wirkstoffe werden im Körper abgebaut. Wo? In der LEBER! Das schwächt die Leber wiederum und wir haben einen grauenvollen Teufelskreis. Leber – Augen – Nacken – Kopf – Schmerz – Tabletten – Leber – Augen – Nacken – ...
Immer weiter tanzte die Abfolge dieser Worte in Manuels Hirn. Leber, Augen, Nacken, Kopf...
„Denk an was anderes!“ schalt er sich.
„Drei Tage durchhalten. Länger hatte es nie gedauert. Das Martyrium dauert nur drei Tage. Heute ist Tag eins. Durchhalten! Versuch die Zeit zu verschlafen – auch wenn Du die Schmerzen im Traum spürst. Du wirst es schaffen! Auch diesmal. Jeder Schmerz geht irgendwann vorbei...denk an schneebedeckte Berge, Blumenwiesen, weiße Wolken am blauen Himmel, Frieden, Frieden, Frieden...“
„Wenn wir zu hoffen aufhören, kommt, was wir befürchten, bestimmt.“
(Ernst Bloch; 1885-1977; Philosoph)
Plötzlich war es ruhig in meinem Kopf. Wo war der Schmerz geblieben? Wo das Monster? Wo die tanzenden Lichtgeister? Der Dampfhammer ertönte nicht mehr. War es eine Täuschung? Vorsichtig öffnete ich die Augen und erschrak.
Wo war ich? Wo war mein Zimmer?
Ich sah mich um. Berge! Um mich herum nur schneebedeckte Berge!
„Bleib ruhig“, sprach mich jemand an, „du bist sicher. Dir ist nichts geschehen.“
Eine fremde Frau stand vor mir. Sie war eine alte Indianerin - genauso gekleidet, wie ich Indianer aus Büchern und Filmen kannte. Sie hatte ihr langes weißes Haar zu Zöpfen geflochten. Ihre Kleider waren aus hellem Leder mit langen Fransen an Armen und Beinen. Auf der Brust hatte sie das Zeichen eines Falken gestickt. Ihre Gesichtszüge waren gütig, warm und ... sie schien innerlich erregt.
Wie kam ich hierher? Ich war fassungslos. Träumte ich? Es schien so, denn ich hatte keine Schmerzen mehr und ein Zwicken in den Arm bestätigte das auch. Aber es war kein Traum! Zu Real erlebte ich die Situation und zu filigran waren die Dinge um mich herum.
Ich war mir noch nicht sicher und tastete um mich. Argwöhnisch setzte ich mich in den Schnee – sehr vorsichtig, denn den Schmerz hatte ich noch nicht vergessen.
„Wer bist du?“ fragte ich leise. Meine Stimme klang eigenartigerweise erholt. Eigentlich hätte sie rau und brüchig klingen sollen, so wie immer nach einem Migräneanfall.
Die Indianerin begann zu lächeln und antwortete mit einer seltsam sanften Stimme: „Du kannst mich Ninági-wanblaka nennen. Das bedeutet in der Sprache unseres Volkes ‚Ich sehe deine Seele’. Du kannst mich auch einfach Ninági nennen.“
„Welches Volk? Wie kommst du hierher? Was machst du hier? Wie komme ich hierher?“
„Gerade genesen und schon so viele Fragen?“ fragte sie leicht spöttelnd. Irgend etwas sagte mir, dass es kein böser Spott war, sondern eher ein Necken, wie man es unter guten, vertrauten Freunden kannte. Zugleich schien bei ihr eine unbeschreibliche Erleichterung mitzuwirken. Warum?
Ich schüttelte nur ungläubig den Kopf und erhob mich langsam aus dem Schnee – eine Erkältung wollte ich jetzt auch nicht haben. Mein Körper fühlte sich erstaunlich frisch an, so als hätte ich lange und gut geschlafen und hätte gerade ein gutes Frühstück und eine Dusche hinter mir.
„Erschrick nicht“, begann Ninági zu sprechen, „wir müssen reden. Du glaubst nicht, wie lange ich dich gesucht habe.“
„Wie bitte?“ Ich verstand gar nichts.
„Der Körper liegt immer noch auf dem Bett und leidet an Migräne.“
„Du meinst, ich bin ein Gespenst? Bin ich tot?“
„Der Körper lebt. Du bist nur Geist. Ich bin da, um dir zu helfen.“
„Zu helfen? Wie kann ich ein Geist sein? Ich sehe mich doch? Ein Bettlaken habe ich auch nicht über den Kopf! Was soll das?“
„Wir müssen miteinander sprechen. Vertrau mir. Ich will dir wirklich helfen und diesem armen Körper.“
„Wieso sollte ich dir vertrauen?“
„Bitte.“ In den Blicken der alten Frau lag nun eine Dringlichkeit, die mir zeigte, wie ernst es ihr war. Ihre Augen blickten mich warm und bittend an – wie die eines kleinen Mädchens. „Willst du weiterhin an diesen Schmerzen leiden?“
„Ah, jetzt verstehe ich! Bin ich etwa in so einer Art Trance?“ fragte ich. Ich glaubte langsam zu kapieren, was mit mir geschehen war. Ich hatte schon einiges darüber gelesen, dass sich der Mensch über Meditation in Trance setzen konnte. Manche kamen sogar in das Reich der Geister. Die Medizinmänner und Schamanen nutzten diese Möglichkeit um Krankheiten zu heilen. Ich hatte es auch schon versucht, um der Migräne zu entkommen. Einfach ausklinken! Ja das wäre schön! War mir das nun gelungen? Aber wie war ich hierher geraten? Ich hatte es wohl tatsächlich geschafft. Ja, ich musste in Trance sein – in einem Traum. Ich lächelte! Ja, ich hatte mich ausgeklinkt! Wenn der Schmerz vorbei ist, gehe ich wieder zurück. Sofort fühlte ich mich ruhiger, atmete tief durch und genoss das Panorama.
Ich erkannte die Gipfel um mich herum – das Matterhorn, Monte Rosa, Dom, Nadelhorn, Weißmies, Obergabelhorn, das Bitschhorn und viele andere.
„Wir sind auf dem Weißhorn!“ rief
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 25.11.2014
ISBN: 978-3-7368-5892-3
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die mir bei der Heilung meiner Kopfschmerzen geholfen haben