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Prolog

 

Es war die Zeit der Fürsten und Könige. Es war die Zeit der Burgen und Schlösser mit ihren fröhlichen Zinnen und mächtigen Bergfriede. Die Ritter schenkten dem höfischen Benehmen grosse Achtung und Minnelieder tönten über das Land. Es war die Zeit, in der man von Ehre sprach, von Mut und Gott. In dieser Zeit glänzte das Gold feuriger als sonst. In dieser Zeit schimmerten die Rüstungen der Ritter heller als sonst. In dieser Zeit sangen die Mönche mit den reinsten Stimmen zum Lobe Gottes, dass er diese Zeit segne. Die Burgen und Klöster beherrschten das Bild des Landes und bunte Fahnen wehten von ihren Türmen zum Ruhme der Fürsten, die in Gottes Namen unter dem Schutz der Mutter Kirche regierten.

Aber es war auch die Zeit des Elends und des Todes. Seuchen und Raubüberfälle drückten das Volk zu Boden. Es war die Zeit des Schmutzes und des Feuers, des Aberglaubens und des Antichristen. In dieser Zeit litt so manches Volk unter einem Tyrann. In dieser Zeit wurde so manche Hexe von den Flammen verzehrt. In dieser Zeit lehnten sich die Bauern gegen ihre Herren auf und verloren.

Es war auch die Zeit der Sagen, die von geisterhaften Bozen und von armen Seelen erzählten. Sie erhellten die Phantasie an den winterlichen Feuern und wurden viele Generationen lang überliefert. So auch diese Sage, die von Gewalt und Reue erzählt. Eine Sage, die inmitten der Königreiche Europas entstand, in einem Land, dessen Name schon lange nicht mehr erwähnt wird. Dieses kleine Reich lag geschützt im Hochgebirge und strebte nach Anerkennung wie alle anderen, deren Namen noch heute die Phantasie beflügeln genauso wie damals zu jenen Tagen wie das Königreich der Franken, Herzogtum Schwaben, Lothringen, die Lombardei und das Königreich Burgund, um nur einige zu nennen. Dies waren die Länder, gegen die sich das kleine Reich behaupten musste.

Die Sage entstand in jenen Tagen, als die Fürsten von Yatz ihre Lehnsknechte unterdrückten und dem Volk hohe Steuern auflasteten. Yatz! Die vielleicht stolzeste Stadt im hohen Gebirge. Sie wäre sogar mit dem alten ehrwürdigen Rom zu vergleichen gewesen, mit all ihrem Glanz, ihren Zinnen und Türmen, mit ihrer dicken Mauer und wehrhaften Bürgern. Die Burg und das Kloster von Yatz beherrschten das Bild der Stadt am Ufer der Sohre. Dort regierten Fürst Galbert von Yatz und der junge Abt Rainald von Bologna. Die Soldaten des Fürsten und des Abtes schützten die umliegenden Dörfer der Bauern vor den Überfällen zahlreicher Wegelagerer und Raubritter. Dieser Dienst aber kostete hohe Steuern. Der Glanz der Stadt nahm zu und so auch die Abgaben der Lehnsknechte. Bald waren die Steuern so hoch, dass den Dorfbewohnern nichts mehr zum Leben blieb. Der Hunger wanderte durch die Berge um Yatz und mit ihm Gevatter Tod. Dicke Menschen sah man nirgends. Das Elend breitete sich aus wie die Pest und weder die Fürsten noch die heilige Mutter Kirche hörten den Schrei nach Brot.

Zu jener Zeit lag das Dorf Goyatz unerreichbar für die Soldaten der Fürsten hinter der Joschnerschlucht – am Fusse des gewaltigen Joschner Gletschers. Hier erstreckte sich eine Hochebene umrahmt von den Gipfeln des Feuerhorns, der Balmspitze und dem Schlangensaas. Hier wuchs dichter Wald, in dem es an Wild nie mangelte. Die Hochebene war ein Paradies – von der Aussenwelt abgeschnitten – nur erreichbar durch die enge, feindselige Joschnerschlucht.

Die Goyatzer, wie die Menschen in diesem Tal genannt wurden, waren rauhe, bärtige Männer, die an die alten Geister und Götter der Berge glaubten. Sie sprachen ihre eigene Sprache, die nichts mit den Sprachen der Aussenwelt gemein hatte. Sie lebten von der Jagd, von der Viehwirtschaft und von der Ernte ihrer kleinen Felder, die sich eng an die Hänge der Balmspitze und des Schlangensaas schmiegten.

Eifersüchtig auf den natürlichen Reichtum der Hochebene schielten die Fürsten von Yatz nach dem Paradies mitten im Gebirge. Oft schon hatten sie ihre Soldaten gegen Goyatz ausgesandt, doch jedes mal scheiterten selbst die genialsten Heerführer an der Enge der Joschnerschlucht und der wilden Wehrhaftigkeit der Goyatzer.

Hunger und Elend war noch nicht zu den Goyatzern vorgedrungen und nur diesem urtümlichen Bergvolk war es zu verdanken, dass viele Lehnsknechte die kalten Wintermonate überlebten. Die bärtigen Männer mit ihren langen Haaren verliessen nur selten ihre schützenden Berge, aber sie wussten um das Leid der christlichen Bauern. Die wilden Goyatzer waren wegen ihrer Gottlosigkeit gefürchtet, aber dankbar nahm man ihr Fleisch und Korn. Ohne Dank zu erwarten und ohne eine Belohnung anzunehmen luden sie es am Fusse der Joschnerschlucht für die Hungernden ab – nur um dem Gleichgewicht des Universums Genüge zu tun, wie ihr Gott Josch es sie lehrte.

 

Eines Tages trat ein Goyatzer aus dem Dunkel der Joschnerschlucht und rief die Bauern zum Kampf gegen Yatz auf. Er zeigte ihnen ein Schwert, dessen glänzender Stahl die Unterdrückten blendete. Der Name des Goyatzers war Xandressek und das Schwert nannte er "Xentaur". Xandressek erzählte den Bauern von einem sonderbaren Fremden, der das Goyatzer Tal durchstreift hatte und von dem er das Schwert erhalten habe. Die Legende sagte, dass der Besitzer dieses Schwertes unbesiegbar sei und er – Xandressek von Goyatz – wolle mit diesem Schwert den Aufstand der Bauern anführen. Ein Schrei des Jubels ging durch das weite Sohretal. Die Bauern stürmten mit Xandressek an der Spitze die Stadt ihres Unterdrückers und überrannten die wehrhaften Bürger von Yatz. Doch schliesslich wurde ihr Angriff blutig niedergeschlagen. Die Ritter des Fürsten nahmen Xandressek trotz der Macht seines Schwertes gefangen und steckten ihn in den Giller. Der Xentaur, das prachtvolle Schwert, wurde dem Fürsten Galbert von Yatz gebracht.

Die überlebenden Bauern entliess der Fürst wieder nach Hause gegen einer Abgabe eines hohen Bussgeldes. Seit diesem Aufstand wurde es für die Menschen auf dem Lande noch schwerer als zuvor. Die Steuern waren erhöht worden und es gab nichts, was den Hunger und das Elend erträglicher machen konnte.

Der Fürst und der Abt versuchten den Goyatzer zu zwingen das Dorf Goyatz auszuliefern und den christlichen Glauben anzunehmen. Aber Xandressek blieb stumm und widerstand jeder Versuchung und jedem Versprechen. Nicht einmal die Folter konnte ihm die Lippen öffnen. Im Gegenteil – noch heute erzählt die Legende, dass der Goyatzer den Folterknechten ausgelacht habe. Ein Kind des Gletschers könne nur über die „Liebkosungen“ des Peinigers lachen.

Schliesslich brachte man ihn zur Hinrichtung auf den dicht gedrängten Marktplatz. Viele Bürger und Bauern waren gekommen. Auch der Abt und der Fürst waren anwesend. In schweren Ketten zerrte man den Goyatzer zum Henker. Die Legende berichtet, dass es sich so sehr gegen die Ketten gewehrt habe, dass ihn vier Soldaten festhalten mussten. Auf einmal aber soll er ruhig geworden sein. Er blickte auf eine leere Stelle, als ob jemand an diesem Ort stehen würde. Ein Lächeln soll sich über sein Gesicht gebreitet haben, so dass man dachte, er wäre verrückt geworden. Von diesem Moment an wehrte er sich nicht mehr gegen die Ketten. Der Abt ging auf den Goyatzer zu und fragte ihn ein letztes Mal: "Bist du bereit deinem Teufel abzuschwören und Jesus Christus als deinen Herrn und Heiland anzunehmen?"

Xandressek von Goyatz aber antwortete laut, so dass alle Menschen auf dem Marktplatz es hören konnten: "Ich bin Xandressek von Goyatz. Mein Gott Josch wird mich in das Reich der Toten führen. Josch ist stärker als euer Gott und euer Satan. Soeben hat Josch mir einen Geist aus dem Reich der Ungeborenen gesandt. Er sagte mir, dass ich nicht der Befreier bin. Ich bin nicht der wahre Besitzer des Xentaurs, nur deshalb konnte ich besiegt werden. Du, Fürst, bist auch nicht der wahre Besitzer! Nach mir wird einer kommen, der dich vernichten wird. Wenn dieser Mann kommt, werden die Toten Kerzen anzünden, so dass die Berge und die Gletscher leuchten werden. Sie werden für ihn beten und ihm helfen Yatz zu vernichten. Er wird Yatz erobern mit dem Xentaur, das Schwert, das mir das grosse Mysterium – mein Gott – gegeben hat."

Fürst Galbert hob grinsend den Xentaur und lies den Stahl in der Sonne blitzen. Dann gab er wortlos das Zeichen Xandressek den Kopf abzuschlagen. Der Körper des Goyatzers wurde in Stücken auf langen Spiessen vor den Stadttoren aufgestellt – zum Mahnmal aller Bauern. Was sollte sich der Fürst weiter um diesen Rebellen kümmern?

Die Sage erzählt aber auch, dass dem Fürst in der Burg ein Geist erschienen war. Der Geist war in eine dunkle Kutte gehüllt – niemand konnte sein Gesicht erkennen. Der Fürst hielt erschrocken inne und hielt drohend den Xentaur vor sich. Der Geist aber packte schweigend das Schwert und riss es mit einer übermächtigen Gewalt an sich. Der Stahl des Schwertes blitze durch die Luft und die Hand des Fürsten wurde abgetrennt.

So plötzlich der Geist erschienen war, so plötzlich war er mit dem Xentaur verschwunden. Zurück liess er einen stöhnenden Fürsten, der seinen blutenden Stumpf hielt und auf seine Hand am Boden starrte.

Genauso erzählten sich die Menschen die Legende über viele Jahre, aber der Verheissene kam nicht. Jahr um Jahr zog ins Land, aber keiner führte die Bauern ein zweites Mal gegen Yatz und der Xentaur blieb verschwunden.



Hinter der Schlucht

 

Thomas von Melk, ein Benediktinermönch, lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Boden der kleinen Kapelle des Dorfes Säsch.

"Eine hohe Aufgabe ist es Priester zu sein", betete er laut, "und eine schwere dazu. Immer wieder muss ich tröstende Worte für meine Schafe finde, die im Elend und Hunger leben. Wie soll ich Menschen mit Worten trösten, die Brot und Schutz bedürfen. Alles was ich besitze, sind ein paar tröstende Worte und christliche Nächstenliebe. Dies gebe ich von Herzen."

"Deine Worte machen die Bauern nicht satt", sagte Marcellus, ein älterer Priester, "aber sie finden Trost in diesen Worten und in deinem tiefen Glauben."

Marcellus beugte sich zu Thomas hinunter und half ihm beim Aufstehen.

"Ich weiss woran du denkst", sagte der Priester, "du denkst an die Goyatzer."

Thomas stand verlegen vor Marcellus und verbarg die Hände in seiner schwarzen Kutte. Thomas von Melk war ein grosser, schlanker Mann, der den jugendlichen Leichtsinn noch nicht abgelegt hatte. Und obwohl er dem Novitzenalter gerade entschlüpft war, war dieser Mönch gelehrter als kaum ein anderer. Sein Lehrer war Johann von Trier gewesen, ein Benediktinermönch, der sich sowohl in der kirchlichen Lehre als auch in der Geschichte der Antike bestens auskannte.

Marcellus, ein kleiner, drahtiger Mann mit schwarzen Locken, kannte den Mönch nur zu gut und wusste seine Arbeit zu schätzen. Vor einem Jahr war Thomas zu ihm in das kleine Dorf Säsch gekommen und hatte darum gebeten die Goyatzer bekehren zu dürfen. Von Rom hatte er den Segen, aber Marcellus hatte ihn vor den wilden Goyatzern gewarnt. Der Priester hatte ihm geraten in Säsch zu bleiben. Die Bauern brauchten den Beistand der Mutter Kirche. Wenn der hohe Klerus den Menschen die Hilfe verweigerte, so mussten ihnen wenigstens die einfachen Priester und Mönche beistehen.

"Marcellus, die Goyatzer sind gute Menschen", meinte Thomas, "man könnte sogar sagen, sie sind gute Christen. Du siehst doch selbst, dass sie den Bauern von ihrem Korn abgeben."

"Du hast von deinem berühmten Lehrer viel gelernt", antwortete Marcellus, "aber von den Goyatzern wusste selbst er nichts. Lange Zeit haben nicht einmal die Bauern hier von der Existenz dieser Barbaren gewusst. Es wurde früher immer erzählt, dass hinter dieser Schlucht da oben die Hölle beginnt."

Marcellus ging mit bedächtigem Schritte zum Taufbecken und seufzte: "Hier stand noch nie ein Goyatzer. Nicht einmal hier in dieser kleinen unbedeutenden Kapelle. Hast du sie beobachtet, wenn sie den Bauern zu Essen bringen? Sie schielen zwar verstohlen auf unser Gotteshaus, aber sie nähern sich ihm nie. Sie tun zwar Gutes – sie bringen den Bauern zu essen, aber sie flössen ihnen stets Angst ein. Sie sind wild und ungläubig. Sie scheren sich nicht die Haare wie zivilisierte Menschen und ich könnte schwören, sie benehmen sich beim Essen wie Barbaren."

"Weil sie ungläubig sind will ich ja zu ihnen, um sie zu bekehren", antwortete Thomas, "ich werde sie auf den rechten Weg Gottes führen. In unserer christlichen Welt weiss man nichts von diesem Volk. Selbst der Papst in Rom war überrascht, als ich ihm von den Goyatzern erzählte. Seit Johann von Trier mir eine Legende über ein Bergvolk vorlas – es war eine alte römische Schrift – war ich neugierig geworden. Jede Legende hat ihren Ursprung in der Wahrheit. In diesen Schriften wurden die Goyatzer beschrieben – genauso wie du sie beschreibst, Marcellus. Aber seit ich von ihnen gehört habe ist es mein Wunsch, ihnen den rechten Weg zu zeigen."

"Thomas, welches ist das schlimmste und wildeste Volk, von dem dir dein Lehrer erzählt hat? Waren es die Goyatzer oder andere Völker?"

Thomas lächelte.

"Von den Goyatzern stand nicht sehr viel in den Schriften. In der Antike wurden die Kelten und Goten als wilde Barbaren beschrieben. Heute würde ich sagen, dass die furchtbarsten Völker im Norden wohnen – also die Wikinger."

"Deine Kelten und Goten sind harmlose Waisenkinder im Gegensatz zu den Goyatzern", seufzte der Priester und setzte sich auf einen kleinen Stuhl, "sie glauben an Josch. Kennst du ihren Glauben? Nein, natürlich nicht. Niemand kennt ihre Religion und niemand versteht ihre eigenartige Sprache. Ich habe sie schon gehört, wenn sie miteinander sprechen. Diese zischenden Laute haben nichts mehr menschliches an sich. Mir läuft es jedes mal kalt den Buckel runter. Die Bauern erzählen sich schon seit Jahrhunderten Sagen über arme Seelen, Bozen und über Gletschermenschen – die Goyatzer. In den Sagen werden diese Menschen als blutrünstige Barbaren dargestellt."

Thomas lachte.

"Masslose Übertreibungen. Die Bauern reden viel Unsinn."

Marcellus nickte stumm, sagte aber dann: "Mag sein, aber du hast selbst gesagt: Jede Legende, jede Sage und jedes Gerücht wurzelt in der Wahrheit. Sieh doch, wie sie sich kleiden. Sie tragen Felle. Wie Tiere sehen sie aus und ich habe noch keinen von ihnen unbewaffnet gesehen. Gletschermenschen ist wahrhaftig der richtige Ausdruck für diese kalten Barbaren. Mögen sie ewig in der Hölle brennen!"

"Aber ihre Taten – ihre Anteilnahme an dem Elend der Bauern – sagen mir, dass sie ein gutes Herz haben."

Marcellus lachte, aber sein Lachen war gekünstelt. Er erhob sich wieder und klopfte dem Mönch auf die Schulter.

"Dein Glaube an das Gute im Menschen ist unerschütterlich, Thomas von Melk. Mich sollte es aber nicht wundern, wenn sie ein Herz aus Eis hätten."

"Du hast wirklich keine Ahnung, oder?"

Thomas von Melk blickte den Priester mit einer Andeutung von Mitleid an.

"Ich bin mit meiner Arbeit weiter als du denkst, Marcellus. Ich habe schon mit einem von ihnen gesprochen. Ich habe aus den wenigen Worten dieses Mannes einiges erfahren können. Beim nächsten Mal werde ich ihn fragen, ob ich mit nach Goyatz kommen darf."

Marcellus wich entsetzt zurück.

"Du hast es gewagt?" stammelte er ungläubig.

"Es ist der grosse Goyatzer..."

"Der Mann, der so gross ist wie die riesige Glocke des Yatzer Klosters?"

Es war mehr ein Ausruf, als eine Frage. Der Priester traute einfach seinen Ohren nicht.

Thomas aber blieb ruhig und sprach weiter: "...sein Name ist Joschan. Er ist Schmied und hat hohes Ansehen bei dem Bergvolk. Es heisst sogar, dass er mit einer Yatzerin verheiratet sei."

"Es würde mich wundern wenn die Goyatzer so etwas wie eine Ehe kennen würden", fauchte Marcellus aufgewühlt.

"Sei vorsichtig!" warnte er und hob drohend seinen Finger, "oh! Thomas werde nicht leichtsinnig, denn wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um."

"Marcellus, wie kannst du den Geschichten der Bauern mehr glauben, als den Taten, die du mit eigenen Augen siehst? Was sie für die Bauern tun ist wahrhaft christlich."

"Ich habe ihre Augen gesehen", antwortete der Priester, "und diese Augen waren wild."

Von draussen drang ein Ruf in die Stille der Kapelle: "Versteckt die Frauen und Kinder! Die Goyatzer kommen!"

Lautes Stimmengewirr folgte, dann brach plötzlich Stille ein.

Thomas seufzte: "Wann werden die Bauern den Goyatzern endlich trauen?"

Er warf einen Blick auf den zitternden Priester. "Und wann wirst es du tun?"

"Wahrscheinlich nie.”

"Der Goyatzer Xandressek hat die Bauern nur noch tiefer ins Unglück getrieben", meinte Thomas und wandte sich dem Ausgang der Kapelle zu, "dieser törichte Bauernaufstand! Die Bauern vergessen so etwas nicht. Vielleicht wird sich das ändern, wenn die Goyatzer bekehrt sind."

Marcellus folgte dem Mönch hastig ins Freie. Das Dorf lag da wie längst verlassen. Kein Einwohner von Säsch liess sich blicken. Nur Thomas und Marcellus erwarteten die Goyatzer – der eine in spannender Erwartung, der andere mit gemischten Gefühlen.

Thomas kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Drei Männer brachten drei schwer bepackte Maultiere voll Nahrung.

Das Bergvolk musste sicher viel entbehren, um all das Fleisch und Korn zu verschenken, dachte Thomas. Zwei der Goyatzer führten die Packtiere. Neben ihnen ritt der dritte Bergmann auf einem riesigen Pferd, das man mit den Schlachtrössern der Ritter vergleichen konnte. Der Mann war gross und breitschultrig. Thomas wusste sofort, wer er war. Es war Joschan von Goyatz, der Mann mit dem er geredet hatte.

"Willkommen", rief ihm Thomas entgegen, als sie endlich im Dorf ankamen. Zur Antwort bekam er aber nur ein kurzes Brummen zu hören. Die Goyatzer entluden die Maultiere schweigend, während sich Joschan dem Mönch und dem Priester näherte.

"Wir bringen etwas", knurrte er mit einer tiefen Stimme.

"Wir danken dir", antwortete Marcellus, der sich zusammenriss ein Zittern in der Stimme zu unterdrücken, "der Herr wird euch segnen."

Der Goyatzer nahm diese Worte nur mit einem Achselzucken entgegen und wandte sein Pferd von den Priestern ab.

"Joschan von Goyatz", rief ihn Thomas an, "erlaube mir dir eine Frage zu stellen."

Abwartend blieb der Goyatzer auf seinem Pferd sitzen und blickte den Mönch stirnrunzelnd an.

"Darf ich mit euch kommen?" fragte Thomas, "ich meine nach Goyatz."

Das Gesicht Joschans blieb unverändert. Er schien sich die Antwort gründlich zu überlegen.

"Leute wie du gehören nicht nach Goyatz", sagte er nur mit seinem harten goyatzer Akzent.

Joschan gab seinem Pferd die Sporen und ritt zu seinen Begleitern.

Thomas eilte zu ihnen und keuchte: "Warum?"

Langsam wandte sich Joschan um und knurrte: "Was soll ein Mönch wie du in Goyatz?"

"Ich will euch das Wort unseres Herrn bringen", antwortete Thomas unerschrocken, "ich möchte eure Seelen vor der ewigen Verdammnis retten."

Joschan hob verwundert und vergnügt zugleich seine buschigen Augenbrauen. Auch die zwei anderen Goyatzer hielten in ihrer Arbeit inne.

"Josch ist bei uns", sagte Joschan nach einer langen Pause, "wir kennen seine Worte. Du bist unnötig."

"Ich rede aber von unserem Heiland, von Christus und seinen Lehren", entgegnete Thomas, "nur er ist der Erlöser eurer Seelen."

"Schon gehört, dass Josch einen Sohn hat", meinte Joschan gelassen, "meine Frau Elisa ist Christin. Sie hat mir schon von Jesus erzählt. Glauben aber nicht, dass er unser Erlöser sein kann. Wir büssen für unsere Sünden im Gletscher. Nur das reinigt unsere Seelen für das grosse Gleichgewicht."

"Das ist doch Unsinn", warf Marcellus ein, verstummte aber sofort. Joschan sah ihn verächtlich an.

"Unsere Seelen gehen in den Weiten dieser Welt auf", knurrte er, "das ist unsere Erlösung – die Vereinigung mit allem. Ich weiss nicht, ob euer Himmel, wo ihr zur Rechten Gottes auf Wolken sitzen wollt, kein grösserer Unsinn ist!"

Die Goyatzer hatten ihre Maultiere abgeladen und wandten sich wieder dem Berg zu.

"Vielen dank nochmals für das Essen", sagte Thomas zu Joschan in versöhnlichen Ton, "es ist mit Sicherheit ein grosses Opfer für dein Volk."

Joschan wandte sich Thomas zu und fragte: "Wie ist dein Name?"

"Thomas von Melk."

"Thomas von Melk, scheint so, dass Du vor uns keine Angst hast. Aber wenn du uns das Wort des Herrn bringen willst, dann musst du unsere Religion kennenlernen. Josch ist der Gott des Gleichgewichts. In unserem Tal gibt es viel Nahrung. Den Überschuss geben wir euch, um das Gleichgewicht zu wahren. Nur darum geht es uns.“

Nach einer Weile fügte er verächtlich hinzu: „...nicht etwa aus Liebe zu den Bauern – die sind uns gleichgültig. Vielleicht wirst du eines Tages nach Goyatz kommen, aber nur, wenn wir es für richtig halten."

Joschan gab seinem Pferd die Sporen und ritt seinen Begleitern hinterher. Bald waren alle drei Goyatzer in der Joschnerschlucht verschwunden.

"Gleichgewicht!" knurrte Marcellus, "so ein Unsinn!"

"Ich weiss nicht", meinte Thomas, "er stammt aus einer anderen Kultur und denkt anders als wir. Sie scheinen den Bauern jedenfalls keine Nahrung zu geben, um ihnen einen Gefallen zu tun. Es ist für sie selbstverständlich ... einen Überschuss an Bedürftige abzugeben..."

"Halte keine ketzerischen Reden", unterbrach ihn Marcellus, "es sind Heiden, Ketzer, Barbaren. Nichts was sie sagen können wir verstehen, weil der Antichrist in ihnen wohnt!"

Die ersten Bauern wagten sich wieder aus ihren Häusern und näherten sich der Ware, die die Goyatzer abgeladen hatten.

"Das reicht ja für Wochen", flüsterte einer von ihnen, als er das Fleisch, Gemüse und Getreide sah.

"Ja, Nicolas", bestätigte Thomas, "ein wahrer Schatz. Wir müssen ihn gerecht unter den anderen verteilen."

"Aber heimlich", mahnte Marcellus, "es ist viel Wild dabei. Die Spitzel des Fürsten dürfen nichts davon zu sehen bekommen, sonst werden wir noch als Wilderer hingerichtet."

Fieberhaft sammelten die Männer von Säsch das Fleisch und Korn auf, um es in den geheimen Winkeln ihrer Hütten zu verstecken. Junge Männer wurden ausgewählt, die die Nahrung auf geheimen Wegen zu den anderen Dörfern bringen sollten. In der Regel wollten die Bauern das Essen für sich beanspruchen, aber Marcellus und Thomas achteten darauf, dass die Gabe der Goyatzer gerecht verteilt wurde.

 

Das Leuchten der Gletscher

 

An einem Sonntag, wenige Wochen nach dem Besuch der Goyatzer, waren die Bauern von Säsch in ihrer kleinen Kapelle zum Gottesdienst versammelt. Es war dunkel im Raum. Einzig die Kerzen strahlten im Dämmer des heiligen Gebäudes. Draussen schien die morgendliche Herbstsonne, aber ihre schwachen Strahlen brachten nur wenig Licht durch die Fenster, die zum Schutz vor Wind mit Schweinsblasen bespannt waren. Glas war für die arme Gemeinde zu teuer. Nur die Kirchen in den Städten konnten sich diesen Luxus leisten.

Thomas las die lateinischen Worte der heiligen Schrift und sang die Psalmen. Marcellus und die Bauern lauschten gespannt den Worten des Mönches. Ausser Marcellus verstand niemand Latein, aber die Bauern wussten, dass es sich bei diesen Worten nur um heilige Worte handeln konnte, und dass diese wahr und richtig waren. In der Kapelle hallten die Worte von Thomas an den Wänden wider. Niemand wagte zu sprechen und in den Pausen, die Thomas zwischen den Versen einlegte, herrschte eine Stille, die die heiligen Worte zu bestätigen schien.

Plötzlich wurde die Tür weit aufgetan und eine riesige Gestalt stand auf der Schwelle. Entsetzt wandten sich alle dem Störenfried zu. Marcellus war aufgestanden und wollte wütend dem Eindringling entgegentreten, aber dann erkannte er Joschan von Goyatz. Der Priester wich jäh zurück und bekreuzigte sich. Thomas sah die Panik in den Augen seiner Schafe. Bisher hatten sie sich rechtzeitig verstecken können, aber diesmal waren sie von dem Goyatzer überrascht worden. Die bedächtige Stille in der kleinen Kapelle hatte sich in eine unerträgliche Spannung verwandelt.

"Willkommen, Joschan", sagte Thomas, der seinen Schrecken am schnellsten überwunden hatte. Der Goyatzer sagte nichts. Langsam trat er zwischen die Bauern und betrachtete den Altar und das Kreuz.

"Wir halten die heilige Messe ab, Joschan", sprach Thomas weiter, "du bist herzlich eingeladen."

Die Bauern hielten den Atem an. Joschan betrachtete noch immer die Bilder der Kapelle und seine Blicke blieben auf einer kleinen geschnitzten Holzstatue haften, die die Mutter Gottes mit dem Jesuskind darstellte.

"Ist das das Kind von Josch?" fragte der Goyatzer und deutete auf die Statue. Ein Raunen ging durch den Raum und die Bauern bekreuzigten sich bei dieser Gotteslästerung. Joschan wandte sich verwirrt um und die Menschen verstummten wieder ängstlich.

"Es ist der Sohn Gottes", entgegnete Thomas ungerührt.

"Ich bin gekommen, um dich zu holen", sagte Joschan zu Thomas, "du darfst mit mir nach Goyatz kommen."

Wieder ging ein Raunen durch den kleinen, dunklen Raum. Marcellus fasste sich ein Herz und stapfte auf den Goyatzer zu.

"Wie kannst du es wagen bewaffnet das Haus Gottes zu betreten!" fauchte er Joschan an, der ihn nur stumm betrachtete. Marcellus war selbst überrascht über seine Courage.

"Entschuldigung", antwortete der Bergmann verwirrt.

Er schaute auf sein riesiges Schwert, das er mit sich führte.

"Ich werde mit dir kommen", sagte Thomas und überreichte Marcellus seinen Talar. Es war ein altes abgegriffenes Stück Tuch.

"Du wirst doch die heilige Messe nicht abbrechen, wegen einem Goyatzer?" fuhr Marcellus empört auf. "Den Gottesdienst kannst du beenden, Marcellus", entgegnete Thomas, "meine Aufgabe ist es nach Goyatz zu gehen."

Joschan wandte sich um und verliess die Kirche. Er konnte die ängstlichen Blicke der Bauern nicht ertragen. Komische Leute waren sie. Keine Stärke, keinen Willen, kein eigenes Leben, schmutzig, ängstlich – unfähig für ein Leben am ewigen Eis. Er war froh ein Goyatzer zu sein – ein Kind des Gletschers – stark, wild und furchtlos.

Thomas eilte Joschan hinterher. Draussen sah er, dass der Goyatzer zwei Pferde mitgebracht hatte.

"Lass uns aufbrechen", sagte Joschan und bestieg ein Pferd. Thomas hielt er die Zügel hin und meinte: "ich hoffe, dass du reiten kannst, Mönch."

Thomas nickte und stieg auf. Der Weg, den er nun begehen würde, war ihm unbekannt. Nie hatte er die Joschnerschlucht betreten und nie hatte er einen Menschen versucht zu bekehren. Die Goyatzer waren ausser den Juden und den Sarazenen das letzte Volk in der christlichen Welt, die noch nicht der heiligen Kirche angehörten. Eine grosse Aufgabe lag vor ihm.

Langsam ritten beide den Berg hinauf. An einem Felsvorsprung über dem Dorf blickte Thomas nochmals hinunter. Das Dorf Säsch schmiegte sich an den steilen Südhang des Monte Kadan, ganz in der Nähe der Joschnerschlucht. Der Blick über das Sohretal war wunderschön. Der Wald im Sohretal lag wie ein grüner Teppich vor dem Dorf und auf der anderen Seite des Tales erhob sich die Stadt Yatz aus den Morgennebeln. Am Horizont ragten die schneebedeckten Gipfel der hohen Berge empor und bildeten den majestätischen Rahmen dieser sanften Ebene. Thomas atmete tief ein. Das Klima war trocken und die Luft roch nach Latschenkiefern und Lärchen. Auf dem Weg immer weiter bergauf betrachtete Thomas die Natur. Zwischen den Granitfelsen wuchsen die Blumen in den kräftigsten Farben, die man sich vorstellen konnte. Enzian, Kohlröschen, Edelweiss, Wiesenschaumkraut, Teufelskralle und viele andere. Thomas war glücklich. Endlich hatte er die Chance zu dem, was er sich schon seit langem vorgenommen hatte. Er wusste, dass eine schwere Zeit auf ihn zukommen würde, aber in diesem Augenblick mochte er nicht daran denken. Der Anblick der Blumen und der schon gelben Lärchen vertrieben seine Gedanken an die Zukunft bis Joschan vor einer Spalte im Fels stehenblieb. Thomas wurde jäh aus seinen Glücksgefühlen gerissen. Mit Unbehagen betrachtete er die klaffende Wunde im Fels – die Joschnerschlucht. Den Reitern dröhnte das Grollen eines reissenden Bergbachs entgegen. Wie den Bauern wirkte auf Thomas dieses wilde Loch wie der Eingang zur Hölle. Hastig bekreuzigte er sich und betete ein Pater noster. Ein breites Grinsen zeigte sich hinter Joschans Bart.

"Tritt ein in das Reich Joschs", sagte er lachend zu Thomas und trieb sein Pferd in die Schlucht. Der Mönch bekreuzigte sich erneut und folgte dem Goyatzer. Jetzt war ihm nicht mehr so wohl bei der Sache wie wenige Augenblicke zuvor. Nur ein schmaler Pfad führte durch die Schlucht. Er war kaum begehbar und immer wieder versperrten grosse, moosüberwucherte Felsen den Weg. Tote, abgestorbene Bäume – keiner wusste wie sie einst in der Schlucht wachsen konnten – schienen mit ihren kahlen Ästen nach den Menschen greifen zu wollen. Das Donnern des wilden Sturzbachs – dem Joschbach – machte die Reiter fast taub. Ausserhalb dieses schwarzen Loches hatte die Sonne hell geschienen und das Klima war angenehm trocken gewesen, aber in der Schlucht war es feucht, kalt und dämmrig. Nur wenige Sonnenstrahlen verirrten sich in dieses Tal und erhellten kahle Felsen, dichtes Moos und schwarzes, totes Holz. Thomas blickte nach oben und sah einen schmalen, blauen Streifen – den Himmel. Die Wände waren hoch und nichts erinnerte an die Schönheit des Sohretales.

Auf einmal – nach einer scheinbar endlosen Ewigkeit – tat sich die Schlucht auf. Die steilen Felswände gingen in sanfte Grashänge über und das Tosen des Joschbaches lag hinter den Reitern. Überrascht blickte sich Thomas um. Hinter ihm lag das schwarze Loch der Joschnerschlucht und vor ihm bot sich das Goyatzer Tal dar. Sie befanden sich auf einer Lichtung, die von einem hellen Lärchenwald umsäumt war. Links und rechts fielen Gras bewachsene Hänge sanft ab. Bienen summten, Farne wuchsen an sumpfigen Stellen in der Nähe des nun zahmen Baches und dieselben Blumen wie bei Säsch standen zwischen den Gräsern und Felsen. Nur ab und zu entdeckte Thomas verbrannte Erde und verkohlte Baumstämme. Joschan erklärte, dass dies Überbleibsel des letzten Angriffes der Yatzer seien. Und stolz fügte der Goyatzer hinzu, dass die Soldaten des Fürsten nie weiter als bis zu diesem Punkt gekommen seien.

Hinter einem Felsen sprang plötzlich ein Mann hervor und begrüsste Joschan in der Sprache der Goyatzer.

"Das ist Vertac. Wachposten", stellte Joschan den Goyatzer vor und ritt ohne ein weiteres Wort hinzuzufügen bergauf. Thomas blieb nichts anderes übrig als kurz zu grüssen und Joschan zu folgen.

Der Weg führte tiefer in den Wald. Nur ab und zu sah Thomas zwischen den Baumwipfeln steile Felswände und die schroffen Felsen der Goyatzer Berge. Auf kleinen Lichtungen wuchsen Küchenschellen, Disteln und andere farbenprächtige Bergblumen. Die Wurzeln der Bäume schimmerten silbrig zwischen dem Moos und Thomas überkam ein Gefühl von Ruhe und unsagbarer Zufriedenheit. Die Reiter kamen am Joschner See vorbei, einem ruhigen, glitzernden Gewässer und schliesslich stiegen sie dem Gletscher entgegen, an dessen Fusse das Dorf Goyatz lag. Schon bald schimmerte das bläuliche Licht des riesigen Eismassives durch die Bäume – der Joschner Gletscher. Vieles hier trug den Namen den goyatzer Gottes. Ein Zeichen, wie sehr die Menschen hier mit ihrer Religion verbunden waren. Thomas kannte die Sagen und Mythen der Bauern um dieses Eismeer, das nun vor ihnen lag. Als Marcellus ihm die Legenden erzählte, war ihm bewusst geworden, dass er sich in Goyatz auf eine völlig neue und andersartige Welt einstellen musste. Viele Jahre lang hatte er bei seinem Lehrer Theologie, Philosophie und sogar die Weltanschauung der Antike studiert. Die Welt, in die er nun eintrat, lebte von Sagen und Mythen und einer Religion, die er nicht kannte. Immerhin schienen sich die Bauern in Säsch und die Goyatzer ähnliche Sagen zu erzählen. Sie handelten von armen Seelen, Bozen und anderen Geistern. Thomas lernte, dass sowohl Christen im Sohretal als auch die Goyatzer an die Busse auf dem Joschner Gletscher glaubten. Die Seele – die arme Seele – musste sich mehrmals im Eis einfrieren lassen zur Läuterung ihrer Sünden zu Lebzeiten. Viele Bauern behaupteten, dass sie das Jammern und Klagen der frierenden Toten gehört hatten. Bei Neumond zogen die armen Seelen durch das Gebirge. Diese Totenprozessionen, wie man diese unheimlichen Wanderungen zu nennen pflegte, führten über die Gipfel der höchsten Berge, unter den Gletschern hindurch, ja sogar durch Dörfer. Sie waren so lang, dass es Stunden dauerte, ehe die letzte arme Seele vorübergegangen war. Niemand durfte sich ihnen in den Weg stellen. Wer in eine solche Totenprozession geriet, musste mitwandern, bis zum Ende aller Tage. Es gab zwar Menschen, die man aus einer Totenprozession herausreissen konnte, aber man hatte sie nie wieder Gefühle zeigen sehen. Sie waren apathisch geworden und fristeten ein mitleiderregendes Dasein.

Die Menschen in den Bergen kannten die festen Wege der Totenprozessionen und mussten immer darauf achten, dass dieser Pfad nicht versperrt wurde. Immer wieder gab es Geschichten von nachlässigen Bauern, die eine Fuhre Heu auf der Strasse vergessen hatten oder das Gatter eines Weidezaunes schlossen und somit den Weg versperrten. Zur Strafe wurden sie von den Toten in Stücke gerissen.

Während Thomas hinter Joschan diesem riesigen Eismassiv entgegenritt, dachte er zurück an seine ersten Tage in Säsch. Marcellus hatte ihn damals gleich als erstes über die Sagen dieser Menschen aufgeklärt, noch bevor Thomas seine ersten Pflichten in Säsch erfüllen konnte. Von ihm hatte er alles über Gratzüge erfahren, wie die Totenprozessionen auch genannt wurden. Thomas hatte die Unterschiede der einzelnen Gratzüge gelernt. Es gab die der Sünder und die der Schwerverbrecher. Die Schwerverbrecher durften den Boden nicht mehr berühren, da die Erde als heilig galt. Sah man eine solche Totenprozession auf sich zukommen, musste man sich flach auf die Erde legen. Die armen Seelen konnten dann über einen hinwegwandern und man blieb verschont.

Marcellus hatte Thomas über die armen Seelen aufgeklärt, die versuchten sich zu erlösen, indem sie mit den Menschen schwangen. Thomas war nicht in den Bergen aufgewachsen und konnte sich deshalb nichts unter "Schwingen" vorstellen. Der Pfarrer von Säsch hatte ihn schnell aufgeklärt, dass es sich dabei um eine Art Ringkampf handelte, die in diesen Bergen üblich war. Bei einem Kampf mit einem Toten starb der Lebende meist kurz darauf. Die einzige Möglichkeit dem Tod zu entgehen war, an diesem Tag etwas Gutes getan zu haben. Nur dann hatte der Geist keine Macht.

Zuletzt hatte Thomas etwas über die Bozen erfahren. Es waren Geister, die die Gestalt von mehreren Wesen – meist von Tieren – annehmen konnten. Oft waren sie ein Zeichen für ein Ereignis oder sie fügten den Lebenden Schaden zu.

Thomas wurde sich mehr und mehr bewusst, dass sie nun der Quelle all dieser Sagen und Legenden entgegenritten. Diese Quelle war der Joschner Gletscher, auf dem die Toten ihren Sitz hatten und von wo sie Angst und Schrecken unter den Lebenden verbreiteten.

Auf einmal lichtete sich der Wald und die Reiter befanden sich auf einer Wiese, die einen steilen Hang hinaufführte. Wenige hundert Meter oberhalb lag das Dorf Goyatz und dahinter erhob sich die riesige Wand aus Eis und Fels – der Joschner Gletscher. Die Luft war kalt und trocken – kein Windhauch regte sich.

"Joschan", bemerkte Thomas beeindruckt und ängstlich zugleich, "ist es nicht gefährlich so nahe am Gletscher zu leben?"

Joschan wandte sich dem Mönch zu und kicherte in seinen dichten Bart hinein.

"Den Gletscher musst du erst fürchten, wenn dein Körper tot ist", meinte er.

"Und die armen Seelen?" fragte Thomas weiter.

"Halte dich an ihre Regeln und lebe im Gleichgewicht mit allem, dann hast du nichts zu befürchten", antwortete Joschan geduldig und ritt weiter den Berg hinauf – Goyatz entgegen.

Der Weg zum Dorf führte sie in einem Bogen. Bald wurde er so schmal, dass zwei Maultiere gerade noch nebeneinander Platz haben könnten. Links grenzte eine steile Felswand und rechts fiel der Berg steil ab. Als sie um einen riesigen Felsen bogen, standen sie plötzlich vor den ersten Häusern. Das Dorf Goyatz bestand aus Holzhäusern, die mit Schieferplatten gedeckt waren. Das Holz der Häuser war im Laufe der Jahre grau geworden. Die Türen waren niedrig und Tierschädel oder Ornamente schmückten die Aussenwände. In der Mitte des Dorfes war ein freier Platz mit einem Brunnen, der frisches Quellwasser führte. Alles erinnerte an die Dörfer ausserhalb des Goyatzer Tales. Sogar die Tiere wurden wie bei allen Bauern des Sohretales im Erdgeschoss gehalten, während die Menschen ihre Wohnungen über den Tieren – im ersten Stockwerk – oder direkt neben dem Stall hatten. Auch hier besassen die Hirten Schafe, Ziegen und Kühe.

Thomas dachte bei sich: "Vielleicht sind die Goyatzer gar nicht so verschieden von den Menschen im Sohretal."

Auf dem Dorfplatz warteten die Goyatzer auf die Ankömmlinge. Es waren rauhe Menschen, von der harten Natur geschliffen. Sie waren gross, kräftig und stämmig gebaut. Die Frauen kleideten sich schwarz und vor allem die Älteren trugen Kopftücher. Die Kleider der Männer waren aus Leinen, Wolle oder Leder gefertigt. Über ihrer leichten Kleidung hingen dicke Fellmäntel um ihre Schultern und in ihren Gürteln steckten Messer, Äxte und die verschiedensten Werkzeuge. Im Gegensatz zu den Bauern ausserhalb von Goyatz trugen die Männer ihre Haare wie die Frauen lang.

Thomas lächelte diesen Menschen gutmütig entgegen, empfing aber nur stumme, kalte Blicke – sowohl von den Männern als auch von Frauen. Das Lächeln des Mönches verzog sich zu einem unsicheren Grinsen. Thomas hatte einen solch kalten Empfang nicht erwartet. Er wusste nicht, was ihn mehr frösteln liess: die Kälte des Gletschers oder die der Goyatzer.

Joschan stellte seinen Begleiter vor. Thomas verstand die Sprache dieses Tales nicht und konnte nur ahnen, was Joschan den Dorfbewohnern sagte.

"Wird hier die Sprache der Aussenwelt gesprochen?" erkundigte sich Thomas bei Joschan leise, aber der Goyatzer kam zu keiner Antwort. Eine helle, freundliche Stimme unterbrach ihn.

"Willkommen, Thomas von Melk."

Thomas blickte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Aus der Menschenmenge trat eine zierliche Frau auf ihn zu und reichte ihm mit einem Lächeln die Hand. Der Bauch der Frau wies eine leichte Wölbung auf und Thomas erkannte, dass sie in Hoffnung war.

"Ich bin Elisa", sagte die Frau, "die Gattin Joschans. Hat er wieder einmal nichts von mir erzählt?"

Auf einmal kam Bewegung in die Menschenmenge. Die Goyatzer drängten sich dicht um das Pferd des Mönches. Alle wollten ihn aus der Nähe sehen – ein Bann schien gebrochen.

"Stimmt es, dass Josch einen Sohn bekommen hat?" fragte ein Mann neben Thomas. Sein Gesicht war hart und wie bei allen Goyatzern mit einem dichten Bart umrahmt.

"Stimmt es?" fragte er noch einmal.

Thomas war verwirrt über diese Frage und stotterte: "Christus...ist der Sohn...Gottes. Er ist Mensch und zugleich Gott. Er hat uns von unseren Sünden erlöst."

"Hab ich's nicht gesagt?" rief der Mann neben ihm in die Menge, "Josch hat einen Sohn!"

Einige Goyatzer waren sichtlich erfreut über diese Tatsache und nickten, als ob sie es schon immer gewusst hätten, andere hingegen waren misstrauisch und hielten sich im Hintergrund.

"Ihr Narren! Schweigt!" schrie eine Stimme aus der Menge und eine uralte Frau trat hervor, "schweigt!"

Die Goyatzer verstummten.

"Dieser Mönch spricht nicht von Josch!" rief sie, "er will uns zu Christen machen. Er glaubt nicht an Josch! Fragt ihn, wessen Sohn dieser Christus ist. Der Sohn Joschs oder seines Gottes. Fragt ihn!"

"Es gibt nur einen Gott!" rief eine Goyatzerin, "und diesen Gott nennen wir Josch!"

"Ganz recht", erwiderte eine andere.

Die alte Frau stapfte auf den verwirrten Thomas zu, der diesen Trubel nicht erwartet hatte.

"Ist dein Christus der Sohn deines Gottes oder der von Josch?" fragte sie ihn scharf.

"Er ist...er ist der Sohn Gottes", stammelte Thomas erregt, "und es gibt nur einen Gott."

"Christus ist also Joschs Sohn", bestätigte der Goyatzer, der Thomas als erster angesprochen hatte.

"Lasst unseren Gast doch erst einmal zur Ruhe kommen", rief Elisa den Goyatzern zu. Joschan hatte sie inzwischen zu sich aufs Pferd geholt, dass sie nicht lange zu stehen hatte in ihrem Zustand.

"Kommen Sie", sagte sie freundlich zu Thomas, "wir müssen nicht alles in der ersten Stunde diskutieren."

Die Goyatzer machten den beiden Pferden Platz und Joschan, Elisa und Thomas ritten durch das Dorf auf ein Haus zu, das etwas abseits keinen Steinwurf vom mächtigen Eismassiv des Gletschers entfernt stand. Elisa erklärte Thomas, dass der Goyatzer Hof, wie dieses Haus genannt wurde, das älteste Haus im Dorf war. Dort angekommen betrachtete Thomas das Gebäude, während Joschan die Pferde versorgte.

Das Haus war mit Tierknochen aller Art geschmückt und schwere Schieferplatten auf dem Dach schützten das Gebäude vor Regen. Die Stallungen und eine Schmiede waren im Erdgeschoss untergebracht, während die Menschen im ersten Stock wohnen konnten. Die Blicke des Mönches wanderten zu den grossen Tannen, die den Goyatzer Hof vor Sturm und Wind beschützten.

"Sie müssen uralt sein", meinte Thomas zu Elisa, die neben ihm stand.

"Hier ist so manches uralt", antwortete sie nachdenklich und streckte sich, ihre Hände in den Rücken gestützt.

Über der Tür waren Lärchenzweige und eine Silberdistel angebracht. Als Thomas diese Zweige betrachtete erklärte Elisa: " Wenn eine Frau in Goyatz schwanger ist, hängen die Frauen im Dorf Lärchenzweige und Disteln über die Tür der Schwangeren. Die weichen Nadeln der Lärchen symbolisieren das weiche Herz der Frauen und die stacheligen Disteln die Wehrhaftigkeit der Männer. Wird ein Sohn geboren, wird die Distel abgenommen und verbrannt. Die Lärchenzweige, die weiterhin über der Tür hängen, sollen das Herz des Jungen erweichen. Wenn ein Mädchen geboren wird, sollen die zurückbleibenden Disteln diese Frau wehrhaft machen. Auf diese Weise wird wieder ein Gleichgewicht zwischen Mann und Frau – Mädchen und Junge – hergestellt."

Sie gingen ins Haus und stiegen eine schmale Treppe hinauf. Das Obergeschoss bestand aus zwei Räumen: einem Schlafzimmer und einer Wohnstube. In der Ecke knisterte ein Feuer. Über der Feuerstelle hingen Schinken an der Decke und an einem langen ehernen Arm konnte ein Topf über das Feuer bewegt werden. Neben der Brandstätte stand ein Schrank, in dem das Holzgeschirr und andere Dinge aufbewahrt wurden.

Elisa zündete eine Kerze an und stellte sie auf einen langen groben Holztisch, der in einer anderen Ecke des Raumes stand. Thomas setzte sich und betrachtete die finstere Stube. Das Holz der Wände und der niedrigen Decke war dunkel und die Balken am Fussboden knarrten bei jedem Schritt. An den Seiten hingen Waffen der verschiedensten Art: Streitäxte, Bogen, Pfeile, Speere, Schwerter, sogar ein Morgenstern und ein geflügelter Spangenhelm. An den Seiten des Helmes schützen eiserne Beschläge die Wangen des Helmträgers, so dass fast das ganze Gesicht bedeckt wurde. Die Flügel waren aus schwarzem Eisen geschmiedet und zeigten steil nach oben.

Thomas erhob sich und betrachtete diesen Helm näher.

"Einen solchen Helm habe ich noch nie gesehen", murmelte er, "trugen nicht die alten Germanen oder Kelten solche Helme?"

"Das weiss ich nicht", antwortete Elisa entschuldigend, "aber diese Helme tragen die Goyatzer beim Kampf."

Dem Mann aus dem fernen Melk lief es kalt den Rücken hinunter und er vermeinte den eisigen Hauch der alten keltischen Zeit zu spüren. War er hier etwa in der Zeit um einige Jahrhunderte zurückgereist? Hatte sich hier eine keltische Kultur erhalten oder hatten sich die Goyatzer aus einer keltischen Kultur entwickelt?

"Bitte entschuldige das Verhalten der Leute im Dorf", bemerkte Elisa, um den Mönch auf andere Gedanken zu bringen, "sie haben noch nie Menschen aus der Aussenwelt gesehen ... mich natürlich ausgeschlossen."

Thomas wandte seine Blicke von einer kleinen kunstvoll geschnitzten Kommode am Fenster zu Elisa.

"Ich habe schon gehört, dass ihr nicht aus Goyatz stammt. Woher seid ihr?"

Die zierliche Frau lächelte und meinte: "Ich bin als Tochter einer Mätresse des Fürsten von Yatz geboren. Bei einer Frau aus Hatesch habe ich Menschen heilen gelernt und als ich einem verwundeten Ritter das Leben retten konnte, wollte mich der Abt von Yatz als Hexe verbrennen, weil die Ärzte den Ritter aufgegeben hatten. So bin ich nach Goyatz geflohen und nun auch die Frau von Joschan."

"Der Fürst von Yatz ist Euer Vater?" fragte Thomas verwirrt.

"Ja, aber meine Mutter ist von niederer Geburt und deshalb bin ich kein anerkanntes Kind des Fürsten und ohne Anrecht auf sein Erbe. Die Priester der Christen haben einen treffenden Ausdruck für ein solches Kind: Bastard."

Thomas schüttelte sich und liess sich wieder am Holztisch nieder.

"Verzeihung, aber ich glaube, das ist zu viel für mich an einem einzigen Tag", murmelte er erschöpft, "ich habe Goyatz erreicht, erlebte sogleich eine heftige Diskussion der Goyatzer über Religion und nun erfahre ich, dass ich vor einer nahen Verwandten des Fürsten sitze."

Elisa lächelte und sagte: "Ich glaube nicht, dass sich irgendein Mensch in Yatz an mich erinnert."

"Was ist mit Eurer Mutter geschehen?"

"Sie ist tot, glaube ich", sagte Elisa ernst und strich sich die blonden Strähnen aus dem Gesicht, "ich habe sie seit meiner Flucht nicht mehr gesehen."

Joschan stapfte die Stufen hinauf und setzte sich brummend zu Thomas an den Tisch.

"Heute bist du unser Gast, Thomas", sagte er, "morgen kannst du in dein eigenes Haus ziehen. Wir haben eine alte Scheune in ein Wohnhaus umgebaut. Dort kannst du wohnen, wenn du in Goyatz bleiben willst."

"Danke, aber werden mich die Goyatzer hier wohnen lassen?"

"Um ehrlich zu sein, sind wir auf dich sehr gespannt", antwortete Joschan.

"Die Goyatzer sind neugierig. Aber nicht alle sind von der Aussenwelt begeistert", gab Elisa zu bedenken und schob den grossen Topf über das Feuer, "die alte Jonna hast du ja schon kennengelernt."

"Die alte Frau auf dem Dorfplatz? Ja, sie muss sehr alt sein."

"Selbst die alte Jonna kennt nicht ihr eigenes Alter. Es heisst, dass sie sogar den alten Xännes zur Welt gebracht hatte", meinte Elisa, "der arme Xännes. Er liegt schon seit Wochen im Bett und siecht vor sich hin. Er ist der Dorfälteste und war damals beim Bauernaufstand dabei. Seitdem wartet er auf die Weissagung. Er sagt, dass er nicht eher sterben werde ehe er die Geburt dieses Kindes erlebt habe."

Ein kleiner Junge – etwa drei Jahre – rannte die Treppe hinauf und kletterte neben Joschan auf die Bank. Erst als er sass bemerkte er den Mönch und starrte ihn mit grossen Augen an.

"Hast du deine Hände gewaschen, Jehke?" fragte Elisa.

Wortlos rannte das Kind wieder die Treppen hinunter.

Elisa lachte: "Das war Jehke, unser Sohn."

"Ein gehorsames Kind", meinte Thomas, dem nicht entgangen war, dass es scheinbar in Goyatz üblich war, sich vor dem Essen zu waschen. In der Aussenwelt wuschen sich die Menschen so gut wie nie.

"Der alte Xännes ist ein guter Mann", brummte Joschan, "er und mein Grossvater Xandressek waren Freunde."

"Ich habe von dieser Legende gehört", meinte Thomas.

Elisa schnitt etwas Fleisch und Gemüse in die Suppe und sagte: "Diese Legende ist keine Legende – sie ist wirklich geschehen."

Thomas schüttelte den Kopf: "Manchmal glaube ich, dass hier in den Bergen alle Legenden wahre Geschehnisse sind."

Während er dies sagte dachte er über einen weiteren Unterschied zur Aussenwelt nach. Die Bauern in Säsch konnten so gut wie nie Fleisch in die Suppe schneiden und heute war nicht einmal ein Feiertag.

"Die Legenden sind wahr", brummte Joschan und Elisa stellte den Männern die Suppe und etwas Brot hin. Der kleine Jehke kam wieder die Treppen hinaufgerannt, schnappte sich einen Löffel und setzte sich neben seinen Vater. Wieder blickte er den Mönch halb neugierig halb ängstlich an, dann löffelte er seine Suppe ohne sich um den Besucher zu kümmern. Nach dem Essen zeigte Joschan dem Mönch eine Schlafstelle auf dem Dachboden, der über eine kleine Leiter im Hintergrund des Wohnraumes zu erreichen war. Es war für Thomas die erste Nacht in Goyatz. Als er auf dem in Leinen gepackten Stroh lag, lauschte er auf den Wind, der heulend um das Haus schlich und bevor er einschlief gewahrte er einen weiteren Unterschied zu den Bauern der Aussenwelt: er konnte keine Ratten hören.

 

Woche um Woche verging. Thomas von Melk hatte beschlossen, zunächst nichts über das Christentum zu erzählen. Er wollte zuerst die Welt der Goyatzer kennenlernen, um die Menschen besser einschätzen zu können. Doch immer wieder kamen einzelne Goyatzer auf ihn zu und drängten ihn etwas über die Aussenwelt und sogar über das Christentum zu erzählen. So begann Thomas von sich und seinen Glauben zu sprechen, während er dem Bergvolk beim Hüten der Ziegen, beim Melken oder anderen Dingen half.

Hier war der Tag wie in Säsch von ständiger harter Arbeit begleitet, aber im Unterschied zu den Bauern der Aussenwelt, behielten die Goyatzer die Früchte ihres Tagwerkes für sich, ohne etwas einem Fürsten abgeben zu müssen. Was sie noch von den Menschen der Aussenwelt unterschied war ihre Freiheit, eine Freiheit von Yatz, von der Kirche und von allen Ängsten, die die Menschen für gewöhnlich bedrückten. Sie waren ein ehrliches, freiheitsliebendes und hartes Volk, dazu neugierig und wissensdurstig. Es gab Jäger, Hirten und Bauern, aber jeder verstand sich im Kampf mit Waffen. So blieben sie wehrhaft und gerieten nicht in Gefahr sich einem Fürsten unterordnen zu müssen.

Thomas erlebte den Almabtrieb, der sich nicht sehr von dem der anderen Sennen unterschied. Auch die Goyatzer veranstalteten Feste und schmückten ihre Kühe und Ziegen während der Wanderung von den hohen Almen in das Goyatzer Tal. Ebenso floss der Enzian in Strömen, wie in der Aussenwelt, den der Mönch im Laufe der Zeit im Gebirge zu schätzen gelernt hatte.

Bald verloren die Lärchen ihre gelben Nadeln und Nebel senkte sich über die Berge. Das Wetter wurde kälter und eisiger Wind blies durch das Tal. Der Herbst ging in den Winter über, der die Goyatzer Berge weiss färbte. Tagelang schneite es, bis sich endlich wieder – kurz vor dem Jahrestag der Geburt Christi – die Sonne zeigte. Das sonst so grüne Tal erschien nun in seiner weissen Winterpracht. Die Schneeoberfläche glitzerte wie Tausende von Diamanten; überall blitzte und funkelte das Eis. Kein Lüftchen rührte sich und alle Geräusche des Tales wurden vom Schnee gedämpft. Es herrschte eine kalte, aber angenehme Stille im Goyatzer Tal.

Eines Tages wurde Thomas zum alten Xännes gerufen. Er hatte ihn schon vor einigen Wochen kennengelernt und liebte dessen einfache und direkte Art. Für einen Bergmenschen, der nie eine hohe Schule besucht hatte, wählte er seine Worte seltsam bedächtig – so ganz unpassend für einen schlichten Bauer und Jäger. Die Goyatzer sprachen immer nur in höchster Achtung vom alten Xännes und tatsächlich schien dieser eine Art Urvater für sie zu sein. Er war der Mann im Dorf, der schon die Grossväter des Bergvolkes als Kinder hatte spielen sehen. Viele sagten, er zählte schon weit über hundert Jahre. Die Goyatzer kamen gerne zu ihm und liessen sich die Geschichten erzählen, die schon immer in den kleinen Hütten dieses Tales eine Rolle spielten. Es waren Legenden und Sagen von Tod, Geistern, Liebe, Hass und Schlachten. Aber schon seit einigen Monaten lag Xännes im Bett in seiner kleiner Hütte im schweren Siechtum. Thomas war aufgefallen, dass die Menschen keine Angst vor Krankheiten hatten, ganz im Gegensatz zu den Menschen in der Aussenwelt. Wäre Xännes in Säsch gewesen, wären Marcellus und Thomas die Einzigen, die er vor seinem Tod zu Gesicht bekommen hätte. Die Bauern hielten immer grossen Abstand zu Krankheiten, da sie glaubten, dass diese irgendwelchen Sünden entsprungen seien und gottgewollt wären. Von Sündern aber hielt man sich möglichst fern, damit kein Kontakt mit Beelzebub zustande kommen könne. In Goyatz aber wurden die Kranken gepflegt. Die alte Jonna berichtete immer wieder von scheinbar hoffnungslosen Fällen, die wieder genesen wären. Thomas, der von Zauberei und Hexerei nichts hielt, mutmasste, dass die Fürsorge den Kranken einen dermassen seelischen Aufschwung brachte, dass sich der Körper selbst heilen konnte. Dies wäre in der Aussenwelt nie möglich gewesen, zu sehr haftete der Makel der Sünde an dem Kranken.

Auf dem Weg zu Xännes begegnete Thomas Jehke, dem kleinen Sohn Joschans. Der Mann aus Melk hatte erfahren, dass seine Mutter seit einigen Tagen erkrankt war. An einem Morgen hatte Elisa begonnen abzumagern. Die alte Jonna kam mehrmals am Tag in den Goyatzer Hof und brachte Elisa heilende Kräuter und Wurzeln. Sie betastete den riesigen Bauch der jungen Frau und meinte, dass das Kind gesund und kräftig sei. Aber niemand konnte sich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 19.05.2014
ISBN: 978-3-7368-1283-3

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