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Prolog

"Ein schönes Gleichnis: Wenn die Welt um dich herum einstürzt, bleibt das einzig sichere du selbst, der  Rückzug in die Innerlichkeit  ‎der einzige Fluchtpunkt im Sturm. Dort, und dort nur, an diesem Ort wirst du immer Ruhe finden, immer Kraft, wenn das Außen längst versagt. " 

 

Mein Blick war auf dem Boden gerichtet, als ich durch die Menschenmasse lief. Dennoch spürte ich die Blicke auf mir. Ich war verschleiert und man konnte nur mein Gesicht sehen. Die Menschen wussten trotzdem wer ich war. Die Angst vor uns konnte man förmlich riechen, dabei brauchte man keine Angst vor dem Tod zu haben. Der Tod war etwas Natürliches. Da kommen die Menschen nicht drum herum.Obwohl ich sie nicht anguckte, wusste ich wann genau alle sterben würden und woran. Es waren Stimmen und Bilder in meinem Kopf. Ich spürte ihre Angst. Immer und immer wieder. Sie alle wussten aber nichts von ihrem Tod. Einer würde sich selbst umbringen, die andere würde beim Autofahren sterben. Tode, die in weiter Ferne liegen, aber trotzdem eintreffen. Auf die Uhrzeit genau.Plötzlich stieß ich irgendwo gegen. Schnell schaute ich hoch und sah direkt in zwei wunderschöne blaue Augen. Ich wartete drauf, dass ich erfuhr, woran er sterben würde. Es kam nichts. Zwei Schritte ging ich von ihm weg. Es war komisch. Er war nicht wie die anderen Menschen. Außerdem war er einen Kopf größer als ich. Vorsichtig ließ ich meinen Blick über seinen Körper schweifen. Er sah nicht schlecht aus. Seine Klamotten waren nichts Besonderes, aber sein Gesicht war einzigartig. "Eine Soul?", fragte er mich dann lächelnd. Er hatte schulterlanges, blondes Haar. In seinem Blick konnte ich erkennen, wie selbstsicher er war. Keine Spur von Angst.Wieso konnte ich nicht seinen Tod sehen? Das war alles andere als normal. Er war alles andere als normal. Er hatte keine Angst. Nicht mal Ekel, oder sonst irgendeine Art von Gefühlen lag auf seinem Gesicht. Das einzige, was ich sah, war Glück. Als hätte er gefunden, wonach er gesucht hatte.

Kapitel 1.

 Flieg. Flieg immer weiter. Flieg aber vergiss mich nicht. Gib Acht auf deiner Reise. Pass auf. Egal was kommt, ich steh zu dir. Ich steh an deiner Seite. Kämpfe. Kämpfe für dich. Dein Glück, dein Leben, für deins. Kämpfe. 

 

 

Blendend helles Licht schlug mir entgegen, während ich versuchte, mir meiner Umgebung bewusst zu werden. Ein steriler Geruch drang mir in die Nase, den ich so noch nie wahrgenommen hatte und nur mit großer Anstrengung gelang es mir, meine Augen für mehr als den Bruchteil einer Sekunde offen zu halten. In dieser kurzen Zeitspanne war es mir möglich, einen ersten Eindruck meiner Umgebung zu gewinnen. Ich war definitiv an einem Ort, der mir unbekannt war. Ich blinzelte ein paar Mal und versuchte, mehr zu erkennen als die Decke über mir, die ebenso weiß war, wie das Licht, das seinen kühlen Schein auf mich warf. Als ich mich zwang, meine Arme zu bewegen, spürte etwas Weiches unterhalb meines Körpers. Eine Matratze. Aus dem Augenwinkel erkannte ich eine Bettdecke, die über meinen Körper gelegt worden war und bis zu meinem Kinn reichte und am Rande meines Blickfelds nahm ich verschwommen mehrere Personen wahr, die ebenso helle Kittel trugen und geschäftig durch den Raum eilten. Keine von ihnen sah mich direkt an, aber ich hörte dumpf, dass sie über mich sprachen."Sie wird in den nächsten Minuten aufwachen.""Ist alles vorbereitet?" "Frye, haben Sie die Spritze?" "Alle bereit?"Noch viel zu schwach und durcheinander, um Zusammenhänge zu erkennen, unternahm ich erst gar nicht den Versuch zu verstehen, über was sie sprachen. Viel stärker beschäftigte mich mein Kopf, der seine gewohnte Größe um ein Vielfaches überschritten hatte und alles daran setzte, mir Höllenqualen zu bereiten. Zeitgleich schwirrten verschwommene Erinnerungen durch meinen Verstand, die meine Umgebung immer wieder für einige Momente unscharf werden ließen. Absolute Schwärze, die von absolutem Weiß verdrängt wurde. Geräusche, die anschwollen und erneut abklangen. Das Gefühl von Hilflosigkeit und Ungeduld. Es ergab keinen Sinn, doch ein Gefühl in meinem Inneren sagte mir, dass ich nicht nur geträumt hatte. Ich versuchte, mich zu bewegen, konnte ein Ächzen jedoch nicht unterdrücken, als ein stechender Schmerz durch meinen gesamten Körper schoss. Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, nicht auf körperliche Qualen solchen Ausmaßes. Dass ich einen Laut von mir gegeben hatte, wurde auch den zahlreichen Menschen um mich herum schlagartig bewusst."Sie ist wach.""Überprüft ihre Vitalwerte.""Sie sollte sich wohl fühlen.""Falsch. Werfen Sie einen Blick auf ihr Schmerzparameter. Viel zu hoch. Erhöhen Sie ihre Dosis um ein Drittel. Was glauben Sie, weshalb sie sich krümmt?"Noch immer eilten Menschen am Rande meines Blickfelds von einer Seite des Raumes zur anderen. Einige von ihnen betrachteten mich flüchtig, andere konzentriert. Was sie gemein hatten, war nicht nur ihre Kleidung, sondern auch die Art, wie sie mit mir umgingen. Keiner dieser Menschen lächelte, niemand betrachtete mich mit besorgtem Blick oder nickte mir beruhigend zu. Ein jeder von ihnen trug einen vollständig neutralen Gesichtsausdruck zur Schau, ganz so, als ob es nichts Besonderes darstellte, dass ich gerade aufgewacht war. Wie lange hatte ich geschlafen? Hatte ich überhaupt geschlafen oder womöglich sogar in einem Koma gelegen? Weshalb lag ich eigentlich in einem Krankenhaus?  Zumindest wirkte der sterile Raum wie ein Zimmer in einer Einrichtung dieser Art. Ich war gerade im Begriff zu fragen, wo ich mich befand, als sich eine Veränderung innerhalb meines Körpers bemerkbar machte. Eben noch gepeinigt von Wellen des Schmerzes, breitete sich nun eine trügerische Leichtigkeit in meinem Körper aus. Ich spürte, wie meine Lider schwerer wurden, wie meine Sicht verschwamm und alle Geräusche in unmittelbarer Umgebung abklangen, bis sie nur noch ein leises Summen verkörperten, das mich in den Schlaf wiegte. Für den Bruchteil einer Sekunde versuchte ich mich dagegen aufzubäumen, erlag der Wirkung des Medikaments jedoch binnen weniger Augenblicke. Was mich danach erfasste, war schwarzer, traumloser Schlaf. Wenig später erwachte ich erneut. So plötzlich, wie ich zu mir gekommen war, so schnell hatte man mich scheinbar ein weiteres Mal ruhig gestellt. Ich konnte mich nicht daran erinnern, geträumt zu haben und mein Kopf fühlte sich noch immer schwer an, doch die Last, die wie Blei auf meinen Gliedern gelegen hatte, war ein wenig leichter geworden. Wo ich war und aus welchem Grund, hatte mir noch immer niemand gesagt. Ich spürte, wie sich mein Herzschlag beschleunigte, während unzählige Fragen durch meinen Verstand zu schwirren begannen. Warum lag ich in einem Krankenhaus? Was war mir zugestoßen? Wo waren meine Verwandten? Wie war mein Name? Panik stieg in mir auf, aber ich konnte nicht zulassen, dass meine Emotionen mich lähmten. Ich musste der Situation gerecht zu werden. So schnell wie möglich. Ganz langsam versuchte ich mich aufzurichten. Der stechende Schmerz, den ich bei meinem ersten Versuch gespürt hatte, war mir noch lebhaft in Erinnerung und ich hegte nicht das Verlangen nach einer Wiederholung dieser Erfahrung. Obwohl mein Herz hektisch gegen meinen Brustkorb schlug und ich mich zwingen musste, langsam ein- und auszuatmen, konnte ich es mir nicht leisten, ein weiteres Mal mithilfe eines Beruhigungsmittels außer Gefecht gesetzt zu werden. Ich musste Antworten finden. Es dauerte einige Augenblicke, aber schließlich hatte ich meinen Oberkörper aufgerichtet und konnte einen besseren Blick auf die Dinge werfen, die sich in meiner unmittelbaren Umgebung befanden. Soweit ich es beurteilen konnte, hatte sich der Raum nur geringfügig verändert. Ich lag noch immer in einem Bett, das sich in einem Raum befand, der ausschließlich von einer Farbe dominiert wurde: Weiß. Der größte Unterschied bestand darin, dass ich alleine war. Keine Stimmen, keine Bewegungen. Niemand, der mich beobachtete. Vorsichtig wandte ich meinen Kopf von einer Seite zur anderen. Rechts von mir erkannte ich einen Monitor, der augenscheinlich meine – wie hatten sie es genannt? – Vitalwerte aufzeichneten. Merkwürdigerweise war dieser nicht mit meinem Körper verbunden, doch ich konnte an dem sich beschleunigenden Puls erkennen, dass er tatsächlich auf meine Person abgestimmt war. Da ich aus den Werten des Bildschirms nichts ablesen konnte, aus dem ich später einen Vorteil für mich ziehen konnte, richtete ich meine Aufmerksamkeit stattdessen auf das, was mir Antworten liefern würde. In meinem Zimmer befand sich kein Fenster, aber eine Tür, die mit einer Art Bullauge versehen war. Wahrscheinlich hatte man mich beobachtet, während ich geschlafen hatte. Vielleicht beobachtete man mich sogar jetzt und ich konnte nur nichts erkennen, weil das Glas auf meiner Seite spiegelte und auf der gegenüberliegenden durchlässig war. Ob ich mit dieser Vermutung Recht behalten würde, konnte ich nur auf einem einzigen Weg herausfinden. Behutsam bewegte ich mein rechtes Bein in Richtung Bettkante, woraufhin sich ein Ziehen in meinen Muskeln ausbreitete, ganz so als ob ich meine Gliedmaßen für längere Zeit nicht bewegt hatte und gerade den ersten Versuch unternahm. Ich wusste, ich würde keinen festen Stand besitzen, weshalb ich mein Gewicht zunächst auf mein Bett verlagerte, um die Belastbarkeit meines Körpers zu testen. Tief ein- und ausatmend versuchte ich, die stechenden Kopfschmerzen zu vertreiben. Erst nach mehreren Sekunden gelang es mir, meine zusammengekniffenen Augen zu entspannen und den Blick zu heben. Ich war keine drei Schritte gegangen und fühlte mich, als wäre ich den ganzen Tag gerannt. Jeder einzelne Knochen schmerzte und schien mindestens doppelt so schwer zu sein. Leise ächzend setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich musste herausfinden, was sich hinter der Tür befand. Ich konnte nur schätzen, wie viel Zeit ich benötigte, bis ich mein Ziel erreicht hatte. Dem Grad meiner Erschöpfung nach zu urteilen, hätte ich mehrere Stunden unterwegs sein müssen. In Wahrheit war höchstens eine halbe Minute verstrichen. Vorbei an einem Waschbecken, das zu meiner Enttäuschung keinen Spiegel besaß, erreichte ich schließlich die Tür. Glücklicherweise befand sich das Bullauge auf Höhe meines Kopfes, denn ich wäre unter keinen Umständen in der Lage gewesen, mich auf meine Fußspitzen zu stellen. Es war schon schwer genug, überhaupt zu stehen. Schwer atmend kniff ich meine Augen ein wenig zusammen und konzentrierte mich. Ein Gang, im rechten Winkel zu meinem Zimmer angeordnet. Die gleichen, kaltes Licht absondernden Röhren. Vollkommene Stille. Misstrauisch spähte ich in alle Richtungen, die Hand auf der kühlen Klinke. Was passieren würde, wenn ich sie herunterdrückte, konnte ich nur herausfinden, wenn ich es tat. Es gab keine andere Möglichkeit. Vielleicht löste ich einen Alarm aus, sobald sich die Tür öffnete. Vielleicht würde ich von Wachen überwältigt werden. Vielleicht passierte nichts. Ich schluckte, nahm all meinen Mut zusammen und drückte. Ohne einen Laut von sich zu geben, schwang die Tür einen Spalt auf. Ein flüchtiges Lächeln erschien für einen Augenblick auf meinen Zügen, bevor es von nervöser Unsicherheit überdeckt wurde. Die Stille wirkte trügerisch. Das einzige, was ich vernahm, war das Blut, das durch meine Ohren rauschte. Jede Sekunde, die verstrich, trug zu meiner Unruhe bei. Jeder einzelne Muskel, auch wenn er nicht hundertprozentig funktionierte, war bis zum Anschlag gespannt. Meine Zähne waren  aufeinander gepresst, meine Atmung flach. Selbst das leiseste Geräusch hätte mich verraten. Wachsam öffnete ich die Tür. Setzte einen Fuß in den Korridor, dessen Boden aus dem gleichen, weißen Material gefertigt war, wie der meines Zimmers. Sah nach rechts –– und fand mich blassblauen Augen gegenüber. Ich war so erschrocken, dass ich reflexartig einen Schritt zurückwich und beinahe das Gleichgewicht verlor, hätte mich nicht der Unbekannte, der so plötzlich vor mir aufgetaucht war, ebenso reflexartig auf den Beinen gehalten."Ich –", begann ich, wusste jedoch nicht im Geringsten, wie ich meinen Satz beenden sollte."Gern geschehen", erwiderte er und ließ mich einen Augenblick später los. "Ich wollte gerade nach dir sehen."Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen, so als ob er meinen Gesundheitszustand überprüfte, bevor er weitersprach."Du solltest eigentlich noch nicht stark genug sein, um laufen zu können", fuhr er fort, während er eine Hand sanft auf meinen Rücken legte und mich zurück zu meinem Bett führte. Ich war noch immer so überrascht, dass ich mich nicht dagegen wehrte. Erst als der Fremde versuchte, mir dabei zu helfen, meine Beine auf die Matratze zu heben, erwachte ich aus meiner Starre."Wer sind Sie?"Es war eine von vielen Fragen, die sich in meinem Verstand zu formen begonnen hatten, seitdem ich erwacht war. Sie gehörte zwar nicht zu denen, deren Antwort mir von besonders großem Nutzen sein würde, aber sie war von der Sorte, die mich am meisten beschäftigte."Mein Name ist Nathan Graham. Du kannst mich bei meinem Vornamen nennen. Willkommen zurück."Seine Stimme besaß etwas Angenehmes, etwas, das mich beruhigte und gleichzeitig erschreckte, da seine Worte mich eigentlich hätten verängstigt sollen."Zurück?", wiederholte ich verwirrt."Du lagst in einem Koma."Seine blauen Augen wirkten distanziert und gleichzeitig vertrauenserweckend und es erschwerte mir, zu verarbeiten, was der Fremde Nathan mir zu vermitteln versuchte."Für wie lange?", platzte ich schließlich heraus, noch immer auf der Bettkante sitzend. Nathan hatte es aufgegeben, mir in eine liegende Position zu helfen. Ich war viel zu aufgebracht, als dass ich mich hätte entspannen können."Drei Monate und sechzehn Tage. Du hast deinen achtzehnten Geburtstag verschlafen."Das Grinsen, das auf seinen Zügen deutlich wurde, verkörperte etwas zwischen Mitleid und Belustigung und ich hätte es ihm am liebsten eigenhändig aus dem Gesicht gewischt. Wie kam er auf die Idee, darüber zu lachen, dass jemand monatelang in einem Krankenbett lag? Vielleicht war nicht einmal vorhersehbar gewesen, ob und wann ich aufwachen würde."Vielleicht sollte ich trotzdem eine Geburtstagsparty veranstalten", murmelte ich geistesabwesend vor mich hin, während ich versuchte, der Situation Herr zu werden. Nathan lachte leise. "Ich bin mir nicht sicher, ob das Sinn machen würde", erwiderte er und fuhr sich mit der Hand durch seine dunkel blonden Haare. Ich wandte mich um. "Weshalb?" "Du hast keine Verwandten."Ich schüttelte den Kopf. "Das ist nicht möglich. Ich lebe."Ganz langsam bewegte sich Nathan ein Stück näher und ich verspürte den Drang, zurückzuweichen. In meiner Position war das jedoch unmöglich. Als er sich direkt vor mir befand, die Hände hinter dem Rücken, sah er schließlich auf mich hinab."Natürlich hast du einmal Verwandte besessen. Sie sind inzwischen nicht mehr am Leben."Mein Magen zog sich so unvermittelt zusammen, dass ich für einen Augenblick keine Luft bekam. "Du lügst."Nathan schüttelte den Kopf und wandte seinen Blick Richtung Boden. "Ich wünschte, es wäre so."

 

 

Kapitel 2.

Seine Worte waren leise und etwas Unbekanntes schwang in ihnen mit. Ich konnte jedoch nicht genau sagen, was es war. Als er mich erneut anblickte, schwang auch darin etwas mit, dass mir beinahe ein Schaudern über den Rücken gleiten ließ, aber es verschwand ebenso schnell wieder und ließ mich wundern, ob ich es mir nicht eingebildet hatte. "Wie ist dein Name?" Mein erster Gedanke war, dass ich seine Frage nicht beantworten musste, weil er die Antwort vermutlich ohnehin kannte. Dann wurde mir etwas anderes bewusst. "Ich … kann mich nicht erinnern." Meine Augen weiteten sich und ich spürte einen Kloß in meinem Hals. Warum konnte ich mich nicht erinnern? "Keine Sorge, das ist keine Seltenheit. Du hast einen Gedächtnisverlust erlitten. Wir werden dich schrittweise in das Leben eingliedern, das für dich vorgesehen ist." Ich runzelte die Stirn. "Vorgesehen?" Mir gefiel der Ton seines Satzes absolut nicht. "Du hast immerhin schon deine Kindheit und Jugend hinter dich gebracht. Mit deinem individuellen Verhalten hast du den Zweck in unserer Gesellschaft definiert." Nathan Tonfall war sachlich und emotionslos, sein Blick fest. Während er sich in Richtung meines Monitors bewegte, sprach er weiter und wandte sich keinen Augenblick von mir ab, so als wolle er seinen Worten Bedeutung verleihen. So als wäre es von besonderer Wichtigkeit, was er sagte. "In ein paar Tagen wirst du ein zweites Mal getestet werden. Deine physischen und psychischen Fähigkeiten werden mithilfe von Aufgaben unterschiedlichster Art einer Prüfung unterzogen, die im Normalfall bestätigen, was deine erste  Mit jedem Satz, den er sagte, wurde mir deutlicher bewusst, dass ich all meine Erinnerungen verloren hatte. Ich konnte mich an nichts erinnern. Ich wusste nicht, wo ich mich befand, ich wusste nicht, wann ich Geburtstag hatte, ich wusste nicht die Namen meiner Verwandten und wann immer ich versuchte, mir eine dieser Erinnerungen ins Gedächtnis zurück zu rufen, stieß ich auf gähnende Leere. "Woher weißt du all das über mich?" Es war verstörend, dass ein Fremder etwas über mein Leben zu berichten wusste. Noch verstörender war es, dass ich nicht spürte, ob er die Wahrheit sagte oder nicht. Das Einzige, auf das ich in diesem Augenblick vertrauen konnte, war sein Wort. "Das Leben eines jeden Menschen wird protokolliert. Deine schulischen Leistungen, deine familiären Verhältnisse, deine spätere berufliche Laufbahn. Keine Details, aber genug, um dich mit ausreichend Informationen zu füttern, um eine Vorstellung davon zu erhalten, wie dein Leben vor deinem Unfall ausgesehen hat." Nathans Worte wurden leiser, je länger er sprach und ich hatte Probleme, ihm zu folgen. Sein Blick ruhte noch immer auf meinem Monitor und die Zahl am oberen rechten Rand bedeutete mir, dass ich aufgebrachter war, als ich mir eingestehen wollte. "Ich werde dir noch ein wenig Beruhigungsmittel geben. Für jemanden, der aus einem Koma erwacht ist, ist es nicht gesund, dass sein Kreislauf derart belastet wird." Während er sprach, holte er eine Spritze aus seiner dem Schrank an der Seite, ich fragte mich ob er hier arbeite. "Nein", brachte ich hervor und verschränkte meine Arme. Mir war bewusst, dass es nichts helfen würde, sie vor ihm zu verstecken. Ich war viel zu schwach, als dass ich ernsthaften Widerstand hätte leisten können. Nichtsdestotrotz verlangte ich nach Antworten. "Ich will wissen, was mit mir in den nächsten Tagen passiert." Nathan seufzte. Während er antwortete, spielte er mit der Spritze in seinen Händen. "Du wirst voraussichtlich für die nächsten drei Tage in diesem Zimmer bleiben und zu Kräften kommen. Man wird dir Mahlzeiten bringen und von Zeit zu Zeit deine Vitalwerte überprüfen. Wenn du stark genug geworden bist, wird man die Tests durchführen, von denen ich eben gesprochen habe. Da du deine Erinnerungen verloren hast, ist es vonnöten, dich noch einmal in allen wichtigen Dingen zu unterrichten. Sobald du vollends gesund bist und die Regeln dieser Gesellschaft kennst, wird man dich deiner Division zuteilen und du wirst deinen Platz in der Gesellschaft erhalten. Während dieser Zeit wirst du von Zeit zu Zeit hierher zurückkehren, um deine Gesundheit prüfen zu lassen. Wenn nach einem halben Jahr keine Auffälligkeiten festzustellen sind, bist du auch davon befreit." Als Nathan endete, bedachte er mich mit einem Blick, der fragte, ob ich mit seiner Antwort zufrieden war. Ich nickte wortlos und legte mich behutsam zurück in mein Bett. Es waren zwar nicht viele Informationen, aber sie würden fürs Erste genügen. Widerstandslos ließ ich mir die Spritze geben. Ich spürte beinahe augenblicklich die Wirkung des Beruhigungsmittels. Es ließ meinen Kopf schwer werden und verlangsamte meine Gedanken. Nur mit Mühe konnte ich meine Augen offen halten. Ich hatte nicht einmal registriert, dass Nathan bereits im Begriff war zu gehen. Erst kurz bevor er das Zimmer verließ, wurde ich mir seiner Absicht bewusst. Als er sich noch einmal umdrehte, lächelte er mir entgegen und sagte einen einzigen Satz, bevor er verschwand. "Gute Nacht Quinn, mein kleiner Kolibri."

Kapitel 3

 

Ich brauchte eine Weile, bis ich meine Augen erneut aufschlug. Schon Minuten bevor mein Körper erwachte, war mein Verstand bei Sinnen und das Erste, was mir durch den Kopf schoss, war ein Name. Mein Name. Quinn. Aber was meinte Nathan mit der Beschreibung Kleiner Kolibri…. Ich mochte ihn, konnte jedoch nichts mit ihm verbinden. Kein Gefühl regte sich in mir, wann immer ich ihn dachte, was mich unruhig werden ließ. Vielleicht lag die Ursache dafür in dem Umstand, dass, wann immer er mir in den Sinn kam, Nathans Stimme ertönte und nicht meine eigene. Gute Nacht, Quinn. Ich war mir nicht sicher, ob ich bereits geträumt oder ob er mir wirklich zugelächelt hatte, kurz bevor die Tür hinter ihm zugefallen war. Meine Gedanken waren schon zu verschwommenen Schatten verblasst, als ich es bemerkt hatte.

 

Nachdem ich mich aufgesetzt hatte, warf ich einen Blick durch den Raum. Nichts hatte sich verändert. Ich trug noch immer mein weißes Leibchen, das sich unangenehm auf meiner Haut anfühlte. Die Wände waren von exakt demselben Weiß wie noch am Tag zuvor und die Stille, die sich um mich herum ausbreitete, verursachte mir noch immer Unwohlsein. Als mein Blick auf das Schränkchen rechts von meinem Bett fiel, erkannte ich den einzigen Unterschied. Jemand hatte mir etwas zu Essen gebracht. Für einige Augenblicke rang ich mit mir selbst. Sollte ich darauf vertrauen, dass mir niemand in dieser Einrichtung etwas tat? Was, wenn meine Mahlzeit vergiftet war? Ich schüttelte den Kopf. Man hatte mich gerettet. Man hatte mir geholfen, ins Leben zurück zu finden. Ich hatte im Koma gelegen, weil ich verunglückt war. Dieses Krankenhaus hier war Zufluchtsort für all jene, die Hilfe benötigten. Mit sicheren, ruhigen Bewegungen hob ich das Tablett auf meinen Schoß und besah mir meine Mahlzeit. Brot, Butter, Käse, ein Glas Wasser. Genügend für ein Frühstück. Ich konnte mich nicht daran erinnern, was ich gegessen hatte, bevor ich einem Gedächtnisverlust zum Opfer gefallen war, aber mit dem ersten Bissen wurde mir klar, dass Käse dazu zählte. Es war meine erste Speise, nachdem ich aufgewacht war und es war eine meiner ersten Erinnerungen. Ich nahm mir vor, sie in einer Ecke meines Verstandes abzuspeichern. Ich hatte mir gerade eine Scheibe Brot einverleibt, als sich ruckartig die Tür zu meinem Zimmer öffnete. Unterschwellig nahm ich das nervöse Piepsen rechts von mir wahr. Mein Herzschlag hatte sich beschleunigt. Kurze Zeit später sah ich mich den gleichen blauen Augen gegenüber, die ich schon am Tag zuvor gesehen hatte. „Hallo, Quinn.“ Nathans Stimme klang weich und warm. „Hallo“, erwiderte ich und war unsicher, ob ich ihn beim Namen nennen sollte oder nicht. Immerhin kannte ich ihn überhaupt nicht. Er war nur ein Fremder in dieser Einrichtung und offenbar für mein Wohlbefinden verantwortlich. Fürs erste würde es genügen, so wenig zu sprechen wie möglich. „Du erholst dich gut“, fuhr er fort und hob vorsichtig das Tablett von meinem Schoß. „Du hast heute deine ersten Tests.“ Ich sah zu ihm auf, wieder einmal zu verwirrt, um sofort zu reagieren. „Meine Tests?“, wiederholte ich und schluckte den letzten Bissen meines Frühstücks herunter. Ich spürte, wie sich mir der Magen zusammenzog und für einen kurzen Augenblick fragte ich mich, wie in diesen kleinen Hohlraum zwei Scheiben Brot Platz gefunden hatten. „Kannst du dich nicht an unser Gespräch erinnern?“ Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Natürlich kann ich das.“ Ich bin nur davon ausgegangen, dass ich noch ein wenig Zeit hätte, zu Kräften zu kommen. „Dann kannst du dich auch daran erinnern, dass du noch einmal geprüft werden musst.“ Ich nickte. Was hätte ich auch anderes tun sollen? Ich wusste so wenig, dass ich nicht einmal für mich selbst hätte sprechen können. Übelkeit stieg beim Gedanken daran in mir auf. Das, was mit mir geschah, passierte in viel zu kurzer Zeit – und ich hatte viel zu wenig Informationen, um meine Situation einschätzen zu können. „Was ist, wenn ich mich noch nicht bereit fühle?“ Es war eine klägliche Bemühung, mein Schicksal abzuwenden, aber zumindest hatte ich es versucht. Erneut erschien ein schmales Lächeln auf Nathans Zügen, das ich ein weiteres Mal nicht zuordnen konnte. Es schwebte irgendwo zwischen Erkenntnis und Mitleid. „Deine Vitalwerte sprechen eine andere Sprache. Du hast dich in den letzten Tagen erstaunlich gut entwickelt. Es spricht nichts dagegen, dich erneut einer Division zuzuteilen.“ Division. Ich wusste noch immer nicht, was das bedeutete. Für einen Augenblick sah ich zu Nathan auf. Er hatte das Tablett mit meinem Frühstück darauf neben meinem Bett abgestellt und hielt gebührenden Abstand zu mir. Die Hände vor seinem Körper ineinander verschränkt, wartete er darauf, dass ich mich fügte. „Keine Sorge, dir wird nichts passieren.“ Ich schluckte und versuchte das sich beschleunigende Piepsen zu ignorieren. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals, als ich ein weiteres Mal die Aussichtslosigkeit meiner Situation erkannte. Ich konnte absolut nichts tun. Mich zu weigern, würde darin gipfeln, dass man mich womöglich gewaltsam dorthin brachte, wo man mich testen wollte. Nathan durch ein Gespräch weiter hinzuhalten, würde das Unabwendbare nur unnötig in die Länge ziehen. Solange ich nicht mehr in Erfahrung bringen konnte, war ich nicht im Geringsten in einer Position, etwas zu verhindern, was gegen meinen Willen geschehen würde. Ich wusste nicht einmal, was ich damit in Verbindung bringen musste. Ich wusste es nicht, weil ich nichts wusste. „Okay“, murmelte ich widerstandslos und erhob mich langsam von meinem Bett. Meine Glieder schmerzten immer noch ein wenig und aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass Nathan einen Schritt zurücktrat, um mich vorzulassen, mich aber keine Sekunde aus dem Blick verlor. Mit vorsichtigen Schritten bestritt ich meinen Weg zur Tür. Als ich gerade meine Hand ausstrecken wollte, um die Klinke herunterzudrücken, kam mir Nathan zuvor und ich war ihm für einen kurzen Moment so nahe, dass ich seinen Geruch wahrnahm. Er bestand aus einer Mischung von Desinfektionsmittel und etwas anderem, das ich nicht genau einordnen konnte, jedoch Bilder von einem Lagerfeuer in einem Wald vor meinem inneren Auge heraufbeschwor. Ich musste ein paar Mal blinzeln, um mich wieder auf die Realität konzentrieren zu können. Während meines kurzen Aufenthalts in meinem Krankenzimmer hatte ich nicht einmal darüber nachgedacht, einen Blick durch das Bullauge meiner Tür zu werfen – jetzt bereute ich es, denn ich besaß nicht den blassesten Schimmer, was mich auf der anderen Seite erwarten würde. Mit pochendem Herzen und trockenem Mund wagte ich mich bis in die Mitte des ebenso klinisch weißen Flurs vor, dann blieb ich stehen und wandte mich um. Zu beiden Seiten erstreckten sich lange Gänge, die in regelmäßigen Abständen von Türen unterbrochen wurden, jede deckungsgleich mit der darauffolgenden. Grelle Neonröhren warfen ihr künstliches Licht von der Decke und schienen meine Umgebung unreal erscheinen. „Da entlang“, wies Nathan mich an, nachdem er die Tür erneut hinter sich geschlossen hatte und deutete zu seiner Rechten. Ich zögerte einen Augenblick, folgte dann jedoch seiner Anweisung. Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, während ich versuchte, mir den Weg zu merken. Am Ende des Korridors bogen wir nach links ab, kurz darauf wandten wir uns nach rechts. Ich zählte die Türen zu meiner Linken, denn sie waren mein einziger Anhaltspunkt. Die ganze Zeit über verweilte Nathans Hand auf meinem Rücken. Schließlich erreichten wir einen Fahrstuhl, in den er eine Zahlenkombination eintippte, woraufhin dieser uns an einen anderen Ort brachte. Ich hatte nicht erkennen können, welche Ziffern er benutzt hatte, weshalb mein Plan, mir den Weg zu merken, sich an dieser Stelle in Luft auflöste. Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus. Mit Nathan auf so engem Raum allein zu sein, wo ich ihn doch überhaupt nicht kannte, ließ Nervosität in mir aufsteigen. Ich zwang mich, tief ein- und auszuatmen, während wir uns weiterbewegten und mir nichts von meiner Anspannung anmerken zu lassen, denn ich hatte das Gefühl, dass er mit einem unpassenden Kommentar aufwarten würde. Es dauerte noch einige Zeit, bis wir schließlich zum Stehen kamen und als sich die Türen endlich öffneten, sprang ich beinahe heraus. Nathan hatte seit einigen Minuten nichts mehr gesagt, was mich verwirrte, mir jedoch die Anstrengung ersparte, ein Gespräch zu führen. Erst als wir vor einer Tür stehenblieben, die mit der meinen identisch war, auf der in schwarzen, dicken Lettern ‚ZUTRITT VERBOTEN‘ geschrieben stand, hob er erneut das Wort. „Wir sind da“, begann er und sah mir so tief in meine Augen, dass ich nicht genau sagen konnte, ob er mir mit seinem stechenden Blick etwas Bestimmtes vermitteln wollte, das er nicht laut aussprechen konnte. „Nachdem du das Zimmer betreten hast, wirst du von Doktor Pierce in allem Weiteren unterrichtet und während deiner Tests von ihr überwacht werden. Viel Glück, kleiner Kolibri.“Und ohne ein weiteres Wort abzuwarten, wandte Nathan sich um und verschwand im nächsten Korridor. Ein seltsam leeres Gefühl durchflutete mich für kurze Zeit. Wenig später erkannte ich es als Angst, von ihm alleine gelassen zu werden, aber das war vollkommen verrückt. Ich wusste nicht einmal seinen Nachnamen und fühlte mich ohne ihn in meiner Nähe verloren? Vielleicht lag die Ursache darin, dass er die einzige Person war, die ich, seit ich aus dem Koma erwacht war, kennen gelernt hatte. Und dann wieder dieser Kosename. Kleiner Kolibri. Ich zwang mich, meine Gedanken zu verscheuchen und mich auf das zu konzentrieren, was vor mir lag. Ich würde Tests unterzogen werden und sie würden mich daraufhin – wie hatte Nathan es genannt? – einer Division zuordnen. Was auch immer das bedeutete. Ich hatte keine Wahl. Zwar befand ich mich ganz alleine in diesem verlassenen Korridor, aber ich hatte nicht die geringste Vermutung, in welche Richtung ich mich bewegen musste, um einen Ausgang zu finden. Der einzige Weg, um Antworten zu finden, befand sich direkt vor mir. Mit zitternden Händen drückte ich die kühle Klinke herunter. Lautlos schwang die Tür auf. Eine Frau wandte sich zu mir um. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Zopf zusammengebunden. Eine schwarze Brille mit viereckigen Gläsern thronte auf ihrer Nase. Der weiße Kittel erinnerte an Nathans Kleidung, strahlte jedoch mehr Autorität aus. „Hallo, Quinn. Wie schön, dass du dich bereits so gut erholt hast. Wir können gleich beginnen. Komm doch herein.“ Das Lächeln auf ihren Zügen wirkte genauso kühl, wie das Licht, das aus den gleichen Neonröhren strahlte, wie in jedem Korridor dieser Einrichtung. Während ich die Tür hinter mir schloss, zog sich mein Magen zusammen. Ich war mit Doktor Pierce allein in einem Raum und es fühlte sich ganz und gar nicht so an, als ob die nächsten Stunden ein Kinderspiel werden würden.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.01.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme diesen Roman nicht nur einer besondern gleich drei ganz wichtigen Menschen in meinem Leben. Sie haben mir gezeigt wie wichtig es ist Vertrauen zu könne, Freundschaften zu halten und zu Pflegen. Nicht nur auf der Ebene der Gedanken und meiner tiefsten Gefühle haben sie es geschafft mein Herz mit einem neuen Feuer zu entfachen sondern auch meinen Geist vollends von sich einnehmen lassen. Dieser Roman ist für euch. An besonderen Dank möchte ich an dieser stelle noch an Nathan Graham aussprechen. Der Kolibri fliegt so lange ihn seine flügel tragen mögen...

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