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Zur Literatur und Philosophie

 

   In Deutschland ist sie ziemlich unbekannt geblieben, trotz aller Übersetzungen. Sie erzählt keine Geschichten mehr, sondern „Anti-Romane“. Nach dem tendenzwendigen Scheitern sozialreformatorischer Hoffnungen gab es einmal den Rückzug auf die neue Innerlichkeit. Tot scheinen vorerst littérature engagée wie l'art-pour-1'art, sowohl der linke Agitprop-Roman als auch die Sprache, die sich aus lauter Weltangst oder Welt­verlust zu ihrem eigenen bevorzugten Gegenstand macht, aber auch dazwischen der streng dokumentarische Realismus. Wenn nun jüngeren Autoren in ihren seelischen Privatissima noch viel larmoyante Trivialität und Beliebigkeit unterläuft, hat die Sarraute den lange unzeitgemäßen psycho­logischen Realismus bereits zur Vollkommenheit entwickelt, bevor die Neue Sensibilität gefordert wurde von ihren Analphabeten. Ihr böser Blick auf die rationalisierenden Klischees im Alltagsbewusstsein der Bildungsbürger ist so schneidend kalt wie bei ihren größten männlichen Konkurrenten, aber er reicht in unterirdische Bewußtseinszonen, die kein Romancier neben ihr bisher beleuchtet hat. Von den jüngeren Autoren, die im Innen­leben eben ein letztes tröstliches Refugium an Selbstgewißheit suchen, unterscheidet sie der böse Skalpellblick, der in den schönen Seelen eher Morast als Natürlichkeit entdeckt. Und doch steckt in ihrer sarkastischen Härte des Entlarvens, Zersetzens, Bloßstellens und pathetischen Verdächtigens mehr Wärmetrost als bei der geschäftsmäßigen Güte der alerten Literaturhumanisten oder menschelnden Solidaritätsduselei.

 

    Nathalie Sarraute hat eine literarische Spezialtechnik entwickelt, die Futilität unscheinbarster innerer Handlungen einzufangen, die selbst von der Psychoanalyse noch kaum begrifflich eingeholt und uns doch irgend wie befremdend vertraut sind. Sie endet nicht wie die Jünger Freuds bei Musterkatalogen fix und fertiger Letztmotive, sondern das Beste an ihrem unvergleichlichen Stil ist dieses vorsichtige Tasten und Umkreisen, Anformulieren und sich selber immer wieder neu durchstreichende Verbalisieren dieser innersten amöbenhaften Mikrobewegungen in uns. Die Sprache versucht sich da selbst in statu nascendi zu ertappen, um ihren subtilen Gegenstand nicht zu paralysieren und zu töten, sondern seiner quecksilbrigen Lebendigkeit geschmeidig zu folgen. Die Sarraute kommt mit einem Minimum an realen Auslösern aus, an denen sich die krebsartig wuchernde, hysterisch überdeterminierende Sprache entzündet, der Riesenaufwand phantasmagorischer Intuitionen, sobald das unmittelbare Selbst- und Weltvertrauen nicht länger durch die Konsensussignale der Gemeinplätze abrufbar ist. Aber sie endete nicht bei masturbierenden Wörtern, bei der formalistischen Sprachverabsolutierung und der überaus struktualistischen Kälte vieler ihrer Schriftstellerkollegen. Hier feiert nicht die Sprache sich selbst, wie Wittgenstein warnte. Sie zielt nur auf Sujets, auf deren Erfassung sie eigentlich nicht vorbereitet ist, geheimste Mikrodramen unterhalb der kommunikativen und expressiven Ober­fläche unserer Rede. Empörend ist dieses Unterfangen, weil es uns prinzipiell unterstellt, wir meinten eigentlich stets etwas anderes als das, was wir absichtlich sagen. Und das nicht deshalb, weil wir lögen oder verdrängten, sondern: Hinter unserem offiziösen Diskurs entdeckt Frau Sarraute, eine ehemalige Strafverteidigerin, eine unterirdische sous-conversation, das prädialogische Murmeln eines phantastischen seelischen Rohstoffs als wahren Täter unserer Taten und konventionellen Absichtserklärungen. Das kränkt unsere Eitelkeit, die sich Herr im Haus des eigenen Mundes wähnt, beleidigt dann aber auch die allzu Schicksalsgläubigen, da die Sarraute keinen Zweifel daran läßt, daß wir es selbst sind, die da hinter unseren eigenen paranoiden Worten und Gedanken anders sprechen, fühlen und planen, als wir uns glauben machen wollen.

 

1948 schrieb Nathalie Sarraute ihren ersten Roman, der zugleich der erste später so genannte nouveau roman war: "Porträt eines Unbekannten". Jahrelang suchte sie für das Manuskript vergeblich einen Verleger, bis Jean-Paul Sartre auf sie aufmerksam wurde und ein berühmt gewordenes Vorwort schrieb. Dreißig Jahre später legte die 75-Jährige ihren siebenten, nun schon vieux nouveau roman vor: "sagen die dummköpfe". Es wurde auch ein Buch über ihren Entdecker Jean-Paul Sartre, obwohl man das nicht wissen muß, um es lesen zu können. Es handelt vom komplexen Verhältnis zwischen Ideen, ihren Schöpfern und deren Konsumenten. Wie immer bei der Sarraute spielt auch dieser Roman unter Bildungsbürgern und nicht unter Arbeitern. Es geht um das Entstehen und die Dynamik sozialer Hierarchien unter Intellektuellen, von denen ja per definitionem niemand zu den Dummköpfen zählen will. Die Spielregel: Irgend jemand äußert eine Meinung, Ansicht, Überzeugung. Um ihn fertigzumachen, genügt es nachzuweisen, was er, der die Intelligenz selbst ist, dazu gesagt hat oder sagen würde: "So reden die Schwachköpfe“. Obwohl der Name nie genannt wird, ist klar, wer Er ist: Sartre, die letzte Instanz, die in dem Maße alles beurteilen kann, in dem sie von niemandem mehr beurteilt werden kann, weil jeder ihn freiwillig zur obersten Autorität erhoben hat, zum Urmetermaß der Intelligenz. Nicht kraft Argumentation, sondern durch einen sozialen Akt, der es überhaupt erst erlaubt, eine intellektuelle Gruppe zu strukturieren, nach Klugen und Dummen, nach Oben und Unten. In diesem unterschwelligen Macht­kampf ist die Idee kein Mittel der Wahrheitsfindung mehr, sondern eine Waffe zur sozialen Selbstbehauptung und Notwehr, zur Integration und Selektion, ein „Kulturkapital“ (Pierre Bourdieu). Die Idee und die Sache selbst lösen sich auf dabei, und Madame Sarraute kann darauf verzichten zu sagen, um welche Ideen es sich da überhaupt handelt, deren Prestigewert allein wichtig ist. Wie im Reagenzglas wird beob­achtet, was die Idee unter den Beteiligten anrichtet samt der Angst, von ihr ausgeschlossen zu sein – als Dummkopf. Sie ist nur ein Katalysator, ein Vorwand, der das ganze komplexe Spiel der paranoiden Projektionen, Rejektionen, Inthronisationen, Initiationsrituale und Rangzuschreibungen in Bewegung setzt. Dieser Katalysator war in ihren früheren Romanen ein Buch ("Die goldenen Früchte", 1963, "Zwischen Leben und Tod", 1968) oder eine Skulptur ("Hören Sie das?", 1972), ein Gemälde ("Porträt eines Unbekannten"), ein erfolgreicher Bürger ("Martereau", 1953) oder nur ein schweigsamer junger Mann (im Hörspiel "Le silence", 1965).

 

   Dieses soziale Mikrodrama spielt sich ab vor einem allgemeineren, das Sartre selbst in seinem Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ (1943) beschrieben hat und vielleicht doch jene Idee enthält, die in diesem Roman die Protagonisten beherrscht und verhext: Jeder für sich allein ist ein grenzenloses Universum von Allmacht und Allwissenheit, ein narzißtisches Monstrum. Sobald an meinem Horizont der andere auftaucht, der für sich selbst ein eben solches unbeschränktes All ist, schrumpft mein Universum unter seinem Blick rasch zusammen zu einem kleinen Bestandteil seiner Welt. Wie sein Universum unter meinem Blick zu einem winzigen wertlosen Teil meines Alls werden kann. Ich bin das, was der andere in mir zu sehen beliebt. So kann ich unter Intellektuellen ständig zum Dummkopf werden. Im Kampf gegen diese Gefahr kann ich mich z. B. unter den Schutz von Ihm stellen, der jeweils die paradigmatische Intelligenz selbst ist für meine In-group.

 

Nur bin ich dann kein Individuum mehr, sondern Knotenpunkt von Kraftlinien, die in diesem Fall von der fetischisierten Autorität nicht der Idee ausgeht, sondern ihrer Schöpfer und Verwalter. Mein Kurswert in den Augen jener, für die ich etwas zählen will, ist dann meine Stellung zu Ihm, der Verkörperung seiner Idee, die ohne ihn gar nicht lebensfähig wäre und ohne unseren freiwilligen Entschluß, sie zum Maßstab unserer Sozialisationen zu machen. Das Besondere an diesem Roman ist aber nicht diese Idee, was Ideen aus uns machen, sondern die literarische Technik, mit der sie einfängt, wie ich durch die soziale Autorität der Ideen hindurch derjenige werde, durch den hindurch, durch dessen Will­fährigkeit hindurch die Idee erst ihre Autorität gewinnt – auch gegen mich. Aber diese Gedanken sind wie gesagt nur Vorwände, um von etwas zu sprechen, worüber bisher noch nie gesprochen wurde, nämlich über den Ort, an dem unsere Vorstellungen, Gefühle und Aktionen erst entstehen. Die Sarraute hört stets das Gras wachsen, sie sieht überall Gespenster, sie spürt unsere Leidenschaften dort auf, wo sie aus einer Untiefe auftauchen, für die sie eine einzigartige Tageslichtsprache erfunden hat, dort, wo wir noch nichts an der Realität überprüfen können und wo das herrscht, was Freud die Logik der Primärprozesse nannte. Freud fand Worte für sie, die Sarraute findet Worte dafür, wie sie ihre Worte finden, d. h. im Tageslicht zu überleben suchen. Wer sich für inneres Neuland interessiert, sollte das Buch lesen. Es ist revolutionär, weil es wirklich Neues bringt, d. h. an das Älteste erinnert, das über dem Alten vergessen wurde, welches uns allen mit Recht zum Hals heraushängen dürfte.

 

Von Kant zu Schiller

 

„Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, / Wenn unterträglich wird die Last – greift er / Hinauf getrosten Mutes in den Himmel / Und holt herunter seine ew´gen Rechte, / Die droben hangen unveräußerlich / Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst – “ („Wilhelm Tell“, 2. Aufzug, 2. Szene)

 

Einen französischen Kleist gab es auch, einen französischen Hegel aber nicht. Einen Fontane hatte England auch, einen Kant nicht. Die klassische deutsche Philosophie ist so bedeutend, daß die Philosophen der letzten Jahrhunderte in den übrigen Ländern sich dagegen ganz embryonal oder epigonal ausnehmen. In Naturwissenschaft, Philosophie und Musik sind Deutsche die Weltmeister seit etwa einem halben Jahrtausend. Wie weltmeisterlich ihre Künste und Wissenschaften sind, das wissen nur die Teutonen selber nicht, ihre Konkurrenten wissen es so gut, daß ihr Ressentiment gar nichts davon wissen will und den deutschen Geist als bloßen Vorläufer von Vernichtungsfabriken verdächtigt.

 

Um 1800 war der Gipfel der europäischen Kultur erreicht, und er wurde erreicht in Deutschland. Die Tyranneien des 20. Jahrhunderts sind zerfallen, und es ist Zeit, die Kulturgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte als Verfallsgeschichte neu zu schreiben. Sie könnte gestrichen werden, ohne etwas Wesentliches zu vermissen. Sie war ein einziger Abstieg von einem Gipfel, der seither nie und nirgendwo wieder erreicht wurde. Am philosophischen Fundament der Kultur ist das am leichtesten abzulesen. Immanuel Kants Werk bildete den Gipfel der europäischen Aufklärung. Die Denker nach ihm arbeiteten auf seinem Boden weiter oder waren Gegenaufklärer bis auf den heutigen Tag. Schillers Werk bildet den Gipfel der deutschsprachigen Literatur nicht deshalb, weil andere Schriftsteller kein Talent gehabt hätten, sondern aus Gründen, die heute nicht zufällig nichts mehr gelten. Daß Schiller unserer Gegenwart nur noch als hohler Phrasendrescher gilt, spricht nicht gegen seine Sprachgewalt, sondern gegen die phrasendreschende Gegenwart. Wer philosophisch vorwärts denken will, muß wieder "zurück zu Kant", und wer der deutschsprachigen Literatur ihren Sinn zurückgeben will, muß zurück zu Schiller. Schiller gilt als beschränkt, weil er sich treu blieb; Goethe gilt als universell, weil er mit allen Zeitgeistern hurte. Goethe hat von Schiller so profitiert, wie Schiller umgekehrt nicht von Goethe, sondern von Kant. Ungemeines künstlerisches Genie hatten beide, aber Schiller ist seinem Rivalen Goethe so überlegen wie der biblisch denkende Kant dem pantheistisch abtrünnigen Spinoza. Hegel und Marx fielen hinter Kant so weit zurück, wie sie über ihn hinausgekommen sein wollten. Kant und Schiller dachten transzendentalidealistisch, Fichte und Hegel dachten transzendental- subjektivistisch, und alle einflußreichen Philosophen nach ihnen waren nicht zufällig geschworene A(nti)theisten, die den Menschen philosophisch aus und auf sich selbst gründen wollten und damit doch nur zu einer Ameise machten. Die von Kant und Schiller pointierte menschliche Autonomie wurde in der Folgezeit durch Psychologie und Soziologie, durch Historismus und technische Naturwissenschaften gründlich untergraben. Wenn die menschliche Unabhängigkeit nicht mehr von Gott abhängig ist, dann ist der Mensch viel drückender abhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen, materiellen Interessen und unterirdischen Triebschicksalen. Das Dichten und Denken nach Kant und Schiller nahm dem Menschen mit der göttlichen Würde auch die menschliche Würde und mit der Würde die Anmut, Demut und jeden Mut – außer der Armut. Die Freiheit des Menschen aufzubrechen, wohin er will, wird fortan von allen Seiten determiniert und unterminiert. "Wo Es war, soll Ich werden", sagte Freud, aber Schopenhauer, Nietzsche und Jung drehten den Satz und die Wahrheit einfach um. Hegel war der letzte Philosoph von Rang, der noch von Gott sprach, ohne ihn zu töten. Hegels Tod 1831 markierte mit dem Tod Gottes in der Geistesgeschichte das Ende der ernstzunehmenden Philosophie, und die halbherzigen Wiederbelebungsversuche seither blieben erfolglos. Die katholische Philosophie, was nur Franzosen hier und da begreifen, blieb seither und bis auf weiteres die allein maßgebende in Europa. 1780–1800: Die authentische europäische Philosophie war die klassische deutsche Aufklärung, die die biblische Religion nicht totschwieg, sondern nur aus den Fängen aller Machthaber und Obskurantisten befreite.

 

Wer nicht dort wieder anknüpft, läuft weiter in die Irre und führt andere weiter irre. Nietzsche verkündet nur das Ende eines Gottes, der schon seit Schillers Tod totgesagt war. Seither wird der Leichnam der Schöpfung seziert, und die Anatomen machen immer absurdere, bizarrere und grausigere Funde. Die Kultur nach dem 'deutschen Idealismus' ist Abfall von diesem Höhepunkt und also Müll, der einmal geistesökologisch entsorgt gehörte.

 

Die letzten zwei Jahrhunderte dürfen und müssen getrost übersprungen werden, sie halten höchsten Maßstäben nicht stand und wären gehörig zu 'dekonstruieren'. Alle handgreiflichen Leute, die den „deutschen Idealismus“ als vermeintliche Ideologie abtun, die ihren Unterbau verschweige, oder ihn nur beerben für entgegengesetzte Zwecke, stehen inzwischen selber als die einzigen wirklichen Ideologen da. In den Jenaer Frühromantikern, deren Lob sich Goethe gern gefallen ließ, wehrte Schiller instinktsicher eine aller Objektivität "entfremdete Subjektivität“ (Hermann Schmitz) ab, die in Hegels Dialektik gegen sich selbst gekehrt wurde, um nur, wie Karl Marx monierte, eine Scheinobjektivität zu erreichen. So stark Schillers poetische Einbildungskraft war, Kants fundamentalistische Aufklärung über menschliche Selbst-gesetzgebung verriet er nicht an Fichtes und Kierkegaards, Schlegels und Hegels Subjektivismus der freien Einbildungskraft, die sich aller objektiven "Stellung des Menschen im Kosmos" entbunden wähnte.

 

Kleist ist am Kant der theoretischen Vernunft zerbrochen und Schiller am Kant der praktischen Vernunft erwachsen geworden. Dialektik der Gegenaufklärung: Erbgut und Umwelt, Trieb und Stoff, Biologie und Hirnforschung, Geschichte und Gesellschaft sind bloß immer neue Masken menschlicher Selbstentwürdigung geworden, aber inzwischen selber nur jene hohlen Phrasen, die Schiller angelastet werden. Aus diesen Anfechtungen geht sein Geist nur immer jugendlicher hervor und wirft unsere Jung-Greise auf den Gottesacker der Geschichte.

 

Diese dramatische Hochspannung zwischen menschlichem Realismus und göttlicher Bestimmung wird nicht mehr verstanden von den Friedhofsnaturalisten heute. Das Pathos des Kantianers Schiller ist Leiden an und Leidenschaft für die göttliche Würde des Menschen, den Hohlköpfen klingt es allzu hohl. Die von allen Emanzipationsbedingungen emanzipierten Zeitgenossen wollen nichts hören vom Gesetz Gottes, also von der Rache der Natur an den Kulturlosen. Goethe verführte ihn, noch einmal mehr die "Götter Griechenlands" zu besingen, die doch längst aufge-gangen waren in einem biblischen Gott, dessen Idee als Vernunftgesetzgeber der Protestant Schiller mit dem Protestanten Kant feurig (an)erkannt hatte. In seiner Antrittsvorlesung zur „Universalgeschichte“ (1789) sagte der Idealist, dass geistige Tätigkeit ein göttlicher Selbstzweck sei und kein Karrieremittel zum Broterwerb.

 

 

 

Phänomenologische Ästhetik

 

Kunstobjekte haben mit Grundaffekten gemeinsam, daß sie bereichern sollen, ohne zu überschwemmen, verstören, ohne zu zerstören, uns überwältigen wollen, ohne zu überfordern, und uns mitreißen sollen, ohne uns zu zerreißen. Künstlerische Gestaltung liefert uns Inhalte(n aus) und gibt uns (und ihnen) Halt und Gehalt. Ernst Cassirer und nach ihm Hans Blumenberg haben darin den Sinn der Kultur und nicht nur der Kunst gesehen: Von den bedrängenden Eindrücken hat das animal symbolicum die festliche Fülle, von den verdrängenden Ausdrücken aber die feste Hülle. Der "Absolutismus der Wirklichkeit" überfährt uns, wenn wir etwas erfahren müssen, er überfällt, überkommt und übergeht uns, wenn wir ihn nicht kulturell überlisten, wenn ich nicht überstehen kann, was mich überfluten will. Jedes Kunstwerk, ja, schon jeder gelungene Ausdruck stellt ein übersichtliches pars pro toto dar und macht das große Ganze in einer verkleinerten symbolischen Ausgabe mit Händen greifbar und ins Auge faßbar. Das Grenzenlose wird beschränkt auf die begrenzten Maße eines seiner charakteristischen möglichen Teile, die an ihm teilhaben. Was uns übersteigt, wird so hantierbarer.

 

Wir überflügeln und überfliegen in Werken, was uns in Wirklichkeit untergehen und unterliegen läßt, und das große Ganze darf dabei nicht verkleinert werden durch die Teile, in denen es künstlerisch ganz erscheinen soll. Das Werk will überall, d. h. über allem sein. Es übersieht vieles, um die Übersicht zu behalten, und will den Abgrund zu uns überbrücken. Das Mitreißende und Hinreißende an Kunstwerken will uns auch hinwegreißen wie die übermächtige Realität. Jedes Kunstwerk sammelt Sparpfennige an Mikrosiegen, um die Makrokatastrophe aufzuhalten oder aufzuschieben, um dem Sturm der Geschichte, dem Ansturm der Gefühle standzuhalten. Jedes kurze Gedicht schon reduziert die Überkomplexität der Welt auf wenige überschaubare Züge und macht sie griffiger im Geiste. So will in Worten überwinden, was im Leben nicht überwältigen soll. Die Überlegung im Kopf fühlt sich der Unterlegenheit im Leben überlegen. Kurz : Kunst ist ein imaginärer Sieg über reale Niederlagen, und der gute Leser eines Romans darf an diesem fiktiven Triumph über seine faktischen Desaster parasitär teilhaben. Soweit stimmt die alte These, daß ich immer mitschreibe an dem Roman, den ich lese, und mitmale an dem Gemälde, das ich betrachte, wenn ich nicht nur einem fremden Sieg applaudieren soll, indem ich in der eigenen Scheiße sitzen bleibe. Schopenhauer legte ganz besonderen Wert darauf, daß der Künstler uns ermögliche, bloßer Zuschauer des Trauerspiels der Welt bleiben zu dürfen, statt dessen Opfer darstellen zu müssen. Ein Drama genießen heißt, daß man das Kunststück des Autors mitgenießen darf, imaginärer Herr über seine realen Fiaskos zu sein.

 

Überwältigend wirken Affekte, wenn das als übermächtig erlebt wird, was sie vorwarnend hervorruft, und Gefühle sind alarmierende Vorgefühle überwältigender Kräfte, die unsere Fassung bedrohen. Die endgültige Fassung eines Kunstwerks sorgt dafür, daß wir unsere seelische Fassung in einem Überraschungsangriff auf unsere Abwehrmechanismen probeweise kurzfristig verlieren – wie in der dort beschworenen Lebenslage – und durch die künstlerische Form im nächsten Augenblick auch schon zurückgewinnen. Alle Dichtung verdichtet hoffnungslos übermächtige Lebenssituationen auf ein handliches Übungsformat, simuliert Notlagen, um uns aus ihnen herauszu-führen: To get into trouble and out again. Man muß ja nicht siegen, es genügt schon, nicht zu unterliegen, und wer in Wirklichkeit verlieren muß, kann im Kunstwerk gewinnen.

 

Bin ich nicht in Form, bleibe ich kraft der Form des Kunstwerks, an dem ich teilhabe, meiner eigenen Unterlegenheit überlegen. Und der gute Roman braucht kein happy end, er ist schon selbst ein happy end, kraft seiner Wortgewalt gegen die Naturgewalten. Künstlerische Gestaltung stellt und hält fest, was sonst hinweggerissen würde in den Fluten der Zeit. Das Werk ist selbst der Standpunkt, den es nicht zu vertreten braucht, ein Stand-Punkt gegen die Stoß- und Fallgesetze. Künstlerische Fiktion: Vom sicheren Lehnstuhl aus läßt man sich mitfallen, um wenigstens in effigie als homo erectus sich wiederaufzurichten. Die Tragödie der Bühne besiegt geist- und wortreich die Tragödie des Lebens, das uns die Sprache verschlägt, und erschütterte Zuschauer triumphieren über verschüttete Mitspieler.

 

Das Elend ist schön zu sehen und schwer zu sein, wußte Schopenhauer. Nach Freud ersparen uns Komik, Witz und Humor virtuos den größten inneren Kraftaufwand. Kunst ist auch "höherer Jux" (Thomas Mann), der laut Schiller mit der Schwere des Lebens spielt. Künstler bringen uns künstlich in Notlagen, für die wir nicht gut in Form sind, aber in künstlerische Form gebracht werden. Dem Leser glückt zusammen mit dem Autor auf Papier besser, was ihnen im Leben mißlingt. Ästhetisch genieße ich meine Fähigkeit, mich freiwillig widrigsten Belastungsproben und Empfindungen auszusetzen, in denen ich mich lebendig fühle, weil sie mich in Fühlung mit Erfahrungen bringen. Erhaben wirken in Kunstwerken Mächte, die zu spannenden Heldentaten verführen, und schön wirkt auf jeden, was ihm erlösende Entspannung verheißt und leibhaftige Entlastung in schimmernder Ferne.

 

Der Künstler will seinen Kunden den Boden unter den Füßen wegreißen, um sie zu verunsichern, und raubt ihnen per Choc die Fassung, die er ihnen per Form sogleich zurückgibt. Er erschüttert probeweise falsche Sicherheiten, er gibt Rätsel auf und demonstriert ihre Unlösbarkeit, er stürzt uns in Verwirrung und ins Wechselbad ambivalenter Gefühle, aus denen es keinen anderen Ausweg gibt als die Struktur des Werkes selbst. Der Inhalt inszeniert Herausforderungen, die nur die Form meistert. Sie bannt Flüchtiges, entschärft Gefahren, besänftigt Turbulenzen, die sie aufrührt, stellt Fallen, um aus ihnen zu befreien, und schafft paradigmatische Krisenbewältigungsmodelle, an denen die Gefühlsgymnastik ihr Balanziervermögen üben kann zwischen sicherer, aber langweiliger Stabilität und gefährlichem, aber belebendem Aufruhr der Sinne. Aber Kunst trainiert nicht fürs Leben, sondern ist Selbstzweck und nicht einmal der Wahrheit, der Wirklichkeit und der Gerechtigkeit verpflichtet, was schon Platon störte. Kant handelte die Ästhetik ab in der "Kritik der Urteilskraft" und nicht nur der Einbildungskraft, deren Wunschdenken sich erträumt, was nicht leibhaftig da ist.

 

Einbildungskraft und Urteilskraft zusammen wollen unseren Geschmack bestechen, wo das Begriffsvermögen uns nicht überzeugen kann. In der Kunst toben sich Allmachtsphantasien der Ruhmsucht aus, um sich, wie Sartre meinte, angesichts eines gleichgültigen Universums als wesentlich empfinden zu dürfen. Sie setzt ja nicht gerade, wie Heidegger glaubte, die Wahrheit, aber doch eine Welt ins Werk, um deren Übermacht erträglicher zu gestalten. "Wer schreibt, der bleibt" und überlebt in sterblichen Kleinkindern oder in unsterblichen Kunstwerken, denn gefügte Form zerfließt nicht immer wie das Leben und zerrinnt nicht immer in der Zeit. Nicht die Welt ist im Wort oder Klang, im Bild oder Stein zu erfassen, aber ihr Wesen, das Wesentliche an ihr wie im allgemeinen Begriff, so in der "ästhetischen Idee" einer Vollkommenheit, der nichts Irdisches genügen kann, wenn sie sich im "sinnlichen Schein" des Werkes schon verkörpert und noch nicht in der sinnfälligen Erscheinung der aktuell wirklichen Welt.

 

Der „olle Jott“, die Gottheit und das Göttliche sind aus der Kunst verschwunden und hinterliessen bloß leere Zauberkunststücke. Kunst kommt nur noch von gekonntem Unwissen der Artisten und Gaukler und verliert sich in inflationärer Unfähigkeit, zu einem guten Ende zu kommen. Im Anfang war Gottes letztes Wort. Wer es nicht verstehen will, versteht sich immer wieder auf Kunst.

Zur Metaphysik und Logik des ZEN-Buddhisten

 

Ein Mönch fragte Meister Joshu: „Hat ein Hund die wahre Buddha-Natur oder nicht?" Joshu sagte „Mu". Dieses MU ist das Zentrum des ZEN. Auf Deutsch heißt es so viel wie Sowohl-als-auch-weder-noch. Entweder ist jemand ein Buddhist oder nicht, etwas anderes gibt es nicht nach dem Satz des Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten. Joshu sagt nicht einfach nur Nein. Er sagt nicht, der Hund habe keine Buddha-Natur. Damit sagt er aber nicht, daß der Hund eine Buddha-Natur habe. Er sagt offenbar Nein zu der ganzen Frage nach Ja oder Nein. Ein Hund ist so wenig Buddhist, daß er nicht einmal nicht Buddhist ist. Er ist so wenig Buddhist, wie ein Tisch böse oder der Verstand dreieckig sein kann. Die Buddha-Natur wird diesem Hund nicht einfach nur abgesprochen, als gäbe es Hunde, die so etwas haben, nur dieser besondere Hund habe zufällig keine.

 

Nur Menschen, nicht Hunde oder Tische, können Buddhisten oder auch Nicht-buddhisten sein, sagt der gesunde Menschenverstand. Der Unterschied zwischen einem Hund und dem Buddhismus wird als so groß hingestellt, daß davor der Unterschied zwischen Buddha und Nichtbuddha fast verschwindet. Das ZEN-Urteil, welches Hund und Buddha aufeinander bezieht, ist kein beja-hendes oder verneinendes Urteil, sondern ein sogenanntes 'unendliches Urteil'.

 

Darin besteht der Skandal für den gesunden Menschenverstand: ZEN nimmt gleichsam jedes Urteil als unendliches Urteil und umgekehrt jedes unendliche Urteil, als wäre es ein einfaches bejahendes oder verneinendes Urteil. ZEN tut so, als wäre ein Hund auf die gleiche Weise kein Buddhist, wie er zufällig kein Wachhund sein mag. Umgekehrt ist für ZEN ein Hund auf genau die gleiche Weise nicht bissig, wie er nicht Buddhist ist. Entweder ist einer in einem bestimmten Augenblick Buddhist oder nicht Buddhist, etwas Drittes gibt es nicht, und mehr oder weniger buddhistisch kann er so wenig sein, wie eine Frau nur ein bißchen schwanger sein kann. Man sieht hier schon, daß Beispiele, die nur zwei ausschließliche Alternativen kennen, gar nicht so leicht zu finden sind, wenn sie wie aus dem Leben gegriffen und nicht künstlich konstruiert wirken sollen.

 

Die meisten Koans laden den ZEN-Schüler ein, sich in Gedanken in eine Zwickmühle hineinzuversetzen, die nicht mehr als zwei Möglichkeiten hat, welche einander ausschließen und trotzdem beide verbaut sind. Der Mönch darf sich nicht entscheiden, sich nicht zu entscheiden; der Stock des Meisters zwingt ihn, einen Ausweg aus dieser Falle zu suchen. Nach allen Regem der Vernunft ist kein Ausweg möglich: Was der Mönch auch sagt oder tut, es ist falsch und wird bestraft. Das Licht, das ihm dann noch aufgeht oder eben nicht aufgeht, nennt ZEN nicht Licht der Vernunft, sondern „Sartori", die Enthüllung des Dritten Weges zwischen Buddha oder Nichtbuddha, Reden oder Schweigen, Leben oder Tod, gut oder böse, wahr oder unwahr.

 

Der Kommunikationstheoretiker Watzlawick sprach von einer fälligen „Lösung zweiter Ordnung", wenn keines der beiden Glieder eines exklusiven Gegensatzpaares gewählt werden könne und doch gewählt werden müsse. Meditation versetzt gedanklich in diese ebenso existenziell kritische wie unentrinnbare Zwickmühle. Der Adept soll nicht nur an gegebenen Alternativen zweifeln, sondern darüber in größte Verzweiflung geraten, bis der Durchbruch zum Dritten Weg jenseits der einander gegenüberliegenden Sackgassen gelingt. Wenn ich mit den Zähnen am Ast eines Baumes hänge und etwas Lebenswichtiges gefragt werde, bin ich verloren, ob ich schweige oder den Mund zum Reden aufmache. Wer nicht redet, der schweigt, wer nicht schweigt, der redet, und der Stock des Meisters fragt mich: Was tun?

 

Hast du die Natur Buddhas erreicht oder nicht? Wenn die Buddhisten eine Welt erschaffen, die nur aus Buddhisten und Nichtbuddhisten besteht, befreie ich mich aus dieser Falle, indem ich etwas finde, was jenseits der Alternative Buddha oder Nichtbuddha steht. Wenn ich z.B. nur ein armer Hund wäre, müßte ich weder Buddhist noch kein Buddhist sein. Dann wäre es auch möglich, daß ich weder rede noch schweige. Als Hund würde ich den Zwinger, nur zwischen Buddhist oder Nichtbuddhist wählen zu können, verlassen und frei von außen sehen können. Das bekannteste ZEN-Koan ist das „Einhandklatschen": „Wenn ich beide Hände zusammenschlage, klatscht es. Was ist das Geräusch einer einzigen Hand?" Paul Watzlawicks 'Lösung zweiter Ordnung' besteht eben nicht darin, daß die eine Hand allein kein Geräusch von sich gibt. Die eine Hand bleibt auf ganz andere Weise stumm als zwei Hände, die zufällig nicht zusammengeschlagen werden. Eine einzige Hand allein kann so wenig knallen, daß sie nicht einmal nicht knallen kann. Aber das Klatschen widerspricht ihr auch nicht, wie es einem Kreis widerspricht, nicht rund zu sein. Der Abgrund zwischen einer einzigen Hand und dem Händeklatschen ist gleichsam so groß, daß davor die Kluft zwischen Geräusch und Stille fast verschwindet. Wenn eine einzige Hand stumm bleibt, dann nicht deshalb, weil sie zufällig mal nicht klatscht. Sie bleibt so geräuschlos, wie ein Tisch nicht böse und der Verstand nicht dreieckig sein kann. Sie ist jenseits von Geräusch und Stille, wie ein Tisch jenseits von gut und böse ist. „Meine beiden Hände klatschen nicht": Das ist ein einfaches negatives Urteil. „Meine rechte Hand klatscht nicht": Das ist ein negativ-unendliches Urteil. Wenn zwei Hände nicht klatschen, klingt die Stille nicht so tief, als wenn eine einzige Hand nicht klatscht.

 

„Das Licht geht aus. Wohin ist es gegangen?" Etwas geht oder es geht nicht, beides schließt einander aus, und etwas Drittes scheint es nicht zu geben. In einem solchen Universum bin ich gefangen in der Alternative, zu gehen oder nicht zu gehen. Das Licht aber z. B. hat eine solche Innenwelt, die nur aus Gehen und Nichtgehen besteht, immer schon verlassen. Geht das Licht aus, läßt sich weder sagen, daß es irgendwohin geht, noch daß es bleibt. Es geht weder hierhin noch dorthin aus, ohne deshalb anzubleiben. Das verlöschende Licht geht nicht, wenn es geht, und es geht aus, ohne wegzugehen.

 

„Was ist die Farbe des Windes?" Wenn der Wind nicht rot ist, dann nicht deshalb, weil er grün oder blau ist. Er ist so wenig gelb, daß er nicht einmal nicht gelb ist. Es widerspricht nicht einmal seinem Begriff, rot oder nicht rot zu sein. Wenn Winde Farben hätten, müßten sie deshalb vielleicht nicht aufhören, Winde zu sein. Ein Wind aber ist auf ganz andere Weise nicht weiß, wie ein Tisch nicht weiß ist, wenn er braun angestrichen ist. Was Wind und Röte trennt, ist mehr, als was Rot und Grün oder Farbigkeit und Farblosigkeit trennt. Kurz: Ein ZEN-Buddhist ist ein Mensch, der den logischen Satz vom Widerspruch dadurch legitim unterläuft, daß er stets 'unendliche Urteile' fällt.

 

Mit Watzlawick zu sprechen, sind Winde und Farben, sind eine Hand und ein Händeklatschen, sind ein Hund und der Buddhismus durch ganze Metastufen voneinander getrennt, nicht nur durch spezifische Differenzen oder Wider-sprüche auf ein und derselben Kommunikationsebene. Ein ZEN-Koan sucht eine „Lösung zweiter Ordnung" aus einem Widerspruch darin, daß das Prädikat eines unendlichen Urteils einen Doublebind (oder wenigstens eines der beiden Glieder des Gegensatzpaars) enthält und das grammatische Subjekt dieses unendlichen Urteils den 'ausgeschlossenen Dritten' zu diesem Widerspruch bildet. Der ZEN-Buddhist sucht über jede Zwickmühle ein unendliches Urteil zu fällen, weil unendliche Urteile dem Satz des Widerspruchs nicht unterworfen sind. Vermutlich ist der Unterschied zwischen Subjekt und Prädikat eines unendlichen ZEN-Urteils sogar größer als der zwischen Metastufen bei Watzlawick. ZEN legt Welten zwischen Subjekt und Prädikat seiner Urteile.

 

Psychoanalytisch gedeutet, ist der 'ausgeschlossene Dritte' eine logische Abstraktion von der Figur des Vaters, der die Rolle des Dritten im Bunde zwischen Mutter und Kind spielt. Bateson und Watzlawick übertrugen die Russellsche Typentheorie von logischen Relationen auf menschliche Beziehungen. Danach wird ein Mensch schizophren, der keine Lösungen zweiter Ordnung aus den Doublebinds zwischen Mutter und Kind findet. Wollen ZEN-Meister die Vaterrolle spielen oder über die verlorene Einheit mit Mama symbolisch hinwegtrösten?

 

Meister Nansen trifft auf Mönche, die über eine Katze spekulativ diskutieren. Er verspricht, die Katze laufen zu lassen, wenn ihm gesagt werde, wie der Meinungsstreit zu entscheiden sei. Als die Mönche ratlos schweigen, zer-schneidet Nansen die Katze in zwei Teile. Später trifft er seinen Meisterschüler und wiederholt ihm den Fall. Dieser legt seine Sandale auf den Kopf und geht davon. Er geht auf dem Kopf und urteilt mit den Füßen. Nansen sagt zu ihm: „Wenn du vorhin dabei gewesen wärst, würde die Katze noch leben." Nansen sagt ihnen nicht explizit, seine Tat zeigt den Mönchen nur sinnfällig, was sie eigentlich tun, wenn sie über die lebende Katze diskutieren: sie zerreißen sie in zwei tote Hälften. Der Dritte Weg besteht oft nur darin, sich einfach einen Begriff zu machen von dem, was die widerstreitenden Objekte eigentlich tun. Er hält ihnen einen Spiegel vor, in dem sie sich erkennen. Nansen tut nichts anderes, als was die streitenden Mönche tun, wenn sie von entgegengesetzten Seiten am selben Objekt ziehen: Sie sind dabei, es in zwei Teile zu zerreißen. Am Ende hat jeder eine tote Hälfte in der Hand, um die lebende Katze nicht in die Hand des Gegners fallen zu lassen. Eigentlich zeigt ZEN nur in faßlicher Form, was es heißt, etwas wirklich zu er-fassen. ZEN hebt das abstrakte begriffliche Denken nur auf, indem es handgreiflich be-greift: Der Sinn der Sache wird sinnfällig. Der Begriff ist Nicht eines seiner Objekte, und dieses Nicht nennt Zen MU, wenn der Begriff sich verkörpert in einem beliebigen Objekt außerhalb der Klasse seiner eigenen Objekte und nicht abstrakt über seinen Objekten thront. Die Salomonische Weisheit im Kreidekreis? ZEN lebt paradox von dem begrifflichen Denken, über das es erhaben ist, denn der Begriff ist genau das, was ZEN sucht: das Eine über dem Vielen. Der Begriff von der Vielfalt ist selbst nicht vielfältig, sondern Einer, und der Inbegriff von Widersprüchen ist selbst widerspruchsfrei. Es genügt, sich von Gegensätzen einen Begriff zu machen, um sich in Gegensatz zu ihnen zu setzen. Mögen die Objekte eines Begriffs noch so verschieden voneinander sein bis zu konträrer oder kontradiktorischer Gegensätzlichkeit, ihr gemeinsamer Begriff zerfällt nicht in seine eigenen Objekte. Der Unterschied des Begriffs von seinen Objekten ist durch eine Meta-Ebene verschieden von der gegenseitigen Verschiedenheit der mindestens zwei Objekte voneinander. ZEN meditiert über diesen grundlegenden Unterschied zwischen dem Unterschied Objekt-Begriff und dem Unterschied Objekt-Objekt. Von einer guten alten klaren Begriffsbildung unterscheidet ZEN-Erleuchtung sich nur durch mindestens zweierlei:

 

1. ZEN bevorzugt Begriffe, die keine Klassen beliebig vieler Objekte sind, sondern nur ein einziges exklusives Gegensatzpaar enthalten. In den Koans besteht die Welt nicht aus roten, gelben, blauen und anderen bunten Dingen, sondern z.B. nur aus roten und nichtroten Dingen, zwischen denen zu wählen ist. Spezifische Differenzierungen vereinfachen sich zu kontradiktorischen Differenzen, und diese exklusiven Alternativen vereinfachen sich zum Begriff eines Dritten Weges an ihnen vorbei. Der einfache Gattungsbegriff vereint die vielen bunten spezifischen Differenzen seiner Objekte, der Inbegriff des ZEN vereint ihre beiden ausschließlichen Gegensätze Rot und Nichtrot.

 

2. Der Begriff von einem Gegensatzpaar ist 'ausgeschlossener Dritter' über dem Gegensatzpaar. ZEN sieht den Begriff verkörpert in einem beliebigen Objekt jenseits der Klasse seiner Objekte und lehrt umgekehrt jedes beliebige Ding als Inbegriff aller übrigen Dinge des Universums zu „begreifen". Aus den ,,Vielzuvielen“ (Nietzsche) erhebt sich Zen zum Einen, das not tut, aber aus dem erhabenen Einen kehrt es zurück zum gewöhnlichen Alltag der Vielen. Aus dem Nichts vernichteter Widersprüche kehrt ZEN verwandelt in die widersprüchliche Welt zurück. Jedes gewöhnliche Ding ist die wahre Alternative zu falschen Alternativen. Meister He-gel oder Hegel?

 

Die Hegelsche Dialektik läßt sich auch begreifen als Versuch, die bürgerliche Gesellschaft buddhistisch zu begreifen, und ZEN ist andererseits so etwas wie die idealistische bis materialistische Dialektik der fernöstlichen Gesellschaft. Die Frage, was ZEN ist, ist keine zenbuddhistische Frage, denn der philosophische Versuch, über ZEN zu sprechen, ist innerhalb von ZEN nicht verboten, sondern ziemlich sinnlos. Ein Tisch ist auf andere Weise nicht rund, als er nicht böse ist. Ein Kreis, der nicht rund ist, widerspricht sich, nicht aber ein Tisch, der nicht böse ist.

 

Etwas begreifen heißt, sich davon zu distanzieren. In Russells Typentheorie ist jede Begriffsbildung eine Befreiung von den begriffenen Objekten. Die Gegenstände eines Begriffs sind nur einfach verschieden voneinander, aber von ganz anderem logischen Typus als ihr Begriff selbst. Der Begriff sei selbst kein Element der Klasse von Elementen, die unter ihn fallen. Er sei durch eine ganze Metasrufe von ihnen getrennt und von ihren internen Differenzen eman-zipiert. Im Gattungsbegriff sind die spezifischen Differenzen der Individuen überschritten und überwunden. Transzendiert nun der abstrakte Allgemeinbegriff seine konkreten Gegenstände oder umgekehrt jedes Individuum seine Begriffe? Hegel und Russell meinten das erstere, ZEN und Adorno eher das letztere. Auch die europäischen Existenzphilosophien wollen nicht zwischen vorgegebenen Alternativen wählen müssen, sondern wählen können, wozwischen zu wählen ist. Sie suchen die wahre Alternative zu den falschen Alternativen von Wahr und Unwahr, Frei und Unfrei, Tag und Nacht, Rechts und Links, Mann und Frau etc. Wenn ich so frei bin, mich nur zwischen Schwarz und Weiß entscheiden zu dürfen, weil keine andere Farbe zugelassen ist, dann besteht die Freiheit darin, weder Schwarz noch Weiß zu wählen, ja, etwas zu suchen, was jenseits von farbig und farblos ist. Der ZEN-Buddhismus ist eine Religion, weil er falsche Alternativen permanent 'transzendiert' in Richtung auf einen 'Standpunkt', von dem aus die Unterschiede zwischen gut und böse, ja und nein verschwinden oder sich als Kehrseiten derselben Medaille entpuppen.

 

Der ZEN-Buddhist muß sich nicht mehr nur zwischen Tugend und Untugend entscheiden, sondern macht sich selbst zu einem Tisch, der weder gut noch böse sein kann. Er befreit sich aus dem Gefängnis einer freien Wahl zwischen nur zwei Alternativen. Ich vermute, er transzendiert diese falschen Alternativen bevorzugt durch „unendliche Urteile“, welche die Gegensatzpaare als bloße Kehrseiten derselben falschen Fünfziger darstellen. Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich, sagt der Totalitarist, aber was tut der, der dagegen ist, nur dadurch nicht für ihn sein zu können, daß er gegen ihn ist? Bekanntlich gibt es einen Konformismus der Nonkonformität, und bloße Negation bleibt an das gebunden, was es negiert. Erst wenn ich etwas (er)finde und bejahe, das beides negiert, was da einander negiert, bin ich frei von ihnen. Oder bin ich dann gefesselt an diesen bloßen Gegensatz zu dem bloßen Gegensatzpaar?

 

Es genügt offenbar nicht, nur einmal eine Alternative zu falschen Alternativen zu schaffen, wenn diese Überschreitung keine permanente Transzendierung von Transzendierungen wird. Der 'jenseitige' Standpunkt, von dem aus ich ein Ganzes überblicke, verschmilzt mit diesem Ganzen zu einer neuen und größeren Meta-Ganzheit, aus deren 'selbstbezüglichem' Kerker ich wieder heraustreten muß, um sie von außen beurteilen zu können. Die Kybernetik kennt den Begriff des 'übergreifenden Allgemeinen', das Inbegriff seiner selbst und seines Gegenteils ist, als stünde jedes Glied eines Gegensatzpaars selbst schon jenseits des Gegensatzpaars. Das ist, als wäre z.B. der Geist so etwas wie die Einheit von Geist und Ungeist. Im übrigen sind der ZEN-Mönch und Watzlawick ständig von derselben tödlichen Gefahr formalistischer Erstarrung und des mechanischen Schematismus bedroht, wenn sie erst das lebendige Fleisch von jedem konkreten Einzelfall wegschneiden müssen, um das logische Skelett von Double-bind und Lösung zweiter Ordnung daraus zu präparieren, d. h. dieses immergleiche logische Gerippe notdürftig mit dem dürren Fleisch stereotyp konstruierter Demonstrationsbeispiele zu bekleiden. Nicht zufällig nennt Watzlawick seinen logischen Subjektivismus 'Konstruktivismus', ein erztechnischer Terminus aus der Welt der Ingenieure und Reißbrettplaner. Er löst die Fälle, indem er nur das an ihnen löst, was daran mathematische Aufgabe ist. Ein Wahnsystem objektiv sehen, heißt für ihn nur, es von außen zu betrachten, und sei es von einem neuen Wahnsystem aus, an dem es seine Grenze und seinen Widerstand findet. Objektiv wird genannt, worauf ich mich einstweilen mit anderen oder nur mit mir selbst geeinigt habe. Der Unterschied von Wahn und Wahrheit wird zum bloßen Unterschied von individuellem und kollektivem Wahn. Dagegen pointierte Adorno emphatisch den „Vorrang des Objekts".

 

Ist ZEN ein negativ-unendliches Urteil über reines Ansichsein ohne jede an-dere Bestimmung? Für S. Maimon war ein unendliches Urteil leer, willkürlich und unreell – oder ein Witz. Sigmund Freud nannte den Witz einen „ersparten Hemmungsaufwand" des verpönten Unsinns. Sind Aphorismen europäische Zen-Koans, und sind Koans die moralistischen Aphorismen der Buddhisten?

 

ZEN zeigt, was nicht zu lehren ist, Philosophie lehrt, was nicht zu zeigen ist. Und der Aphorismus deutet auf das, was nicht zu deuten ist; die Philosophie deutet, worauf nicht gedeutet werden kann. Und die weisen Alten des 21. Jahrhunderts?

 

„Nichts, was ich hörte von jungen Menschen, konnte mich je beeindrucken.“ (Botho Strauß: „Vom Aufenthalt“, München 2009, S. 29) „Die Greise, wo ihnen schon viel zuviel Freiheit gewährt wird, müssen einer Massenum-erziehung zur Altersklugheit zugeführt werden. Prüflektüre: Montaigne, Leopardi, Goethe, Platon, Schelling, Scheler. Sie sollen sich winden und krümmen. Streng verboten ist der Satz: das verstehe ich nicht. Keine Bildungsreisen, keine stopfende Medienkost, immer fleißig mit der Bleistiftspitze die Zeilen entlang.“ (a. a. O., S. 233)

 
 

Denker oder Moralisten ?

 

Die metaphysica specialis meint Gott und die Welt und die Seele, heute nicht einmal mehr regulative Ideen, also monotheistischer Urgrund, Platos objektive Idee und Kants subjektive Vernunft. Nichts davon scheint übriggeblieben: Gott ist totgesagt, Ideen sind eher im Kopf als im Kosmos, und Kants „praktische Vernunft“, wenn nicht ökonomisch oder triebtechnisch entmachtet, ist bloß noch politische Gesinnungsethik. Hegel rehabilitierte

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 22.12.2017
ISBN: 978-3-7438-4733-0

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