Cover

Prolog

 

 

Uwe Post

Die ZENTAUREN

 

E-Book-Gesamtausgabe der Episoden I-III der eingestellten Serie

 

© 2015-2022 Uwe Post

uwepost.de

 

Lektorat der Originalausgabe: Simona Turini

Cover der Neuausgabe: Uwe Post (unter Verwendung von KI)

 

 

 

Prolog

Mit dem Schweif vertrieb Rauhuf die Fliegen, die sich an seinem Blut labten.

Vielleicht zum letzten Mal.

Trompeten schienen nach ihm zu rufen, aber vielleicht spielten seine Ohren ihm nur einen Streich. Sie dröhnten und rauschten, und eine unbekannte Kraft zog seine Augenlider nach unten. Er kämpfte dagegen an, kämpfte gegen den Tod. Behielt die Lider oben.

Vielleicht zum letzten Mal.

Einen Zipfel seines Mantels hatte er in die Brustwunde gestopft, um die Blutung zu stillen. Die Fleischwunde an der linken Flanke brannte, schien aber nicht tödlich zu sein. Anders der halbe, abgebrochene Spieß, der hinten quer in seinem Leib steckte. Selbst wenn seine Arme lang genug gewesen wären, hätte er ihn nie herausziehen können.

Vielleicht wäre das ohnehin keine gute Idee gewesen. Vielleicht hielt nur noch dieser Spieß seine Innereien zusammen. Wie Fleischhappen auf dem Grill.

Er wollte zu gerne etwas essen. Irgendetwas. Aber es gab nichts. Es gab nur Dreck, Kälte, Leichen und das Warten auf den Tod.

Rauhuf keuchte. Er fror, und bunte Sterne tanzten vor seinen Augen. Sogar hinter den Lidern. Tanzten, als wollten sie ihn fröhlich machen, hier, auf dem Schlachtfeld, am Ende seines Lebens. Noch einmal fröhlich machen.

Vielleicht zum letzten Mal.

 

 

 

 

13 Tage zuvor

 

Kapitel 1

Mähnen und Blut wallten. Hufe trampelten auf den Stufen der steinigen Arena. Anfeuerungsrufe woben einen dreidimensionalen Teppich aus Lärm und Emotion, dem niemand entgehen konnte. Oder wollte. Die Wett-Agenten des Königs nahmen immer noch Einsätze an, und ihre Rufe waren kaum leiser als die der Zuschauer. Lodernde Fackeln und scharfer Schweißgeruch waren die weiteren Zutaten im Schmelztigel der puren Männlichkeit, den es nur bei Ringkämpfen der Zentauren gab.

Staubsträhne fand alles an dieser Veranstaltung abstoßend. Die stinkenden Körper, das ungezügelte Geschrei, und erst recht die primitive Klopperei unten im Ring. Aber was sollte er machen – es war seine Pflicht, hier zu sein. Seine Pflicht, alle Ereignisse aufzuschreiben und für den König, die Nachrichten-Ausrufer und für die Chroniken des Zentauren-Volkes der Equos-Hügel festzuhalten.

Als Königlicher Schreiber war es Staubsträhnes Aufgabe, unbewegt zu berichten, und er war in der Arena vermutlich der einzige Zentaur, der dazu in der Lage war. Schuld daran war seine Abstammung. Denn Staubsträhne war ein Nachkomme eines Zentaurs und einer Eselin. Das Schicksal hatte es gewollt, dass aus dieser seltenen Verbindung ein überdurchschnittlich schlauer, aber unterdurchschnittlich kräftiger Zentaur mit viel zu langen Ohren entstanden war. Niemand respektierte einen Bastard wie Staubsträhne, und kein Zentaur respektierte die Arbeit eines Schreibers – sie hätten sie als überflüssige intellektuelle Zeitverschwendung bezeichnet, wenn sie derart lange Worte überhaupt beherrscht hätten. Meist nannten sie Staubsträhne abfällig »Muli« und kümmerten sich nicht weiter um ihn.

Im Ring der Arena neigte sich gerade der vorletzte Kampf dem Ende zu. Lange hatten die Kontrahenten einander nur umkreist; abgewartet, bis der anderen eine Schwäche offenbarte, um dann mit den schlimmsten Waffen der Zentauren – den Hinterhufen – einen entscheidenden Treffer zu landen. Langschweif und Heißblut – so hießen die beiden Kampfhähne – hatten allerdings beide schon mehrere Runden hinter sich und waren zu müde, um ein Risiko einzugehen. Viele Unmutsäußerungen hatten sich mittlerweile unter die Anfeuerungsrufe gemischt. Aber jetzt konnte Staubsträhne auf der Schreibrolle notieren, dass Langschweif Heißblut zu Boden gerungen und seine Oberarme um den Hals des vermeintlich Unterlegenen geschlungen hatte. Der dachte allerdings nicht daran, aufzugeben. Das Keuchen des dunkelbraun glänzenden Zentauren war mehr zu sehen als zu hören. Er versuchte, mit beiden Händen den Schwitzkasten zu lösen, gleichzeitig traten alle vier Beine in die Luft, ohne freilich Langschweif entscheidend zu treffen. Der wiederum blutete an der Flanke aus einer oberflächlichen Wunde, die ihm Heißblut mit einem Streiftritt beigebracht hatte.

Die Duelle der vom König veranstalteten Ausscheidungsturniere endeten, bis nur noch ein Zentaur übrig war. Für den Verlierer eines Duells war das Turnier beendet. Verloren war ein Duell entweder, wenn sich ein Zentaur nicht mehr bewegte, oder wenn er mit einen Handzeichen signalisierte, dass er aufgab. Letzteres geschah allerdings fast nie. Blut floss selten, Opfer gab es so gut wie nie, denn Waffen waren verboten. Selbst die Hufeisen mussten sich die Teilnehmer vor dem Turnier entfernen lassen, soweit sie welche trugen. Jede Runde, die ein Zentaur gewann, brachte ihm Silbermünzen ein, weil jemand aus seiner Sippe auf ihn wettete und ihm einen Teil der Gewinnsumme abtrat. Aber nur der Gewinner des letzten Duells, der Hartoha, gewann den ersten Preis, um den es eigentlich allen ging.

Triumphgeheul und Wutausbrüche mischten sich zu einem vorläufigen Höhepunkt in der Arena. Heißblut hatte den Widerstand aufgegeben, seine Arme hingen schlaff nach unten. Nur die Hinterläufe zuckten noch. Der zu einem eleganten Zopf geknotete Schweif lag regungslos im Dreck. Noch wagte es Langschweif nicht, von seinem Gegner abzulassen. Er reckte bereits eine Faust siegesgewiss gegen den von schweren Wolken verhangenen Himmel, aber er löste den Arm nicht vom Hals seines Gegners. Laut schrie er den Siegesruf in alle Richtungen: »Roo-ha! Ha! Ha!«

Die Zentauren um Staubsträhne herum drängten sich vorwärts, weiter Richtung Ring, denn sie wussten, dass das Finale unmittelbar bevorstand. Staubsträhne blieb zurück, um weiter den Überblick behalten zu können. Er wusste aus Erfahrung, dass sich in nächster Zeit nicht nur unten im Ring Berichtenswertes ereignen würde. Einstweilen notierte er, dass Langschweif das zweite Halbfinale gewonnen hatte. Er hatte den Vorderhuf auf die Schulter seines am Boden liegenden Kontrahenten gesetzt und jubelte seiner Sippe zu, die sich zum großen Teil auf einer Seite der Tribünen versammelt hatte. Freiwillige Helfer zogen Heißblut mit Seilen aus dem Zentrum der Arena. Langschweif ließ sich derweil von seiner Familie mit bunten Tüchern den Schweiß fortwischen, trank Wasser – etwas anderes war nicht erlaubt – und bereitete sich so auf das letzte Duell vor. Er hatte den Nachteil, keine nennenswerte Pause zu haben, denn der Halbfinalsieg seines nächsten Gegners, Hammerhuf, lag schon eine Weile zurück. Das alles notierte Staubsträhne akribisch, während die königlichen Beamten mit ihren sauberen Uniformkutten in aller Ruhe durch die Reihen trabten, um Wetten für das Finale anzunehmen.

Als Hammerhuf den Ring betrat, find es zu regnen an. Unzufrieden warf Staubsträhne den Wolken einen Blick zu. Er packte Feder und Tinte in seinen Bauchsack und holte den wasserfesten Kohlestift hervor. Den restlichen Text würde er später ins Reine schreiben müssen. Eine langweilige Arbeit, die Staubsträhne abzukürzen gedachte, indem er sich ab jetzt nur noch Stichworte notierte.

Von oben bis unten nass umkreisten Hammerhuf und Langschweif einander im Ring, die Fäuste drohend erhoben. Ihre Mähnen klebten an den Hälsen, jeder Schritt ließ Matsch spritzen. Die Zuschauer hatten sich in zwei Lager aufgeteilt, sie feuerten ihren jeweiligen Favoriten an, das Gebrüll erreichte einen neuen Höhepunkt. Neben Staubsträhne zischten die Fackeln, als Hammerhuf einen ersten Angriff wagte. Er wollte seinem angeschlagenen Gegner keine Gelegenheit geben, sich zu erholen. Ein täuschender Ausfallschritt, eine schnelle Wendung auf den Hinterhufen, und die erhobenen Vorderläufe schlugen nach dem Gegner. Der wich gerade noch aus, aber der schlüpfrige Untergrund spielte ihm einen Streich. Langschweifs Vorderlauf rutschte weg, und Hammerhuf setzte so geistesgegenwärtig nach, dass Staubsträhne das Wort nicht nur notierte, sondern auch noch unterstrich. Langschweif knickte vorne ein, und sofort war Hammerhuf über ihm. Jetzt jubelte nur noch die eine Seite der Arena. Der Rest sah die Niederlage kommen. Langschweif hatte sicher nicht mehr die Kraft, sich aus dieser Lage zu befreien. Aber er gab noch nicht auf. Wollte sich hoch stemmen, attackierte den Gegner mit den bloßen Händen. Griff nach dessen Beinen, bearbeitete die Knie. Er fand am nassen Fell keinen festen Halt, aber der Regen war nicht nur für Langschweif ein Nachteil. Auch Hammerhuf, dessen helle Farbe unter dem Dreck kaum noch zu erkennen war, rutschte ab, landete der Länge nach im Matsch. Aber er kam schneller wieder auf die Beine als sein Gegner, und schon lag er wieder schwer auf dessen Rücken. Arbeitete sich vor bis zum sich windenden Oberkörper, schlang die Arme um ihn herum. Langschweif würde dieses Duell in Kürze verlieren. Staubsträhne machte ein paar vorsichtige Schritte rückwärts, um weiteren Sicherheitsabstand zwischen sich und die nun bald bevorstehende Siegerehrung zu bringen. So bekam er kaum noch mit, wie Hammerhuf zum Sieger erklärt wurde. Die Schleifspur im Matsch, die der Verlierer hinterließ, war beinahe so beeindruckend wie die erhebliche Erektion, die Hammerhuf ungeniert zur Schau stellte.

Die Zuschauer drängten noch weiter ins Zentrum der Arena. Erhitzte, trunkene Körper rieben sich aneinander, dazwischen nur nasses Fell. Der Gestank war atemberaubend. Die Getränkeverkäufer priesen ihren Weizenschnaps noch lautstärker an als zuvor, aber niemand hörte sie. Die Lust an Gewalt ging unmerklich in etwas anderes über, als der erste Preis in den Ring geführt wurde. Staubsträhne schlug den Namen in seinen Notizen nach: Angaja hieß die Zentaurin, die der Lohn für den heutigen Sieger war. Das einzige weibliche Wesen in der ganzen Arena. So würdevoll, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war, schritt die Gurre im Kreis durch den Ring, gehüllt in ihren mit Silber durchwirkten zeremoniellen Umhang. Die geflochtenen Zöpfe hingen nass von ihrem schmalen Haupt, und doch schien sie für die meisten Zuschauer das Schönste, was sie je gesehen oder gerochen hatten. Langsam tänzelte sie ins Zentrum, wo Hammerhuf sie erwartete. Sie verbeugte sich vor ihm, und er tat es ihr gleich. Dann drehte sie ihm die Hinterseite zu, und das Publikum explodierte. Ohne dass er hinschauen musste, wusste Staubsträhne, dass die meisten Zuschauer spätestens jetzt unter Erektionen litten, gegen die sie im Gegensatz zum Turniergewinner nichts unternehmen konnten, denn bekanntlich reichen die Arme von Zentauren nicht bis hinunter zu ihrem Geschlechtsteil.

Dann ließ Angaja ihren Umhang fallen. Das Publikum stöhnte, nicht wenige zappelten hin und her. Hammerhuf zögerte keinen Moment, sprang von hinten auf die Zentaurin und drang in sie ein.

Dass es einige Zuschauer während der Vorstellung im Ring nicht mehr aushielten, notierte Staubsträhne emotionslos. Als vereinzelt verzweifelte Zuschauer ihren Vordermann damit mehr oder weniger überraschten, dass sie ihn besprangen und sich an seinem Hinterteil rieben und es bekleckerten, konnte sich Staubsträhne ein Lächeln nicht verkneifen. Ermutigt durch die vorwitzigsten Besucher, verschwanden die letzten Hemmungen im Sog der Arena.

Als Hammerhuf von Angaja abließ, rief er die rituellen Worte: »Muro ha gurre wa! - Möge dieser ein Mädchen entspringen.« Die Zuschauer, die noch dazu in der Lage waren, fielen in den Ausruf ein. Dann spülte der Regen Blut, Schweiß und alles andere hinfort.

Lange nachdem der Akt im Ring beendet war, verließen die letzten Besucher mit gesenkten Häuptern die Arena, um sich in den umliegenden Gasthäusern endgültig zu betrinken. Morgen würde sich keiner mehr daran erinnern, was er gerade getan hatte, zumindest nicht freiwillig. Niemand würde darüber sprechen. Es würde bloß in den Chroniken stehen, die Staubsträhne später unmittelbar vor jenen einordnen würde, die eine drastische Wende im Schicksal der Zentauren der Equos-Hügel beschreiben würden.

 

 

Kapitel 2

Herzogin Elsbet von Máros war eine ausgesprochene Schönheit. Jedenfalls erhielt man diese Information von Menschen, die keine Scherereien mit der Stadtgarde bekommen wollten. Der objektive Betrachter musste angesichts der kräftigen Hüften und des breiten Gesichts zu einem anderen Urteil kommen. Freilich verbarg Elsbet ihr Angesicht in der Öffentlichkeit hinter ihrem standesgemäßen Schleier, der über ihr weinrotes, mit Silber verziertes Gewand fiel. Ihr schwarzes Haar trug sie stets im Nacken als verknotete Zöpfe. Ein blass rotes, bodenlanges Kleid verbarg ihre Beine und Füße.

Langsam schob sich der vordere Teil des bootsförmigen Huts einer Zofe ins Zimmer. Elsbet seufzte. »Komm herein, Filda, ich schlafe nicht.«

»Hoheit!«, hauchte die Zofe und senkte das Haupt, »der Herzog wünscht Euch zu sehen.«

»Wie unerfreulich«, brummte Elsbet. Sie schlug die Beine übereinander und machte keine Anstalten, von ihrem Sessel aufzustehen. Sie liebte es, von hier aus durch ihr Turmfenster das Treiben unten im Hafen zu beobachten. Unzählige Schiffe aller Größen hatten an den Piers festgemacht, weiter draußen waren die farbigen Segel ankommender oder auslaufender Händler zu sehen. Máros lag in einer natürlichen Bucht in der Steilküste des Silbernen Meeres. Der Hafen befand sich am Fuß der Klippen, und schmale Pfade führten hinauf in die Stadt mit ihrem kreischbunten Marktplatz. Nackte Zentauren schleppten schwere Lasten hinauf oder hinunter.

Das Schloss des Herzogs lag auf einer vorgelagerten Klippe. Es konnte nur mit einer schwankenden Seilbahn vom Festland aus erreicht werden oder durch enge Tunneltreppen vom bescheidenen Bootsanleger am Fuß des Felsens. Das verhinderte das unerwünschte Auftauchen von Bittstellern oder Ursupatoren genauso wirkungsvoll wie abwechslungsreiche Besuche auswärtiger Freunde. Selbst an ihrem gemütlichen Fensterplatz blieb der Herzogin nicht viel anderes übrig, als sich furchtbar zu langweilen.

»Soll ich dem Herzog Eure Worte ausrichten, Hoheit?«, fragte die Zofe spitz. Als ihr die Herzogin einen unfreundlichen Blick zuwarf, strich sie ihr hautfarbenes Kleid glatt und sagte nichts mehr. Stattdessen trat sie zur Seite und machte so Platz für zwei Rabenkrallen – die schwarz gewandeten Soldaten der persönlichen Garde des Herzogs. Sie trugen samtene Gesichtsmasken, die auch die Augen verdeckten. Und doch konnten die Rabenkrallen sehen – Elsbet vermutete, dank fremdartiger Magie. Ein Rock aus schwarzem Leder verhüllte den Oberkörper der Soldaten, und die eingestickten Muster schienen Märchen aus mystischer Vorzeit zu erzählen. Keine zwei Röcke von Rabenkrallen glichen einander, und Elsbet hätte schwören können, dass sie, würde man sie alle in der richtigen Reihenfolgen nebeneinanderstellen, die Geschichte von der Entstehung der Welt erzählten. Eine Geschichte, in der sicher unzählige Waffen eine Rolle spielten. Waffen wie jene Degen, die an den Gürteln der Rabenkrallen hingen. Waffen, deren Träger keinen Spaß verstanden.

Die Herzogin senkte den Blick, dann stand sie langsam auf und schlich an den Gardisten vorbei aus ihrem Zimmer. Sie stieg die Wendeltreppe hinunter, vorbei an den schlichten Wandbehängen, die das kahle Mauerwerk mehr schlecht als recht verdeckten. Elsbet musste nicht nach hinten schauen. Sie wusste, dass die Rabenkrallen ihr folgten, obwohl sie keine Schritte hörte.

Die Treppe mündete in den Saal der Meister, dessen Wände mit gestickten Portraits der Alten Könige geschmückt waren. Nur schmale Fenster ließen Licht in diesen Saal fallen, dessen Wände nach oben hin schräg aufeinander zu liefen. Nicht nur deshalb wirkte er bedrückend – auch die blassen, farblosen Fratzen oben an den Wänden sorgten bei jedem Betrachter für Unwohlsein.

Durch eine schmale Tür führte Elsbets Weg einen hölzernen Steg empor, dessen Ritzen und Fenster keinen Zweifel daran ließen, dass er quer über den tief unten vom Meer umspülten Felsen führte. Die Brücke verband den östlichen Turm des Schlosses mit dem Hauptgebäude, das Elsbet sonst nur durch Gänge viel weiter unten hätte erreichen können.

Im hallenden Flur auf der anderen Seite überholten die Rabenkrallen Elsbet, gingen voran und führten sie eine Treppe hinauf. Vor einer massiven, erdbraunen Holztür blieben die Soldaten stehen. Hinter der Tür wusste die Herzogin das Teppichzimmer – und ihren Gemahl.

Sie klopfte, und als keine Antwort folgte, wollte ihre spitze Zunge flachsen: »Keiner da, gehen wir zurück.« Aber die schwarzen Masken der Raben kannten für Scherze nur stille Verachtung. Also zog Elsbet die Türe auf, würdigte ihre Begleiter keines weiteren Blickes und trat ein.

Herzog Rutbert von Máros verfügte über einen stattlichen Bart, der von derselben tintenschwarzen Farbe war wie sein Haupthaar, das in langen Locken über seinen Schultern hing. Für gewöhnlich trug der Herzog das mit Silber bestickte Plusterhemd der Fünf Gilden, deren Oberhaupt er als Herrscher der Stadt automatisch war. Aber im Teppichzimmer ging es nicht darum, jemanden mit Kleidung zu beeindrucken. Sondern mit dem, was gewöhnlich darunter verborgen war.

Rutbert wartete im Schneidersitz direkt unter dem blinden Fenster, durch das der bewölkte Himmel einen dünnen Lichtstrahl schickte. Neben dem Herzog und auch auf seinem Schoß lagen gemusterte Kissen aller Größen und Farben. Elsbets Blick wusste in diesem Zimmer nie, woran er haften sollte. An den karierten, gestreiften oder unbeschreiblich gemusterten Kissen? Oder an den bunten Teppichen, die in mehreren Lagen den Boden bedeckten, so dass kein fallender Gegenstand etwas anderes als Stille erklingen ließ? Dann schon eher an den Wandbehängen, die Bildergeschichten zu erzählen wussten, ähnlich wie die Röcke der Rabenkrallen, nur ein wenig fröhlicher, und die mit magisch leuchtenden Fäden durchwirkt waren, um die Dunkelheit aus dem Zimmer zu vertreiben?

Längst hatte sich die schwere Tür hinter Elsbet geschlossen, längst hatte der Raum sie gefangengenommen, längst schien der schwere Teppichfäden nach ihr zu greifen, um sie zu fesseln wie eine Spinne ihre Opfer. Um ihren Willen zu brechen wie ein Schamane den Hals eines Beutetiers.

Rutbert erhob sich langsam. Zwei, drei Kissen purzelten zu Boden. Nichts verdeckte mehr die Absichten des Herzogs. Vier, fünf langsame Schritte weiter stand Rutbert vor Elsbet, griff zärtlich nach den Falten ihrer Kleidung. Seine Lippen berührten die ihren, und der folgende Schauer ließ die scheinbaren Fesseln der Teppichfäden für einen Moment erschlaffen. Für einen Moment, den sie die Augen geschlossen hielt, der so lange dauerte, dass währenddessen alle Kleider von ihr abfielen. Schon spürte Elsbet die Zungenspitze ihres Gemahls an der ihren, seine warmen Hände an ihrem Po, und seinen aufgerichteten Penis, der gegen ihren Venushügel drückte. Die Zeit verlangsamte sich, als Rutberts Hände ihren Körper leicht anhoben, er selbst seine Lenden senkte, so dass die Spitze seines Penis ihre Schamlippen berührte.

In diesem Moment öffnete Elsbet die Augen einen Spalt weit. Sie sah über Rutberts Schulter hinweg die Karaffe, die unterhalb des Fensters stand, genau an der Stelle, die Rutbert zuvor mit seinem Körper verdeckt hatte, als er dort gesessen hatte. Unter der Karaffe brannte eine Kerze, und aus dem rotbraunen Gefäß stieg glitzernde Magie.

Und mit einem Mal lief die Zeit wieder normal für Elsbet. Sie stieß sich von Rutbert ab, raffte ihre Kleider vom Boden und warf sich gegen die Tür. Stürmte, nackt wie sie war, vorbei an den Rabenkrallen. Sollten sie doch gaffen, durch ihre schwarzen Masken, sollten sie doch denken, was sie wollten.

Ja, natürlich war Elsbet Rutberts Ehefrau. Und er sah nicht einmal schlecht aus. Aber sie liebte ihn nicht. Sie hasste ihn. Hasste ihn, wie sie ihren Bruder dafür hasste, dass er sie zu dieser Heirat gezwungen hatte. Aus politischen Gründen. Weil es gut für die Familie gewesen war. Gut für ihrer beider Städte, Máros einerseits, und von Kanweru, der Stadt ihres Bruders, andererseits. Und sie hasste Rutbert, weil der nicht ein einziges Mal versucht hatte, ihr nahe zu kommen ohne die Magie, die ihren Willen brechen sollte.

Elsbet kauerte sich in eine Nische im hallenden Flur. Hüllte sich in ihr Kleid, ohne es richtig anzuziehen. Ihre Hände zitterten zu sehr. Sie zog Schnodder hoch und starrte aus nassen Augen die kahle Wand an.

Eines Tages würde sie dieses Schloss verlassen. Sie wusste bloß nicht, wann. Und wie. Und wohin.

 

Kapitel 3

Staubsträhne hielt auf dem Platz vor der Arena an. Es war still und friedlich, nur die unzählbaren Spuren von beschlagenen und nackten Hufen im Schlamm bewiesen, dass hier vor kurzem hunderte Zentauren unterwegs gewesen waren. Neben einer hohen Fackelstange, die den Platz leidlich erhellte, richtete Staubsträhne seine Kleidung. Sein makelloser Anzug mit den roten Pailetten und den schwarzen, polierten Knöpfen hatte einige Flecken abbekommen. Vor allem der weite Umhang, der bis über den Rücken des Zentauren reichte, leuchte nicht mehr in seinem edlen Graublau, das den Träger als Absolventen der Hohen Schule auswies. Mit einem Seufzer griff Staubsträhne in eine seiner Gürteltaschen und holte eine Bürste hervor. Er raffte den Umhang zusammen, um die gröbsten Flecken zu entfernen. Dabei entblößte er seine hintere Hälfte, was er sonst lieber vermied – aber niemand beachtete ihn heute abend.

Nur wohlgeborene Zentauren trugen Kleidung. Das gemeine Hufvolk hatte weder das Recht dazu noch ein Interesse daran. Während also die meisten Zentauren nichts am Körper trugen als ihre Bauchtaschen, kleideten sich die Angehörigen höheren Geblüts je nach Rang schlicht bis prunkvoll. Staubsträhnes Kleidung war vergleichsweise einfach, denn Absolventen der Schule hatten zwar automatisch einen Adelsrang, aber den niedrigsten, den es gab. Höheren Stand und damit prunkvollere Kleidung bedingte einen wohlgeborenen Vater. Den hatte Staubsträhne zwar, aber er war ein Bastard, der froh sein konnte, nicht kurz nach der Geburt in den nächsten Fluss geworfen worden zu sein.

Energisch und tief in Gedanken versunken bearbeitete er seinen Umhang mit der Bürste. Derart abgelenkt, erschreckte ihn eine hohe Stimme: »He, Muli!«

Staubsträhne fuhr herum. Eilig warf er seinen Umhang über den Rücken, aber er musste einmal die hinteren Knie beugen, um seinen Körper halbwegs zu verdecken.

Vor dem Schreiber standen vier Menschen und lachten ihn aus. Drei waren groß, einen Kopf höher als er selbst, der vierte kleiner und breiter. Sie alle trugen die dunkle Kleidung aus Leder, die zu jeder Tageszeit Unauffälligkeit garantierte.

Die Menschen waren Gäste. Sicher hatten sie das Turnier in der Arena besucht – dergleichen kam zwar nicht häufig vor, aber es gab kein Gesetz, das Menschen von einem solchen Besuch abhielt.

»Wie kann ich helfen, werte Herren?«, fragte Staubsträhne eine Spur zu unterwürfig, wie er sich selbst vorwarf. Er ignorierte die Tatsache, dass die Menschen ihn mit seinem ungeliebten Spitznamen angesprochen hatten.

Der kleine, dicke Mensch grunzte. »Wir haben uns gefragt, ob sich ein Maulesel wie du zwischen diesen ganzen brünftigen Hengsten nicht ein wenig fehl am Platze fühlt.«

Staubsträhne ging nicht auf die Frage ein. Keine Antwort wäre richtig gewesen. Keine freundliche jedenfalls.

»Außerdem würden wir gerne wissen«, legte der Mann nach, »ob du die Preisstute zufällig näher kennst. Oder ob du ein Treffen mit einer ihrer Schwestern einrichten kannst.«

»Ja«, ergänzte einer der größeren Männer und griff sich zwischen die Beine, »ich hab da ein ordentliches Stück Fleisch für sie.« Seine Freunde quittierten die Bemerkung mit schmutzigem Gelächter.

Staubsträhne hatte genug. »Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen, werte Herren. Nun entschuldigen Sie mich, ich habe noch zu tun.« Er wandte sich ab.

»Nicht so schnell«, rief der Große von eben und stellte sich ihm in den Weg. »Wir sind nicht den weiten Weg gekommen, um ohne Spaß zurückzukehren.«

»Nun«, sagte Staubsträhne, »wenn Ihnen das Turnier noch nicht genug Spaß bereitet hat, empfehle ich Ihnen einen Besuch in einer nahen Gaststätte. Folgen Sie einfach dem Geräusch klirrender Flaschen, dann werden Sie eine finden.«

»Spendierst du uns denn ein paar Drinks? Wir sind etwas knapp bei Kasse.«

»Ich habe leider keine Münzen dabei. Außerdem sagte ich ja bereits, ich habe noch Arbeit zu tun.«

Die Männer brummten. Offensichtlich stellte sie diese Antwort nicht zufrieden. Staubsträhne wurde nervös. Er ahnte, dass diese Menschen unter Spaß etwas anderes verstanden als er. Sie suchten Ärger. Sie wollten jemandem den Abend verderben und benötigten ein möglichst wehrloses Opfer.

Staubsträhne sah nicht, wie der eine der Männer verstohlen eine Klinge zog. Aber er hörte es. Und er roch es. Sofort wich er zurück. Die Männer versuchten, ihn einzukreisen. Der Zentaur drehte sich um seine Achse, die Hände leicht erhoben. Er sagte nichts. Worte brachten hier gar nichs mehr. Worte waren nicht aus Stahl, wie die Klinge des Menschen.

Zwei der großen Männer näherten sich. Einer präsentierte sein Kurzschwert, das im Licht feucht glänzte. Schartig, stumpf, die Waffe eines Wegelagerers. Staubsträhne bekam es mit der Angst zu tun. Hätte er Münzen in der Tasche gehabt, er hätte sie gern hergegeben. Aber mit seinem Schreibzeug würden die Menschen sich nicht zufrieden geben.

Der Schwertkämpfer trat mit erhobener Waffe vor. Staubsträhne wich zurück. Aber da war schon der kleine, dicke Mann. »Pass auf, wo du hin trittst!«, rief er, und die anderen Männer lachten.

Der Zentaur drehte sich. Machte sich zur Flucht bereit. Ein Sprung zur rechten Zeit ... Die Schwertklinge fuhr durch die Luft und zerteilte einige Regentropfen. Staubsträhne wich hektisch aus. Matsch spritzte nach allen Seiten.

»Du hast meine beste Hose besudelt«, tönte der Schwertträger. »Mit stinkendem Pferdemist! Ich werde dich lehren ...« Plötzlich hatte der Dicke einen Knüppel in der Hand. Führte ihn mit beiden Händen, holte aus ... Staubsträhne fuhr herum. In Panik. Schleuderte den Menschen die Hinterhufe entgegen. Traf Luft, verspritzte Matsch. Die Männer brüllten. Jetzt hatten sie endlich ihren sogenannten Spaß.

Der Knüppel traf Staubsträhnes Vorderlauf. Er schrie gepeinigt auf, als der Schmerz seine Muskeln lähmte. Wieder und wieder schleuderte er seine Hinterhufe gegen die Angreifer. Neben seinem rechten Arm zerteilte die Klinge die Nachtluft. Er warf sich zur Seite, und diesmal traf sein Huf irgendetwas. Er spürte es, und er hörte den spitzen Schmerzensschrei. Ein Mann ging zu Boden.

Eine Lücke tat sich auf. Staubsträhne sprang hindurch, galoppierte durch den Matsch davon, bis er die ersten Häuser des Dorfs erreichte. Er hielt, stand auf drei Beinen, denn sein Vorderlauf pochte schmerzhaft. Niemand folgte ihm. Entweder wussten die Menschen, dass sie zu langsam waren, oder sie kümmerten sich um ihren verletzten Kameraden. Staubsträhne war es einerlei. Er wollte es nicht herausfinden. Mit schmerzverzerrtem Gesicht trabte er die stille Pflasterstraße entlang, die zum Platz der Tausend Hufe führte. Niemand begegnete ihm. Es war schon spät, und die meisten Zentauren hatten keinen Grund, draußen im Nieselregen herumzulaufen.

Staubsträhne bog in die Allee der Lanzen ein, an der das Haus der Weisheit lag. Es war das einzige Gebäude weit und breit, das außen nicht von Fackeln, sondern von magischem Licht erhellt wurde. Der weite Torbogen, der zum Vorhof führte, trug eine Inschrift in der verschnörkelten Silbenschrift der Denker:

Vier Beine laufen vorwärts, ein Kopf denkt sich überall hin.

Nachdem Staubsträhne den Torbogen durchschritten hatte, fühlte er sich sicher. Hier erwarteten ihn schlimmstenfalls Zurechtweisungen des alten Kloppring, seines Mentors und Lehrers. Wenn der weise, braungraue Zentaur nicht vor Jahren den Intellekt des Sohns einer Eselin erkannt hätte, wäre Staubsträhne heute bestenfalls ein Bettler, ein Ausgestoßener, oder längst tot.

Hier, im Haus der Weisheit, konnte Staubsträhne so etwas wie Respekt erfahren, war unter Gleichen, die wie er lesen, schreiben und logisch denken konnten. Er durchschritt die lange Halle des Erdgeschosses fast bis zum Ende, dann bog er scharf ab und erklomm die schiefe Ebene, die in die erste Etage führte. Sein Mentor erwartete ihn im geräumigen Arbeitszimmer und sah kurz von dem Schreibpult auf, vor dem er stand.

»Du kommst spät«, grüßte Kloppring mit seiner Stimme, in der das Alter tiefe Schrammen hinterlassen hatte.

»Ja«, sagte Staubsträhne. »Ich wurde aufgehalten.«

Erneut sah Kloppring auf. Über seine Lesebrille hinweg musterte er Staubsträhne. »Tatsächlich? Gab es beim Turnier unerwartete Vorkommnisse?«

»Das Turnier verlief ganz und gar normal«, erklärte Staubsträhne und stellte sich vor das freie Schreibpult neben seinem Mentor. Nach und nach kramte er seine Notizen aus seiner Bauchtasche. »Allerdings lief ich einer Gruppe Menschen über den Weg, die mich als eine Art Opfer auserkoren hatten.«

»Und das haben sie überlebt? Ich bewundere deine Zurückhaltung.«

Staubsträhne warf dem Alten einen fragenden Blick zu. Manchmal wusste er nicht, ob Kloppring scherzte, ihn tadelte, oder auf etwas bestimmtes hinaus wollte. »Es ging eher um mein Überleben, Meister Kloppring. Es ist nicht der Rede wert.«

»Nicht der Rede wert?« Ernst legte Kloppring seinen Schreibstift zur Seite. »Die Menschen leben hier seit den Zeiten des Alten Reiches, und wahrscheinlich noch länger. Länger als wir, denn wir sind nur zugewandert, nachdem der Schwarze Krieg die Gegend entvölkert hatte. Das Pflaster der Straßen da draußen, das unter einer Dreckschicht verborgen ist, haben nicht wir gelegt, sondern die Erbauer der Stadt, die vor vielen Sonnenkreisen an dieser Stelle stand. Und die verfallen ist. Sie haben uns nie willkommen geheißen, diese Menschen, sie respektieren uns nicht, und wenn sie nicht anderweitig beschäftigt wären, würden sie uns vermutlich vertreiben oder niedermetzeln, ganz nach Lust und Laune des jeweiligen Herrschers.« Kloppring wies mit dem Zeigefinger in eine unbestimmte Richtung. »Sie schimpfen uns halbe Menschen, dabei sind sie es, denen etwas fehlt, und das durch ein fragiles Untergestell ersetzt wurde, das nicht einmal alleine stehen kann.«

»Es waren einfache Gauner«, sagte Staubsträhne. »Nicht der Rede wert.«

»Hätten sie dich abgestochen, würdest du nicht so leicht daher reden«, versetzte Kloppring. »Du darfst auf diese unzivilisierten Barbaren keine Rücksicht nehmen. Du hättest die Wachen rufen können, die hätten sich um die Angelegenheit gekümmert.«

Staubsträhne seufzte. Es hatte keinen Sinn, mit dem Alten zu streiten. »Beim nächsten Mal«, versprach er. »Ich würde jetzt gerne meine Aufzeichnungen ins Reine schreiben.«

»Tu das«, winkte Kloppring ab, »aber nicht wieder zu blumig. Den Göttern hat es gefallen, den Zentauren nicht nur ein unstillbares Feuer der Lust einzupflanzen und die Selbstbefriedigung unmöglich zu machen, sondern auch noch zu verfügen, dass nur einer von achtzehn Nachkommen weiblichen Geschlechts ist. Dies ist der Grund dafür, dass wir schnell unfreundlich werden und außerdem mit Göttern nichts zu tun haben wollen. Die Menschen dagegen haben keinen guten Grund, sich zu benehmen wie Tiere. Sie sind einfach dumm. Alle.«

Staubsträhne verzichtete darauf, seinem Lehrer zu widersprechen. Er zog es vor, seine Arbeit ordentlich zu erledigen, und dann bis zum Vormittag zu schlafen. Er seufzte, weil er ahnte, dass es anders kommen würde.

 

Kapitel 4

Sand und Steine knirschten unter den Hufeisen von Lastsklave 14323. Sein Fell starrte vor Staub und Schweiß, die festgeschnallten Lasten knarrten bei jedem Schritt. Immer weiter arbeitete sich der Tross aus Zentaurensklaven die steilen Serpentinen hinauf, um Waren vom Hafen zum Marktplatz von Máros zu schaffen. 14323 schnaufte, sog im Rhythmus seiner Schritte Luft durch den geöffneten Mund ein. Es war wichtig, im Rhythmus zu bleiben. Der Takt der Hufe diente dem Festhalten, wie das morsche Seil, das auf der Abhang-Seite des Wegs gespannt war. Festhalten am Takt, am Seil, am Leben. Das war die Formel der Existenz für die Lastsklaven von Máros.

14323 wusste nicht, was für Waren er auf seinem Rücken hinauf in die Stadt trug. Es mochten Fässer mit Wein, Öl oder Essig sein. Es ging ihn nichts an. Es war einerlei. Er trug seine Last die Klippen hinauf, dann eine andere hinunter. Selten legten die Zentauren einen Weg unbeladen zurück, denn das lohnte sich nicht für ihre Besitzer. Es sei denn, der Auftraggeber hatte es eilig. Dann zahlte er einen Zuschlag, und statt am Hafen oder auf dem Marktplatz auf die nächsten Lasten zu warten, trabten die Zentauren unbeladen die Serpentinen hinunter oder hinauf.

Der Tross bog um eine Kurve und wurde dabei langsamer. Weiter hinten wurde jemand unruhig, weil er aus dem Takt geriet. Die Flüche seines Hintermanns prallten an 14323 ab. Er drehte nicht einmal den Kopf. Lediglich einen Blick hinunter gönnte er sich, hinunter in die Bucht, in der unzählige kleine und große Schiffe auf den glitzernden Wellen schaukelten. Ein Zweimaster lief gerade aus dem Hafen, steuerte unterhalb der Schlossklippe Richtung Silbermeer.

Vielleicht würde 14323 eines Tages mit einem solchen Schiff Máros verlassen. Gelegentlich kauften oder mieteten reisende Händler Trupps von Zentauren. In manchen Städten der Silberküste lohnte es sich, seine eigenen Träger mitzubringen. Nicht in Máros. Die steilen Serpentinen waren zu gefährlich für dahergelaufene Sklaven aus flacheren Gegenden.

Rufe lenkten 14323 von seinen Gedanken ab. Er sah sich um, aber den Grund für die Unruhe sah er nicht. Der Tross hielt jetzt an. Der Zentaur hinter 14323 hörte auf zu fluchen, keuchte nur noch. Endlich sah 14323 in dieselbe Richtung. Nach oben. Dort war nahe einer weiteren Kurve der Serpentinen ein Zentaur vom Weg abgekommen. Absichtlich oder versehentlich, wer vermochte das zu sagen? Er kletterte an einem Felsvorsprung entlang, rutschte ab, konnte sich gerade noch halten.

14323 verschränkte die Arme vor der Brust. Niemand konnte diesem Sklaven helfen, ohne sich selbst in tödliche Gefahr zu begeben. Zentauren hatten sechs Gliedmaßen, genau wie Fliegen, aber an senkrechten Wänden fanden sie trotzdem keinen Halt.

»Werft ein Seil!«, rief jemand und »geht endlich weiter« ein anderer.

Der Sklave versuchte, die Tragegurte zu lösen, die sein Gepäck auf dem Rücken hielten. Natürlich schaffte er das nicht. Bei dem Versuch, sich von der schweren Last zu befreien, rutschten seine Hinterhufe ab. Staub und Steine lösten sich, prasselten den Abhang hinunter. Kamen der Kurve, in der 14323 stand, ganz nahe.

Vorderlauf und Hände fanden keinen Halt. Der Zentaur stürzte. Schreie, Rufe. Nur der Tod streckte seine Hand aus.

Der Sklave fiel. Gnädig von einer Wolke aus Sand und Geröll verhüllt, prallte er auf einen Vorsprung. Das Geräusch brechender Knochen schien durch die ganze Bucht zu hallen, bestimmt hörten es sogar die Seeleute auf dem Zweimaster und der Herzog auf seinem Schloss.

Der Unglückliche fiel hoch oben durch leere Luft. Ruderte mit den Armen. Schreie hallten die Steilküste hinunter. Ob vom Fallenden oder von Zuschauern, vermochte 14323 nicht zu sagen. Mit voller Wucht schlug der Hinterkopf des Zentauren gegen die Felsen, endlich barst der Tragegurt, und Kisten und Säcke lösten sich. Immer schneller rutschte der gewaltige Körper die steile Wand hinab, ohne Halt, ohne Last, ohne Leben ... flog in hohem Bogen ... 14323 wich zurück. Er war zu nah. Drängte nach hinten, aber da machte niemand Platz. Steine prasselten auf 14323 nieder. Schützend hob er die Hände, drehte sich weg. Der Leib des toten Zentauren klatschte direkt neben ihm auf den staubigen Fels, platzte auf und blieb liegen. Blut, Organe und Därme spritzten aus dem Körper, während ein Vorderlauf noch zuckte.

Niemand sagte etwas. Da waren nur noch die Geräusche der Kisten, die weiter fielen. Und die scharrenden Hufeisen auf dem staubigen Gestein. Der Tote trug die Ziffern 09160 in die Flanken gebrannt. 09 kennzeichnete seinen Besitzer, 160 war seine Nummer.

14323 wandte den Blick ab, und schon setzte sich der Tross wieder in Bewegung. Ob der Körper beim nächsten Passieren dieser Stelle noch hier liegen würde? Sicher würde er das. Kein Mensch hatte Interesse, ihn wegzuräumen, denn er war ein Mahnmal für Unvorsichtige und Fluchtwillige. Kein Zentaur durfte seinen Tross verlassen, um dem gestorbenen Genossen eine würdige Ruhestätte zu verschaffen. Erst in der Nacht würden die Kameraden des Toten ihren Besitzer bitten, bei Dunkelheit noch einmal die steinigen Serpentinen zu bewältigen, um eine besonders wertvolle und schwere Last zu tragen. Der Besitzer würde es erlauben, und mit etwas Glück noch Teile der verlorenen Gepäckstücke zurückerhalten. Dann würde er bei nächster Gelegenheit nach Ersatz Ausschau halten.

Der Besitzer von 14323 hieß Kaafek. Er überwachte auf dem Marktplatz, wie die Zentauren gegenseitig ihre Lasten entluden, und streichelte dabei abwesend das haarige Wesen, das er ständig auf dem Arm mit sich herum trug. Selten musste er Anweisungen erteilen, denn seine Leute wussten, was sie taten.

14323 wartete, bis seine Kameraden die Fässer von seinem Rücken gelöst hatten. Dann spannte er seine Muskeln, um die überanstrengten Glieder zu beleben. Nur kurz konnte er sich dafür Zeit nehmen, denn Kisten waren zu stapeln und Fässer zu sortieren. Der Besitzer der Waren, ein in buntes Tuch gehüllter, dürrer Krämer, erteilte hektisch Anweisungen. »Die Schwefelkisten hierher. Langsam, vorsichtig! - Nein, das ist eine Schwefelkiste, die gehört dorthin! Nicht hierher! - Was soll ich gesagt haben?«

14323 hatte alle seine Fässer ordentlich gestapelt und lief zur Tränke. Er führte die Schöpfkelle zum Mund und nahm einen tiefen Schluck von dem warmen, schmutzigen Wasser.

»He, du!«

Sofort ließ 14323 die Schöpfkelle sinken und drehte sich um die eigene Achse, indem er mit den Hinterbeinen zur Seite trat. Er kannte die Stimme seines Meisters, und sie war für ihn verpflichtend wie eine Peitsche.

Kaafek hielt auf ihn zu und war dabei nicht allein. Er hatte einen Menschen im Schlepptau, den 14323 nicht kannte. Der Kerl trug rosa und gelbe Kleider und einen hohen Hut samt zweifacher Greifenfeder und roch selbst aus dieser Entfernung nach teurem, südländischen Parfüm, das jeden Zentaur in der Nase kitzelte und nicht nur deswegen Unheil bedeutete. Dementsprechend hielten alle erst einmal Abstand von der Tränke, egal wieviel Durst sie hatten.

»Das hier ist einer meiner kräftigsten Zentauren«, sagte Kaafek, »wie du verlangt hast.« Der Meister zeigte nicht ohne Stolz auf seinen Sklaven. »Er wird dich sicher nach Hause bringen.« Und, zu 14323: »Dies ist Herr Geltaffo. Er hat beim mir eingekauft, und du wirst seine Tasche nach Hause tragen.«

»Oh«, machte Geltaffo und hielt 14323 einen lächerlich leichten Rucksack hin, »und mich natürlich. Sehr gerne, oder nicht? Der Weg ist so steinig und meine Schuhe so neu.«

Kaafek lächelte mit ausgesuchter Freundlichkeit. »Es ist eine Ehre für meinen Zentaur, einen Mann wie dich tragen zu dürfen.« Er winkte, und ein anderer Sklave warf 14323 eine saubere Decke über den Rücken, dann hielt er seine Hände mit verschränkten Fingern hin, um Geltaffo beim Aufsteigen zu helfen.

»Oh«, summte der bunte Mann, »wie aufmerksam du doch bist, Herr Kaafek.«

14323 hatte Mühe, sein Gesicht nicht zu verziehen, als Herr Geltaffo es sich ungeschickt auf seinem Rücken bequem machte. Mehr schlecht als recht hielt er sich aufrecht und krallte dem Zentaur die Hände hinten in den Gürtel.

»Kennt dein Hengst denn den Weg?«, fragte Geltaffo.

Kaafek lächelte immer noch. »Du kannst ihm Anweisungen geben. Er wird sie sicher verstehen. Er ist schlau. Für einen Zentauren.«

»Oh«, machte Geltaffo. »Ja, dann, dort entlang.« Er zeigte Richtung Ratsgasse, und 14323 setzte sich in Bewegung. »Dank dir, Herr Kaafek, auch im Namen meiner neuen Schuhe. Hopp, hopp!«

14323 schluckte jede Entgegnung runter und verließ ohne Eile den Marktplatz. Die Ratsgasse führte leicht bergauf. Vermutlich wohnte dieser Geltaffo auf dem südlichen Hügel der Stadt, wo die schönsten Häuser von Máros standen, verziert mit Säulen und steinernen Figuren, die geflügelte Echsen, Pferde und Kinder darstellen sollten.

Zentauren zu reiten hieß, sie zu erniedrigen. Es war unter ihrer Würde, wie ein Pferd, also wie ein Tier, behandelt zu werden. Aber ein Sklave, der einen Befehl erhielt, hatte keine große Wahl. 14323 wusste, warum Kaafek ausgerechnet ihn für diese Aufgabe ausgesucht hatte. Er verfügte über eine übergroße Menge Selbstkontrolle. Er hätte nie geflucht, nicht einmal ein unfreundliches Wort verloren über diese Aufgabe, weder dem Kunden gegenüber, noch dem Meister, nicht einmal den Kameraden. 14323 war ein stiller Sklave, und manche Aufgaben waren wie geschaffen für Zentauren, die wussten, den Mund zu halten.

Leider konnte man das von Geltaffo nicht gerade behaupten. Der Kerl redete in einem fort. »Und jetzt links. Bei Meister Erolds Schmuckgeschäft. Weißt du, wo links ist? Ah, offensichtlich, du läufst ja in die richtige Richtung. Oh, kennst du Erolds Geschäft? Er macht auch prächtiges Zaumzeug. Es wäre wirklich praktisch, wenn du welches hättest. Dieser Gürtel, an dem ich mich festhalten muss, ist wirklich ein bisschen widerlich, weißt du? Ich werde Meister Kaafek – jetzt rechts, die Rubingasse hinauf – oh, ich werde ihm vorschlagen, dass er passendes Zaumzeug bereithält, falls einer seiner Kunden wie ich auf die Idee kommt, sich nach Hause bringen zu lassen. Du bist wirklich ein sehr praktisches Pferd, weil du einfache Anweisungen verstehst. Wirklich praktisch! Machst du eigentlich auf die Straße?«

»Nur im Reichenviertel«, flüsterte 14323 leise genug, um nicht gehört zu werden.

»Oh, gleich sind wir da. Weißt du, ich habe die alte Villa von meinem Herrn Vater geerbt, der leider viel zu früh verstorben ist. Eigentlich wollte ich ja lieber weiter oben wohnen, wo man hinunter aufs Meer sehen kann, oder wenigstens das Schloss. Aber mein Vater wäre wirklich sehr enttäuscht, wenn ich das Haus verkaufen würde, um mein Glück woanders zu suchen. Oh! Hier, ja, links unter dem Torbogen hindurch, und an dem Springbrunnen vorbei. Er leuchtet nachts, weißt du? Oh! Sicher weißt du nicht viel über Magie. Das ist wie Feuer, nur ohne Fackel und nicht so heiß. Hier kannst du anhalten. Und wie komme ich jetzt runter? Oh, warte ...« Geltaffo schwang mühevoll ein Bein auf die andere Seite und ließ sich ungeschickt vom Rücken des Zentauren gleiten. Eine steinerne Sitzbank diente ihm als Hilfe. Er vergewisserte sich, dass sein rosa und gelb gemusterter Anzug sauber geblieben war und tat das gleiche zweimal auffällig genau mit seinen Schuhen. Dann tätschelte er 14323 den Rücken, und zwar ziemlich weit hinten. »Warte noch, bevor du dich auf den Rückweg machst. Ich will dir ein Schreiben für deinen Meister mitgeben.« Umständlich suchte Geltaffo in seinen Westentaschen nach Papier und einem goldenen Schreibstift. Dann setzte er sich auf seine Steinbank. »Keine Sorge, ich werde dich loben, weil du deine Aufgabe so gut erledigt hast. Du bist wirklich ein außergewöhnlicher Hengst.«

14323 wartete geduldig, bis Geltaffo die Nachricht fertig geschrieben hatte und ihm gefaltet zusteckte. Dann machte er, dass er wegkam. Der dekadente Erbe hatte es nicht für nötig gehalten, seine neugierigen Blicke zu verbergen. 14323 trug abgesehen von der schäbigen Reitdecke keinerlei Kleidung, wie alle Zentaurensklaven. Das hatte Geltaffo ausgenutzt, um sich alles genau anzuschauen. Vor allem zwischen den Hinterbeinen.

Auf dem Rückweg fragte sich 14323 ernsthaft, was wirklich in der Nachricht an Kaafek stand. Kein Bürger bedankte sich bei einem Meister für die ordnungsgemäße Arbeit eines Sklaven. Ebensogut hätte man einem Huhn danken können, immer wenn es ein Ei legte.

14323 schüttelte sich. Er nahm sich vor, an etwas anderes zu denken. Aber diese geheimnisvolle Nachricht wollte ihn einfach nicht aus dem Kopf.


Kapitel 5

Rauhufs Schnapsbrennerei lag an einer der wenigen leidlich befestigten Straßen im Equo-Hügelland. Gleich neben dem bescheidenen Bach, der die Straße in einer Steinröhre unterquerte, stand die Destille, dahinter der Wohnblock und das Lager. Die ganze Anlage war von einem hohen Bretterzaun umgeben, um durstige Zentauren fernzuhalten. Das Tor stand offen, und daneben lungerten zwei einfache Arbeiter herum, die gerade nichts besseres zu tun hatten.

»Wann das nächste Turnier wohl ist?«, brummte der eine.

»Frag mich nicht«, entgegnete der andere und rieb seinen Hinterlauf am Torbalken.

Es entstand eine Pause. Die beiden Zentauren vertrieben lästige Fliegen mit ihren Schweifen und starrten den grauen Morgennebel an, als wäre er schuld an ihren Kopfschmerzen.

»Hast du was gehört?«, fragte der Zentaur mit dem juckenden Hinterteil.

»Weiß nicht. Vielleicht hat Rauhuf uns zurück zur Arbeit gerufen.«

»Kann sein«, kam es zurück, »klang aber anders.«

»Wie denn?«

Der Zentaur strich sich durch den Bart. »Mehr wie ein Wallach, der einer läufigen Eselin über den Bach hilft.« Er lachte derb über seinen eigenen Witz.

»Porok, deine Zote befeuchtet einen trockenen Morgen.«

»Ach? Trocken, sagst du? Da!« Porok trabte zur Straße, stellte sich breitbeinig über den Graben und ließ Wasser.

Sein Kamerad quittierte das mit trockenem Lachen. Dann war da wieder das Geräusch, diesmal lauter. Er hielt inne.

Der Morgennebel tarnte den Verursacher des Geräuschs nicht mehr vollkommen. Etwas knirschte.

»Porok«, grunzte der Zentaur und machte einen halben Schritt rückwärts, als sich ein Schemen aus dem Nebel schälte. Ein breiter Kopf schwankte stöhnend hin und her. Drei müde Augen starrten die Straße an, um sie dafür zu verfluchen, dass sie nicht abschüssig verlief. Fünf Hörner, zwei am Kinn, zwei über den breiten Ohren, eins statt Nase.

Ein Okken.

Missgeburt des schwärenden Südens, kräftig und dumm, aber weder ganz Tier, noch Mensch, noch Dämon. Es war alles und nichts. Es konnte keinen Thron besteigen, keinen Krieg führen und keinen Zentauren unter den Tisch trinken. Es war stark, wenn es wütend war. Und wenn nicht, auch nicht zu unterschätzen.

Das dämonische Zugtier schleppte seinen Wagen von der Straße und steuerte auf die Schnapsbrennerei zu. Es war offensichtlich, dass hier ein fahrender Händler aus dem Süden gedachte, Geschäfte mit der Brennerei zu machen.

Porok machte, dass er zurück zum Tor kam. »Wir sagen besser dem Brandtmeister Bescheid«, zischte er.

Das taten sie, und der regte sich furchtbar auf.

»So heißt ihr wichtige Gäste willkommen?«, schnauzte er. »Indem ihr ihnen die Unterseiten der Hufe zeigt, und eure hübschen Schwänze? Porok? Tolpo?Wie hieß doch gleich euer Lehrer in der Benimmschule? Ich werde ihm einiges zu erzählen haben.«

Porok sah Tolpo von der Seite an. »Es gibt doch gar keine Benimmschule.«

»Das weiß ich doch!«, donnerte Meisterbrenner Rauhuf. »Und jetzt verschwindet nach hinten und wartet, dass ich euch Anweisungen gebe, bevor ihr mir die Geschäfte vermiest, von deren Gewinn übrigens auch ihr allabendlich euren Schnaps in der Gaststätte bezahlt! Verschwindet, husch!«

Der Meister wischte sich die Hände an einem schmutzigen Tuch sauber, dann rückte er seinen fleckigen Mantel gerade. Während Porok und Tolpo damit anfingen, leere Fässer von einem Stapel auf den anderen umzuschichten, eilte Rauhuf hinaus in den Hof.

Dort kam der Okken-Wagen gerade zum Stehen. Rauhuf kümmerte sich nicht um das Zugtier, sondern baute sich gleich neben dem Kutschbock auf. Dank seiner zentaurischen Größe musste er nicht auf die beiden Menschenfrauen hinaufsehen, die dort saßen.

Beide hatten die braune, glänzende Haut der Südländer, wirres Haar und bunte Tücher darüber gebunden. Schwarze Augen blickten aus schmalen Schlitzen direkt in Meister Rauhufs Geldbeutel.

»Dein Neffe hat auf die Straße gepisst«, krächzte die schmalere der beiden Frauen.

Rauhuf deutete eine Verbeugung an, wie es Sitte bei den Menschen war. »Er ist nicht mein Neffe, verehrte Laspina. Und er wird es nicht wieder tun.« Jedenfalls nicht, solange der Okken in Sichtweite war, fügte Rauhuf in Gedanken hinzu. »Auch dich, Aldrize, heiße ich willkommen. Euer Besuch ist wie immer eine Freude.«

»Und für unser aller Geldbeutel«, grunzte Aldrize unerwartet tiefer Stimme. Ihre Begleiterin kicherte.

»Darf ich euch herunter helfen?« Rauhuf trat zur Seite und hielt Aldrize seine Hand hin.

»Nur über unsere mumifizierten Leichname«, krähte Laspina.

»Und das anschließende Dasein als untote Heimsuchung aller ehrlichen Geschäftemacher der Silberküste«, ergänzte Aldrize.

Die Damen sprangen beiderseits von ihrem Gefährt. Während Laspina dem Zugtier ein Bündel fauliger Blätter hinwarf, ging Aldrize sofort zum geschäftlichen Teil über. »Sicher erinnerst du dich an unser letztes Treffen.« Die Frau schnaubte und zog ihren bunt geflickten Mantel enger. »Es war etwas schöneres Wetter.«

Rauhuf erinnerte sich. »Unsere Schamanen haben damals wirksamer getanzt. Sie sind in letzter Zeit vielleicht etwas träge geworden.«

»Trinken sie zuviel von deinem Schnaps?« Aldrize sah zu Rauhuf hoch und grinste breit.

»Eher zu wenig«, entgegnete der Meisterbrenner.

»Laspinchen, kommst du?«, schrie die Händlerin plötzlich Richtung Hof.

»Muss noch Wasser holen«, kam es zurück.

»Ah, das Okken muss trinken. Das vergesse ich immer. Ist schon mehrmals deswegen verendet, das arme Ding.«

Rauhuf wollte etwas entgegnen, überlegte es sich aber anders.

»Aber der Tod kann uns nur stärker machen, nicht wahr? Also, kommen wir zum Geschäft.« Angekommen in der nach menschlichen Verhältnissen geräumigen Werkstatt, rieb sich Aldrize die Hände und sah neugierig in alle Richtungen.

Rauhuf tat es ihr gleich, aber aus anderem Grund. Schließlich entdeckte er die Gesichter von Porok und Tolpo, die hinter der Trennwand zum Lager standen und sie Szene verstohlen beobachteten. »Nutzloses Pack!«, rief Rauhuf und schüttelte die Faust. »Tolpo, hol zwei saubere Becher und biete unseren geschätzen Gästen eine Erfrischung an. Sofort!«

Der Zentaur nickte kurz und machte sich auf den Weg.

Unterdessen hatte Rauhuf schon damit angefangen, in alten Papieren zu wühlen. »Lass mal sehen ... ich glaube, hier ist es. Ja, richtig. Ein kleines Fässchen Berbys Lyque für 295 Máros-Taler. Wusste ich es doch.«

»Wir hätten auch ein größeres Fässchen genommen. Das kleine wäre den Weg hierher nicht wert«, erklärte Laspina, die gerade vom Hof gekommen war.

»Ich ...« Rauhuf zögerte.

»Du ... du hast doch ein neues Fässchen gebraut, das du uns verkaufen kannst?«

»Ich ...« Rauhuf suchte nach Worten. Unterdessen tauchte Tolpo auf, zwei Becher in der einen Pranke und zwei Probierflaschen in der anderen.

Rauhuf trat mit dem hinteren Fuß auf. »Willst du unsere Gäste vergiften? Das ist Gnol Dreifach, nur für Zentauren, wie dumm bist du eigentlich?«

»Wir könnten es verdünnen«, sagte Tolpo.

»Stell die Sachen auf den Tisch und verschwinde! Porok wartet beim Aufräumen auf dich!«, donnerte der Meisterbrenner. Der Zentaur tat wie gehießen und schritt betont langsam Richtung Lager. Kurz darauf klapperte das Holz leerer Fässer.

Rauhuf sah zu den beiden fahrenden Händlerinnen hinab. »Es ... tut mir leid ...«

»Was? Dass es hier keine Stühle gibt?« Laspina grinste. »Das verstehe ich ja noch. Aber dass du keine Lust hast, gute Geschäfte zu machen ...«

Verstohlen sah Rauhuf Richtung Lager, aber die beiden neugierigen Jungs schienen im Moment tatsächlich nicht zu lauschen. »Die Sache ist die. Berbys Lyque ist bei unsereins sozusagen ... ah ...«

»Verpönt? Sag es ruhig.«

»Etwas unbeliebt«, sagte Rauhuf, aber er nickte dabei.

»Ja und? Weswegen solltest du das Zeug nicht trotzdem brennen, wenn du es auch nur an Menschen verkaufst? Manchmal verstehe ich euch nicht. Vier Beine, vor Stolz platzende Hintern, aber geschäftstüchtig wie ein dreimal gestorbenes Okken.«

Rauhuf schluckte die Beleidigung runter. »Ich kann euch ein Fass verkaufen. Ein großes.«

Aldrize legte den Kopf schief und wischte sich ein paar Strähnen aus den Augen. »Jetzt plötzlich doch?«

»Ja«, nickte Rauhuf. »Ich mache euch einen guten Preis.«

Laspina sah Aldrize an, dann verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Ich warte auf das Aber

»Aber«, stöhnte Rauhuf, »aber ihr könnt es erst morgen bekommen. Ich werde heute den ganzen Tag und die Nacht arbeiten, und morgen könnt ihr das Fass mitnehmen.«

»Als nächstes empfielst du uns das Gasthaus um die Ecke, wo wir im Stall im Stehen schlafen können«, giftete Laspina.

»Das war nicht besonders nett«, versetzte Aldrize. »Wir können im Wagen schlafen, wie sonst auch. Wir sind einen Tag später in Máros, aber was macht das schon? Unsere anderen, äh, Waren werden nicht schlecht.«

»Also gut«, nickte Laspina unzufrieden. »Fang sofort an. Wir sind morgen um die gleiche Zeit wieder hier. Wir verzichten sogar auf den Willkommenstrunk, um dir Zeit zu sparen.«

Rauhuf verzog das Gesicht, solchermaßen an seinen Mangel an Gastfreundschaft erinnert. Kaum waren Laspina und Aldrize zu ihrem Wagen gegangen, rief der Meisterbrenner nach seinen Gehilfen.

»Berbys Lyque«, sagte Porok. »Man kann damit Bienen an bunten Blumen festkleben.«

»Schonmal probiert?«, brummte Tolpo. »Geht das wirklich?«

»Haltet die Mäuler«, schrie Rauhuf. Er wedelte mit einem Papier vor ihren Nasen herum. »Das ist das Rezept. Wir brauchen zehn Eimer Grabbeeren und acht Eimer Sumpflocken. Die werden zerstampft und ausgepresst. Dazu ein Eimer Honig, einer von euch muss also zum Imker, das ist ein längerer Galopp. Ich filtriere derweil einen Eimer Hochprozentigen. Wenn alles klappt, kriegt ihr einen halben Tag frei und könnt machen, was Jungs in eurem Alter so tun, wenn sie frei haben.«

Die beiden gafften ihn an. Schließlich sagte Tolpo: »Geht dich rein gar nichts an, was Jungs in unserem Alter ...«

»Los jetzt!«, schrie Rauhuf.

Als die beiden Gehilfen Stunden später wieder auftauchen, kamen sie nicht alleine. Vielmehr versteckten sie sich erfolglos hinter Zunftmeister Bulker, der in seinem grauen Anzug wie ein Offizier aussah, der in den Krieg zog. Dazu passend schwang er den bronzenen Stecken seines Standes, als wollte er einem namenlosen Feind den Schädel einschlagen.

Rauhuf erfuhr unmittelbar danach, dass er dieser Feind war.

»Geschäfte mit Menschenfrauen«, krächzte Bulker und spuckte in die Richtung aus, in die Aldrize und Lespina mutmaßlich weggefahren waren. »Warum teilst du nicht gleich das Lager mit ihnen?«

Tolpo flüsterte etwas.

Energisch fuhr Bulker ihn an. »Ist mir egal, ob er schwul ist, es geht um die Ehre des Berufsstandes, aber das Jungs wie ihr sowas kapiert, habe ich auch nicht erwartet.« Er baute sich vor Rauhuf auf und knallte das untere Ende seines Steckens vor sein Vorderfußgelenk. »Statt klebrige Brühe an südländische Hexen zu verschenken, solltest du scharfen Schnaps brauen, von dem Leute wie deine Gehilfen hier weniger als einen Eimer benötigen, um ihre Vorfahren zu besuchen!«

Verlegen brachte Rauhuf eine Entgegnung zustande. »Verzeiht, hoher Zunftmeister, aber Euer Vorschlag könnte bei genauerer Überlegung zwei oder drei Schwachpunkte offenbaren.«

Bulker holte Luft, aber Rauhuf kam ihm zuvor. »Erstens brauche ich meine Gehilfen noch, so erstaunlich es auch klingen mag. Zweitens läuft das Geschäft mit dem Schnaps schlecht. Die Gastwirte zahlen wenig und schimpfen viel. Wenn ich aber ein Fass Kräuterlikör an Menschenfrauen verkaufe, die freundlich genug sind, eine stolze Summe dafür zu bezahlen, kann ich Euch weiter meinen Zehnt abliefern, meinen Gehilfen ihren kargen Lohn überreichen, den sie freilich in der nächsten Gaststätte versaufen, und für meine Brennerei die Rohstoffe beschaffen, die ich brauche, um den scharfen Haferschnaps zu produzieren, den Ihr von mir erhofft.«

»Meister Rauhuf«, sagte der Zunftmeister, »ich höre deine Worte. Offen gesagt klang das alles etwas anders, als deine Gehilfen mir die Lage schilderten.« Tolpo und Porok schlichen sich langsam fort, als sie das hörten.

Rauhuf entspannte sich. »Welcher Schaden ist entstanden, außer dass Euer wertvoller Langmantel durch den feuchten Schlamm meines Innenhofes geschleift wurde?«

Bulker schüttelte den Kopf und strich sich über den bald ergrauten Bart. »Ich misstraue allen Menschen. Das solltet Ihr auch tun.«

»Und doch wage ich es, Geschäfte mit ihnen zu machen. Wenn es gute Geschäfte sind. Darf ich Euch eine Probe meines frisch Gebrannten anbieten?«

Langsam trat Bulker näher. »Du redest hoffentlich nicht von diesem scheußlichen Kräuterlikör?«

»Den würde ich nie wagen Euch anzubieten, Zunftmeister. Hier, nehmt diesen Becher. Derweil entschuldigt mich kurz. Ich muss meine Gehilfen suchen und Sie fragen, ob sie meinen Auftrag erfüllt haben.«

»Nicht nötig«, rief Porok aus einiger Entfernung. »Wir wollten uns ohnehin gerade auf den Weg machen, um die Kräuter für das Rezept zu sammeln.«

Mit dem Becher in der Hand schnaufte der Zunftmeister. »Die Jugend von heute«, brummte er und schüttelte den Kopf.

»Was Ihr nicht sagt, Zunftmeister«, sagte Rauhuf und füllte den Becher bis zum Rand mit seinem besten Haferschnaps aus dem Geheimvorrat.


Kapitel 6

Die meisten Arbeiten, die Staubsträhne im Haus der Weisheit zu verrichten hatte, waren deutlich langweiliger als die Berichterstattung über ein Turnier. Und das fand er ganz und gar in Ordnung. Gerade sortierte er Abschriften alter Zollabrechnungen. Viele waren unleserlich, andere so verdreckt, als wären sie versehentlich bei einem Trinkgelage zum Aufwischen von Schnapsresten verwendet worden. Alle waren unterzeichnet, mit Namen wie Lausfell, Schimmerschweif oder Federbart.

Plötzlich sprach ihn jemand von der Seite an.

»Muli«, knirschte ein älterer Zentaur, dessen Namen Staubsträhne gerade nicht im Kopf hatte. Allerdings trug der Besucher die rote Lederschlaufe, die ihn als Beamten des königlichen Hofs kennzeichnete, wenngleich niedrigen Standes.

Der Schreiber seufzte und ließ die Papiere sinken, die er in der Hand hielt. Er hatte es längst aufgegeben, andere darauf hinzuweisen, dass er es hasste, als Maulesel bezeichnet zu werden. »Wer schickt dich?«

»Rat mal«, sagte der andere, der keinen Hehl daraus machte, dass er schon ehrenvollere Aufgaben erledigt hatte.

»Mir ist nicht nach Ratespielen«, wich Staubsträhne aus.

Der Bote des Königs grinste. »Hab gehört, dass du dich fast von ein paar Menschen hast umbringen lassen.«

»Das ist eine sehr ungenaue Beschreibung der Ereignisse. Ich ...« Staubsträhne riss sich zusammen. Es hatte keinen Sinn, auf die Sticheleien des Boten einzugehen. »Ich möchte gerne wissen, was du willst.«

Der ältere Zentaur fletschte die kaputten Zähne. »Was, wenn die Menschen sich über dich beschwert haben? Wenn der König dich vor den Thron zitiert? Damit du dich bei den Menschen entschuldigen kannst?«

Staubsträhne fielen die Papiere aus der Hand. Einige landeten auf dem staubigen Boden. »Ich ... ich ...«, stotterte er.

»Richtig«, nickte der Bote. »Du machst die besser sofort auf den Weg.«

Das tat Staubsträhne. Er ließ alles stehen und liegen, auch den Boten, der hinter ihm feixte. Eilte die Schräge hinunter, hinaus aus dem Haus der Weisen, über den Hof, durch das Tor, trabend die Straße entlang, atemlos zum Palasthügel hinauf.

Oben machten sich die Wachen darüber lustig, dass er vor Schweiß stank und seine Flanken zitterten, aber sie winkten ihn hinein, da er nur mit seinem Etui bewaffnet war und schon öfter als Schreiber herbei zitiert worden war.

Diesmal beeilte Staubsträhne sich ganz besonders, ignorierte die in die hölzernen Wände geschnitzten Szenen glorreicher Schlachten, die schwer bewaffneten Leibgardisten, ja sogar die Gurren, die in prächtige Kleider gehüllt im schattigen Innenhof tuschelten.

Wolken scharfen Duftöls kitzelten in seiner Nase. Für viele Zentauren am Hof war es mehr als eine Frage persönlicher Vorlieben, sich einzuparfümieren: Der Geruch hielt wirkungsvoll Fliegen vom hinteren Körperbereich fern.

Endlich trat der Schreiber durch das letzte Tor, vorbei an besonders grimmigen Kampfzentauren in voller Plattenrüsting. Staubsträhne erreichte den sonnigen Innenhof. Gegenüber stand König Eisenfell II. auf seinem Podest unter der blutroten Markise, gewandet in schwarzes Leder mit silbernen Stickereien, der königliche Langbogen lehnte hinter ihm an einem Pfahl. Sein pechschwarzer Zopf hing seitlich fast bis in den Staub, sein Bart war mit Ringen geschmückt, die in der Sonne blitzten.

Unweigerlich klopfte Staubsträhnes Herz lauter. Angesichts der Präsenz des reinblütigen, stolzen Königs fühlte er sein Eselsblut träge durch die Adern rinnen.

Erst jetzt spürte Staubsträhne, wie einsam er war. Jetzt, da die Blicke des Königs, seiner Leibgarde, und der menschlichen Gäste auf den herbeigeholten Holzstühlen auf ihm ruhten.

Er senkte den Kopf, um sein Urteil zu erwarten.

Aber es war nicht König Eisenfell, der ihn ansprach, sondern einer der hohen Beamten, der zischte: »Worauf wartest du, hol dein Schreibzeug hervor!«

Staubsträhne griff automatisch nach seiner Tasche, holte Feder und Block hervor. Erst, als der König anfing, mit den Menschen über etwas anderes zu sprechen als über ihn, begriff er, dass der Bote ihn hereingelegt hatte. Er hatte ihn glauben lassen, er solle angeklagt werden, und er hatte es sogar so geschickt angestellt, dass er nicht der Lüge bezichtigt werden konnte.

Grimmig konzentrierte sich Staubsträhne darauf, seiner Aufgabe nachzukommen.

Während er das Gespräch stichwortartig protokollierte, ließ er am Rand seines Papiers Platz für Informationen zu den Protagonisten, die er nach und nach ergänzte.

Tatsächlich erkannte Staubsträhne jene vier Menschen wieder, die ihn gestern angegriffen hatten. Besonders der kleinste warf ihm mehr als einen missmutigen Blick zu. Vermutlich war er derjenige gewesen, den Staubsträhnes Hufe getroffen hatten.

Die Vier waren aber anscheinend nur die Begleiter der Sprecherin der Gruppe: Eine Ordenskriegerin namens Iburta. Wie ihre Kameraden trug sie eine dunkle Lederrüstung, die Haare kurz geschoren und eine geflügelte, schwarze Tätowierung mitten im Gesicht – das Ehrenzeichen ihres Ordens. Sie war der einzige Gast, der es vorzog, dem König der Zentauren gegenüber zu stehen.

»Die Menschen der Silberküste sind traditionell keine großen Freunde der Zentauren«, erklärte Iburta gerade, »aber mein Orden sieht darüber hinweg.«

»Wir haben genug Freundlichkeiten ausgetauscht«, fuhr ihr König Eisenfell über den Mund. »Der Schreiber wurde gerufen, um wichtige Dinge zu notieren. Also kommt endlich zur Sache.«

Wenn Iburta diese Entgegnung nicht gefiel, so zeigte sie es nicht. Lediglich ihre Kameraden rutschten zunehmend unzufrieden auf ihren unbequemen Stühlen herum. Einer schien ununterbrochen Fliegen zu verscheuchen, der andere schnaufte und zischte, als wären Hornissen in seiner Nase.

»Meine Leibwächter und ich sind hierher gekommen, weil seit vielen Jahren Frieden herrscht in den Städten und Ländern entlang der Silberküste. Und der Orden des Ultramarin wünscht sich, dass es so bleibt.« Iburta verschränkte die Arme vor der Brust. »Daher vertraue ich euch jetzt ein Geheimnis an, das mein Orden in unserer Heimatstadt Máros erfahren hat, und das von größter Wichtigkeit für die Zentauren ist.« Sie machte eine Pause. Der Kamerad zu ihrer Linken kicherte völlig unerwartet.

»Du hast unsere Aufmerksamkeit, Ordenskriegerin. Fahre fort.«

Staubsträhne notierte auf der rechten Seite seines Blocks unter Iburtas Namen den Vermerk »macht sich wichtig«.

»Die Situation Eurer versklavten Artgenossen in Máros habe ich euch bereits am Anfang unseres Gesprächs erklärt.«

»Dabei kennen wir sie durchaus«, versetzte der König. Zustimmendes Murmeln kam aus der Reihe der Beamten am Rand des Hofs. Staubsträhne warf einen kurzen Blick hinüber, bevor er weiterschrieb. Als er die nächsten Worte notierte, wurde ihm langsam klar, was er gerade gesehen hatte. Oder besser: wen.

»Natürlich«, nickte Iburta. »Aber ihr wisst nicht, was ich weiß.«

»Nun rück schon damit raus«, hätte Staubsträhne gerne gerufen, aber stattdessen gönnte er sich in der Schreibpause nur einen schnellen Blick hinüber zu den Beamten. Er vergewisserte sich, dass dort wirklich jener Zentaur stand, der …

Iburta holte Luft, legte die Rechte auf den Knauf ihres Schwertes, die andere schob sie in eine Tasche ihres Gewandes. Auch ihre Kameraden wurden noch unruhiger als zuvor. Staubsträhne hörte, dass die königliche Leibgarde ihre Bögen hob. »König Eisenfell, die versklavten Zentauren von Máros planen einen Aufstand, um sich von ihrem Joch zu befreien.«

Die Ordenskriegerin ließ ihre Worte wirken. Staubsträhne notierte nicht nur, dass die Beamten zu tuscheln anfingen, sondern auch, dass Iburtas Begleiter gespannt den König anstarrten.

»Nun«, antwortete der, »ihr habt nicht zuviel versprochen. Es ist in der Tat eine bemerkenswerte Nachricht, die ihr überbringt.«

»Mein König!«, rief einer der Beamten. Eisenfell winkte energisch ab. »Schweig, denn ich kenne deinen Einwand, Erdhanner.« Er wandte sich wieder an Iburta. »Selbst wenn sie einige Waffen beschaffen konnten, wird ihr Aufstand niedergeschlagen von den Soldaten in Máros, die selbstverständlich auf der Seite des Herzogs und der Händler sind, dessen Steuern er kassiert. Es wird ein Gemetzel, und danach wird die Suche nach neuen Sklaven beginnen. Nirgendwo anders als hier.«

»Es sei denn ...«, sagte Iburta.

Staubsträhne kritzelte eilig alles in seinen Block. Er hatte keine Zeit mehr, weitere Beobachtungen zu notieren.

»Es sei denn«, nahm der König den Faden auf, »wir eilen den Zentauren von Máros zur Hilfe. Ein schneller Überfall würde Máros unvorbereitet treffen und viele Leben retten. Wir würden den Sklavenhaltern ein für allemal eine Lektion erteilen.«

Jetzt musste Staubsträhne notieren, dass einzelne Beamte Beifall klatschten. Ein paar trampelten gar mit den Hufen.

Der König gebot Ruhe. »Aber das alles«, sagte er zu der Ordenskriegerin, »soll deine Sache nicht sein. Sei heute Gast in meinem Palast, während ich mit meinen Beratern Pläne schmiede. Ein Soldat wird dich zum Gästehaus geleiten. Eine Festtafel soll meinen Dank zeigen, und nach erfolgreicher Schlacht werden wir uns in Máros im Haus deines Ordens treffen.«

»So wird es sein«, entgegnete Iburta und deutete eine Verbeugung an.

Hastig notierte Staubsträhne, dass er sie dabei zum ersten Mal lächeln sah. Der König bemerkte das nicht, weil er sich schon leise mit seinen engsten Beratern unterhielt. Geheime Kriegspläne gehörten nicht in die Akten des Hauses der Weisheit, daher war Staubsträhnes Einsatz jetzt beendet.

Eilig steckte er sein Schreibzeug weg, um schnellstmöglich zu Kloppring zurückzukehren. Nur ganz kurz hielt er noch Ausschau nach dem einen, ganz bestimmten Beamten, den er vorhin bemerkt hatte. Sein Name: Faustwiehuf.

Da stand er, gewandet in die schlichte Beamtenuniform mit dem roten Schultergurt. Schenkte seine Aufmerksamkeit anscheinend gerade General Zoltar, dem stolzen Anführer des Bogenschützen-Regiments.

Natürlich würdigte der Beamte den Schreiber keines Blickes. Er hatte ihn nie als sein eigenes Blut anerkannt. Nie seinen Fehler eingestanden. Hatte gehofft, dass er tot geboren werden würde. Jetzt stand er da, im Zentrum der Macht, als hoher Beamter des Königs. Als hätte er nie im Suff eine junge Eselin bestiegen, die damals auf dem Hof des alten Farbang ihr Dasein als Lasttier fristete, still, dumm, und von vorne bis hinten staubig grau.

Als würde er ihn, Staubsträhne, überhaupt nicht wahrnehmen.

Seinen eigenen Sohn.


Kapitel 7

Das Wetter an der Silberküste änderte sich schnell. Längst versteckte sich die Sonne hinter grauen Wolken, die der starke Wind aus südwestlicher Richtung gebracht hatte.

Der Marktplatz lag windgeschützt, aber der nächste Abstieg zum Hafen würde nicht angenehmer werden als der erste. Windböen waren schon vielen Zentauren zum Verhängnis geworden, vor allem dann, wenn sie sperrige Pakete zu tragen hatten.

14323 erreichte den Marktplatz durch eine schmale Gasse. Er ging ungern allein die belebten Straßen entlang, wo unbeladene, einzelne Zentauren automatisch verdächtig wirkten. Weder mochte 14323 zufällig auftauchenden Stadtwachen Rede und Antwort stehen, noch ertrug er gerne missgünstige oder offen feindselige Blicke anderer Passanten.

Der Ausgang der Gasse war durch aufgeschichtete Lasten fast völlig versperrt. Umdrehen konnte sich der Zentaur hier allerdings auch nicht, dazu war kein Platz. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich hinter den Kisten entlang zu schieben, ohne auch nur eine von ihnen zu beschädigen.

Das tat er sehr langsam, und plötzlich verharrte er ganz, weil er Stimmen vernahm. Tiefe Stimmen von Zentauren, die versuchten, nicht gehört zu werden.

»Die Leute von Meister Veranogart sind zu allem bereit«, sagte die eine Person gerade.

»Bereit zu sterben, alle Mann«, gab die andere zurück.

14323 zögerte. Wenn er sich jetzt in Bewegung setzte, würden die anderen ihn hören. Und sie mussten schlussfolgern, dass er ihnen zugehört hatte. Ihm blieb keine Wahl: Er musste warten, bis die Kerle abzogen. Früher oder später würde ihr Herr sie suchen, es war also nur eine Frage der Zeit. Er selbst hatte für seine Verspätung eine gute Begründung für Meister Kaafek: Er musste nur angeben, der Kunde habe so lange gebraucht, um ihm eine Nachricht mitzugeben. Der Meister würde sicher nicht weiter fragen. Notgedrungen lauschte 14323 weiter den anderen Sklaven.

»Leben für Leben«, sagte der energische Zentaur gerade. Seine Stimme legte die Vermutung nahe, dass er heimlich Schnaps getrunken hatte. Viele Sklaven taten das, indem sie in der Nähe des Marktplatzes oder im Hafen während der Ladepausen geheime Verstecke aufsuchten, wo sie zuvor kleine Flaschen versteckt hatten. Der Schnaps war einer der Gründe dafür, dass viele Sklaven die ständigen Erniedrigungen ertrugen. Und er war für den einen oder anderen tödlichen Sturz verantwortlich.

»Wir haben es doch gut bei unserem Meister«, gab der nüchterne Zentaur zurück. Er wirkte auf 14323 etwas naiv. Entweder hatte er sich mit seiner Lage längst abgefunden oder er hatte noch nicht soviel Leiden erlebt wie viele andere. »Erinnerst du dich nicht mehr an den Ausritt?«

»Alter«, zischte der andere, »erzähl mir nicht, dass du das genossen hast.«

»Genossen? Ich gebe zu, es könnte öfter passieren, aber vielleicht müssen wir dafür noch härter arbeiten und unseren Meister noch besser zufriedenstellen.«

»Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Hat es dir nicht gefallen?«

»Nein, Alter! Es war animalisch.«

»Sicher war es das. Animalisch und erregend. Und?«

»Es war erniedrigend.«

»Sklaven können nicht noch weiter erniedrigt werden.«

»Ha! Aber gelegentlich werden sie belohnt, wenn sie ihr Schicksal ohne Widerspruch ertragen?«

»Nein. Wenn wir Widerspruch wagen, werden wir bestraft«, erinnerte der Nüchterne den anderen. »Hart bestraft, so dass wir nie wieder Widerspruch wagen. Oder gar nie wieder unsere Schwänze in irgendwas stecken. Denk doch mal an den jungen Schwarzen. Er musste zuschauen, weil er nach seinen wiederholten Fehlern besonders hart bestraft wurde.«

»Er musste zuschauen, weil er keinen Schwanz mehr hat!«

»Und ich beabsichtige, meinen noch lange zu behalten, und selbst wenn er nie etwas anderes von innen sieht als eine wilde Stute.«

»Es hat dir anscheinend wirklich gefallen. Ich kann das nicht glauben.«

Jetzt schnaubte der Nüchterne. »Ich werde nie vergessen, wie mein harter Schwanz pulsierte in dieser heißen, feuchten Öffnung. Sicher, es war nur eine Herde wilder Stuten, zu der unser Meister uns brachte, aber

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Uwe Post
Tag der Veröffentlichung: 02.11.2022
ISBN: 978-3-7554-2468-0

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