Abgekürzt Mehkaterrnok
Erzählung
© 2010 Uwe Post
Durchgesehene Originalfassung und eigenständige E-Book-Neuveröffentlichung © 2021 Uwe Post
Cover: Ausschnitt aus einem Gemälde von Christian Ischebeck (https://ischebeck-art.de) mit freundlicher Genehmigung des Künstlers
Mehr Post-SF?
https://post-sf.de
In der Nähe von Zell am See, Republik Österreich
21.3.1979
Siegfried Poltschik dachte an die Alpensinfonie, als das Morgenlicht scharfe Zacken aus der Dämmerung biss. Die Luft roch nach letztem Schnee, und Siegfried brauchte jetzt eine Zigarette. Er widerstand dem Drang, sich eine anzuzünden. Sein Körper war saubere Luft nicht gewohnt, er zog Schmutz vor. Siegfrieds Heimat war das Ruhrgebiet: Grauer Himmel, Donnern von Stahl in der Nacht, Duft von Öl, Koks und Kohle in der Nase, in der Wäsche auf der Leine, überall.
Er war die halbe Nacht gewandert, mit Taschenlampe, im Mondlicht. Die anderen Touristen stiegen vormittags auf den Berg, um zum See hinunter zu starren. Siegfried wollte eine andere Perspektive. Eine eigene. Dieser Anblick sollte nur ihm gehören, sollte sein Hirn reinigen, den Schmutz des Alltags wegspülen, die Angst um die Zukunft, den Ärger mit Christine, die zuhause vielleicht gerade Wäsche aufhängte.
Enttäuscht merkte Siegfried, dass er eine qualmende Zigarette in der Linken hielt. Er hatte sie unbewusst angesteckt, vermutlich in einem schwachen Moment. Er warf die halb gerauchte Kippe in den Kies und trat die Glut energisch aus.
Langsam stieg die Sonne höher, tasteten Lichtfinger in die menschenleeren Täler. Selten verirrten sich Wanderer hierher, denn der Weg war steinig, und es gab weit und breit keine Bushaltestelle, keine Gaststätte, keinen Parkplatz. Wer hierher kam, wollte einsam sein, vorübergehend wenigstens.
Während Siegfried seinen Blick durch die grünen, dunstigen Täler schweifen ließ, spürte er das Gewicht der Welt, aber es lastete nicht auf ihm. Es war umgekehrt: Er, der Mensch, lastete auf der Welt.
Daheim, in Gelsenkirchen, in der Nähe des Autobahnkreuzes, sah man nichts von der Welt. Sie war zubetoniert, versteckt unter Asphalt, als wäre sie ein peinliches Körperteil, das man niemanden zeigen wollte. Siegfried erwog einen Moment lang, sich nackt auszuziehen. Es wäre nur fair gewesen gegenüber der Erde.
Dann hörte er das Klopfen.
Mit einem Holzfäller hätte er noch gerechnet – aber das hier klang wie Metall auf Metall. Ein Klang, den Siegfried von zuhause bestens kannte. Ein Geräusch, das hier nichts zu suchen hatte, es sollte gefälligst aufhören, und zwar sofort.
Es tat Siegfried den Gefallen nicht.
Am Rand seines Sehfeldes nahm er ein Blitzen wahr. Etwas reflektierte einen Sonnenstrahl, nicht weit von hier, an einer Stelle, die das Tageslicht noch nicht ganz erobert hatte.
Siegfried schulterte seinen Rucksack, schlich den Trampelpfad entlang. Er bemühte sich, lautlos zu gehen, aber er hatte keine Ahnung, warum. War eine Störung der Einsamkeit automatisch eine Bedrohung?
Der Weg führte weg vom Abhang, im Bogen um einen winzigen Bachlauf, dann an einigen Kiefern vorbei. Siegfried erreichte die Stelle im gleichen Moment wie das Sonnenlicht.
Zuerst sah er das Raumschiff, dann den Außerirdischen, der daran herum hämmerte.
Vor einigen Wochen war Siegfried mit Christine in der Lichtburg gewesen. Sie hatten »Krieg der Sterne« gesehen. Hinterher hatte Christine Siegfried ausgelacht, als der zugab, der Film habe ihm gefallen. »Wer glaubt denn so einen Schwachsinn? Die ganzen Raumschiffe, Droiden, und dann diese... Macht!«, hatte sie gesagt, und Siegfried hatte versucht, ihr zu erklären, dass es nicht darum ging, daran zu glauben, und im übrigen glaubten fast alle Menschen an eine »Macht«, bloß dass deren Krieger nicht mit Lichtschwertern herumliefen, sondern mit Heiligenschein.
Die Raumschiffe im Film hatten so ähnlich ausgesehen wie dieses hier. Gut, es war ein bisschen kleiner als der »Millenium Falcon«, sehr viel kleiner sogar – nicht viel größer als ein Passat Variant.
Außerdem hatte es keine unregelmäßige, sondern eine windschnittige Oberfläche. Aber nicht nur die beeindruckenden Hecktriebwerke ließen keinen Zweifel an der außerirdischen Herkunft des Fahrzeugs, sondern auch der Fremde, der davor kniete und sich mit einem Werkzeug am linken Triebwerk zu schaffen machte.
Siegfried vermochte allerdings nicht zu erkennen, wo der Fremde aufhörte und wo sein Werkzeug anfing. Vielleicht war es sogar angewachsen, so wie die vielen anderen Gerätschaften, die dem gedrungenen, grauen Männchen überall aus dem Körper wuchsen.
Keine Sekunde lang fragte sich Siegfried, was der Außerirdische hier, im einsamen Bergland hinter der Schmittenhöhe, zu schaffen hatte. Es war offensichtlich. Sein Raumschiff hatte einen Defekt und er wollte es nicht mitten in Zell am See reparieren.
Siegfried hatte zwei Möglichkeiten: Weglaufen oder »Glückauf« sagen.
Weglaufen? Siegfried schüttelte lautlos den Kopf. Er würde sich für den Rest seines Lebens in den Hintern beißen. Was sollte er den Kumpels in der Kneipe sagen? »Alter, ich hab im Urlaub nen Außerirdischen gesehen.« - »Ja und?« - »Na wat schon, bin weggelaufen.«
Im Ruhrpott redete niemand lange um den heißen Brei. Also stellte Siegfried sich breitbeinig hin, hoffte, dass keines der Geräte am Körper des Außerirdischen ein Blaster war, räusperte sich und rief: »Tach Alter! Mahlzeit! Und Glückauf! Allet klar?«
Der Fremde fuhr herum. Sein ganzer Körper klapperte dabei wie eine unaufgeräumte Werkzeugkiste. Ein Körperteil, das ein Arm sein konnte, ein Stielauge oder auch ein Blaster, richtete sich auf Siegfried. Der hob langsam die Hände und beeilte sich zu sagen: »Ich tu in Frieden kommen.« Er zögerte. »Du sicher auch, wat?«
Auf Hüfthöhe besaß der Fremde einen dreiteiligen Arm, der jetzt hektisch an den Plastik- und Metallgerätschaften hantierte, als suche er etwas, das ganz bestimmt gerade noch dort
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Copyright 2010-2020 Uwe Post
Tag der Veröffentlichung: 18.01.2021
ISBN: 978-3-7487-7193-7
Alle Rechte vorbehalten