Uwe Post
ZischZitro für alle!
24 schräge Geschichten
Copyright © 2008 , eBook-Ausgabe bei bookrix © 2015
Uwe Post
uwe@post-sf.de
Uwe Post im Internet:
http://post-sf.de
Version 3.0
in memoriam
Arthur C. Clarke
* 16.12.1917† 19.3.2008
ZischZitro für alle!
»Meine Damen und Herren, Sie haben Post.« Torsten Sträter
Warnung!
Lieber Leser, du betrittst soeben ein Panoptikum der Möglichkeiten. Zwei Dutzend Geschichten harren der Entdeckung.
Ich muss Abbitte leisten: Sogar eine Zeitreise ist vertreten, kaum getarnt zwischen Cyberpunk, Alternativhistorie, Detektivkrimi, Mystery-Horror und Space Opera.
Hauptrollen in meiner Science Fiction des 21. Jahrhunderts spielen sowohl eigenartige Aliens als auch ziemlich normale Menschen, denen die Situation über den Kopf wächst. Aber in jeder abstrusen Fremdartigkeit findet sich etwas, das dir vage bekannt vorkommt, wie zum Beispiel ein Fußballspiel oder ein gewisses Getränk.
Verlierst du den Sinn für Zeit und Raum, rutscht aus auf schlüpfrigen Andeutungen von Unmöglichkeiten? Halt dich fest an der eiskalten Flasche ZischZitro, die dich einem roten Faden gleich durch dieses Buch führt. Das leicht halluzinogene Getränk kommt in zahlreichen Geschichten vor, ohne mehr als eine Nebenrolle zu spielen. Immer, wenn es dir begegnet, kannst du einigermaßen sicher sein, dich in einer erfundenen Welt zu befinden.
Weitere Rücksicht nehme ich nicht. Radikal unterhalte ich dich um jeden Preis, schrecke vor Sex und Gewalt nicht zurück, setze gelegentlich scharfzüngigen Humor ein; bissiger Zynismus dient als Wunderwaffe gegen verkrustete Gedanken im Ausguss der Seele. Lass dir, wenn nötig, den Schorf vom Hirn ätzen, damit die Lektüre das beste in dir zum Scheinen bringt: Deinen Verstand.
Und hab viel Spaß dabei.
Zzzz...uumof!
Uwe Post
Hochdahl,
im Frühjahr 2008
Hinweis zur vorliegenden Version 2.0
Neue Druckerei, neues Layout. Mehr Platz zum gleichen Preis, mehr Stoff zum Schmökern. Gleich vier »Bonustracks« sind am letzten Bahnhof zugestiegen und verwirren die Reisenden mit magischen Ratten, einer Poe-Hommage, einem Billigflug nach Nürnberg sowie einer schockierenden Enthüllung über den Sündenfall.
Gute Reise!
Hinweis zur eBook-Version 3.0
Die gedruckte Fassung dieses Buches ist vergriffen, und eine Neuauflage ist vorerst nicht geplant, damit mehr Recycling-Papier für Werbeblättchen zur Verfügung steht. Natürlich kann kein Autor damit leben, dass seine lustigsten Geschichten nicht verfügbar sind. Also raus mit den eBooks, mögen die Kindles dampfen!
Der ewige Führer
Brennendes Plastik, Pizza Cippolla Redoc
Ablasstaxe inklusive, 1984:16
Walpar Tonnraffir: Wodka auf Eis und Io
Kreuzung Bochumer Straße, Rot
Die letzte Mission des Doh Dbar
Doktor Vreest in der Tote-Fische-Welt
Neben dieser existiert noch eine andere Welt, und sie schmeckt nach altem Fisch. Tritt nur einen Schritt zur Seite, und du bist vielleicht schon dort. Für den Rückweg brauchst du nicht viel – nur ein klein wenig ganz spezielle Energie.
Doktor Ristak Adunnumee Vreest verband seinen Computer, der an einer Kette um seinen Hals hing, drahtlos mit dem Zentralrechner der Raumstation und wählte das Kulturprogramm. Sofort erschien vor ihm eine Dreiflügelbuntschnepfe und breitete die rot-gelben Schwingen so weit aus, dass die rechte durch die Wand im Nebenraum verschwand. Das war kein Problem, weil der Avatar nur in Vreests Kopf existierte.
Vreest hatte nichts dagegen einzuwenden, dass er seine Rückreise für einen Tag auf der Suudwic-Raumstation unterbrechen musste. Er war ein zerquilianischer Tentakelarzt und hatte auf Ugana Cerolon an einer Tagung über Rüsselrisse bei Schleimhautaustrocknung teilgenommen. Dank dieser im wahrsten Sinne des Wortes trockenen Veranstaltung konnte er der linken Wand seines Sprechzimmers ein weiteres, wichtig ausschauendes Zertifikat hinzufügen. Außerdem hatte er Vilissa Reenst wieder getroffen, mit der er vor Jahresfrist einen genauso spontanen wie feuchten Kurzurlaub auf einer einsamen Insel namens Zasagylup verbracht hatte. Diesmal hatte sie nicht einmal einen Tentakelstupser für ihn übrig gehabt – ein Grund mehr für Vreest, auf der für ihr grandioses kulturelles Angebot bekannten Raumstation Suudwic mal so richtig abzuschalten.
»Ahdjeda huj, willkommen auf Suudwic Acalaron«, sagte die Buntschnepfe. »Ich bin Kooko, Ihre virtuelle Kunstgeschmackberaterin. Ich empfehle Ihnen heute den Besuch des Absurden Sonnentheaters Pan Solarium. Ibirische Laternenfische setzen die Entstehung der Galaxis auf einzigartige Weise komödiantisch um, unter anderem indem sie sich gegenseitig fressen.« Kooko leuchtete vor Begeisterung hellblau auf.
»Was, hm, wird denn sonst noch geboten?« fragte Vreest die Wand, vor der Kooko zu stehen schien.
Die Begeisterung der Dreiflügelbuntschnepfe ließ kein bisschen nach, als sie auf und ab hüpfte und erklärte: »Immer eine Besichtigung wert sind unsere Monsterfisch-Zuchttanks. Die reifen Exemplare führen in der Schwerelosigkeit einen selbst einstudierten Totentanz auf, kurz bevor sie zur Schlachtung abgeholt werden.«
Doktor Vreest drehte unsicher einen Tentakel zu einer Spirale. »Ich weiß nicht recht«, sagte er, während er ein paar Schritte machte, »gibt es vielleicht auch eine Gesangstheaterdarbietung?«
»Gesang gehört selbstverständlich auch zum Repertoire unserer ibirischen Laternenfische von Pan Solarium. Ein Frequenztranslator wird Ihnen natürlich zur Verfügung gestellt, damit Sie die wundervollen Melodien in der Tonleiter genießen können, die für Ihre Rasse angenehm ist.«
»Na gut, ich werde es mir überlegen.«
»Kartenreservierungen nimmt meine Kollegin Sihana entgegen«, zwitscherte Kooko und verwandelte sich in ein Ei, das langsam rotierte und dabei verblasste.
Doktor Vreest betrat die Rondell-Bar an der nächsten Ecke, setzte sich auf einen dunkelroten Hocker, der einigermaßen zu seinem Körper passte und bestellte Multi-Saft ohne Stickstoff. Dann holte er seinen digitalen Theaterkritiker hervor und schaltete ihn an. Vreest wusste nicht, dass das Gerät beim letzten Hyperraum-Sprung einen Meta-Dimensionsschaden abbekommen hatte, sonst hätte er es tunlichst aus gelassen. So aber versetzte es ihn mir nichts dir nichts in das Restaurant der Autobahnraststätte Rhynern an der A1 auf die Erde.
»Dieses Gerät hat einen Meta-Dimensionsschaden und schaltet sich jetzt aus Sicherheitsgründen ab«, sagte der kleine, silberne Theaterkritiker, »bitte suchen Sie die nächstgelegene Vertragswerkstatt auf. Piepspieps.«
Die Luft dieser Welt roch für Doktor Vreest nach lange totem Fisch. Er schaltete seinen Computer ein, um Kontakt zur örtlichen Hyperraum-Überwachungsbehörde aufzunehmen, aber die Antwort lautete nur: »Einer unserer Mitarbeiter wird in Kürze zu Ihrer Verfügung, ... knacks.«
Neben Doktor Vreest saß der Kühltransport-Fernfahrer Hansjörg Kompott, der ihn allerdings noch nicht bemerkt hatte. Ein anderer Mann, dunkelhäutig, ging vorbei. »Siffige Ausländer«, murmelte Kompott gerade so laut, dass nur der vorbei gehende Farbige und Doktor Vreest (beziehungsweise dessen automatischer Übersetzer) es hören konnten. Der blondstopplige Kompott drehte sich zu seiner ZischZitro um, bemerkte Vreest, quiekte und schüttete sich das Brausegetränk über die Jeans.
»Tut mir Leid«, sagte der Arzt, »ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich komme vom Planeten Zerquil. Mein Name ist Vreest, ich bin Arzt.«
Kompotts Mund ähnelte dem Loch in einer Ecke eines Billardtisches, nur die Farbe seines Gesichts war etwas weniger grün. Dann fing der Mann langsam an zu lachen. »Ahahaa, Sie sind vom Fernsehen. Aber im ersten Moment war ich wirklich überrascht. Welcher Sender? Wo ist die Kamera? Wann wird das hier gesendet? Ich muss doch meinen Kollegen Bescheid sagen.« Er sah sich aufmerksam um und sah dabei von einem fassungslosen Zuschauer zum nächsten. Eine kurzhaarige Frau am Tisch gegenüber flüsterte ihrem Begleiter zu: »Schnell, Schnucki, mach ein Foto!«
»Die Kamera ist im Wagen«, murmelte Schnucki.
»Du bist ein Versager«, erklärte ihm seine Frau mit spitzem Zeigefinger. »Das wusste ich schon, bevor ich dich geheiratet habe.«
Unterdessen hatte Kompott bei dem Versuch, seine Hose zu trocknen, eine halbe Packung Taschentücher und zwei Papierservietten verbraucht und sich auf die Suche nach Nachschub begeben.
»Ich kann Ihnen versichern«, redete Doktor Vreest auf ihn ein, »dass ich lediglich aufgrund eines technischen Fehlers hier aufgetaucht bin.« Der fischige Geschmack ekelte inzwischen auch seine hintersten Geschmacksknospen. »Bestellen Sie mir was zu trinken?«
»Wieso sollte ich das tun?«, fragte Kompott. »Zuerst verschütte ich wegen Ihnen meine ZischZitro, und dann ... wieso unterhalte ich mich eigentlich mit einem rosa Elefanten?« Er stand auf.
»Ich! Ich!« Schnuckis Frau war aufgesprungen und eilte auf den freien Platz. »Ich bestelle Ihnen gerne was. Was denn? Vielleicht einen Kaffee?« Sie wendete sich an die Zuschauer. »Er sieht gar nicht aus wie ein Elefant! Oder? Er hat keine Stoßzähne, und außerdem haben Elefanten vier Beine, und nicht äh ... « Sie zählte bedächtig. »Acht Tentakel. Ich heiße übrigens Ina.«
»Ristak. Was ist Kaffee?«
»Heiß, dunkelbraun, macht wach.«
»Ich bin aber nicht müde. Außerdem weiß ich nicht, ob die enthaltenen Substanzen giftig für mich sind.«
Ina seufzte. »Wasser?«
»Einverstanden.«
»Ein Wasser bitte«, schrie Ina doppelt so laut wie nötig. »Wissen Sie schon, wie Sie wieder nach Hause kommen? Rauf, in den Weltraum?« Ina zeigte strahlend mit dem Finger nach oben und hätte dabei fast ihren Schnucki erstochen, der sich unbemerkt hinter sie gestellt hatte. »Ach, vielleicht können Sie meine Frisörin mitnehmen. Die hat meine Haare total abgeschnitten, schauen Sie sich das Schlamassel bloß mal an. Mein Sternzeichen ist übrigens Skorpion. Wohnen Sie da zufällig? Ich meine, Sie wollen doch nach Hause zurück, oder? Obwohl wir auch ein nettes Gästezimmer haben ... nanu?«
Plötzlich stürmte ein Streifenpolizist in den Raum.
»Oh nein«, hauchte Ina und dachte vermutlich an ein Labor, in dem Experimente an Außerirdischen vorgenommen wurden.
»Gibt es hier einen Psychologen? Oder einen Arzt?« Der Polizist machte einen gehetzten Eindruck. Nach seiner Frage blieb sein wild umher schweifender Blick an Doktor Vreest hängen.
»Hier«, zeigte Ina auf den Außerirdischen. »Er ist Arzt.«
Vreest schaute zuerst Ina an, dann schenkte er dem Polizisten ein schüchternes Lächeln.
»Sonst keiner?« Der Polizist wurde ein paar Zentimeter kleiner, als er ein kollektives Kopfschütteln erntete.
»Wer ist denn verletzt?« Ina ignorierte ihren Schnucki, der versuchte, ihr mit energischen Gesten Einhalt zu gebieten. Aber sie lief gerade zu Hochform auf. »Unser Doktor Vreest hier kann sogar Todkranke heilen. Er kommt nämlich aus dem Weltraum.«
Der Polizist schüttelte leicht den Kopf. »Genaugenommen sind Sie genau das, was ich brauche. Draußen ist nämlich ein Verrückter, der behauptet, er sei ein Außerirdischer. Er hat einen ganzen Kegelclub als Geiseln. In einem Reisebus.«
Der Tentakelarzt erhob sich neugierig und folgte dem Polizisten hinaus. Nun war auch den anderen Gästen aufgefallen, dass hier seltsame Dinge vor sich gingen. Die meisten reagierten darauf, indem sie ihre Handys hervor holten und Bekannte unterrichteten. Ina und ihr Schnucki begleiteten Vreest und den Polizisten hinaus und auf den Parkplatz, wo ein Bus der Gesellschaft »WahnsinnTours« etwas abseits stand. Gerade traf eine ganze Reihe blau blinkender Streifenwagen ein, die in respektabler Entfernung Aufstellung bezogen.
Vreest trat an die offene vordere Tür des Busses. »Hallo?«
»Ich bestehe darauf, zur Toilette ... aaaaaah!« Ein weibliches Mitglied des Kegelclubs hatte Doktor Vreest entdeckt. Daraufhin steckte ein grünhäutiges Schlangenwesen mit fünf roten Hörnern den Kopf aus der Tür – ein Zugure. »Ja bitte«, brummte er drohend.
»Oh«, sagte Doktor Vreest, dann räusperte er sich und sprach: »Ich muss darauf bestehen, dass diese Geiselnahme umgehend beendet wird.«
»Dies stellt keine primitive Geiselnahme dar, vielmehr bringt es eine epische Performance zur Anschau«, intonierte der Zugure in der galaktischen Künstlersprache, »mein Name ist Waan Gaar Doodal, Träger des Leuchtenden Knotens von Suubil.« Damit wusste Vreest Bescheid. Suubil war eine Künstlerkommune, deren Preisträger in der ganzen Galaxis gefürchtet waren. Wo sie auftauchten, nahm man besser Reißaus, wenn man nicht als Teil eines besonders innovativen Kunstwerks enden wollte. Und Vreests defekter Theaterkritiker hatte ihn scheinbar ungefragt zu einer solchen grandiosen Performance transportiert.
»Dann ... lassen Sie wenigstens die Frau hier auf die Toilette.«
»Dieses Bedürfnis hat seine Existenz vorübergehend eingestellt«, schmalzte Waan und verwies auf die gedauerwellte Frau, die offenbar in Ohnmacht gefallen war.
Der zerquilianische Arzt schaute sich um. Die Polizei und die anderen Zuschauer hielten respektvoll Abstand und verfolgten das Geschehen wie gebannt. »Worin«, überlegte Vreest laut, »mag wohl die kreative Gewalt dieser Performance bestehen?«
Waan warf sich in die Brust. »Die Surrealität wird real. Ich habe meine Realität hinter mir gelassen. Kunst bricht mit Normen, und womit könnte man mehr brechen, als mit der Realität selbst?«
Doktor Vreest war ehrlich beeindruckt. Er vermisste ein wenig das leise Schimpfen seines digitalen Theaterkritikers, der ihm jetzt sicher ein paar wirkliche kunsthistorische Höhepunkte zum Vergleich genannt hätte.
»He! Wie läufts«, zischte die Polizei von hinten und erinnerte Vreest daran, warum er hier war. Er fragte den Künstler: »Was ... was hat denn der Bus damit zu tun?«
»Bus? Oh.« Waan schien zu überlegen. »Nun, diese Wesen hatten die Ehre, einem ausführlichen, erhellenden Vortrag über meine wegweisende Performance beiwohnen zu dürfen.«
»Knallt den Verrückten doch einfach ab«, schrie der Kegelclub.
»Barbarische Banausen«, greinte der Künstler, holte ein kleines Gerät hervor und drückte einen Schalter. Sofort verschwand er, als hätte es ihn nie gegeben.
Der Kegelclub stürmte umgehend die Toilette der Raststätte. Ein junger Mann mit Oberlippenbart sagte, als er an dem verdutzten Vreest vorbei wankte: »Mann, haste zuviel getrunken?« Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er weiter.
Ina stolzierte auf den Zerquilianer zu. »Das war einfach großartig! Das werden mir meine Freundinnen nie glauben! Nicht wahr, Schnucki?«
»Äh. Nö«, schüttelte der überzeugt den Kopf.
»Können wir Sie nach Hause bringen«, fragte der Polizist den Doktor. Ina mischte sich ein: »Ja, wie können wir Ihnen dabei behilflich sein?«
Seufzend sagte der zerquilianische Arzt: »Ich brauche nur etwas Energie, dann kann ich in meine Welt zurückkehren.«
»Energie? Was für Energie?«
»Nicht viel, aber eine spezielle Form. Ein ... Kuss dürfte schon reichen«, sagte der Tentakelarzt.
»Ein ... Kuss?« Ina staunte.
»Ja, Küsse übertragen Unmengen von Energie.«
»Tatsächlich? Hey, Sie da!« Damit meinte sie einen älteren Herrn – Bart, Gesicht und Anzug grau –, der versuchte, ein Foto von der Szene zu machen, ohne dabei bemerkt zu werden. Dabei hatte er völlig den automatischen Blitz seiner Kompaktkamera vergessen.
»Ja, Sie«, rief Ina, »machen Sie mal ein hübsches Foto von uns beiden. Ich gebe Ihnen gleich meine Adresse, dann können Sie es mir zuschicken. Am besten gleich mehrere Abzüge und das Negativ. Ich kann Ihnen einen Fünfer geben, das dürfte genügen.« Sie stellte sich direkt neben Doktor Vreest und legte ihre Arme um ihn. Dann grinste sie in die Kamera. Ihr Schnucki versuchte, einen Einwand zu erheben, aber »hör auf, mit einem Außerirdischen zu flirten« kam ihm blöd vor und was anderes fiel ihm gerade nicht ein.
Und bevor Schnucki einen Einwand formulieren konnte, klebte Inas Mund an Doktor Vreests Rüssel. Kurz darauf war der Zerquilianer spurlos verschwunden.
Nach einer schweigsamen Sekunde, in der alle die Stelle betrachteten, an der gerade ein rosa Alien mit acht Tentakeln und einem Rüssel gestanden hatte, fixierte Ina den älteren Herrn mit dem Fotoapparat. »Und, haben Sie ein Foto gemacht?«
Die Äuglein des Mannes zuckten nervös. Schließlich sagte er: »Der ... Film war gerade voll.«
Neben ihm winkte eine dicke Frau mit ihrer bunten Handtasche. »Hättest du dir mal so eine neumodische Digitalkamera gekauft, Walter! Ich habs dir ja gesagt. Aber nein, du meintest, du bist zu alt für sowas.«
»So ein Ding ist ziemlich cool«, sagte Schnucki. »Ich habe auch so eine.«
»Ja«, keifte Ina. »Im Auto.«
Neben dieser existiert noch eine andere Welt, und sie schmeckt nach altem Fisch. Tritt nur einen Schritt zur Seite, und du bist vielleicht schon dort. Für den Rückweg brauchst du nicht viel – nur ein klein wenig ganz spezielle Energie.
9.-22. Oktober 2003
Sharm El SheikhÜberarbeitet 2008
Pizza Cippolla Redoc
Originalfassung
Flee the will of night and dark
Never caught by flames or cold
See the well of hope and dream
Come to me where moonlight sleeps
Darkness Falls: »Where Moonlight Sleeps«
Redoc. Null
Redoc explodierte. Sein zerpixeltes Ich regnete durch vieladrige Drähte, surfte auf Gigahertz-Wellen hinauf zu Satelliten und hinunter in Decoder. Ein paar Millionen seiner Segmente wurden von Virenscannern als ansteckend eingestuft und unter Quarantäne genommen. Fast seine ganzen Erinnerungen landeten als sinnloses Gebrabbel in Spamfiltern. Die restlichen zu selbstständigem Ablauf fähigen Programme stürzten mit allgemeinen Schutzverletzungen ab, bis auf drei. Die installierten sich in einem Forum für Indisches Kochen, der Steuerkonsole einer Müllverbrennungsanlage und im Online-Genitalpiercing einer Gothic-Metal-Heulboje.
Redoc. Eins
Alinda schrieb zwar Curry mit ie und drückte ihre Begeisterung unentwegt durch küssende 3D-Smileys aus, aber auf Redocs Anmachen reagierte sie erfreulich schnell mit einer erotisch betonten Sprachnachricht: »Mal was kochen?«
Als sie sich in der blitzeblanken Online-Küche trafen, vögelten sie auf dem Herd, noch bevor die ersten zerschnittenen Zwiebeln die Schneidebrettchen verlassen hatten. Über Wände, Decke und Boden flimmerte rosa Reklame für Tampons und Haarspray.
»Wusst gar net, dass es hier ein Sexmodul gibt im Forum«, keuchte Alinda hinterher.
»Habs installiert«, antwortete Redoc.
»Wie heißt du eigentlich wirklich?«
»Weiß nicht.«
Alinda hielt den Kopf schräg. Ihr Gesicht erinnerte in Sachen Perfektion an die Titelseite einer Programmzeitschrift. »Warum ist dein Bein so eckig?«
»Avatar im Arsch.«
»Biste auf XTD?«
»Nein, tot.«
»Wow. Cool.«
»Eigentlich nicht.«
Sphere Tower, zuvor
Rund. Der Spielball von Sphere Global lag da wie ein Fußball in einer Modellbahnstadt.
Schwarz. Nur wenige sahen ihn als Ganzes. Wer in der Stadt unterwegs war, hielt seine Wege an der Oberfläche kurz und benutzte die U-Bahn, vorzugsweise erster Klasse.
Es musste schnell gehen. Redoc spürte den kleinen Kasten in seiner Lederjacke. Warm wie Ginas Hand. Nein. Wie ein Stück noch nicht ganz erkaltete Pizza.
Er stand an einer Bushaltestelle, um nicht aufzufallen. Das Werbebanner des Unterstands war kaputt, blinkte ab und zu kläglich und summte wie ein Schwarm altersschwacher Bienen. Kühle, Schmutz und Uringestank beherrschten den Schatten des Balls. Kultstätte der Generation Game. Kreativzentrum der All Worlds Online. Denkfabrik einer Elite, die längst nicht mehr programmierte, sondern schuf. Ein Elfenbeinturm, der aussah wie der Kötel einer Planetenratte.
Das Funknetz des Balls reichte nicht nach draußen. Die Abschirmung war perfekt. Vom Zugriffsschutz ganz abgesehen.
Ein Typ in grauer Trainingshose zerlegte mit Fußtritten die Wartesitze. Dabei gaffte er Redoc an, zuckte auf das unausgesprochene »Warum?« mit den Schultern und nahm sich als nächstes den Mülleimer vor. Dahinter kaute ein streunender Köter auf etwas herum, das wie ein menschlicher Arm aussah.
Dann kam der Pizzabote.
Redoc. Zwei
Als Ofen Drei Überhitzung meldete, fing Hansten ordentlich an zu schwitzen. Ein Tittenmagazin knallte auf die Tischplatte, Finger tanzten über Knöpfe, verfehlten, trafen dann doch: Not-Aus.
Nichts.
Flüche, Schreie. »Hier spielt alles verrückt«, kreischte Hansten ins Telefon und bemerkte überhaupt nicht, dass aus der Ohrmuschel nur seine eigene Stimme schrie.
Überwachungsmonitor Drei A hörte auf, eine glühende Stahlwand zu zeigen. Das unscharfe Foto eines Sechsjährigen erschien. Dazu fragte die Bedientafel mit kindlicher Stimme: »Hast du meinen Bruder gesehen?«
»Was?«, entfuhr es Hansten, der den Bildschirm anstarrte wie seine Frau, als sie ihm drei Seitensprünge auf einmal gestand.
»Er ist vom Spielen nicht nach Hause gekommen«, fuhr die Stimme fort.
Irgendwo machte eine Sirene auf ein Problem aufmerksam, das Hansten schon längst kannte. Kontrollleuchte 9944-Z blinkte einen Tick schneller als vorher.
»Warum verbrennt ihr all die Spielsachen?«, fragte die Kinderstimme.
Hansten zitterte. Seine Hand wurde nass, als er über seinen kahlen Schädel strich. Ofen Zwei meldete, dass seine Zeit gekommen war. Hansten wich zurück. Das Magazin rutschte vom Tisch. Etwas rumpelte.
»Viele bunte Knöpfe«, kam es aus der Bedientafel, gefolgt von einem Glucksen.
Sphere Tower, währenddessen
»Reaktion?«
»Keine.«
»Schonmal die sanfte Methode probiert?«
Golczek grinste und massierte seine Knöchel – zweifellos eine Übersprungreaktion. Es sah nicht so aus, als würde das Wort »sanft« zu seinem Wortschatz gehören. Dr. Carlson – hochgesteckte Haare, wichtige Brille, fast kein Busen – sah traurig auf den am Boden liegenden Mann in der zerrissenen Lederjacke hinab. Ihm klebten ein paar seiner Zähne außen an der Backe. »Golczek«, sagte Carlson, »gelegentlich müssen Sie mir erklären, wie Sie den Einstellungstest überstanden haben.«
Unter dem schwarzen Shirt des Schlägers regten sich demonstrativ die Muskeln.
»Ich meinte den Intelligenztest«, seufzte Carlson. »Dieser Eindringling war bei Beginn Ihrer ... Befragung überhaupt nicht bei Bewusstsein. Danach erst recht nicht. Wie alle Hirntoten.«
Dr. Carlson zog eine Taschenlampe und leuchtete mit verkniffenem Gesicht in die zugeschwollenen Augen des Opfers. Sie schüttelte den Kopf.
Golczek meldete sich zu Wort. »Er hat gelallt, Frau Doktor.«
»Gelallt?«
Der Schläger nickte langsam und sah Carlson an, als würde sie nackt vor ihm stehen.
»Bringen Sie ihn erstmal weg. Und machen Sie hier sauber. Ich sage oben Bescheid.«
Redoc. Drei
Es dauerte eine ganze Weile, bis Redoc verstand, wo er sich befand. Er hatte selten ein Betriebssystem mit so wenigen Steuerelementen gesehen. Auch die Protokolldateien der letzten Tage gaben wenig Aufschluss. Immer derselbe Rechner hatte übers Netz Verbindung mit diesem System aufgenommen, und zwar meist vormittags für etwa eine halbe Stunde.
Redoc erforschte die Gegenstelle anhand der Internet-Adresse aus dem Protokoll und fand den Namen des Besitzers: Ryan Perluri. Die nächstbeste Pop-Tratsch-Webseite wusste zu berichten, dass Perluri der neue Freund von Silvy Joguri war – keiner geringeren als der Sängerin der Gothic-Band Darkness Falls, und die war gerade auf Tournee.
Redocs Scharfsinn zog die richtige Schlussfolgerung. Es war fast 21 Uhr. Gemütlich lehnte sich sein halbes Megabyte KI-Algorithmen zurück.
Nach einiger Zeit lohnte es sich, das Außenmikrofon einzuschalten. Gedämpft durch etwa zwei Schichten Kleidung ertönte die Gothic-Hymne Where Moonlight Sleeps.
Redoc grinste. Es würde ein unvergesslicher Auftritt werden. Im digitalen Äquivalent von Redocs Augen schossen bunte Bytes von einer Speicherstelle zur anderen.
Er begann, ein wenig an den Steuerelementen zu fummeln und stellte sich vor, wie Joguri mitten auf der Bühne einen Orgasmus nach dem anderen bekam.
Zu ärgerlich, dass ihm sein eigener Körper gerade abhanden gekommen war.
Sphere Tower, danach
Ein dumpfer Gong wies auf eine eingehende Videoverbindung hin.
»Ja.« Mr. Sveybold – Anzug von Takami, Krawatte zum Preis eines Kleinwagens – nahm gelangweilt das Gespräch an.
Auf dem Bildschirm erschien eine Grinsefratze.
»Ich wollte nur fragen, ob Sie noch Verwendung für meinen Körper haben.«
»Wer sind Sie?«
»Der Mann mit der Pizza Spezial.«
Sveybold fing an zu lächeln. »An Ihrem Körper würden Sie nicht mehr viel Spaß haben.«
»Dachte ich mir.«
»Sie können ohnehin nicht zurück.«
»Nein.«
Langsam lehnte Sveybold sich zurück. »Wo sind Sie?«
Stille antwortete. Dann: »Das spielt keine Rolle.«
»Warum wollten Sie unser Firmennetz mit einem Datenshredder zerschießen?«
Die unscharfe Figur auf dem Schirm zuckte mit blauen Pixelschultern. »Dieser Fetzen von mir weiß das nicht.«
»Ich verrate es Ihnen. Mister Redoc.« Der Chef von Sphere Global legte die Fingerspitzen aneinander. »Wir haben Sie vor zwei Wochen entlassen. Wegen Unfähigkeit.«
Das Pixelmuster gab keine Antwort.
»Sie hatten genug Insiderwissen, um das Mini-Relais einzuschmuggeln.«
»Und wie hab ich das angestellt?«, fragte Redoc.
»Alle Programmierer bestellen sich Pizza. Und das Relais-Modul hatte genau die gleiche Temperatur wie der Käse auf dem Teig. Deshalb hat der Sensor nicht reagiert.«
»Vermutlich habe ich dem Pizzaboten das Modul in eine der Schachteln geschoben?«
Sveybold nickte. »Und dann haben Sie den Shredder im falschen Moment gesprengt. Und über Ihr Funkimplatat Ihr eigenes Hirn in kleinen Stückchen im Netz verteilt.« Nach einem Lacher, der Redoc an eine besondere Stelle in Joguris Song Forever wait for you erinnerte: »Wie gesagt: Entlassen wegen Unfähigkeit.« Er schüttelte den Kopf und seinen teuer verpackten Bauch. »Einen schönen Abend, Redoc.«
Das pixelige Gesicht auf dem Bildschirm brachte ein frivoles Smiley-Grinsen zustande. »Werde ich haben.«
Dann schaltete er ab.
Platz 2 beim CapCo-Storywettbewerb 2005Alternativfassung veröffentlicht in c't 19/2005OriginalfassungÜberarbeitet 2008
Kreuzung Bochumer Straße, Rot
Ausgerechnet jetzt. Die Ampel zeigt Rot, und ich halte. Kalt, eisernen Zeitlinien gleich, zerschneiden die Schienen der Straßenbahn den nassen Asphalt. Die letzte Bahn ist seit zwei Spätnachrichten weg. Mein Passat grummelt vor sich hin und weckt vielleicht Schlafende hinter diesem oder jenem dunklen Fenster in der Bochumer Straße. Kein Mensch ist zu sehen, kein anderer Wagen, im Rückspiegel keine Vergangenheit.
Immer noch leuchtet das Halt gebietende Rot. Ich schaue zur Uhr – 2:44 glimmt die Anzeige, das einzige Grün. Die Ampel hätte längst umspringen müssen. Vielleicht sollte ich einfach fahren, die Straße ist leer, es sieht ja keiner. Aber wie ich mein Glück kenne, tauchen ausgerechnet dann die Bullen auf. Wahrscheinlich warten sie sogar hinter der Ecke, haben mir eine Falle gestellt. Höre ich eine Sirene? Nein.
Ich könnte rückwärts fahren, eine Seitenstraße nehmen. Nein. Im Rückspiegel nähert sich langsam ein anderer Wagen. Seine Scheinwerfer blenden. Ich kann den Fahrer nicht erkennen. Nur, wenn ich den Kopf senke. Nur ein Schemen vor der nass glänzenden Nacht, unbeweglich, geduldig. Im Radio läuft Everybody Hurts von R.E.M. – falsches Lied, falscher Zeitpunkt, der richtige wäre vorgestern gewesen.
Zeigen vielleicht alle Ampeln in der ganzen Stadt rot? Ein Computerproblem in der Verkehrsleitzentrale, sowas ähnliches wird morgen in der Zeitung stehen. Sollte ich die Bullerei anrufen? Nein, die halten mich für einen debilen Irren, wenn ich frage, ob alle Ampeln Rot zeigen. Warten Sie, wir sind gleich bei Ihnen. Guten Abend, Ihre Papiere bitte. Immerhin regnet es nicht mehr. Ich bin müde. Das monotone Trommeln der Tropfen würde mich vollends einschläfern. Ich kneife die Augen zu, bis bunte Blitze aufleuchten.
Der Rumsitzer hinter mir müsste sich auch inzwischen darüber wundern, dass diese verdammte Ampel nicht grün wird. Oder war sie zwischendurch grün, aber ich habe es nicht mitgekriegt, weil ich wieder sinnlos über nichts nachdenke? Nein, dann hätte mein Hintermann auf die Hupe gedrückt oder aufgeblendet. Ich mag es nicht, geblendet zu werden. Und die Menschen hintern den Fenstern wollen schlafen. Wann schauen wohl die ersten hinaus, nach den Idioten, die mitten in der Nacht mit laufendem Motor nerven?
Nur geradeaus schaut der hinter mir. Das sollte ich auch tun. Nicht zurück schauen. Es ist sowieso nichts mehr da, bis auf glühende Asche. Es ist 2:51 Uhr. Ich würde jetzt gerne schlafen. Ich freue mich auf mein Bett, obwohl es einsam ist, nur eine Leere enthält, die mich auch nicht weniger anlächelt als Vera es zuletzt getan hat.
Im Fenster über der Fleischerei sehe ich einen Kopf. Dahinter ist kein Licht, aber ich kann ihn deutlich sehen, er beobachtet mich. Verschwindet er wieder? Nein. Er wartet. Er wartet mit mir und meinem Hintermann darauf, dass die Ampel umspringt. Wir werden immer mehr.
Vielleicht habe ich Halluzinationen. Meint Doktor Kalruth. Dieser wandelnde Stromausfall. Verdammt, ich kann ein rotes Licht doch noch von einem grünen unterscheiden. Ich sollte jetzt vielleicht wirklich einfach fahren. Der hinter mir traut sich wahrscheinlich auch nicht, und indem ich es ihm vor mache, tue ich ihm vielleicht sogar einen Gefallen. Ich könnte aussteigen und ihn fragen, was er von der Sache hält. Aber er tut das ja auch nicht. Vermutlich will er einfach seine Ruhe haben, in Ruhe Radio hören oder sich einen runterholen. Haha! Klar, der holt sich bestimmt gerade einen runter.
Um 3 Uhr kommen Nachrichten. Die Sprecherin sitzt da einsam vor ihrem Mikro und quatscht irgendwas Politisches und niemand hört hin. Dann das Fußballergebnis, das jeder schon seit Stunden kennt. Und ein Haus brennt, in Erle. Egal, ich wohne nicht in Erle. Nicht mehr. Auf der A52 bauen sie wieder an der Ruhrtalbrücke, eine Umleitung ist ausgeschildert. Ich drehe leiser. Im Handschuhfach liegt noch Karstens Beretta 81. Ich habe sie nicht benutzt, weil Vera nicht aufgemacht hat. 700 Gramm, Kaliber 7,62. Für die Ampel wird es reichen. Die Leute sind hier sowieso schon wach und glotzen an den Fenstern, jetzt knallt's, lauter und echter als im Spätkrimi. Ich richte die Beretta auf die Ampel. So wird das nichts, erstens ist die Windschutzscheibe im Weg, zweitens kann ich den Arm nicht ausstrecken um zu zielen. Jetzt
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Copyright © 2007-2015 Uwe Post
Tag der Veröffentlichung: 04.03.2015
ISBN: 978-3-7368-8198-3
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