Oft genug kommt es vor, dass gelogen wird. Kleine oder große Lügen, Notlügen und viele andere mehr. Manche sind harmlos, andere gravierend. Sie können schwere Folgen haben, für einzelne, aber auch für viele Menschen.
Diese Erkenntnis musste ich machen. Viele Jahre lebte ich mit einer großen Lüge, man kann schon sagen, es war eine Lebenslüge. Beinahe hätte diese mich mein Leben gekostet und auch noch andere mit ins Unglück gerissen. Nun bin ich dabei diese Lüge zu beenden. Dieser Schritt war längst überfällig.
Ich wuchs in einer Familie der Oberschicht auf. Mein Vater war Teilhaber einer gutgehenden und bundesweit agierenden Firma. Meine Mutter war die Dame des Hauses. Es gab meist nur Regeln an die wir uns alle zu halten hatten. Vor allem musste der Schein nach außen gewahrt werden, nie durfte auch nur ein Schatten auf die „heile“ Familienidylle fallen. Mein Weg für die Zukunft war vorausgeplant, ich sollte nach der Schule und der Ausbildung in die Firma mit einsteigen und eines Tages den Platz meines Vaters übernehmen. Meine Schwester wurde auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau eines reichen Mannes vorbereitet.
Meine Schwester und ich gaben uns während all der Jahre viel Halt. Liebe und Zuwendung erhielten wir kaum von unseren Eltern, so hingen wir, verständlicher Weise, aneinander. Wir konnten uns fast alles anvertrauen.
Mit Beginn der Pubertät begann dann das Unglück. Ich bemerkte, dass ich schwul war. Wenn das bekannt würde, dann bedeutete es Ärger. Meine Eltern würden dies nicht akzeptieren und mich verstoßen. Und das konnte ich nicht riskieren. Notgedrungen fügte ich mich in die Rolle des folgsamen Sohnes. Einziger Halt war weiterhin meine Schwester.
Nach Beendigung der Schule machte ich eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann. Danach stieg ich in die Firma ein. Dort sollte ich mich in den nächsten Jahren hocharbeiten.
Meine Eltern fingen an mich zu drängen eine passende Frau zu suchen. Den Gedanken daran hab ich immer, soweit es ging, verdrängt. Mich schauderte es wenn ich an eine Beziehung und sogar eine Hochzeit mit einer Frau dachte. Lange konnte ich meine Eltern hinhalten indem ich hin und wieder mal eine „Freundin“ mitbrachte. Meist waren es nur harmlose Flirts die nie über Händchenhalten und höchstens Knutschen hinausgingen.
So begann ich damit eine Lüge aufzubauen. Für eine gewisse Zeit genügte es meinen Eltern, dass ich Freundinnen hatte. Hin und wieder, aber leider zu selten, nahm ich mir eine Auszeit und fuhr mal für einige Tage sehr weit weg. Dort konnte ich mal so leben wie ich wollte. So konnte ich mich auch mal mit Männern treffen und mein wahres Leben, das als schwuler Mann, ausleben.
Doch diese kargen Freiheiten hatten bald ein Ende. Meine Eltern wollten unbedingt, dass ich endlich heiratete und auch für Nachwuchs sorgte. Alle Versuche eine mögliche Hochzeit noch hinauszuzögern scheiterten. Vater setzte mich unter Druck, entweder Hochzeit oder er würde mich verstoßen. So fügte ich mich weiter in diese Lebenslüge.
Mein Vater machte mich mit der Tochter eines Geschäftspartners bekannt. Diese hielt er für eine gute Partie. Wir verstanden uns halbwegs. Auch sie stand daheim unter Druck. Nach einiger Zeit wurde die Verlobung bekanntgegeben.
Dadurch lockerte sich der Druck. Sylvia, so hieß meine Verlobte, und ich konnten uns eine eigene Wohnung nehmen. Es war zum Teil eine Befreiung. Auch sie stand bei ihrer Familie unter einem starken Druck. Sylvia hätte gern mehr aus ihrem Leben machen wollen, doch auch sie sollte sich dem Familieninteresse unterordnen.
Durch unsere Verlobung und den Einzug in eine eigene Wohnung hatten wir mehr Freiheiten als zuvor. Doch Sylvia und ich lebten eine Lüge. Keiner von uns wollte eigentlich heiraten, doch wir ordneten uns der Familie unter.
Etwa ein Jahr später heirateten wir. Mein Vater honorierte dies indem ich in der Firma einen besseren Job bekam. Soweit war er zufrieden mit mir. Doch irgendwann sollte der Druck wieder steigern. Dieser sollte härter werden als bisher.
Auch wenn Sylvia und ich uns nicht liebten, so mochten wir uns doch und wir bauten ein gutes Vertrauensverhältnis auf. Das war inzwischen so gut, dass wir uns alles erzählten. Sie vertraute mir an das sie gern etwas mehr machen wollte als nur die Ehe- und Hausfrau zu sein. Im Gegenzug erzählte ich ihr, dass ich schwul bin. So beschlossen wir uns gegenseitig Freiheiten zu lassen. Gegenüber unseren Familien und dem dazugehörigen Umfeld hielten wir die Fassade aufrecht ein glückliches Ehepaar zu sein.
Wie bereits erwähnt, stieg der Druck auf Sylvia und mich. Sie wollten, dass wir endlich einen Stammhalter in die Welt setzen. Dieser Druck belastete uns. Doch unsere Eltern wollten endlich den ersehnten Erben. Je mehr Zeit verstrich umso stärker wurde der Druck.
Dies belastete Sylvia und mich. Wir wurden beide dünnhäutiger. Bei mir wirkte sich das auch auf die Arbeit aus. Immer häufiger bekam ich starke Kopfschmerzen und konnte mich oft nicht auf meinen Beruf konzentrieren.
Schließlich kam mein Vater wieder mit der, bisher, bewährten Methode an mich unter Druck zu setzen. Doch es wurde mir zu viel. Das erste Mal widersetzte ich mich ihm. Wir gerieten sehr heftig in Streit. Ein Wort gab das andere. Die Fronten zwischen meinem Vater und mir verhärteten sich.
Als ich danach Feierabend machte und die Firma verließ, da hatte ich rasende Kopfschmerzen. Diese waren so schlimm wie bisher nie zuvor. Kaum daheim angekommen legte ich mich aufs Bett um zur Ruhe zu kommen.
Sylvia bemerkte, dass es mir nicht gut ging. Mittlerweile ging es mir so schlecht, dass ich kaum noch ansprechbar war. Sie machte sich große Sorgen um mich, sie rief schließlich den Arzt.
Dieser kam auch recht schnell. Sylvia erzählte ihm was geschehen war und warum es so weit kam. Er gab mir ein Beruhigungsmittel und schrieb mich für einige Tage krank. Doch gab der Arzt uns den Rat uns endlich aus diesem Trott zu befreien. Er sagte, dass wir nicht unser Leben lebten sondern, dass wir stattdessen eine Lüge auslebten. Eine Lebenslüge nur um einen gewissen Schein zu wahren. Wenn das nicht aufhören würde, dann würde das noch ein böses Ende nehmen.
Als es mir später etwas besser ging besprach ich mich mit Sylvia. Wir beschlossen, dass wir aus diesem Leben ausbrechen wollten. Wir hatten etwas gespart, sodass wir einige Zeit über die Runden kommen würden. Bei meiner Qualifikation konnte ich anderswo einen neuen Job finden. Sylvia hatte inzwischen heimlich, mit meinem Wissen, Kurse und Fortbildungen besucht und konnte als Sekretärin arbeiten. Heimlich suchten wir uns in einem anderen Ort eine neue Wohnung und bewarben uns auch um Jobs.
Das gelang uns dann auch. Wir waren uns einig das wir uns nun von unseren Eltern endlich trennen und ein eigenes Leben führen wollten. Es konnte nicht mehr sein das wir, nur um unsere Eltern glücklich zu machen unser eigenes Leben verleugneten und eine große Lüge lebten.
Mit einem mulmigen Gefühl trafen wir uns mit unseren Eltern. Wir wussten, dass es hart werden würde. Und so kam es. Sie hatten absolut kein Verständnis für unsere Entscheidung. Die Eltern versuchten uns wieder mit Enterbung zu drohen und das sie uns verstoßen würden, doch diesmal kamen sie nicht mehr damit durch. Sylvia und ich stellten sie vor vollendete Tatsachen, dass wir bereits vorgesorgt hatten und dass wir uns wegen neuer Arbeit und Wohnung abgesichert hatten. Da waren unsere Eltern sprachlos.
Zum Ende des Gesprächs sagten wir ihnen noch das wir nicht mehr bereit wären, nur um deren Leben zu führen, eine große Lüge aufrecht zu erhalten, die auf unsere Kosten ging. Damit war alles gesagt. Sylvia und ich verließen unsere Eltern und gingen in ein neues Leben.
Endlich hatten wir uns von dieser Lüge befreit und lebten ein Leben wie wir es wollten. Doch eines war noch zu klären. Sylvia wollte ungebunden sein und ich wollte endlich meine Homosexualität ausleben können. Wir ließen uns, in gegenseitigen Einverständnis, scheiden. Inzwischen waren wir gute Freunde geworden. Sylvia und ich hatten die neue Wohnung so ausgesucht das wir als gute Freunde zusammen wohnen blieben, in einer Wohngemeinschaft.
Endlich war die große Lebenslüge beendet, es war ein Befreiungsschlag der Sylvia und mir gut tat. Dieser Schritt gab auch meiner Schwester die Kraft ihren eigenen Weg zu finden. So gut es ging unterstützte ich sie dabei.
Zu hoffen war nur noch, dass unsere Eltern eines Tages einsichtig würden und erkennen, dass es wichtigeres gibt als den so genannten schönen Schein. Und das es nichts gibt das eine so große Lüge rechtfertigt.
Nachwort
Im wahren Leben gibt es, belegt durch Personen des öffentlichen Lebens, genug Beispiele für Lügen bzw. Lebenslügen. In einem Fall, ich denke, ich brauche keine Namen zu nennen, hat so eine große Lebenslüge sogar Menschenleben gekostet. Das kann und darf nicht zur Regel werden. Solche Lügen mit fatalen Folgen richten nur Schaden an. Und das kann es doch nie im Leben sein.
Nachwort 2
Diese Geschichte ist mein Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb im Januar 2015 auf Bookrix.
Copyright: 05.01.2015
Autor: H. Grenz
Tag der Veröffentlichung: 09.01.2015
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