Cover

Hobbydetektiv

 

 

- Gartenzwergmörder -

 

 

 

 

Ein kleiner ‚Kriminalfall‘ mit Augenzwinkern und Schmunzeln.

 

 

 

 

von R. West

 

 

Intro

 

Ich erzähle eine erfundene Geschichte. Sie soll unterhalten. Vielleicht regt sie die Leser zum Schmunzeln oder Nachmachen an.

Alle hier vorkommenden Personen sind so für diese Geschichte ins Leben gerufen worden.

 

 

 

 

 

 

 

Widmung

 

 

 

 

Mein Mädele liebt Krimis … und ich mein Mädele

Zum 35. Hochzeitstag eine kleine Geschichte.

 

Prolog

 

Freitag, 22 Uhr 12:

Der Kämpfer für Recht und Freiheit schlich durch die Nacht. An den Wärtern vorbei hatte er es aus seiner Zelle bereits geschafft. Die saßen im Wohnzimmer und sahen sich einen Krimi im Fernsehen an. Lautlos hatte der kühne Kämpfer sich vorbeigeschlichen. Listig hatte er die Tür zur Diele angelehnt. Dort hatte er sich seine Kampfstiefel angezogen und beinahe lautlos die Wohnungstür geöffnet.

Jetzt war er unterwegs. Damit er es später einfach hatte, hatte er einen Schuh in die Haustür gestellt. So konnte er nach seinem Auftrag zurückkommen und wieder in seine Zelle zurückkehren. Niemand würde ihn verdächtigen. Er hatte ja ein Alibi.

Der Kämpfer lächelte. Hätte er nicht den anderen von seinem Zellenfenster zugesehen, hätte er es nicht bemerkt. Es hatte ihn beeindruckt, diese Wunderwaffe im Einsatz zu sehen. Die Riesen mit den breiten Schultern hatten ihn mit einer Hand verwendet. Sie hatten das Visier an ihren Helmen geschlossen und … Peng … Peng … Peng … eingesetzt. Mit durchschlagendem Erfolg, wie er beobachten konnte.

Einer hatte seine Wunderwaffe auf die umgebende Mauer gelegt. Versehentlich hatte er sie angestoßen und sie war in den Garten hinter einen kleinen, aber dichten Busch gefallen. Niemand hatte den Verlust bemerkt. Niemand hatte die Waffe gesucht, als sie abends alles wegschlossen. Nur er wusste, wo sie lag.

Er war jetzt auf dem Weg, diese Waffe zu erforschen. So etwas hatte er noch nicht gesehen. Das musste untersucht werden. Möglich, dass man das dann selber verwenden konnte. Er war gespannt darauf.

Draußen war alles dunkel. Es brannten nur noch die Beleuchtungen an den Wegen. Die Fenster der Gebäude um ihn herum waren dunkel oder die Rollläden herabgelassen. An der Hausecke verharrte der Kämpfer noch einige Sekunden und beobachtete die Straße. Niemand durfte ihn sehen. Sonst würde man ihn verraten.

Erst, als er sich sicher war, niemanden zu sehen, eilte er geduckt weiter bis zur umgebenden Mauer. Noch ein paar Schritte, und diese Waffe lag vor ihm. Jetzt im Schatten der Mauer und der Nacht, wirkte die dunkelblaue Waffe fast schwarz. Nur das schräge Magazin blinkte im Mondlicht.

Der kühne Kämpfer bückte sich und hob die Waffe mit einem Ächzen an. Sie war wirklich für Riesen gemacht. Er brauchte beide Hände, um sie überhaupt halten zu können. Damit er sie besser betrachten konnte, stellte er sie auf die Mauer. Mit einer Hand hielt er sie, während die andere bewundern über die Hülle strich. Das Magazin der Waffe war noch halbvoll, wie er durch den schmalen Sichtstreifen erkannte.

Da war noch ein Drehschalter. Momentan stand er auf der Mitte. Der Kämpfer spielte damit und drehte ihn auf Maximum. Nur so hat eine Waffe die größte Wirkung, dachte er sich dabei.

Erneut nahm er die Waffe auf. Konzentriert hielt er sie an seiner Hüfte. Mit Drehbewegungen deutete er an, dass er zielte.

„Peng … Peng … Peng“, murmelte er halblaut.

Die Waffe war der Wahnsinn. Er fühlte sich beinahe unbesiegbar damit. Ja, so etwas wollte er auch. Das war Macht, was er da in den Händen hielt.

Mit schnellen ruckartigen Richtungswechseln visierte er neue Ziele an, die nur er sehen konnte. Dabei geschah es. Er rutschte ein wenig und wollte sich abfangen. Mit dem Bein stieß er gegen die Mauer. Ruckartig verkrampfte er. Auch seine Hand.

Laut hallte das peitschende Geräusch des Abschusses durch die ruhige Straße. Der Kämpfer hatte zu fest den Abzug gedrückt und die Waffe war nicht gesichert gewesen. Das folgende leise Klirren ging in dem Echo des Schusses unter.

Erstarrt stand der Kämpfer für Recht und Freiheit. So hatte er es sich nicht gedacht. Schon flammte Licht hinter Rollläden auf. Schon ratterten die ersten Rollläden hoch. Man wollte sehen, was das für ein Lärm zur nachtschlafenden Zeit war.

Entsetzt ließ der einsame Kämpfer die Waffe fallen und hastete zurück zur Haustür, während hinter ihm die Rollläden im Wohnzimmer des Hauses hochgingen. Er schaffte es unbesehen ins Haus und schloss die Haustür leise. Seine Turnschuhe flogen in die Ecke und dann hastete er die Treppe hoch in seine Zelle. Auch diese Tür schloss er leise.

 

Gleich darauf lag Benjamin unter seiner Decke zusammengerollt. Der fünfjährige selbsternannte Kämpfer für Recht und Freiheit beim Spielen mit seiner Ritterburg zitterte am ganzen Körper. Den Lärm beim Abschuss hatte er nicht erwartet. Tagsüber, bei geschlossenem Fenster, hatte es nicht so laut geklungen.

Für ihn war es ein Abenteuer gewesen, aus seinem Stubenarrest auszubrechen und dieses Gerät inspizieren zu können. Langsam beruhigte er sich wieder. Niemand schaute in sein Zimmer. Die dummen Erwachsenen dachten wohl, er würde schlafen. Jetzt konnte er sogar wieder grinsen. Sie hatten nichts bemerkt. Langsam zog Stolz in seine Heldenbrust. Er hatte die Erwachsenen ausgetrickst. Was waren die schon gegen den einsamen Kämpfer für Recht und Freiheit?

 

 

Mord

 

Ellen Huba lehnte sich zurück. Ein kurzer Blick ging nach draußen auf die Terrasse. Alles war bereit. Teller, Tassen, Besteck, Servietten, Zuckerdose – alles war da, wo es hingehörte. Auch die Terrassenstühle hatten schon die Polster. Schließlich wollte es jeder bequem haben, wenn in wenigen Minuten das Treffen, dass alle zwei Woche, stattfand, losging.

Die Sonne lachte, also war auch die Markise schon entfaltet, damit jeder im Schatten sitzen konnte. Trotzdem stand hier auf dem Wohnzimmertisch noch das Tablett griffbereit. Das würde sie dann mit nach draußen nehmen, wenn alle da waren. Das Milchkännchen kam auf den Tisch, zusammen mit dem Sahneschälchen. Das Stövchen mit dem Tee und die Thermoskanne mit Kaffee standen bereits auf dem Beistelltisch. Die Platte mit dem Kuchen würde sie danebenstellen.

Heute hatte sie einen Ananaskuchen vorbereitet. Eigentlich etwas ganz Einfaches. Eine Ananas in kleine Stückchen teilen – wer fauler war, konnte eine Dose Ananasstückchen nehmen. Die Stückchen kamen auf einen Boden wie beim Apfel- oder Pflaumenblechkuchen. Noch Kokosstreusel oben drüber und rein in den Ofen.

Vor einer Stunde hatte sie ihn herausgeholt und gerade aufgeschnitten. So war er noch duftig warm.

Ellen schmunzelte. Eigentlich stand der Ablauf des Nachmittags fest. Eigentlich hatte es noch nie Abweichungen gegeben.

Bei Kaffee, Tee und mindestens einem Stück Kuchen wurde sich über die letzten Wochen und alles, was in der Gemeinde angefallen war ausgelassen. Durch die räumliche Verteilung über den ganzen Ort wusste jede etwas Spezielles aus dem eigenen Umfeld. Der Nachbar hatte doch jetzt …. Nein, und was die Frau zwei Häuser weiter nicht getan hatte …. Und habt ihr mitbekommen …?

Und ganz wichtig war für alle das Ritual des Heuchelns. Mindestens eine würde den üblichen Spruch loslassen:

„Eigentlich dürfte ich nicht mehr essen. Meine Waage, wisst ihr. Aber Ellen, heute ist dir der Kuchen wieder besonders gut gelungen, da kann ich einfach nicht nein sagen. Du verführst mich jedes Mal. Auch, wenn ich es morgen bereue.“

Und alle lächelten dabei, weil jede wusste, dass es eigentlich nur wegen den anderen gesagt wurde. Und alle würden betonen, dass die, die es sagte, doch gut aussehen würde, und überhaupt ….

Alle liebten diese kleinen Heucheleien. Denn alle fünf Frauen hatten immer noch eine gute Figur, auch wenn alle schon um die 60 waren.

Und genauso würde eine wieder die Frage stellen, wie denn Ellens neuer Krimi ausgegangen war. Jeder wusste, dass Ellen krimisüchtig war. Wehe, man schickte sie in eine Buchhandlung mit einem vollen Geldbeutel und einer leeren Tasche. Hinterher würde voll und leer getauscht haben.

Hatte Ellen die Geschichte noch nicht durch, dann erzählte sie haarklein, was passiert war und welche Spuren der Kommissar schon verfolgt hatte. Dann diskutierte die ganze Frauengruppe, wie es wohl weiterging und wer der wirkliche Täter war. Meistens schrieb Ellen dann die Tipps auf einen Zettel und beim nächsten Treffen wurde die Siegerin gekürt. Allerdings gewann meistens auch Ellen selber. Nicht weil sie vorher gespickt hatte – nein, das widersprach ihrer Ehre. Aber sie war eben krimisüchtig und brachte damit die Erfahrung aus hunderten noch so komplizierten Fällen mit.

 

Ihre Freundin Barbara kam wie üblich als Erste. Barbara war Ellens beste Freundin. Schon seit Jahrzehnten kannten sie sich. Und genauso herzlich wurde sie umarmt und begrüßt.

„Wir sind wieder auf der Terrasse“, teilte Ellen ihr gleich nach der Begrüßung mit.

Innerhalb der nächsten Minuten kamen die noch Maria und Helga dazu. Auf die Pünktlichkeit konnte man sich bei allen verlassen.

Deswegen war es überraschend, dass Anne nicht pünktlich war. Ellen schaute sogar aus der geöffneten Tür die Straße entlang, aber Annes Wagen war nicht zu sehen.

Mit gerunzelter Stirn schloss Ellen die Haustür. Auf dem Weg zur Terrasse nahm sie das Tablett mit. Die Freundinnen hatten bereits Platz genommen. Jede hatte ihren Stammplatz. Wie hatte Maria doch einmal gegrinst?

„Es gibt keine Sitzordnung, aber hier habe schon immer ich gesessen.“

Alle hatten gelacht … und sich wie üblich platziert.

„Weiß jemand, was mit Anne ist?“ fragte Ellen, während sie das Tablett abstellte.

Überrascht sahen sich die Freundinnen an. Alle schüttelten den Kopf. Keine hatte mitbekommen, dass Anne krank war oder es einen anderen Grund für ihr Fehlen gab.

Fast zögernd setzte das Gespräch wieder ein. Ellen hatte auch Platz genommen und so ging erst einmal Kaffee, Tee und Kuchenplatte herum. Einen Grund würde die Verspätung wohl haben, aber es bestand kein Grund, alles kalt werden zu lassen.

„Wer nicht kommt zur rechten Zeit, muss halt sehen, was übrigbleibt“, warf Barbara mit einem kleinen bisschen Spott in die Runde.

Sie war immer die Erste. Jede wusste, dass es nicht bös gemeint war, sondern jetzt nur einen Auflockerungsversuch darstellte. Immerhin schien jeder zu lauschen, wann Anne denn kam.

Langsam verebbte allerdings die Fröhlichkeit, als die Minuten vergingen. Anne kam nicht und sie meldete sich nicht. Das war mehr als ungewöhnlich.

Ellen hatte sich nach einer Viertelstunde schon ihr Smartphone geholt, doch Barbara hatte gemeint, sie solle noch fünf Minuten drangeben. Schließlich wäre es eher die Aufgabe von Anne zu informieren und nicht die von Ellen, ihr hinterherzulaufen.

Fünf Minuten später klingelte es aufgeregt. Ellen stand schnell auf und eilte zur Haustür. Kaum hatte sie geöffnet, schob sich Anne an ihr vorbei.

„Du glaubst gar nicht …“, fing sie aufgeregt an.

Ellen unterbrach sie, indem sie die Hand hob.

„Geh erst einmal auf die Terrasse, die anderen warten schon. Sicher willst du es auch ihnen erzählen.“

Anne schnaufte.

„Du hast Recht. Die müssen es auch wissen.“

Ohne die Gastgeberin weiter zu beachten, wirbelte sie herum und eilte auf die Terrasse, ihre große Tasche mitschleppend. Dort ließ sie sich gleich in ihren Sitz fallen und lehnte sich mit einem tiefen Seufzer zurück. Ellen kam ihr hinterher. Vier Augenpaare waren auf Anne gerichtet. Tiefes, erwartungsvolles Schweigen herrschte, nur durch das Summen einiger Bienen gestört.

Nach einige Sekunden der spannungsgeladenen Stille musste Ellen schmunzeln. Anne genießt es, dachte sie. Sie zögert es bewusst heraus. Sie weiß, was jede wissen will und sie schürt die Spannung weiter an. Aber nicht mit mir.

 

„Kaffee oder Tee, Anne?“

Ellens profane Frage zerstörte die ganze Spannungsblase. Jeder der Frauen sah die Gastgeberin irritiert an.

„Äh, Kaffee“, murmelte Anne und war aus ihrem Konzept gebracht.

Ruhig schenkte Ellen ihr die Tasse ein und stellte die Kanne wieder zurück.

„Auch ein Stück Kuchen, Anne. Ich habe heute einen Ananaskuchen gebacken.“

Anne schwieg einen Moment. Den nutzte Barbara für einen Kommentar.

„Der ist echt lecker. Den solltest du probieren.“

Der Einwurf brachte auch Maria dazu, dem Kommentar zuzustimmen. Auch Helga äußerte sich begeistert. Anne blickte von einer zur anderen.

„Also gut, Bitte ein Stück, Ellen.“

Anne hatte eingesehen, dass die Spannung verschwunden war. Sie schob ihre Information nach hinten. Die anderen würden fragen, und dann schlug ihre Stunde.

Langsam nahmen die anderen ihre Gespräche wieder auf, während Anne sich Kaffee und Kuchen schmecken ließ. Sie ließ sich sogar noch ein zweites Stück geben. Der Kuchen war wirklich lecker.

Kaum hatte sie aber den Kuchenteller abgesetzt, platzte Helga schon mit der erwarteten Frage heraus.

„Sag mal, Anne, wo warst du denn? Warum bist du heute so spät gekommen? Ist was passiert?“

Noch einmal holte Anne tief Luft.

„Bitte entschuldige, Ellen, dass ich so spät komme und nicht einmal angerufen habe“, entschuldigte sie sich jetzt.

„Ich war noch auf der Polizei und wollte eine Anzeige aufgegeben.“

„Eine Anzeige?“

„Warum?“

„Was ist passiert?“

Die Fragen schwirrten durcheinander und alle Fragen sahen Anne erwartungsvoll an.

„Fridolin ist ermordet worden.“

„Was?“

„Ermordet?“

„Wer ist Fridolin?“

Erneut schwirrten die Fragen und Unverständnis machte sich in den Gesichtern der Frauen breit.

Ermordet! Das war ein hartes Wort. Jemand war umgebracht worden. Ein Verbrechen war passiert. Hier in ihre Stadt. Die Aufregung nahm zu.

 

„Wer ist Fridolin?“ setzte sich Barbara durch.

Da man sich untereinander lange genug kannte, wusste man auch in etwa, wie die jeweiligen Nachbarn hießen. Natürlich konnte jemand neu zugezogen sein, aber das wäre dann Thema einer Kaffeerunde gewesen. Aber … Fridolin? Der Name sagte niemand etwas.

„Fridolin ist mein Gartenzwerg.“

Eine Bombe hätte nicht mehr Schweigen bewirken können, so still war es geworden. Alle vier Frauen starrten Anne mit großen Augen an.

Fridolin. Gartenzwerg. Ermordet. … ermordet? Konnte man einen Gartenzwerg ermorden?

„Du meinst, jemand hat deinen Gartenzwerg kaputt gemacht?“ frage Maria nach.

„Nein, man hat ihn erschossen“, korrigierte Anne.

„Wie, erschossen? Man kann doch keinen Gartenzwerg erschießen?“ versuchte sich Helga.

„Doch. Ganz brutal und hinterhältig.“

Anne bückte sich und stellte die Leiche auf den Tisch. Jede konnte den nett lächelnden, etwa 30 Zentimeter hohen Gartenzwerg aus einer Art dünnem Kunststoff sehen. Tatsächlich hatte er in der Stirn ein kleines rundes Loch. Im Hinterkopf war ebenso ein Loch.

Fasziniert betrachteten alle das Corpus Delicti. Dass ein Gartenzwerg zerbrochen wurde, kannte sie. Es konnte immer einmal etwas darauf fallen oder beim Umsetzen fiel er runter und zerbrach. Aber der hier sah wirklich … erschossen aus.

„Oha!“

Helgas Ausruf drückte die Verblüffung bei allen aus.

„Und wie ist es passiert?“ staunte Ellen.

„Na, wie schon. Pistole oder Gewehr, zielen und abdrücken. Peng.“

Anne klang ein wenig pampig.

„Ok, Peng. Hast du nichts gehört. Ich meine, ein Schuss ist doch kein Fingerschnippen. Wann ist denn das überhaupt passiert?“ fragte Ellen.

„Also gestern war er noch in Ordnung. Da habe ich im Vorgarten Unkraut entfernt. Also muss es am Abend oder in der Nacht passiert sein. Leider habe ich beim Schlafen immer Ohrenstopfen. Vielleicht habe ich es deswegen nicht gehört.“

„Und wann hast du es festgestellt?“

„Na, vorhin. Ich wollte noch eine Rose abschneiden für den Kaffeebesuch heute. Da lag er erschossen vor mir.“

„Also könnte es auch heute am Tag passiert sein?“

„Aber da habe ich keinen Schuss gehört.“

Wieder schwiegen alle.

 

„Und was sagt die Polizei?“

„Die haben mich ausgelacht. Mord an einem Gartenzwerg? Einer hat mich gefragt, ob er eine Sondereinsatzkommando einberufen soll.

Die Frage nach einer Anzeige habe ich ihm nicht mehr beantwortet.“

Erneut herrschte allgemeines Schweigen. Spott von der Polizei? Obwohl, niemand war dabei gewesen, als Anne die Tat gemeldet hatte. Keine der Frauen gab einen Kommentar darüber ab, dass Anne manchmal vielleicht, … möglicherweise … etwas zu … aufgeregt gewesen war und etwas zu heftig reagiert hatte. Nur ganz vielleicht. Oder der beamte war heute nicht gut drauf gewesen. Auch das sollte es schon gegeben haben.

Wie auch immer. Momentan jedenfalls gab es keine Anzeige.

„Ellen?“

Nach Minuten des Schweigens kam eine leise Bitte von Anne.

„Hm?“ machte Ellen nachdenklich.

„Kannst du nicht …?“

„Was meinst du?“

„Könntest du nicht herausfinden, wer meinen Fridolin erschossen hat?“

„Wie meinst du das, Anne?“

„Du kennst dich doch damit aus. Ich meine, von wegen dem Krimi-Ding.“

„Ich bin weder Polizei, noch habe ich irgendwelche Befugnisse. Da kann ich gar nichts machen.“

„Doch, Ellen. Du kannst versuchen den Täter zu finden. Und dann zeige ich ihn an.“

„Und wieso glaubst du, dass ich ihn finde?“

„Also bei deiner Erfahrung? Du kennst doch so viele Krimis. Du weißt doch, wie die immer reagieren und vorgehen. Und beim Raten hast du auch meistens Recht. Das sollte doch wohl reichen, oder? Es geht doch nur um das Herausfinden.“

„Haha. Nur? Wenn das ‚Nur‘ so einfach wären, dann würde doch wohl jedes Verbrechen aufgeklärt, oder?“

Ellen lachte und auch die anderen schmunzelten. Selbst Anne zuckte verlegen mit den Schultern.

 

Doch Ellen grübelte. Es klang nach einer Herausforderung. Das wäre einmal etwas anderes als staubwischen und Gartenarbeit.

Gedankenverloren nahm sie sich noch ein Stück Kuchen. Langsam fing sie an, zu essen.

„Du kannst doch nicht einfach weiteressen, Ellen? Ich habe dich gerade gebeten, mir zu helfen. Bitte.“

Anne klang überrascht wegen Ellens Verhalten. Die aß ein weiteres Stück Kuchen und gab ihr nicht einmal eine Antwort auf ihre Bitte. Das war doch unhöflich.

Ellen kaute zu Ende und legte die Gabel auf den Teller.

„Doch, ich esse jetzt noch ein Stück. Dass macht übrigens die Detektivin Helene von Desot in der einen Serie auch immer. Sie sagt, der Zuckerschub hilft ihr beim Denken.“

Sie schmunzelte.

„Ich denke eher, sie macht das, weil sie dann in Ruhe nachdenken kann, ohne in dauernden Diskussionen mit ihrem Assistenten zu stehen.“

„Oh.“

Anne schloss den Mund. Sie hatte die kleine Spitze verstanden. Vor allem hatte sie verstanden, dass Ellen den ‚Fall‘ übernommen hatte. Erleichtert lehnte sie sich zurück. Sie vertraute ihrer Freundin. Die würde das Ganze schon aufklären.

Auch die anderen hatten es so verstanden und so wechselte das Gesprächsthema dahin, wie Ellen die Bitte erfüllen würde. Natürlich wurde auch heiß diskutiert, wer denn so etwas machen würde und warum.

Hatte der- oder diejenige gezielt geschossen, weil die Person keine Gartenzwerge mochte? Oder war es ein Versehen gewesen? Aber wer schoss denn mit scharfer Munition in Vorgärten anderer? War das nicht sowieso gefährlich? Und überhaupt, wer hatte denn eine Waffe zu Hause?

Selbst als Ellen ihren Kuchen aufgegessen und den Teller wegestellt hatte, lauschte sie nur den Gesprächen der anderen. Sie hörte einfach den Theorien zu und verglich sie mit den eigenen Überlegungen.

Nach den üblichen zwei Stunden Kaffeeklatsch machten sich alle bereit zu gehen. Trotzdem schwirrten weiter die Diskussionen über diese Tat. Das war doch wirklich einmal etwas Aufregendes, wenn eine der ihren so angegriffen worden war.

Auch Ellen zog sich an und machte sich bereit das Haus zu verlassen. Gemeinsam hatten sie das Geschirr noch in die Küche gebracht. Auch das war Routine. Meistens lud Ellen wegen dem großen Haus und dem meisten Platz ein. Aber sie sollte nicht alles alleine machen müssen. Spülen übernahm sowieso die Maschine, aber das Wegstellen war für alle ein Akt der Höflichkeit.

 

Noch schnell das Haus verschlossen und Ellen folgte Anne mit dem eigenen Wagen. Die beiden hatten ausgemacht, dass Ellen den ‚Tatort‘ besichtigen sollte.

Glücklicherweise war ein Parkplatz direkt neben dem Haus der Freundin frei. Gleich darauf standen beide Frauen vor dem Mäuerchen und blickten in den knapp drei Meter breiten Grünstreifen vor dem Haus. Direkt an der Hauswand war ein schmaler Weg durch Steinlatten ausgelegt. Rechts trennte das kniehohe Mäuerchen auch den bepflanzten Bereich beim Nachbarhaus ab. Links war die Einfahrt zur Garage.

Anne hatte auf den gut neun Metern ein halbes Dutzend Rosensträucher gepflanzt, die üppig blühten. Jedes Jahr schnitt die Besitzerin sie ordentlich zurück, damit sie nicht in die Höhe, aber mehr in die Breite wuchern konnten. Durch verschiedene Farben von gelb bis dunkelrot war der Streifen schön anzusehen. Dazwischen waren verschiedene Flächen mit Bodendeckern bewachsen. Alle verbleibenden Zwischenräume waren mit Rindenmulch bedeckt.

Den Nachbargarten zierte Rasen und zwei dichte Büsche. Zwar waren die Büsche sauber gestutzt, aber verglichen mit Annes Vorgarten war es eher ein tristes Grün.

Ellen sah sich weiter um. Natürlich war sie schon hundert Male hier gewesen. Aber wirklich bewusst hatte sie sich die Nachbarschaft schon lange nicht mehr angesehen. Jetzt nahm sie wahr, wie viele eher nur grün, ein paar Büsche oder auch ein kleines Bäumchen im Vorgarten hatten. Die wenigsten hatten Blumenrabatte oder blühende Sträucher. Sogar einen reinen Steingarten sah sie.

„So, und wo stand nun dein Ferdinand, Anne?“

„Fridolin. Der Gartenzwerg heißt Fridolin, nicht Ferdinand.“

Anne hatte leichte Empörung in die Stimme gelegt. Ferdinand? Das war doch kein Name gegenüber dem wohlklingenden ‚Fridolin‘. Da klang Musik und Frohsinn mit.

„Entschuldige, Fridolin. Also, wo stand er?“

„Na, hier im Vorgarten. Das habe ich doch schon gesagt.“

„Anne, das ist eine große Fläche. Wenn ich etwas herausfinden soll, dann muss ich wissen, wo und wie er gestanden hat.

Du wolltest, dass ich etwas herausfinde. Dann ist das jetzt der Tatort, den ich untersuchen muss. Wenn du sagst, irgendwo hier, dann ist das genauso, als wenn einer die Polizei anruft und sagt, in der Stadt wird gerade eingebrochen.“

„Ach so. Also, er stand …. Lass mich mal überlegen.“

Anne ging an der Mauer ein paar Schritt nach rechts, murmelte etwas Unverständliches, ging einen Schritt nach links, murmelte wieder etwas.

Ellen war einen Schritt zurückgetreten, um der Freundin Platz zu lassen. Jetzt rollte sie die Augen. Das kann doch wohl nicht wahr sein, dachte sie. Jetzt weiß sie nicht einmal mehr, wo die Figur gestanden hat?

„Also ich denke, er hat dort gestanden“, meinte Anne schließlich.

„Stell ihn bitte so hin, wie er gestanden hat“, forderte Ellen.

Anne ging am Haus entlang um das Mäuerchen herum und stellte den Gartenzwerg wieder auf. Der sah Ellen direkt an.

Die trat näher an das Mäuerchen und bückte sich. Mehrfach bewegte sie den Kopf zur Seite und schien etwas zu suchen.

 

„Bist du sicher, dass der Gartenzwerg hier stand.“

„Ja“, dehnte Anne.

„Dann sage ich dir, dass es nicht sein kann.“

„Und wieso nicht?“

„Ganz einfach. Wenn ich hier die beiden Löcher durch den Kopf ansehe und im Kopf verlängere, dann sehe ich die Hauswand neben dir. Von hier aus kann ich aber nicht erkennen, dass es dort eine Beschädigung gibt.“

Auch Anne bückte sich und betrachtete den Haussockel von der Nähe.

„Ich verstehe“, sagte sie schließlich.

Wenn der Schuss durch den Kopf gegangen ist, dann müsste er die Wand getroffen haben. Dann müsste man dort etwas erkennen können.“

„Richtig Anne. Also hat der Zwerg nicht so gestanden.“

Gebückt ging Anne an der Wand entlang. Jetzt suchte sie nach irgendeiner Art von Beschädigung.

Und sie fand eine. Ein Stück des Verputzes war herausgebrochen und hatte ein kleineres Loch hinterlassen.

„Komm mal her, Ellen. Hier ist ein Loch.“

Schnell kam auch Ellen zu ihrer Freundin. Beide inspizierten die Vertiefung.

„Möglich. Aber ich bin keiner dieser Spezialisten, die in den Krimis dann kommen und das halbe Labor mitbringen. Kriminaltechniker oder so ähnlich. Die könnten jetzt anhand des Loches sagen, welches Kaliber das war.“

„Wirklich?“ staunte Anne.

„Tja. Ich kann nur sagen, hier hat etwas getroffen.“

Dann richtete sie sich auf und sah zu dem Gartenzwerg hinüber.

„Wenn ich hier stehe und über den Gartenzwerg die Richtung abschätze, dann sehe ich die beiden Häuser als möglichen Ausgangpunkt.“

„Oh“, machte Anne überrascht.

„In dem einen wohnt Herr Hoffmann. Er ist der Rektor an der Grundschule.“

„Ich weiß nicht. Den können wir wohl ausklammern, oder Anne?“

„Jedenfalls würde ich es ihm nicht zutrauen.“

„Und in dem Haus daneben, das du auch als möglich einstufst, wohnt Frau Hagerlich. Sie schließe ich auch aus.“

„Warum?“

„Weil sie schon Ende 70 ist und normalerweise nur mit dem Rollator auf die Straße geht zum Einkaufen.“

„Hm, da hast du Recht. Aber wer ist es dann. Was ist mit dem nächsten Haus? Vielleicht stand der Fridolin doch ein paar Zentimeter weiter seitlich.“

„Da wohnt Familie Säger. Er arbeitet in der Bank und sie ist Hausfrau. Sie haben zwei Söhne, ich glaube in der Grundschule. Der eine ist sieben und der andere neun.“

„Ich weiß nicht, dass klingt auch nicht, als ob die eine Waffe im Haus haben.“

„Kann ich mir auch nicht vorstellen. Mit den Kindern wäre das sicher zu gefährlich. Wenn die damit spielen … ich wage es nicht mir vorzustellen, was da alles passieren könnte.“

 

„Also Anne. Waffen darf man nicht herumliegen lassen. Das weiß doch jeder. Da muss man so einen speziellen Waffenschrank haben. Das ist wie ein kleiner Panzerschrank. Und nur da drinnen dürfen Waffen aufbewahrt werden, damit niemand unbefugt daran kann. In den Krimis regen sich die Kommissare auch immer auf, wenn die Besitzer mal vergessen haben, die abzuschließen und Waffen fehlen. Oft ist es dann eine falsche Spur, aber manchmal ist es genau die Tatwaffe.“

„Also, ich habe so etwas noch nie hier in der Gegend gesehen, wenn ich mal bei den Nachbarn war.“

„So ein Schrank wird kaum im Wohnzimmer aufgestellt.“

„Ach so.“

„Ist irgendeiner deiner Nachbarn im Schützenverein? Oder ist er Jäger? Dann könnte er eine Waffe haben.“

„Kann ich dir nicht sagen. Aber ich höre mich mal um.“

Gut. Mach das bitte. Ich muss jetzt allerdings nach Hause wegen dem Abendessen. Mein Mann ist dann von seinem Kegeln zurück.

„Hm. Morgen kann ich nicht, da sind wir eingeladen zum Grillen. Aber ich komme am Montagmorgen. Dann suchen wir weiter.“

„Schade, dass du es noch nicht herausgefunden hast.“

Ellen stöhnte leicht auf.

„Was hast du erwartet? Dass ich kommen und eine Visitenkarte des Täters finde?“

„Nein entschuldige. Natürlich nicht. Aber … irgendwie mehr, hatte ich gedacht.“

„Anne. Was haben wir bisher gefunden?“

„Da ist ein Loch an der Wand. Und daraus haben wir die Richtung des Schusses abgeleitet.“

„Richtig. Ist das mehr als das, was du vorher wusstest?“

„Natürlich. An so etwas habe ich nicht gedacht.“

„Also sind wir einen kleinen Schritt weiter. Das ist wie bei den Krimis. Die Leiche wird auf Seite 5 gefunden. Und dann dauert es noch 300 Seiten, um den Täter zu finden. Wir sind jetzt auf Seite 8.“

Ellen wollte mit dem Beispiel eigentlich nur sagen, dass es viele Schritte geben konnte. Dagegen war Anne am Rechnen. Und sie wurde blass.

„Das bedeutet, dass wir noch Wochen beschäftigt sind.“

Zuerst stutzte Ellen, dann lachte sie.

„Das war nur ein Beispiel, um dir zu sagen, dass man den Täter in den seltensten Fällen sofort ermitteln kann. Das lernt man als Krimi-Fan als erstes.“

„Puh, ich dachte schon.

Also gut. Dann sehen wir uns am Montag. Komm einfach her.“

Beide Frauen umarmten sich und Ellen machte schon einen ersten Schritt zu ihrem Wagen. Dann drehte sie sich noch einmal um.

„Ich habe da noch eine letzte Frage.“

Kurz zögerte sie und grinste.

„So macht es Columbo auch immer. Das wollte ich schon immer mal machen. Also: war irgendetwas anders, als du deinen Gartenzwerg gefunden hast?“

„Nein“, dehnte Anne.

„Da war nichts. Ich habe Fridolin aufgehoben und zur Polizei mitgenommen. Nein, sonst war nichts, was mir aufgefallen ist.“

„Also gut. Dann bis Montag, Anne. Und beruhig dich bitte.“

Damit ging Ellen endgültig zu ihrem Auto und fuhr nach Hause.

 

An dem Abend war sie einsilbig. Auch ihr Mann merkte, dass seine Frau etwas beschäftigte, aber er ließ sie in Ruhe. Natürlich hatte sie ihm kurz erzählt, was passiert war und auch, dass sie ihrer Freundin helfen wollte. Sollte sie Fragen an ihn haben, würde er ihr helfen, so gut er konnte. Aufdrängen wollte er sich allerdings nicht. Krimis war ihre Lieblingslektüre. Bei ihm war es dagegen Science-Fiction. Obwohl, manchmal verlief vieles ähnlich, wenn er da an Filme wie ‚Blade Runner‘ dachte.

Seine Frau war momentan genauso in ihren Fall versunken, wie sonst bei einem Mehrteiler im Fernsehen nach dem ersten Teil. Er konnte merken, dass sie etwas irritierte.

Allerdings rückte sie erst auf der Fahrt zu den Freunden am nächsten Tag damit raus.

„Irgendetwas stört mich. Ich kann nur noch nicht sagen, was da nicht passt.“

„Wie meinst du das? Da steht der Gartenzwerg, da ist dieses Loch in dem Verputz. Also muss man doch so die Schussrichtung herausfinden können. Was ist falsch daran?“

„Wie gesagt, ich weiß es nicht. Nenne es weibliche Intuition. Alles ist so korrekt, dass es nicht passt. Das ist wie bei den Serien. Wenn man nach der Hälfte schon den Täter eindeutig identifiziert hat, ist er es in der Regel nicht. Sonst wäre doch die zweite Hälfte überflüssig oder langweilig. Und hier ist es genauso. Es gibt zwei oder drei Häuser, von wo geschossen worden sein konnte. Aber niemand dort hat irgendetwas mit Waffen zu tun. Das passt nicht.“

„Gut, du hast gesagt, es sind teilweise ältere Menschen. Könnten die nicht Besuch bekommen haben? Ein Sohn oder Neffe oder Freund, der eine Waffe dabeigehabt hatte?“

„Natürlich, das wäre eine Möglichkeit. Ich werde Anne am Montag fragen.“

„Fein. Dann freut es mich, dir einen Tipp geben zu können.“

Lächelnd knufft sie seinen Oberarm.

Den Rest des Tages verbrachten sie mit Freunden und angeregten Gesprächen über ganz andere Themen. Auch die Rückfahrt und der Abend verlief ohne ein weiteres Wort über Annes Gartenzwerg.

 

Am Montagmorgen machte sich Ellen wieder auf den Weg zu Anne. Die Freundin erwartete ihn schon an der Einfahrt.

Ellen parkte den Wagen und ging zu Anne. Beide Frauen begrüßten sich herzlich.

„Und? Hast du schon neue Erkenntnisse?“ fragte Anne aufgeregt.

„Nein. Ich habe nur neue Fragen.“

„Welche? Vielleicht kann ich dir helfen?“

Wir hatten doch über die drei Familien gesprochen, deren Häuser in Frage kamen. Schließlich gehe ich nicht davon aus, dass jemand zu Fuß kam oder mit dem Auto.“

„Richtig. Ich habe mich mal bei einer anderen Nachbarin umgehört. Keiner der drei Verdächtigen hat irgendetwas mit Waffen zu tun. Niemand ist in einem Schützenverein oder so.

Und du hast Recht. Niemand hat ein Auto oder einen Passanten in der Zeit gesehen.“

„Weiß du, wer Besuch gehabt hat an dem Tag?“

„Niemand. Jedenfalls habe ich nichts mitbekommen.“

„Hm.“

Ellen überlegte. Wieder war es eine Sackgasse, wie es aussah. Vor allem war einfach die Tatsache, dass es die erste Tat in der Art gewesen war. Also konnte es kein ‚Gartenzwerghasser‘ sein. Und die möglichen Verdächtigen waren über alle Zweifel erhaben. Gut, bei den Mördern in den Krimis war es etwas anderes, aber bei so einem Fall?

Sie sah sich erneut um. Plötzlich zuckte sie zusammen.

„Warum hast du den Gartenzwerg denn ganz woanders hingestellt, Anne?“

„Ach das meinst du. Gestern habe ich mich noch etwas um den Garten gekümmert und Fridolin stand an der falschen Stelle. Ich habe ihn wieder richtig hingestellt.“

„Was heißt ‚richtige Stelle‘? Du hast doch am Samstag gesagt, er stand dort.“

Ellen deutete auf den Platz, wo er am Samstag gestanden hatte. Immerhin war das drei Meter weiter links von der Stelle, wo er jetzt stand.

„Tut mir leid, ich habe es mit Karl-Heinz verwechselt.“

„Karl-Heinz? Wer ist Karl-Heinz? Was soll das?“

Ellen wurde ganz aufgeregt. Wieso tauchte da noch ein Name auf?

„Entschuldige, Ellen, aber bis letztes Jahr hatte ich zwei Gartenzwerge. Fridolin und Karl-Heinz. Letztes Jahr ist mir der Blumentopf auf Karl-Heinz gefallen und hat ihn zerbrochen. Da ich ihn nicht mehr kaufen konnte, hatte ich keinen Ersatz aufgestellt. Vielleicht habe ich deswegen vorgestern Fridolin am falschen Platz hingestellt.

Aber das wird doch wohl nicht so wichtig sein, oder?“ fragte Anne vorsichtig.

Mit einem Seufzen blickte Ellen in den Himmel.

„Oh, Anne. Schau doch einfach mal, wo er jetzt steht. Wenn du noch die Beschädigung an deinem Verputz dazu nimmst, dann passt gar nichts mehr zusammen. Dann ist das nächste Haus in dieser Linie 50 oder 100 Meter entfernt. Hast du hier einen Scharfschützen wohnen? Das schafft doch niemand. Alle Theorien sind hinfällig.“

Ellen ließ die Schultern hängen. Ich hasse es, wenn es in den Krimis passiert. Jeder Spur ist plötzlich kalt. Dann musste sie doch lächeln. Und ich liebe es, weil es passiert. Das ist doch erst die Würze.

„Aber ich hasse es, wenn es hier passiert und ich nicht weiterkommen“, murmelte sie leise vor sich hin.

 

Erneut sah sie sich um und ging zu dem neuen Standort. Vielleicht fand sie dort etwas.

Im Haus klingelte das Telefon.

„Entschuldige, ich bin gleich wieder da, Ellen.“

Anne drehte sich um und eilte hinein, um den Anruf entgegenzunehmen. Ellen blieb draußen und sah sich in der Nähe des Gartenzwerges um. Alles war mit Rindenmulch abgedeckt. Kurz verdeckte ein Schatten die Stelle und sie sah hoch. Gerade kam ein Handwerkerfahrzeug vorbei und parkte beim Nachbarn. Irgendeine Dachdeckerfirma, der Beschriftung nach zu urteilen.

Ellen blickte hinüber und sah jetzt erst, dass die Nachbarn sie ein Schleppdach über der Einfahrt aufgebaut hatten. Viel Holz als Rahmen und Aluminiumdach, wie es aussah.

Nicht schlecht. Dann kann man bei schlechtem Wetter wenigstens im Trockenen aussteigen und ins Haus gehen, dachte sie anerkennend. Das Dach schien mit Nägeln befestigt zu sein, schien es ihr.

Jetzt verdeckte das Fahrzeug die Sonne nicht mehr. Vielleicht fiel ihr deswegen das kurze Blicken im Rindenmulch auf. Ihre Finger tasteten danach und gleich darauf hielt sie einen Nagel in der Hand. Das Metall war etwa fünf oder sechs Zentimeter lang und etwa drei oder vier Millimeter im Durchmesser.

„Ok, da haben die wohl hier so ein Ding verloren“, murmelte sie.

Aus dem Wagen stieg ein Mann in blauem Overall aus und klingelte beim Nachbarn. Gleich darauf kam die Frau heraus, gefolgt von dem fünfjährigen Sohn. Benjamin hieß er, glaubte sich Ellen zu erinnern.

Nebenbei hörte sie das Gespräch mit, während sie den Gartenzwerg betrachtete. Da war jetzt etwas, dass in ihrem Kopf nach vorne drängte. Noch war es nicht deutlich, aber es war eine Spur, wie sie fand.

„Bitte entschuldigen die Störung, aber anscheinend hat mein Lehrling am Freitag eines unserer Werkzeuge hier vergessen“, sagte der Handwerker gerade.

„Ich weiß nicht, uns ist nichts aufgefallen. Aber nochmals Danke für den schnellen Aufbau.“

„Gern geschehen. Das ist schließlich unser Job. Dürfte ich mich nochmal hier draußen umsehen?“

„Kein Problem. Wenn noch etwas ist, klingeln sie einfach.“

Damit drehte sich die Frau wieder um und ging hinein. Nur Benjamin blieb draußen und beobachtet den Handwerker bei seiner Suche.

Der suchte zuerst den Bereich um das aufgebaute Dach ab. Natürlich war dort nichts. Und er näherte sich dem Vorgarten.

Genauso näherte sich Ellens Hand mit dem Nagel dem Gartenzwerg. Ihr war eine Idee gekommen. Und tatsächlich passte der Nagel in das Loch. Genaugenommen hatte das Loch exakt den Durchmesser des Nagelkopfes.

„Aha. Das Werkzeug habe ich bereits. Aber wer schlägt denn einen Nagel durch einen Gartenzwerg? Und warum fiel dabei ein Schuss? Das verstehe ich nicht.“

Ellen grübelte.

 

Ein lautes „Aha“ schreckte sie hoch. Der Handwerker bückte sich und holte unter einem Busch ein merkwürdiges Gerät hervor. Im ersten Moment hätte Ellen es für einen zu kurz geratenen Bohrer gehalten, wenn da nicht so ein komisches Teil vorne schräg anmontiert gewesen wäre.

Sie stand auf und ging zu dem Mann hin.

„Was ist denn das für eine Maschine?“ fragte sie neugierig.

„Das nennt man einen Nagler oder Nagelpistole“, erklärte der Handwerker und hielt ihr das Gerät hin.

Plötzlich zog er es zurück.

„Aufpassen, die Sicherung ist nicht aktiviert.“

„Und was heißt das?“

„Wenn jemand den Abzug betätigt, dann wird ein Nagel abgefeuert.“

„Meinen Sie so, wie bei einem Gewehr?“

Der Mann lachte.

„Nicht ganz verkehrt. Der Nagel wird aus dem Magazin abgefeuert und bohrt sich in das Ziel. Das könnte Holz oder eine Wand sein. Und je nach Druckstärke und Nagelgröße dringt es teilweise oder ganz ein. So als ob ein Nagel eingeschlagen wird. Nur brauchen sie nicht hämmern, sondern mit jedem Schuss ein Nagel. Das geht ruckzuck. Wir können damit das zu befestigende Stück mit einer Hand festhalten und mit der anderen nageln wir. Früher brauchten wir eine dritte Hand für den Nagel zum Festhalten.“

„Ist das so ein Nagel?“

Ellen zeigte den Nagel, den sie in Annes Garten neben dem Gartenzwerg gefunden hatte.

Der Handwerker warf nur einen kurzen Blick darauf.

„Genau. Das ist die Sorte, die gerade im Magazin ist.“

„Das knallt wohl wie ein Schuss?“ fragte Ellen nach.

„Jupp. Deswegen tragen wir dann auch Gehörschutz, wenn wir viel nageln müssen.“

„Vielen Dank für die Auskunft. Wieder etwas gelernt.“

Ellen bedankte sich freundlich und der Handwerker verstaute die Maschine in seinem Wagen. Er stieg ein und mit einem flüchtigen Winken fuhr er weg.

 

Ellen war noch etwas aufgefallen.

Benjamin, der fünfjährige Nachbarssohn starrte sie merkwürdig an. Sie musste schmunzeln.

„Komm mal her, Benjamin“, sagte sie lächelnd.

Langsam kam der Junge näher und sah sie misstrauisch an.

„Sag mal, du hast nicht mitbekommen, wie die damit gearbeitet haben, oder?“

„Nein“, murmelte der Junge.

„Ich hatte Stubenarrest und durfte nicht raus zum Zusehen.“

„Aber das ist schon eine tolle Maschine, oder?“

„Hm.“

Benjamin gab nur einen unbestimmten Laut von sich. Trotzdem spiegelte sich ein Beeindruckt darin wieder.

„Ist das Ding eigentlich schwer?“

„Es geht“, gab er zu.

Erschrocken schlug er sich die Hand vor den Mund und sah Ellen entsetzt an. Er hatte sich verplappert.

Ellen lächelte.

„Ich werde dich nicht verraten. Aber vielleicht bietest du meiner Freundin ja einmal an, ihr bei der Gartenarbeit zu helfen. Wäre das ein Vorschlag?“

Der Junge staunte. Die Frau wollte ihn nicht verpetzen? Er konnte nur nicken.

„Dann frag mal deine Mutter und wenn Anne wieder mal hier arbeitet, frage sie, ob du helfen kannst. Ich schätze, das würde sie freuen.“

Der Junge nickte eifrig.

„Und in Zukunft lässt du die Finger von fremden Geräten oder frage den Vater oder die Handwerker, ob sie es dir erklären und zeigen. Du hast gesehen. Das machen die gerne.“

Mit einem „Danke“ flitzte der Kleine davon.

 

Ellen ging hinüber zu Anne, die gerade wie aus dem Haus kam.

„Tja, Anne. Jetzt habe ich keine Spur mehr. Tut mir leid, aber das Rätsel wird wohl ungeklärt bleiben.“

Anne wirkte enttäuscht. Sie sah aber ein, dass so keine Möglichkeit bestand, etwas herauszufinden oder jemanden zu verdächtigen.

Plötzlich schmunzelte sie.

„Dann habe ich wenigstens den ersten Gartenzwerg, der erschossen worden ist. Ich muss mal im Internet suchen, ob es da auch einen Polizeizwerg gibt. Den könnte ich als Nachfolger für Karl-Heinz aufstellen.“

Beide Frauen lachten leise.

Anne hatte ihr kleines Tief überwunden und gewann der Beschädigung nun eine gute Seite ab und Ellen war zufrieden, dass es Anne so gut aufnahm.

„Sag bitte nichts beim nächsten Kaffeetreffen darüber, dass ich selber eine falsche Spur gelegt habe“, bat Anne noch, als Ellen sich verabschiedete.

Grinsend sagte Ellen zu. Vielleicht dachten die anderen auch nicht mehr daran. Schließlich passierte laufend etwas Neues und Wichtiges, über das man reden musste.

Nur ihrem Mann erzählte sie abends, was sie herausgefunden hatte. Er lachte und klatschte applaudierend die Hände.

„Frau Kommissarin, sie haben den Fall gelöst.“

 

 

Epilog

 

Ellen saß am Abend noch auf ihrer Couch und hielt ihren Krimi in der Hand. Sie blickte auf die Seiten und sah doch nichts. In Gedanken war sie noch bei dem, was passiert war. Erneut war sie zur Kommissarin geworden und sie hatte einen weiteren eigenen Fall gelöst.

 

Diesmal war es nicht gestellt gewesen. Im Gegenteil war es ein wirkliches Problem gewesen. Natürlich nichts gefährliches, aber eben eine knifflige Herausforderung. Vor allem war ein Problem gewesen, dass sich Anne so aufgeregt und die Sache hineingesteigert hatte, dass sie zuerst falsche Informationen geliefert hatte.

 

Ellen lächelte. Ja, sie hatte den Fall ganz alleine gelöst.

Ihr ‚kriminalistischer Instinkt‘ und ihre ‚Erfahrung‘ hatten ihr geholfen. Hunderte von Krimis als Buch oder Film hatten sie ‚ausgebildet‘ und es hatte geklappt. Die kleinen Indizien hatten ihr das Ergebnis geliefert. Jetzt war es ein tolles Gefühl.

Wenn sie jetzt weiterlas, würde sie nicht mehr den fiktiven Helden im Roman sehen, sondern sie würde ihrem ‚Kollegen‘ folgen und ihn in Gedanken begleiten und ihm Tipps geben, die der natürlich auf den nächsten Seiten befolgen würde.

 

Es ist schön, solche Freundinnen zu haben, die einen mit einer neuen Herausforderung versorgen, dachte sie, als sie die Augen schloss und den Fall zum x-ten Mal durch ihre Erinnerung lief.

 

 

 

 

 

 

Ende

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.03.2021

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