Ein kleiner ‚Kriminalfall‘
von R. West
Ich erzähle eine erfundene Geschichte. Sie soll unterhalten. Vielleicht regt sie die Leser zum Schmunzeln oder Nachmachen an.
Alle hier vorkommenden Personen sind so für diese Geschichte ins Leben gerufen worden.
Für mein geliebtes Mädele als kleines Geschenk
Ellen Huba beugte sich vor und sah durch das Sichtfenster in den Backofen. Ja, der Käsekuchen sah schon fast gut aus. Noch ein paar Minuten und sie würde ihn herausholen können. Dann konnte er noch etwas abkühlen und wenn später die Freundinnen zum regelmäßigen Treffen kamen, würde sie ihn noch leicht warm servieren können. So schmeckte er am besten.
Auf der Anrichte stapelte sie schon das ganze Geschirr, das sie später benötigte, auf dem Tablett. Das Wetter war gut und die Sonne schien. Sie wollte das Treffen heute auf der Terrasse vorbereiten.
Nachdem sie den Kuchen nochmals angestochen und für gut befunden hatte, holte sie ihn aus dem Ofen und stellte ihn beiseite. Genießerisch zog sie noch einen tiefen Atemzug ein. Warmer Käsekuchen roch köstlich.
Da sie noch etwas Zeit hatte, setzte sie sich auf ihre Couch und nahm wieder ihren neuen Kriminalroman in die Hand. Sie mochte den Autor oder zumindest seine Geschichten. Der Autor konnte die Leser herrlich verwirren, fand sie. Er schaffte es bei seinen Romanen immer, mindestens drei falsche Fährten zu legen. Alles, was bis dahin an Beweisen vorlag, wurde überraschend wiederlegt und etwas Neues wurde wichtig. Oder der Verdächtige, der bereits entlastet war, wurde erneut verdächtig. Sie jedenfalls konnte immer mit dem Kommissar mitfiebern. Oft lag sie am Schluss dann doch richtig. Sie schmunzelte. Man wähle den, der nach hundert Seiten noch am unverdächtigsten war und der war es dann oft. Und jetzt wieder. Ein Toter, natürlich keine Zeugen und jede Menge verwirrender Hinweise.
Ellen schreckte hoch und warf einen Blick auf die Uhr. Fast hätte sie bei der Spannung die Zeit vergessen. Jetzt musste sie sich beeilen. Schnell den Tisch auf der Terrasse decken, sich umziehen und frischmachen, Kaffeetassen am Vollautomaten bereitstellen, Kuchen anschneiden und … die Türglocke erklang das erste Mal.
Natürlich war ihre Freundin Barbara wieder die Erste. Barbara war ihre beste Freundin. Schon seit Jahrzehnten kannten sie sich. Und genauso herzlich wurde sie umarmt und begrüßt.
„Geh schon durch. Heute sind wir auf der Terrasse“, gab Ellen gleich Anweisungen. Sie hatte schon das Auto der nächsten Besucherin kommen sehen und wollte gleich an der Tür warten. Innerhalb der nächsten Minuten kamen die noch fehlenden Gäste Anne, Maria und Helga kurz hintereinander. Auf die Pünktlichkeit konnte man sich bei allen verlassen.
Anne und Maria kannte Ellen auch schon viele Jahre. Früher hatte man zusammen gekegelt, als die Kinder noch kleiner waren. Als die Kinder größer wurden, hatten die keine Lust mehr gehabt und so war das Kegeln langsam verebbt. Aber die Treffen hatte man beibehalten. Nur hatte man es nach Hause verlagert.
Helga war später dazugekommen, weil sie die Nachbarin von Barbara war und man sich dort oft getroffen und kennengelernt hatte.
Heute trafen sich die fünf Frauen jeden zweiten Dienstag zu einer Kaffeerunde. In den letzten Jahren hatte es sich eingebürgert, dass die Treffen bei Ellen stattfanden. Ihr Mann war beruflich oft unterwegs. Sie hatte dann das große Haus für sich und nutzte die Gelegenheiten, Besuch zu empfangen. Wenn sie nicht gerade wieder in ihren Krimis versunken war oder den Garten pflegte. Der war ihr zweites Hobby, dem sie mit Leidenschaft nachging.
Als sie mit dem schon angeschnittenen Käsekuchen die Terrasse betrat, wurde sie mit dem fast schon üblichen „Ah“ und „Oh“ begrüßt. Das war auch ein Grund, warum die anderen Frauen gerne zu ihr kamen. Ihre Kuchen fanden immer reißenden Absatz.
Bei Kaffee und mindestens einem Stück Kuchen wurde sich über die vergangenen beiden Wochen ausgelassen. Natürlich fiel auch mindestens einmal „eigentlich dürfte ich nicht mehr essen. Meine Waage, wisst ihr. Aber Ellen, heute ist der Kuchen dir besonders gut gelungen, da kann ich nicht nein sagen. Auch, wenn ich es morgen bereue“. Und alle lächelten dabei, weil jede wusste, dass es eigentlich nur wegen den anderen gesagt wurde. Alle liebten diese kleinen Heucheleien. Denn alle fünf Frauen hatten immer noch eine sehr gute Figur, auch wenn alle schon um die 60 waren.
In den nächsten drei Stunden wurde alles ausgetauscht, was an Vorkommnissen wichtig war. Alle wohnten in der gleichen Stadt, nur an ganz verschiedenen Enden. Manchmal fanden sie es fast lustig, dass die eine nicht wusste, was an ‚wichtigen‘ Dingen in der Stadt lief, wo doch die anderen vollständig darüber informiert waren. Aber dafür waren diese Treffen da. Einfach, um alle wieder auf einen Stand zu bringen.
Später waren dann alle wieder zufrieden gegangen. Natürlich lief wieder das übliche Bitten ab. „Du, nimm doch noch ein Stück Kuchen für deinen Mann mit. Bei mir bleibt er nur liegen, das ist doch schade.“ Jede zierte sich wie üblich und nahm dann doch ein Stück mit. Zumindest gab es so keine Reste, mit denen Ellen am nächsten Tag kämpfen musste.
Zwei Tage später wurde Ellen mittags aus ihrem Krimi gerissen. Und das, wo der Hauptverdächtige gerade einen zweifelhaften Zeugen für seine Unschuld brachte. Der Kommissar wollte ihm gerade die Fangfrage stellen, als das Telefon klingelte. Es war Barbara, wie Ellen am Klingelton hörte. Missmutig legte sie den Krimi weg.
„War ja klar, immer wenn es spannend wird.“
Trotzdem nahm sie das Telefon und meldete sich.
„Ellen Huba.“
„Hallo Ellen, hier ist Barbara. Du, ich glaube, bei mir ist eingebrochen worden.“
Ellen schwieg überrascht. Bei der Freundin war eingebrochen worden? Das gab es doch gar nicht.
„Ellen, bist du noch da?“
Die aufgeregte Stimme der Freundin drang an ihr Ohr.
„Ja, Barbara“, stotterte Ellen, immer noch überrascht. Eingebrochen?
„Hast du schon die Polizei gerufen?“
„Ach die, die kommen nicht, haben sie gesagt.“
„Wie bitte? Die Polizei will nicht kommen, wenn bei dir eingebrochen wurde?“
„Sie haben am Telefon gesagt, dass es sicher kein Einbruch war.“
„Seit wann machen die denn Ermittlungen am Telefon? Was ist denn gestohlen worden?“
Jetzt druckste Barbara am Telefon herum
„14 Gläser Marmelade“, kam es leise über den Hörer.
Eine halbe Minute herrschte Schweigen auf beiden Seiten der Leitung.
„Kannst du das bitte wiederholen, Barbara“, forderte Ellen schließlich.
„14 Gläser Marmelade.“
„Pass auf, Barbara. Ich glaube, da herrscht eine schlechte Verbindung. Ich versteh nur Marmelade. Ich komme gleich rüber zu dir.“
„Ja, bis gleich.“
Ellen ließ den Hörer langsam sinken und legte auf.
„Wer klaut denn 14 Gläser Marmelade?“ murmelte sie halblaut und schüttelte den Kopf.
Sie zog sich schnell andere Kleidung an, setzte sich in ihr kleines blaues Auto und fuhr zu ihrer Freundin. Eine Viertelstunde später klingelte sie an der Haustür bei Barbara.
Nur Sekunden später öffnete Barbara die Tür und bat sie herein. Sie machte einen aufgeregten Eindruck.
„Vorhin war ich im Keller und wollte etwas holen. Da ist mir aufgefallen, dass meine neue Marmelade fehlt“, fiel sie gleich über Ellen her, nachdem sie die Haustür wieder geschlossen hatte.
„Moment mal. Ganz langsam. Du hast Marmelade gemacht, diese in den Keller gestellt und nun ist sie weg?“
„Sag‘ ich doch. Einfach verschwunden. Ganze 14 Gläser voll.“
„Und sonst nichts?“
„Nein, das wundert mich ja auch. Ich habe schon alles nachgesehen. Nirgendwo fehlt etwas. Nur die Marmelade.“
„Wann hast du denn das letzte Mal die Marmelade gesehen?“
„Na, gestern Nachmittag, als sie in den Keller brachte. Ich habe sie gestern erst hergestellt.“
„Und was für eine Marmelade war das?“
„Ich habe dieses Mal Banane-Kirsch gemacht.“
Ellen starrte ihre Freundin an
„Banane-Kirsch?“
Ellens Stimme beinhaltete Unglauben. Auch eine kleine Prise Horror klang mit herüber.
Barbara zog eine leicht beleidigte Miene.
„Na hör mal, wenn es Banane-Kirsch als Getränk gibt, dann wird man es ja wohl auch als Marmelade herstellen können. Man muss auch mal etwas anderes ausprobieren als nur Orange.“
Damit spielte Barbara auf Ellens Vorliebe für Orangenmarmelade an und auf die eigene Experimentierfreude.
Ellen stellte ihre Handtasche auf den Boden und zog sich ihre Jacke aus. Die hängte sie dann wie üblich an die Garderobe. Sie brauchte die Zeit, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Banane-Kirsch-Marmelade. Fast schauderte es sie. Anschließend nahm sie ihre Handtasche wieder auf.
„So, Barbara, wir gehen jetzt erst einmal ins Wohnzimmer und dann das Ganze nochmal in aller Ruhe, bitte.“
Barbara erzählte alles nochmals, nachdem die beiden Frauen dort bei einem Glas Wasser Platz genommen hatten. Neues kam nicht dabei. Barbara hatte gestern Marmelade gekocht, sie anschließend nach dem Abkühlen wie üblich in den Keller gestellt und heute festgestellt, dass sie dort verschwunden war. Und dann kam Barbaras entscheidender Satz.
„Ellen, du kennst dich doch bei so etwas aus. Wenn die Polizei mir nicht helfen will, vielleicht kannst du etwas herausfinden.“
„Ich bin doch kein Polizist. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll.“
„Aber du liest doch immer deine Krimis. Da finden die doch auch immer alles wieder. Die schreiben doch auch immer, wie die es machen. Das kennst du doch. Also kannst du mir doch helfen. Bitte.“
Wenn Barbara jetzt noch bei dem ‚Bitte‘ mit den Augen geklimpert hätte, hätte Ellen laut gelacht. Das klang fast schon überzogen, aber nicht verzweifelt. Ellen schüttelte den Kopf.
„Du hast Ideen. Aber gut. Dann schaue ich mir mal das Ganze an.“
Barbara brachte Ellen in den Keller und zeigte ihr den leeren Platz im Regal.
„Siehst du, da fehlen die Gläser.“
„Und was waren das für Gläser?“
„Na, die gleichen wie für die Himbeermarmelade daneben.“
Ellen sah überall tatsächlich die gleichen Gläser. Eigentlich war es nicht verwunderlich. Barbara mochte unheimlich gern diese kleinen eingelegten Maiskölbchen. Und bei allen leeren Gläsern entfernte sie das Etikett und nutzte sie dann für etwas anderes, wie zum Beispiel für Marmelade.
Ja, man konnte sogar sehen, dass sie hier die Marmelade gestanden hatte. Die leichten Staubringe um einige Gläser, die hier gestanden hatten, waren noch sichtbar.
Ellen sah sich um. In den ganzen Regalen voll Konserven, Einmachgläsern und Weinflaschen schien nichts zu fehlen. Daneben standen die anderen Geräte, die man seltener im Haushalt brauchte. Ob das nun der Bräter war oder der Elektrogrill für den Garten oder auch der Einkochautomat, den Barbara für ihre Produktion von Marmeladen verwendete. Alles schien für Ellen normal zu sein. Gut, sie war sehr selten im Keller, aber sie kannte ihre Freundin und da war alles immer ordentlich.
Deshalb fiel ihr schließlich der dicke Brocken Erde vor dem Regal mit den Marmeladen auf. Sie bückte sich und hob ihn auf. Das war ein dicker Brocken. Sogar zwei abgerissene Rosenblätter waren zu erkennen. Ellen hielt den Brocken ihrer Freundin hin.
„Kannst du mir sagen, was das hier macht?“
Auch Barbara sah sich den Brocken an.
„Das ist Erde.“
Fast hätte Ellen mit den Augen gerollt. Die Erkenntnis war ja wohl mehr als offensichtlich. Sie sah sich stattdessen weiter um. Diesmal vor allem auf dem Boden. Doch es fiel ihr nichts auf. Nirgendwo sonst lag ein Brocken Erde auf dem Boden.
„Ich weiß nicht, wo der herkommt. Von mir ist er jedenfalls nicht. Die Gartenschuhe habe ich hier unten nie an. Sonst würde ich mir ja das ganze Haus dreckig machen, wenn ich von draußen hierher laufen würde.“
Barbaras Stimme drang in Ellens Ohr. Ellen sah die Freundin wieder an.
„Willst du damit ausdrücken, dass der Einbrecher den Brocken hierhergebracht hat?“
Barbara sah sie überrascht an. Und Sekunden später blickte sie schuldbewusst.
„Das könnte tatsächlich sein. Mir fällt nämlich gerade wieder ein, dass ich heute Morgen vergessen hatte, die Terrassentür zu schließen, als ich kurz zum Einkaufen gefahren bin. Dann könnte der Einbrecher ja über den Garten gekommen sein.“
Jetzt rollte Ellen doch noch mit den Augen.
„Du kannst doch nicht die Terrassentür offen lassen und aus dem Haus gehen, Barbara.“
„Naja, ich hatte es eilig und es ist ja noch nie etwas hier vorgefallen“ verteidigte sich Barbara.
Ellen schüttelte den Kopf über dieses Argument. Dann nahm sie einen Pappteller aus dem Regal und legte den Erdbrocken darauf. Zusammen gingen die beiden Frauen wieder hoch. Im Wohnzimmer stellte Ellen den Teller erst einmal ab.
„Kann ich mal im Garten nachsehen, Barbara?“
Die nickte und beide gingen hinaus. Alle hatten in dieser Wohngegend ziemlich ähnliche Gärten. Von der Terrasse ging es auf die Wiese. Die Grundstücke waren meist von einer hüfthohen schmalen Mauer gesäumt und zwischen Mauer und Rasen war ein Streifen, den jeder unterschiedlich bepflanzte. Ob es sich um Stangenobst handelte oder um Rosensträucher, Himbeeren, Salat oder sonst etwas, hier pflanzte jeder nach eigenem Gutdünken an. Und deshalb gab es hier auch den Streifen offener Erde.
Langsam ging Ellen an diesem Erdstreifen entlang. Wenn Barbara Recht hatte, dann musste der Einbrecher hier eingedrungen sein. Anders ging gar nicht, da Barbaras Haus als Zweites in einer Reihenhauszeile lag. Oder er war über das Dach gekommen. Das konnte sich Ellen während eines Vormittags kaum vorstellen. Der Garten wäre noch halbwegs nachvollziehbar, da jetzt unter der Woche die meisten Bewohner als Berufstätige unterwegs waren. Die Erde hätte also am Schuh gewesen sein müssen und er hatte sie im Keller verloren.
Tatsächlich fand sie die Stelle auf dem Erdstreifen, wo Schuhabdrücke zur Mauer führten und wieder zu Barbaras Rasen. Auch oben auf der Mauer lagen einige Erdbrocken. Nur beim Nachbarn waren keine Abdrücke, wie Ellen erkannte, als sie über die Mauer blickte.
„Vielleicht ist er gleich von der Mauer auf die Wiese gesprungen. So weit ist es ja nicht“, meinte Barbara, als Ellen ihr ihre Entdeckung beschrieb. So verkehrt klang der Gedanke nicht. Es war ja nur ein knapper Meter Abstand. Selbst mit einem Beutel oder Rucksack oder wie immer der Einbrecher die 14 Gläser transportiert hatte, wäre es kein Problem.
Nachdenklich ging Ellen wieder ins Haus. Die Beweise waren klar. Trotzdem ging immer wieder ein Gedanke durch Ellens Kopf. Wer klaut, bitte schön, 14 Gläser Marmelade? Ihre Freundin ging mit. An der Terrassentür reinigten sie ihre Schuhe an der dortigen Fußmatte. Den Dreck wollte man ja nicht hereinbringen.
„Ich glaube, ich brauche jetzt erst einmal einen Tee“, meinte Ellen.
Zusammen gingen die Frauen in die Küche. Barbara setzte den Wasserkocher auf, holte die Tassen und bereitete die Kanne und den Teebeutel vor. Beide schwiegen, während das Wasser warm wurde.
Plötzlich beugte sich Ellen runter und hob ein großes leeres Glas auf, um es zu betrachten.
„Ja, ich habe eingemachte Kirschen aus dem Supermarkt verwendet“, kommentierte Barbara und zeigte auf zwei weitere große leere Gläser, die in der Ecke standen.
„Frische Kirschen gibt es noch nicht und ich brauchte diese auch nicht entkernen.“
Ellen nickte und stellte das Glas wieder zu den anderen.
Dann war das Wasser heiß und Barbara ließ es durch den Teebeutel in die Kanne fließen. Gemeinsam brachten sie alles ins Wohnzimmer. Barbara holte noch ein paar eingepackte Süßigkeiten aus dem Schrank und stellte sie auch auf den Tisch.
„Hast du mal bitte einen Block oder so?“ fragte Ellen.
Als sie einen bekommen hatte, notierte sie sich alle ihre Erkenntnisse. Der leere Platz im Regal, der Erdbrocken, die offene Tür, die Schuhabdrücke im Garten, die Erde auf der Mauer. Wenn man es notiert, kann man es nicht mehr vergessen oder später übersehen, dachte Ellen und erinnerte sich an manche Einkäufe ohne Liste und was dann hinterher noch fehlte.
Eigentlich war alles logisch und so musste es tatsächlich passiert sein. Der Dieb hatte gesehen, dass Barbaras Terrassentür offen war. Also war er durch den Nachbargarten in ihr Haus eingedrungen und hatte wohl im Keller angefangen zu suchen. Dabei hatte er den Brocken Erde von den Schuhen verloren. Und dort hatte er die Marmelade mitgenommen. Und zwar nur diese. Gerade der Punkt störte sie gewaltig. Marmelade statt Tafelsilber?
Der Weg an sich war Ellen damit klar, aber wer klaut schon Banane-Kirsch-Marmelade? Vom Prinzip war alles eindeutig und doch wieder nicht.
Barbara sah Ellen erwartungsvoll an, während diese ein Stück Schokolade aus der Verpackung holte und langsam aß.
„Irgendetwas passt noch nicht“, murmelte Ellen leise, als sie den Blick ihrer Freundin bemerkte und schüttelte den Kopf.
Langsam trank sie ihren Tee aus und schenkte sich und ihrer Freundin nach. Fast unbewusst packte sie sich noch ein weiteres Stück Schokolade aus und gleich danach noch ein drittes. Die schmeckte gut und sie konnte diesen Energieschub gebrauchen.
Nun gut. Es war geklärt, wie der Einbrecher ins Haus gekommen und wieder weggelaufen war. Den würde man sicher auch kaum wiederfinden. Und über dessen Geisteszustand, 14 Gläser mit Banane-Kirsch-Marmelade zu klauen, brauchte sie sich keinen Gedanken machen. Das dürfte eher ein Fall für den Psychiater sein.
Wahrscheinlich wird ihn der Richter dauerhaft in die Geschlossene einweisen, wenn er mal gefasst und verurteilt wird, dachte Ellen mit einem kleinen Schmunzeln. Sie wurde aber gleich wieder ernst. So, wie der Stand der Dinge war, musste sie ihrer Freundin wohl beibringen, dass tatsächlich bei ihr eingebrochen worden war.
Trotzdem zögerte sie damit. Irgendetwas stimmte nicht. Wieder schmunzelte sie. Jetzt hatte sie doch tatsächlich ihren Lieblingskommissar zitiert. Und immer, wenn der sich so äußerte, dann fand sich kurz darauf tatsächlich etwas, das seinem Fall eine Wende gab.
Nur, was könnte hier schon eine Wende bedeuten?
Während der dritten Tasse Tee klingelte Barbaras Handy.
„Tut mir Leid, Ellen, meine Schwester. Ich muss mal drangehen.“
„Macht nichts. Ich muss sowieso mal wohin.“
Ellen stand auf, um auf die Toilette zu gehen. Das Verpackungspapier der Schokolade nahm sie gleich mit. Beim kurzen Abstecher in die Küche warf sie es in dem Mülleimer. Zumindest legte sie es oben drauf, weil Papier und Biomüll ziemlich voll waren.
Wieder und wieder klapperte sie im Kopf die wenigen Punkte ab und verzweifelte fast dabei. Warum passte alles für sie nicht zusammen? Nach der Toilette ging sie nochmals in die Küche und nahm eines der leeren Kirschgläser auf. Sie las sich die Zutatenliste durch, weil sie für Kuchen auch schon mal solche Kirschen verwendet hatte, aber diese Marke nicht kannte.
Plötzlich stutzte sie. Das konnte doch nicht wahr sein. Schnell hob sie auch die anderen beiden Gläser auf, die Barbara verwendet hatte. Überall das gleiche Ergebnis.
Mit gerunzelter Stirn sah Ellen aus dem Fenster. Sie konnte es nicht glauben, dass so etwas ihrer Freundin passiert sein sollte. Oder sollte etwa …?
Ellen drehte sich um und öffnete nochmals den Biomülleimer und den Papiermüll. Sie brauchte nicht lange, bis sie das jetzt erwartete Ergebnis gefunden hatte. Die gerunzelte Stirn wich zusammengezogenen Augenbrauen.
Ellen ging erneut in den Keller. Barbara war noch am Telefonieren. Auch der zweite Besuch im Keller bestätigte ihre neue Vermutung. Ihre Augenbrauen zogen sich noch enger zusammen. Jemand würde demnächst Schwierigkeiten bekommen. Es gab nur noch einen Punkt zum Prüfen. Dann wäre alles endgültig klar für Ellen.
Nach dem Keller ging sie nochmals in den Garten.
„Ich muss noch etwas prüfen“, murmelte sie beim Vorbeigehen Barbara zu. Die nickte nur und redete weiter mit ihrer Schwester.
Diesmal war Ellens Ziel das kleine Gartenhäuschen, in dem Barbara ihre Gartengeräte aufbewahrte. Sie brauchte nicht lange, um den endgültigen Beweis zu finden.
Ellen kehrte zurück ins Wohnzimmer und setzte sich wieder mit finsterer Miene. Kurz darauf beendete auch Barbara ihr Telefonat und sah dann Ellen wieder erwartungsvoll an.
Ellen sah ihre Freundin dagegen ziemlich böse an.
„Barbara, hier ist gar nichts gestohlen worden. Warum hast du mich angelogen.“
„Wie kommst du denn auf so etwas. Natürlich ist die Marmelade gestohlen worden. Du hast doch den leeren Platz gesehen.“
„Hör auf, Barbara. Ein leerer Platz im Regal ist einfach. Wenn im Keller die Staubringe um sechs Gläser sichtbar sind und dafür nun alle Himbeergläser viel dichter stehen, passt das auch nicht.
Zweitens, wenn in deinem Müllbeutel keine Bananenschalen zu finden sind oder die leeren Gläser Kirschen ein Verfalldatum vom letzten Jahr aufweisen, dann stimmt etwas nicht. Und die Verpackung vom Gelierzucker habe ich auch nicht gefunden. Wenn also das Rohmaterial fehlt, dann gab es auch keine Marmelade.
Vor allem, wenn auf deinem Einkochautomat selber einiges an Staub liegt, kann der auch nicht gestern benutzt worden sein.
Drittens dann die Erde im Keller. Welcher Einbrecher hinterlässt Erde im Keller und reinigt dafür im ganzen restlichen Haus seine Spuren beim Durchlaufen. Oder verwendet nicht die Fußmatte beim Betreten?
Viertens war dein Argument, dass er dann von der Mauer auf Nachbars Rasen gesprungen ist, ja nicht schlecht, aber es fehlten seine Spuren zur Mauer beim Nachbarn. Oder ist er vom Rasen auf die Mauer gesprungen? Und dafür bei dir nicht? Und die Brocken Erde auf der Mauer? Wenn man tritt, dann wird auch die Erde festgetreten und bleibt nicht lose darauf liegen.
Überhaupt der letzte Punkt. Der Einbrecher springt von Nachbars Wiese auf deine Mauer, klettert in deinen Geräteschuppen, zieht sich deine Gummistiefel an, trampelt eine Spur, um dann gezielt nur seine Lieblingsmarmelade Banane-Kirsch bei dir zu klauen. Und stellt hinterher noch deine Stiefel wieder in den Schuppen, wenn er flüchtet. Hahaha.“
Am Ende klang Ellens Stimme schon sehr sarkastisch.
Barbara lachte und klatschte applaudierend die Hände.
„Frau Kommissarin, sie haben den Fall gelöst.“
Ellen saß am nächsten Vormittag auf ihrer Couch und hielt ihren Krimi in der Hand. Sie blickte auf die Seiten und sah doch nichts. In Gedanken war sie noch bei dem, was ihre Freundin ihr mit dem kleinen Spiel gestern geboten hatte. Barbara hatte sie zur Kommissarin gemacht und sie hatte einen eigenen Fall gelöst.
Es war Barbaras Geschenk zu 34 Jahren Kennen und Freundschaft gewesen. Sie wollte ihrer besten Freundin einfach ein kleines Geschenk passend zu ihrer Leidenschaft machen. Gut, mit einem Mord konnte sie schlecht dienen, aber so konnte sie auch die Polizei außen vor halten. Es ging ihr ja nur darum, mit ein paar Spuren einen Fall mit einer falschen Fährte zu legen. Und Ellen sollte zusehen, ob sie ihn lösen konnte. So ähnlich, wie bei einem Krimidinner, wo die Gäste auch zu Kommissaren gemacht wurden und dann den Täter ermittelten.
Ellen lächelte. Ja, sie hatte den Fall ganz alleine gelöst.
Ihr ‚kriminalistischer Instinkt‘ und ihre ‚Erfahrung‘ hatten ihr geholfen. Hunderte von Krimis als Buch oder Film hatten sie ‚ausgebildet‘ und es hatte geklappt. Die kleinen Indizien hatten ihr das Ergebnis geliefert. Jetzt war es ein tolles Gefühl.
Wenn sie jetzt weiterlas, würde sie nicht mehr den fiktiven Helden im Roman sehen, sondern sie würde ihrem ‚Kollegen‘ folgen und ihn in Gedanken begleiten und ihm Tipps geben, die der natürlich auf den nächsten Seiten befolgen würde.
Barbara hatte da wirklich eine Wahnsinnsidee gehabt. Nur über die Bananen-Kirsch-Marmelade hatten sie hinterher noch gelacht. Was für ein dämliches Diebesgut. Barbara hatte mit den Schultern gezuckt und gemeint, dass ihr nichts Besseres eingefallen war.
Ellen würde sich überlegen müssen, wie sie ihrer Freundin danken konnte.
Es ist schön, eine solche Freundin zu haben, dachte sie, als sie die Augen schloss und das Spiel zum x-ten Mal durch ihre Erinnerung lief.
Tag der Veröffentlichung: 02.05.2019
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