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Der Lauf der Dinge




Der Lauf der Dinge


»Uuund hier sind wieder Pearl -« »- Und Skip! -« »- von KWX The Weazel! Und wir bringen euch die besten Tunes von heute, gestern und sogar vorgestern. Was steht nun auf dem Plan, Skip?« »Ein Schätzchen aus echt, echt grauer Vorzeit. Dem Vinyl-Zeitalter!« »Oh Mann Skip, wie alt ist die Nummer, spann uns nicht weiter auf die Folter!« »Okay Pearl, mach Dich locker und genieß’ dieses über hundertdreißig Jahre alte Stück Musikkultur. Hier kommen: Bob Marley and The Wailers mit I shot the Sheriff

Maggie riss vor Entsetzen die Augen auf und spuckte die Limonade aus ihrem Mund gegen die Frontscheibe des Wagens. »Fragg! Scheiße! Ich habe jemanden umgebracht!« Vor Schreck verriss ich wiederum kurz das Lenkrad. Ich presste die Zähne zusammen und versuchte in Windeseile eine passende Antwort zu finden. Ein einfaches Ja, stimmt, ich auch wäre nicht hilfreich gewesen. »Hör zu, wir ...« setzte ich an. »Oh Gott!« unterbrach sie mich schreiend. »Wir haben vier Menschen getötet! Und van Strega -« sie brach den Satz ab. »Was ist mit van Strega? Ich erinnere mich an gar nichts, was sie angeht. Sind wir geflohen?« »Kann man so sagen.« Boah war das schwach. »Was heißt Kann man so sagen?! »Was ist mit ihr? Kümmert sich ein Arzt um sie?« Maggie war in Rage. Und ich war bar aller Ideen, wie ich die Geschichte noch angenehm verkaufen konnte. »Sie ist tot. Okay? Erschossen. Der Sheriff und seine Leute sind auch tot. Es war richtig Scheiße gelaufen und wir haben den Preis dafür bezahlt. Aber es ist nicht unsere Schuld, glaube ich. Der Sheriff war nicht zum Reden gekommen, der wollte van Strega loswerden. Und van Strega wollte uns loswerden, sofern wir nicht in ihre komische Jüngster-Tag-Phantasie einsteigen. Die Welt ist aktuell aus den Fugen, das halbe Land spielt verrückt und wir sind leider mitten hinein geraten. Da kannst du nichts dafür und ich auch nicht.« Ich fand das als Erklärung ganz brauchbar. Maggie wollte noch widersprechen, musste dann aber einsehen, dass wir die Geschehnisse nicht wieder rückgängig machen konnten.

Wir fuhren einige Minuten schweigend weiter, während Bob Marley und seine Jungs zum Ende kamen. »Wie ging es weiter?« fragte Maggie über die Radiomusik hinweg. »Wie ging was weiter?« »Ich habe das Flumazenil genommen, aber offenbar zu wenig. Van Strega hat dich geholt, du hast dir offenbar ihre Waffe geschnappt und sie erschossen. Wie ging es dann weiter? Ist die Hütte nun ein Grab?« Ich musste tief Luft holen und mir dabei eine passende Geschichte ausdenken. Die Radiomoderatoren unterbrachen mich. »Ihr seid immer noch bei KWX The Weazel!« »Und wir sind immer noch Skip und Pearl!« »Genau. Wir haben heute großen Oldietag und bringen euch Non-Stop Hits die mindestens hundert Lenze auf dem Buckel haben.« »Aye-aye und deshalb kommt jetzt für euch: Billy Joel mit We didn't start the fire

Ich schaltete das Radio aus. »Ich habe unsere Spuren verwischt und Dich ins Lazarett gefahren. Die Geschichte mit den Plünderern, die ich Captain Philipps erzählt habe, war eine Notlüge. Da draußen ist echt die Hölle los.«

Maggie rieb sich erschöpft über das Gesicht. »Ich glaube das doch alles nicht! Ich hatte gehofft van Strega aus ihrer Hütte zu holen, damit sie weiter an einem Antibiotikum für alle gegen dieses Bakterium arbeiten kann. Das war vor drei Tagen. Jetzt sitze ich mit dir in diesem Auto, zurück in die Innenstadt von Taranique Bay um eine Software davon abzuhalten, sich selbst zu löschen. Wäre das hier ein Buch, würde ich es dem Autor an den Kopf werfen.«

Sie hatte Recht, was ihre Pläne betraf. Diese waren fürs Erste tot und begraben. Nach van Stregas Tod mussten sich nun andere darum kümmern.

Als ich nach dem überraschenden Treffen mit Mawangy aus dem Ministerium für Cybersicherheit und Goffman von der IRFA wieder zu ihr ins Lazarett gekommen war, hatte sie keine Ahnung gehabt, wohin sie gehen sollte. Sie war in der gleichen Situation wie ich einige Tage vorher. Man hatte mich aus dem Bunker hier her gebracht und Maggie hatte mich aufgegabelt. Ich hatte nicht lange überredet werden müssen, mit ihr nach ihrer ehemaligen Chefin zu suchen. Umgekehrt war es nun genau so: Sie musste warten, bis andere die Situation sortiert hatten. Und es war nun an mir sie zu fragen, ob sie mit mir gehen wollte. Sie hatte das unbestimmte Gefühl gehabt, dass es irgendwie klug wäre in die Höhle des Löwen, die Innenstadt, zurück zu kehren und dort nach dem Shuttlewrack zu suchen. Der Absturz vor wenigen Wochen, die um sich greifende Seuche, das Verhalten von Goffman und der Tesseract-Software waren miteinander verwoben. Und wir beide waren in der Lage, diese Fäden auseinander zu ziehen. Dieses Gefühl ließ sich nicht belegen. Aber da wir beide zusammen wahrscheinlich mehr darüber wussten als alle anderen Versammelten in der Stadt, war dieses Gefühl das, was einer objektiven Wahrheit am Nächsten kam. Da das Radio aus war, war das Sirren des Motors und das Rollen der Reifen das einzige Geräusch unseres Reisegespanns. »Erkläre mir noch mal deinen Plan, bitte.« schloss Maggie an das Gespräch an. »Ich weiß, ich habe zugestimmt. Aber mein Gewissen fordert es, dass ich mir das alles noch mal anhöre um mir selbst vorzuhalten, dass ich sie nicht mehr alle habe.« »Eigentlich ist mein Plan ganz einfach.« begann ich. »Wir umfahren die Stadt, bis wir am Südende ankommen. Von dort führt ein Freeway bis ins Zentrum. Wir fahren, soweit wir kommen, was nicht weit sein wird. Dann steigen wir aus und gehen zu Fuß Richtung IRFA-Zentrum. Dort angekommen suchen wir uns einen Zugang in die Kelleretagen und fahnden nach Tessie und diesem Taggart, der das Shuttle geflogen hat. Die beiden klemmen wir uns unter den Arm und verlassen die Stadt wieder. Wenn wir das hier aktivieren« - ich zeigte auf ein Kästchen in der Mittelkonsole des Wagens – »kommt ein Heli und holt uns ab.« »Und warum fliegen wir nicht mit dem Heli rein?« »Weil Tessie den Helikopter für einen Angreifer halten könnte. Und dann war’s das mit ihr.« »Und was macht uns so sicher, dass es dieser Taggart noch lebt.« »Ist das nicht egal? Wenn er tot ist, dann ist er halt tot. Es geht um Tessie.« »Wow, immer langsam mit der Menschenfreundlichkeit, du Albert Schweitzer für Arme.« »Ist ja gut. Nur habe ich in diesen Taggart nicht Jahre meines Lebens investiert.« »Ich verstehe dich ja.« Und nach einer Pause fügte sie hinzu: »Zumindest konnte uns Phillips diesen Sender mitgeben. Und das bisschen Munition, das wir ebenfalls bekommen haben, war auch nötig.« Maggie zog ihre Pistole aus dem Holster und prüfte das Magazin. »Du hast dem Sheriff damit ganz schön zugesetzt. Wo hast du Schießen gelernt?« »Meine Mom war ein Army Ranger. Sie hat meinen Geschwistern und mir beigebracht, Furcht auch mal runter zu schlucken, wenn es drauf ankommt. Und in heiklen Situationen die Fragen für nachher aufzuheben und erst mal zu handeln.« Damit waren ihre Ausführungen offenbar schon beendet, denn sie ging nicht weiter darauf ein. Mom hatte wahrscheinlich gut dafür gesorgt, dass Maggie eine Spur härter war als ihre Altersgenossinnen und sich schnell an neue Umstände anpassen konnte. Es erklärte zudem, wie sie den Hund ohne mit der Wimper zu Zucken auf den Großen Schrottplatz im Himmel schicken konnte. Und bei Sheriff Rodriguez hatte sie auch nicht lang gefackelt. Dass sie nun von einem schlechten Gewissen heimgesucht wurde, war der normale, menschlich Lauf der Dinge.

Zubringer

Die Landschaft zog an uns vorbei. Hier an der Küste wurde das Land flacher und flacher, bis es sich in den pazifischen Ozean ergoss. Die großen Redwood-Wälder wurden schmäler, bis sie in die sanften Hügel vor der Bay ausliefen. Der Schein, das wussten Maggie und ich, war trügerisch. Das Bakterium hatte sich schon so weit verbreitet wie das Auge reichte. Wahrscheinlich gab es keinen Flusslauf, keinen stolzen Baum, der nicht das bittere Wasser in seinen Adern führte und alles verdarb, das von ihm trank – Mensch, Tier und Strauch. Über all dem thronte die ehemalige Perle am pazifischen Ozean, Taranique Bay. Wir fuhren in so großem Bogen um die Stadt, dass wir ihre Silhouette in voller Pracht sehen konnten. Die eleganten Hochhäuser in ihrem Zentrum, die sich niedrig heranpirschenden Bürogebäude mit ihren Solarfenstern direkt daneben. Das Zentrum stand wie eine große Sinuskurve über der Stadt. Irgendwo hinten dran war das Viertel, aus dem ich aufgebrochen war. Mit seinen Werkstätten und Fabriken, den flachen Bauten, den Drohnenstraßen duckte es sich vor dem menschlichen Auge weg. Auf einem dieser Dächer saßen Fred und die anderen unter einer selbstgebauten Flagge aus Warnwesten und warteten darauf, dass jemand zu Hilfe kam. Hinter der Stadt lag der Ozean und funkelte im Licht des Vormittages. Die Idylle dieses Postkarten-Anblickes wurde durch zwei ganz wesentliche Veränderungen gestört. Im Ozean, dort, wo sonst weiße Segelboote elegant das Wasser kreuzten, lag aktuell groß und grau die President’s Ship Mercyful, ein mit zahlreichen Raketen und Kanonen ausgestatteter Zerstörer der NAA, der Nordamerikanischen Allianz. Dieser sollte dafür sorgen, dass sich keine Boote auf den Weg nach Norden über die Grenzen der New USA hinweg machen sollten um auf dem Seeweg das Unheil über die Grenzen zu bringen. Das war eines. Das andere war, dass dem Stadtzentrum auf das wir zuhalten würden, einige Bauwerke offenbar fehlten, was dem eigentlich harmonischen Aufbau der Innenstadt das Bild ausgeschlagener Zähne gab. Ich selbst war nach der Katastrophe noch nicht im Stadtzentrum gewesen, hatte ich es doch nie weit von meinem Dach weggeschafft.

Ich fragte Maggie, ob sie wüsste was uns erwartete. Sie überlegte. »Ich gehe davon aus, dass sich an dem allgemeinen Chaos nichts geändert hat. Ganz im Zentrum bei dem eingeknickten Wolkenkratzer war ich nicht. Wir hatten unsere Büros einige Blocks entfernt. Aber ich gehe davon aus, dass die Straßen voll mit Schutt und zerstörten Autos sind. Ich habe mich durch einige Häuser bewegt, damit ich nicht dauernd auf offener Straße unterwegs war. Das sollten wir auch machen.«

Während wir redeten, veränderte sich die Szenerie wieder. Die breite, leere Straße auf der wir in Richtung Stadt fuhren, war gesprenkelt mit den Hinterlassenschaften derer, die aus der Stadt geflohen waren. Ich umschiffte Koffer, Kleidungsstücke und Alltagsgegenstände, die wie wahllos verstreut auf der Straße lagen. Zwischendrin sahen wir Autoteile, Glas- und Metallsplitter. Ich bremste ab. Auf der Gegenspur war es zu einer Massenkarambolage gekommen, die dutzende Autos ineinander geschoben hatte und die Ausfahrt aus der Stadt verstopfte. Viele hatten darauf hin ihren fahrbaren Untersatz aufgegeben und waren zu Fuß weiter geflüchtet. Wir fuhren noch wenige Minuten weiter, dann musste ich den Wagen zum Stehen bringen. Ein Kleintransporter steckte quer auf unserer Spur. Der Fahrer hatte wohl versucht, durch eine Lücke in der Leitplanke auf die Gegenspur zu kommen und war stecken geblieben. Ein anderes Fahrzeug war in ihn hinein gefahren und hatte die halbe Front abgerissen, so dass nun ab hier auch die Einfahrt in die Stadt gesperrt

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 14.07.2022
ISBN: 978-3-7554-1722-4

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