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Einordnung

Taranique Bay, Calitopia, New USA

Drei Wochen nach Absurz des Shuttles aus Richtung Deep Haven One

Das beschissene Reh

Das beschissene Reh

 

Dieses beschissene Reh war immer noch hinter mir her und ließ sich nicht abschütteln. Ich hatte es mittlerweile aus dem Wald heraus in die Ruinen des Stadtrandes geschafft und rannte immer noch um mein Leben. Meine Lunge brannte bereits wie Feuer, obwohl ich relativ fit war. Aber die Luft im Wald war auch nicht zum Atmen gedacht gewesen. Da draußen hatte ich das Reh nicht abschütteln können, aber vielleicht gelang es mir zwischen den zerfallenen Industrieanlagen. Wäre besser, denn entweder würde es mich sonst infizieren oder ich bekäme tierisch den Arsch aufgerissen, weil ich einen Beutemacher in Richtung unseres Camps gebracht hatte. Mist! Wir hätten die Biester allesamt abknallen sollen als wir noch die Chance dazu hatten (und die Munition). Jetzt werden wir von Bambi und seinen abartigen Freunden gejagt. Wahrscheinlich lachen sie sich den Schweif ab, wenn sie sich in ihrer kleinen Freakgemeinde abends bei Blättern und Menschenfleisch von ihren Ausflügen in die Welt der Zweibeiner erzählen. Kacke!

 

Ich rannte durch ein Loch in der Mauer von Old Country Protein Farms. Die einstmals soliden Betonwände boten noch heute ausreichend Schutz vor dem, was einem der Rest der Natur so entgegenwarf. In der riesigen Werkhalle hatten dereinst smarte Maschinen gesurrt und wohlschmeckende Nahrungsersatzmittel zusammengerührt. Jetzt beherbergte sie einen Haufen Elektroschrott und verbogenes Metall. Aber der Ort war ganz nützlich, um auf kürzerem Wege in Richtung des Zentrums von Taranique Bay zu kommen. Ich duckte mich also zwischen einigen ausgebeuteten Maschinenresten hindurch und presste mich flach an eine der verbliebenen Trennwände. Mein Herz raste und mein Atem ging stoßweise. Gleichzeitig nahm ich den Geschmack von Asche in meinem Mund wahr. Wie immer, wenn man mehr als eine halbe Stunde im Wald verbracht hatte, waren die Filter der Masken zu und langsam aber sicher wurde das Atmen zur Qual. Ich hatte dieses sehr kurze Zeitfenster um einige Minuten überschritten und zahlte nun den Preis dafür. Als mein Atem langsamer ging, hörte ich das Geräusch von Hufen auf Betonboden. Gab dieses Biest denn nie auf? Oder hatte es einfach Bock auf einen großen Becher Nutcracker Special, die hier aufgerissen und von Ratten angenagt herumlagen? Scheiße, echt jetzt.

 

Ich wagte einen Blick aus meiner Deckung heraus. Das Vieh stand zwischen einigen aufgerissenen Säcken und schnüffelte. Zwar hatte ich in den vergangenen Wochen, seit das alles hier passiert war, schon so einiges gesehen, aber die Abartigen aus dem Wald entsetzten mich immer wieder aufs Neue.

Die Kreatur, die man früher als Reh bezeichnet hatte, war eine entsetzliche Perversion des sonst so anmutigen Tieres. Das eigentlich braune Fell war büschelweise ausgefallen, die verbliebenen Reste graufleckig und strohig. An einigen Stellen wölbten sich ungesunde Beulen, mit blauen Venen versehen, aus dem Rumpf des Tieres. Statt der sonst üblichen vier Beine, hatte dieses Exemplar sechs – was es zu einem gefährlichen Jäger machte. Wir hatten einmal den Schädel einer solchen Schreckgestalt gefunden. Diese hatte eine zusätzliche Zahnreihe gehabt, mit einigen prototypischen Fangzähnen. Es muss ein frühes Exemplar gewesen sein, denn die aktuellen Modelle kamen alle mit zwei sauberen Reihen schöner scharfer Hauer daher, die auch durch dicke Lederkleidung ging. Was am Kiefer neu gebaut wurde, musste offenbar am Rest des Gesichtes geopfert werden. Schöne Rehaugen gab es hier keine zu entdecken. Dafür ein verkümmertes Auge, und ein unnatürlich vergrößertes, welches dazu stark nässte. Alles in Allem ein ekelhafter Anblick.

 

Das Biest schnüffelte also auf dem Boden herum, in der Hoffnung mich zu wittern. Aber wahrscheinlich verstopften diese Sekrete, die seinen Kopf zu einem einzigen Entzündungsherd verwandelten, seine Nase. Meine Chance, hier aus der Deckung dem Vieh den Garaus zu machen. Zu dumm, dass ich ein echt schlechter Schütze war und meine Munition deutlich begrenzt. Ich hatte eine der wenigen Waffen aus dem Camp bekommen um auf meinem Weg an den Stadtrand nicht ganz ohne was in der Hinterhand dazustehen. Nur konnte ich auf Teufel komm raus nicht schießen. Als es Pistolen und Gewehre noch in ausreichender Menge gegeben hatte, hatten sie mich nicht interessiert. Warum auch, war ja alles in Ordnung? Jetzt, wo sie dringend gebraucht wurden, waren sie Mangelware und die Munition schon größtenteils verschossen. Ohne Hoffnung auf Nachschub. So hatte ich eine Neunmillimeter bekommen, mit fünf ganzen Patronen darin. Nicht gerade ein Kriegsarsenal. Ich zog die Waffe aus dem improvisierten Holster am Bund. Wie ich es bei unserem Erschieße-wenigstens-nicht-die-eigenen-Leute-Training gelernt hatte, griff ich den Stahl und atmete ruhig ein und aus. Das Reh war etwa fünfzehn Meter von mir entfernt und leckte immer noch irgend etwas vom Boden auf. Ich legte an. Kimme und Korn tanzten vor meinen Augen und so sehr ich es versuchte, ich bekam sie nicht ruhig. Nach einigen Augenblicken fasste ich mir ein Herz – jetzt oder nie! Der Schuss knallte trocken und hallte an den Wänden der Halle von Old Country Protein Farms wider. Ich hatte nicht getroffen. Scheiße. Jedes normale Tier wäre nun seinerseits weggelaufen. Nicht dieses Exemplar verderbter Natur. Es bliebt für eine Sekunde stehen. Und das wurde zu seinem Verhängnis. Kurz nach dem Schuss krachte und rasselte es vernehmbar ganz in der Nähe des Tieres. Und von oben raste ein gut fünfzig Zentimeter durchmessendes Stahlrohr hinunter. Wie ein tödliches Pendel schwang es von links nach rechts und riss dazwischen alles mit sich. Es traf das Geschöpf seitlich am Kopf und zerschmetterte diesen in eine Masse aus Knochen und rotem Brei, bevor es nach rechts ausschwang und unterwegs noch einen Verteilerkasten zerlegte. Mein Schuss hatte wohl der schlecht gewarteten Halteapparratur des Rohres den Rest gegeben. Nach dem mein Schuss und das Krachen der Infrastruktur dieses Ladens verhallt war, pfiffen meine Ohren ganz gehörig. Aber das Untier war erlegt. Obwohl sein Organismus ein Zwangstuning erhalten hatte und in seiner Inneren kein Stein aufeinander geblieben war, war es letztlich dennoch aus Fleisch und Blut und damit verwundbar. Ich trat langsam aus der Deckung hervor und betrachtete mein Werk. Der Kopf des Tieres war kaum noch als solcher zu erkennen, aber aus den matschigen Fragmenten sickerte Blut und das, was in der Stadt gemeinhin als Bakterienflüssigkeit bekannt war. Das Zeug war übel. Jedes Lebewesen, das mit ihr in Berührung kam, war mit Sicherheit dazu verdammt, zu einer abartigen Kreatur zu werden. Ich wagte mich nicht näher an den Kadaver heran, um nichts von der Todessuppe an die Füße zu bekommen. Es gab Schauergeschichten, die zwischen den Camps getauscht wurden. Und eine davon handelte von einem unglücklichen Bürger, der auf ein totes Eichhörnchen getreten war und die Seuche damit ins Camp geschleppt hatte. Schöne Scheiße für alle Beteiligten.

 

In der Halle war es nun still. Die großen Maschinen und Steueranlagen ragten wie Monolithen einer vergangenen Epoche in ihr auf. Sie hatten sich seit Wochen nicht mehr bewegt und zeigten nun erste Anzeichen von mangelnder Wartung. Zwar rostete hier nichts mehr, oder nicht mehr allzu schnell, dafür sah ich abgeschlagenen Kunststoff auf dem Boden liegen, auf einem großen Fleck getrockneten Hydrauliköls. Einige Scherben von ausgeschlagenen Fensterscheiben hatten ihren Weg dazwischen gefunden. Offenbar hatte sich hier eine andere Kreatur als dieses Reh ebenfalls verausgabt. Unter der Decke hatten sich einige Vögel eingenistet. Baum- und Himmelsbewohner kamen allgemein weniger mit dem Bakterium in Verbindung als Bodenbewohner. Der Spatzenfamilie dort oben gingen unsere Probleme hier unten wahrscheinlich gehörig am gefiederten Arsch vorbei. Ich steckte die Pistole zurück in den Halfter. Dabei versprach ich mir, beim nächst möglichen Schießtraining wieder Teil zu nehmen. Mein Glückstreffer war zwar erfolgreich gewesen und nur das zählte, jedoch musste ich mich auf mehr als mein Glück verlassen können.

Ich durchmaß die Halle mit einigen schnellen Schritten in Richtung Hauptausgang. Das Knirschen unter meinen Tennisschuhen war in der Stille unnatürlich laut. Dass ich das bemerkte war ein gutes Zeichen; es bedeutete, dass das Pfeifen in meinen Ohren leiser geworden war.

Der Hauptausgang war eine solide Stahltüre neben einem Kunststoff-Rolltor. Wie viele Türen dieses hochmodern gestalteten Industriekomplexes war sie einst mit einem magnetischen Schloss gesichert gewesen. Als abrupt der Strom weg war, hatten die Türen automatisch entriegelt. Damit standen nun alle Türen in dem gesamten Distrikt offen. Obwohl es anfangs zu einigen Plünderungen gekommen war, hatten die verbliebenen Menschen nach kurzer Zeit das Interesse an für sie sinnlosem Zeug verloren. Zwar wurden dann und wann noch Lager nach Verwertbarem durchsucht. Jedoch waren - wie durch ein Wunder - die harten Verteilungskämpfe hier draußen ausgeblieben. In der Innenstadt sah es wohl ganz, ganz anders aus.

Unser kleines Dach

Unser kleines Dach

 

Ich zog die Tür nach innen auf und trat hinaus in das Grau des Industriegebietes von Taranique Bay, einstmals pulsierendes Produktionszentrum der fortschrittlichsten Maschinen und Güter der Welt, heute das Zuhause von einigen tausend Überlebenden, Bekloppten, Hoffnungslosen und Draufgängern. Und ich war einer von ihnen.

Taranique Bay war mal die modernste Stadt der Welt gewesen. Am Reißbrett geplant und am Pazifik errichtet, hatte sie planmäßig zweihundertfünfzigtausend Leute untergebracht. Das war so ab den zweitausendachtziger Jahren gewesen, als die Große Entwicklung angefangen hatte. Urplötzlich war jemand mit einer genialen Lösung für das Weltenergieproblem um die Ecke gekommen. Mit einem Schlag konnten die armen Länder der Erde mit schier unendlichem kostenlosem Strom versorgt werden. Damit war auch das Hungerproblem bald beseitigt worden und auf der Welt war nach und nach Ruhe eingekehrt. Die bis dahin ohnehin schon starken Länder konnten sich auf ihr nächstes großes Projekt konzentrieren: Die Eroberung des Weltraumes durch den Menschen. Und dafür wurde Taranique Bay erschaffen. Etwas landeinwärts hatte die IRFA, die Internationale Raumfahrtagentur, mein Arbeitgeber bevor alles zum Teufel gegangen war, zuerst das Startfeld der MARCON, des Kontrollzentrums der Marsansiedlung, aus dem Boden gestampft. Die Stadt wuchs dann planmäßig außenrum. Oder links daneben, je nach dem, wie man drauf schaut. Durch das ganze Gehirnschmalz das hier vorhanden war, kamen auch schnell andere kluge Leute in die Stadt und setzten ein Zukunftsprojekt nach dem anderen erfolgreich um. So schnell konnten sich die Bewohner gar nicht umsehen, schon war die ganze Stadt mit autonomen Transport- und Beförderungseinheiten versehen gewesen und hatten das Verkehrsproblem der Metropole in Nichts aufgelöst. Und weil Erfolg nun mal Erfolg nach sich zieht, wurde aus Taranique Bay schnell ein weltbekannter Schmelztiegel für alle, die vor hatten, diesen Planeten ein Stückchen weiter auszuformen.

Unter mir war nun gesprungener Asphalt. Links von mir lag eine kleine Reihe selbstfahrender Lieferbuggies wie ein entgleister Modellzug auf dem Boden. Rechts von mir blockierte ein havarierter Stapel Paletten mit unbestimmtem Inhalt die Straße. Ansonsten waren die Straßen genau so leer wie bereits von der Natur angegriffen. Aus den Ritzen und Spalten drängte Unkraut nach oben, die Zäune um die Werksgelände waren schon eingedellt und an manchen Stellen geknackt worden. Eine wirklich traurige Congrareihe von Fahrdrohnen säüumte den Weg. Mit dem Abschalten des Stroms war auch ihre Aktivität zum Erliegen gekommen.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: EB FRAGG
Cover: EB FRAGG
Lektorat: EB FRAGG
Korrektorat: EB FRAGG
Satz: EB FRAGG
Tag der Veröffentlichung: 02.04.2022
ISBN: 978-3-7554-1061-4

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