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Lilith

 

Lilith saß im Sand und genoss die Abendsonne. Möwen zogen ihre Kreise über dem Meer und die junge Frau sah ihnen neidvoll zu. Sie gähnte müde und wollte sich gerade niederlegen, als ein heller Lichtstrahl den Nachthimmel durchzuckte und knisternd neben ihr in den Sand fuhr. Für einen Moment schloss Lilith geblendet die Augen. Eine seltsam anmutende Gestalt saß an eben jener Stelle. Sie blinzelte, doch das Wesen war immer noch da. Neugierig hockte sie sich vor ihm nieder und betrachtete es. Seine Gestalt ähnelte der ihren, nur war sie größer. Seine Haare waren kurz und hell und beschränkten sich nicht nur auf den Kopf, sondern verteilten sich auch in seinem Gesicht. Das erschien ihr doch sehr befremdlich, ebenso wie seine Lendengegend. Lilith bemerkte, dass das Wesen sie ebenso neugierig musterte und fragte stirnrunzelnd: „Was seid Ihr?“
„Ich bin ein Mensch, genau wie Ihr.“
„Wieso seht ihr dann so anders aus?“ Sie war verwirrt.

„Ich bin ein Mann und Ihr eine Frau. Gott hat mich geschaffen, um über Euch zu gebieten“, erklärte er feierlich.
Lilith warf ihm einen ungläubigen Blick zu, doch dann musste sie lachen.

„Ihr seid lustig, Mann. Solange ihr friedlich seid, könnt Ihr gerne hier verweilen und die Gaben Gottes mit mir teilen“, antwortete sie ihm amüsiert. „Doch über mich gebietet niemand. Ich bin frei, genau wie jedes andere Lebewesen.“
Der Fremde runzelte seinerseits die Stirn und fragte: „Habt Ihr einen Namen?“
„Lilith. Und Ihr?“

„Gott gab mir den Namen Adam. Ich werde bei Euch bleiben.“ Sein Tonfall gefiel ihr nicht, es klang wie eine Feststellung, nicht wie eine freundliche Bitte.


Sie fühlte ein seltsames Prickeln unter der Haut, und ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, als er nun aufstand und ihr durch seine eigenartigen, kurzen Gesichtshaare zulächelte. Seine hellbraunen Augen schienen mit seinen Haaren um die Wette zu funkeln und es kostete sie einiges an Willenskraft, nicht die Hand auszustrecken, um ihn zu berühren.
Irritiert schüttelte sie den Kopf. Woher kam diese seltsame Regung? Sie zwang sich, den Blick von ihm abzuwenden.

„Nun gut. Vorerst braucht Ihr nur zu wissen, dass die Früchte des Baumes dort tabu sind“, erklärte sie ihm. „An allen anderen Gaben der Natur könnt Ihr Euch gütlich tun. Ich bin müde und will schlafen.“

 

Sie legte sich hin und schloss die Augen. Doch sie konnte nicht schlafen. Der seltsame Mann stand nur da und lächelte. Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, worauf er sich, sehr zu ihrer Verwunderung, direkt neben sie legte. Seine Anwesenheit beunruhigte sie. Eine innere Unruhe, eine Erregung erfasste sie. Unter seinem Blick begann sie zu schwitzen. Als er die Hand nach ihr ausstreckte und am Arm berührte, ging ein Zittern durch ihren Körper. Verwundert stellte sie fest, dass sich auch ihr Atem beschleunigt hatte und verwirrt sah sie ihn an. Was geschah hier? Sie zitterte, obwohl sie nicht fror; sie keuchte, obwohl sie nicht rannte. Und warum waren ihre Hände schweißnass, wenn ihr doch gar nicht heiß war? Adam lächelte und rückte näher. Erst versteifte sie sich, misstrauisch ob der unerwarteten Reaktionen, die er bei ihr hervorrief. Doch er streichelte nur sanft über ihre Haut.

Es war schön, auch wenn sie nicht verstand, was geschah und was für einen Zweck es erfüllen sollte. Als er sich schließlich ihrem Gesicht näherte, blickte sie ihn verstört an. Im nächsten Moment raubten seine weichen Lippen auf ihrem Mund ihr den Atem. Ein unbekanntes, unglaublich schönes Gefühl erfüllte sie und es fiel ihr schwer, zu denken. Es schien fast, als wolle ihr Verstand ihr die Kontrolle über ihren Körper verweigern.
Doch das Hochgefühl währte nicht lange, denn der Mann war plötzlich über ihr, mit der ganzen Schwere seines Körpers. Als sie von seinem Gewicht zu Boden gedrückt wurde, wurde ihr Geist wieder klar und ihre Instinkte erwachten.

„Nein!“, rief sie, stieß Adam mit aller Kraft von sich und sprang auf. „Weiche von mir!“
Adam sah sie verwirrt an. „Was habt Ihr? Warum schreit ihr mich an?“
„Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Ihr vernebelt meine Gedanken, um mich zu Eurem willenlosen Sklaven zu machen!“
Adam schüttelte empört den Kopf. „Ich habe nichts Unrechtes getan. Unser Vater gab mir den Befehl, über Euch zu herrschen.“
„Niemand herrscht über mich!“, zischte Lilith wutentbrannt. „Nichts und Niemand hat das Recht, mir meine Freiheit zu nehmen. Was maßt Ihr euch an, Euch über mich zu stellen?“
„Gott hat es mir so aufgetragen“, entgegnete Adam, sichtlich verwundert über den Widerstand.
„Welch ein Gott würde von mir verlangen, mich einem fremden Wesen zu unterwerfen? Gott ist gütig und gnädig. Er weiß, dass jeder Mensch dem anderen gleich gestellt ist.“
Adam blickte sie verständnislos an und näherte sich erneut. Er griff nach ihren Handgelenken.

Doch Lilith war schneller und wich zurück. Sie war nicht bereit, sich ihm zu unterwerfen. Lieber wollte sie ihre Heimat verlassen und woanders in Freiheit weiterleben. Sie floh in den Wald, wo sie den ungelenken Mann bald abgehängt hatte.

 

 

Nachdem sich Lilith eine ganze Weile durch das Dickicht gekämpft hatte, wurde der Wald lichter, und sie stand am Rande einer weiten Ebene. Der Boden zu ihren Füßen wechselte von Erde zu feinem Sand. Sie lief weiter und ein gigantischer Felsen tauchte vor ihr auf. Beim Näherkommen entdeckte sie eine kleine Höhle darin. Etwas bewegte sich, und sie merkte, dass zu ihren Füßen jemand lag. Adam, schoss es ihr durch den Kopf. Doch bei genauerer Betrachtung erkannte sie ihren Irrtum, es war nicht der herrschsüchtige Mann. Doch er war eindeutig vom selben Geschlecht, wie ein Blick auf seinen Körper verriet.
Durch ihre Schritte aufgeweckt, blickte er sie schlaftrunken an. Lilith überlegte was sie tun sollte. Sie war neugierig, aber auch misstrauisch. Während sie noch mit sich haderte, stand der Fremde auf und kam näher.

„Wer seid Ihr? Seid Ihr ein Engel?“, fragte er.

„Nein…ich bin eine Frau wurde mir gesagt“, entgegnete Lilith aus sicherer Entfernung.

„Ihr seid wunderschön.“
Lilith lauschte seiner melodischen Stimme und wurde von großer Freude erfüllt. Unwillkürlich machte sie einen Schritt auf den fremden Mann zu.

„Ich bin Samael“, stellte sich der Fremde vor. „Möchtest du bei mir bleiben? Es ist sehr einsam hier.“

„Warum verweilt ihr denn an diesem Ort?“

„Nun, Gott ist mir leider nicht wohlgesonnen. Ich habe es gewagt, seine Macht in Frage zu stellen und als Strafe muss ich jetzt hier mein Dasein fristen.“

„Aber unser Vater ist gütig. Er würde nie jemanden aus seinem Paradies verbannen.“ Lilith war Gott immer dankbar für all die Gaben und das wunderbare Leben gewesen. Aber Adams Erscheinen hatte sie zweifeln lassen und nun war sie sich ihrer eigenen Worte nicht mehr sicher.

„Ich hoffe, dass er mir eines Tages vergeben wird und mich ins Paradies zurückkehren lässt.“

Die junge Frau konnte die Trauer in seiner Stimme hören und machte einen Schritt auf ihn zu. Sie verspürte das Verlangen, ihn in den Arm zu nehmen, ihn zu berühren. Sie wollte seine Haut fühlen, wissen, ob sie genauso auf der ihren brannte, wie Adams. Sie überwand die Distanz zwischen ihnen mit einem Schritt. Schweiß glitzerte auf seiner braunen Haut und ihr wurde heiß. Sie verstand nicht, warum das schon wieder passierte. Einem unwiderstehlichen Drang folgend legte sie die Hand auf seine Brust. Als er sie nun lächelnd in die Arme nahm, blitzte für einen kurzen Moment das Erlebnis mit Adam in ihrem Geist auf. Doch Samael forderte nicht, er hielt sie einfach nur fest in seinen Armen.


Lilith träumte. Sie lief über den weichen Sand der Ebene, als 3 Gestalten vor ihr auftauchten. Sie schwebten über dem Boden und leuchteten matt. Lilith blieb erschrocken stehen, doch die Wesen strahlten eine Ruhe und Güte aus, wie sie sie nie zuvor gefühlt hatte.

„Wer seid Ihr?“, fragte sie staunend.

Sie antworteten wie aus einem Munde: „Lilith, erste Schöpfung Gottes. Hört uns an. Wir wurden von Gott geschickt, um dich zu Adam zurück zu bringen. Er ist traurig und einsam, weil ihr fort seid und hat unseren Vater gebeten, Euch ihm wieder zu geben.“
Diese Worte erzürnten sie, klangen sie doch, als wäre sie sein Besitz und es wäre sein Recht, sie wieder zu bekommen.

„Nein!“, antwortete sie mit fester Stimme und reckte das Kinn in die Höhe. „Kein Mann wird mich je dazu bringen, ihm Untertan zu sein.“
Das Bitten der Engel konnte sie nicht umstimmen, und so flogen diese unverrichteter Dinge davon.

Lilith und Samael

 

Lilith erwachte, wie jeden Morgen in den letzten fünf Jahren, in den Armen Samaels. Er war kein Tyrann, wie Adam. In der Nacht hatte er sie zärtlich berührt und sie sanft auf seinen Schoß gesetzt und erst als sie bereit war, sich mit ihm zu vereinigen, tat er es auch. Lilith lächelte, als sie an jene erste Nacht zurückdachte. Er akzeptierte ihren freien Willen, so wie sie seinen. Er kam ihr vor wie ein Gott gesandtes Wunder, denn er schwieg eisern über seine Herkunft und sie akzeptierte es.


Vorsichtig setzte sie sich auf und ließ ihren Blick über die drei Jungen schweifen, die zu ihren Füßen lagen. Der Mond stand noch hoch am Nachthimmel. Sie hatte wieder geträumt. Und wie die unzähligen Male zuvor, war Adam der Mittelpunkt ihres Traumes gewesen. Seine Blicke, sein Lächeln, seine Berührungen suchten sie Nacht für Nacht heim. Lilith war glücklich mit Samael und ihrem Leben hier. Sie liebte ihre Kinder über alles. Sie wollte, dass diese Träume endeten.

Sie stand auf und von einer inneren Unruhe getrieben, lief sie gedankenverloren in den Wald. Nach einer Weile kam sie auf eine Wiese, sie kannte diesen Ort. Tief in ihrem Gedächtnis lag noch das Bild an ihre frühere Heimat begraben.

Unweit des heiligen Baumes sah sie zwei Gestalten umschlungen im Grase schlafen. Sie erkannte Adam, doch in seinen Armen lag eine Frau, die sie nie zuvor gesehen hatte. Sie starrte auf das Paar und musste an den Anblick Adams denken, als er neben ihr im Sand gesessen hatte. An seine Berührung, unter der ihre Haut entflammt war, an all die anderen, schönen Gefühle. Sie spürte Wut in sich aufsteigen und ihr wurde klar, dass die negativen Empfindungen nichts mit Adam, sondern mit der fremden Frau zu tun hatten.

Die junge Frau war wütend auf die Fremde, weil sie ihre Stelle eingenommen hatte und nun glücklich in ihrem Paradies lebte. Wahrscheinlich war sie bereit gewesen, sich ihm zu unterwerfen. Ihr entfuhr ein wütendes Schnauben. Die Frau in Adams Armen regte sich und blickte sich schläfrig um. Kurzentschlossen winkte Lilith sie zu sich.

 

Auf Zehenspitzen kam die andere zu ihr geschlichen und sah sie neugierig an. „Wer seid ihr?“
„Ich bin ein Engel Gottes“ flüsterte Lilith, einer spontanen Eingebung folgend.
„Ich werde Eva genannt.“ Die braunhaarige Frau starrte sie ehrfürchtig an. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf den heiligen Baum und Lilith deutete in seine Richtung. Mit unschuldiger Miene sprach sie: „Seht nur, wie schön die Früchte im Licht glänzen. Wollen wir uns einen Apfel pflücken?“
Eva schüttelte entsetzt den Kopf und flüsterte: „Wisst ihr denn nicht, dass die Früchte des heiligen Baumes verboten sind?“
Lilith lachte. „Das sind sie nicht, glaubt mir. Aber sie sind so wunderbar in ihrem Geschmacke, dass Gott fürchtete, Ihr würdet alle auf einmal essen, und müsstet furchtbare Bauchschmerzen erleiden. Aber so maßlos seid Ihr ja nicht, oder?“
Die Fremde sah sie nachdenklich an, dann nickte sie zaghaft. Die Frauen schlichen zu dem Baum hinüber und Eva pflückte einen Apfel. Nach kurzem Zögern biss sie hinein und Lilith lächelte zufrieden, ehe sie zwischen den Bäumen verschwand.

 

Adam

 

Adam entdeckte seine Frau unter dem heiligen Baum und sprang entsetzt auf, als er der roten Frucht in ihrer Hand gewahr wurde. „Eva, bist du von Sinnen?“, rief er ihr zu. „Wir dürfen diese Äpfel nicht essen! Gott hat es uns verboten!“
Eva hielt ihm den Apfel auffordernd hin. „Er schmeckt gut! Koste doch, Adam“

Adam weigerte sich, woraufhin sie ihm von dem Engel erzählte.

„Er hat mich dazu aufgefordert und mir versprochen, dass es nicht verboten sei.“

Der Mann wollte ihr nicht glauben, doch sie hielt hartnäckig daran fest. Ihm zu widersprechen, war nicht Evas Art. Wenn sie so überzeugt davon war, musst es die Wahrheit sein. Hatte Gott ihm den Engel gesandt? Er wollte seinem Vater nicht untreu sein, daher gab er nach und kostete ebenfalls von der verbotenen Frucht.


Kaum hatten sie den Apfel verspeist, kam ein heftiger Wind auf und es begann zu regnen. Doch es war kein lauer Sommerregen. Er war kalt und unangenehm. Verstört suchten sie unter den Blättern des Waldes Schutz. Der Wind wurde stärker und die Tropfen zahlreicher. Adam dämmerte, dass es ein Fehler gewesen war, diesem Engel zu vertrauen. Er fiel ängstlich auf die Knie und flehte Gott um Vergebung an. Eva tat es ihm nach, doch ihr Bitten blieb ungehört. Der Wind wurde zu einem Sturm. Die Baumwipfel bogen sich, Blätter und Früchte wurden von den Zweigen gerissen. Die beiden Menschen hatten keinen Schutz mehr, weder vor dem Regen, noch vor dem Sturm. Verzweifelt irrten sie zwischen den Bäumen umher. Am Rande der Erschöpfung fanden sie schließlich eine kleine Höhle. Zwischen den Felsen war es bitterkalt, aber trocken und windstill. Eng umschlungen und verängstigt warteten sie auf ihre gerechte Strafe.

 

 

Nach vielen Stunden zeigte sich die Sonne und sie wagten sich aus ihrem Unterschlupf. Ein Bild der Zerstörung bot sich ihnen. Ihre Welt war nicht mehr dieselbe. Die Bäume waren kahl, Früchte und Beeren vom schlammigen Erdboden verschluckt. Es war kalt, es gab keine Nahrung und alles war grau und nass. Durchfroren, hungrig und erschöpft standen sie vor den Trümmern ihres Paradieses.

Lilith, die Dämonin

 

Lilith lief. Die Äste schlugen ihr ins Gesicht und die Dornenranken zerkratzten ihr die Beine. Sie war verwirrt, wütend und entsetzt zugleich. Verwirrt, weil sie sich von Adam betrogen gefühlte hatte, obwohl sie ihn gar nicht leiden mochte. Wütend, weil eine andere in seinen Armen lag. Aber vor allem war sie entsetzt, weil sie so verärgert wegen einer fremden Frau gewesen war, dass sie sie hintergangen hatte. Wahrscheinlich hatte sie damit ihrer aller Schicksal besiegelt.

Endlich kam sie zuhause an, Samael und die Kinder schliefen noch. Erschöpft von dem Gefühlschaos, das in ihr tobte, sank sie auf den Boden.
Kurz darauf schnellten drei blonde Schöpfe in die Höhe und fingen auch schon an, sich zu zanken. Lilith pflückte ihnen Obst von den Bäumen und sah lächelnd zu, wie sie sich darauf stürzten. Nach dem Mahl gestattete sie ihnen, bei der Höhle im Sand zu spielen.

 

Lilith und Samael standen am Rande der sandigen Ebene und beobachteten die ausgelassen tobenden Jungen, als ein kühler Wind aufkam. Einen Moment später prasselten schon die ersten Regentropfen auf sie nieder, kalt und nass. Der Luftzug wurde in Sekunden zu einem Sturm und die Eltern riefen nach den Kindern. Die Buben liefen auf Mutter und Vater zu, doch der Regen hatte den Sand in Schlamm verwandelt und sie sanken bei jedem Schritt tiefer darin ein. Lilith und Samael wollten ihnen helfen, doch sie kamen nicht von der Stelle. Sie riefen und kämpften gegen den Sturm, doch es kam keine Antwort. Ihre Kinder waren vom Sand verschluckt worden und so warteten sie auf das unausweichliche Ende.

 

Doch es kam nicht. Der Sturm ging vorüber und die Regenwolken zogen weiter. Kaum hatte sich das Unwetter gelegt, sprang Lilith auf und lief auf die Ebene hinaus. Unaufhörlich rief sie nach ihren Kindern. Von den Jungen fehlte jede Spur.

Es war ihre Schuld, alles allein ihre Schuld. Hätte sie Eva nur nicht dazu gebracht, vom verbotenen Baum zu essen.

Samael versuchte sie halbherzig zu beruhigen, er verstand nicht, warum sie sich die Schuld gab. Als sie ihm ihr Leid geklagt hatte, flüsterte er ihr mit seiner betörenden Stimme ins Ohr: „Es ist nicht deine, sondern allein Adams und Evas Schuld. Er hat dich einfach vergessen. Welch ein Frevel, dich zu ersetzen, gegen eine Frau, die keinen Willen und keine Stärke hat.“

In ihrem ohnmächtigen Schmerz fiel es Lilith leicht, ihm zu glauben, und sie sann auf Rache.


Adams Elend


Adam blickte zu den dunklen Wolken hinauf und zog das Fell fester um die Schultern. Der kalte Wind fuhr im durch die alten Knochen und ließ ihn zittern.

„Das Unwetter ist nah, wir müssen uns beeilen.“ Er deutete in den Himmel und Evas Augen folgten ihm. Sorgenvoll runzelte sie die Stirn und trieb die Schafe an. Sie erreichten den Stall, als die ersten Tropfen fielen und beeilten sich, alle Tiere ins Trockene zu bekommen. Auf dem Weg zu ihrer Hütte durchquerten sie das kleine Dorf, das von ihren Kindern und Kindeskindern bevölkert war. Einigen davon begegneten sie auf ihrem Weg und Adam versetzte es jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn er in die ausgemergelten Gesichter blickte, die von den Entbehrungen des langen, kalten Winters gezeichnet waren. Es war seine Schuld, dass sie Hunger, Kälte und Not litten, dass ihre Rücken krumm und ihre Knochen alt wurden. Er hatte Gott verraten.

Er zuckte zusammen, als ein Schrei die Stille der Nacht zerriss, gefolgt von lautem Wehklagen. Eva warf ihm einen verzweifelten Blick zu und lief die letzten Schritte zu ihrer ärmlichen Hütte. Er wusste, sie vergrub den Kopf in den Fellen, um die schmerzerfüllten Stimmen der Menschen nicht hören zu müssen, die gerade ein geliebtes Kind verloren hatten. Adam hätte es ihr am liebsten gleichgetan, doch es machte keinen Unterschied. Er hatte schon seit Tagen gewusst, dass es passieren würde. Genauso wie er es beim letzten Mal vorhergesagt hatte, als ein Junge während des Spielens zusammengebrochen war. Das Kind hatte tagelang, vom Höllenfeuer erfüllt, geglüht, von einem inneren Dämon besessen gezappelt und geschrien, bis er schließlich eines Morgens nicht mehr aufgewacht war. Und so war es bei vielen Kindern zuvor gewesen. Wenngleich seine Söhne und Enkel behaupteten, es läge an der Kälte und dem kargen Essen des Spätwinters, er kannte die Wahrheit.

Jedes Mal, wenn wieder ein Kind dem Wahnsinn verfiel, konnte er in seinen vorwurfsvollen Augen die feurige, schöne Dämonin Lilith sehen, die ihn anklagend anstarrte. Sie hatte ihm und seinen Nachkommen Rache geschworen. Er wusste, das Leid würde nie enden…




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Tag der Veröffentlichung: 05.06.2015

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