„Habt Dank. Beehrt uns bald wieder.“ Skyla schenkte den 3 Männern vor sich ihr schönstes Lächeln und zwinkerte ihnen verführerisch zu. Sie erntete ein begeistertes Grölen und die Gäste schwankten zur Tür hinaus. Sie hasste es, Höflichkeit und Interesse zu heucheln. Doch wie sich bald nach Beginn ihrer Jugend gezeigt hatte, war die überwiegend männliche Kundschaft des Wirtshauses wesentlich freigiebiger beim Begleichen der Zeche, wenn sie ihre Reize einsetzte. Zwar hatte ihr Onkel beteuert, dass es nicht notwendig wäre und selbst ihre griesgrämige Tante hatte zustimmend gebrummt. Doch sie wollte nicht ewig in der düsteren Taverne festsitzen und sparte daher jede einzelne Münze, die sie zusätzlich bekam. Auch heute hatte sich ihr verführerisches Lächeln wieder bezahlt gemacht. Zufrieden begann sie, den Tisch abzuräumen, als sich die schwere Holztür des Wirtshauses erneut öffnete. Ein kalter Windstoß fuhr durch den spärlich besetzten Raum und brachte Regen und einen neuen Gast mit herein. Bei dessen Anblick hielt das Mädchen inne und runzelte die Stirn. Der Mann unterschied sich deutlich von der üblichen Kundschaft des „Nine Yards“, denn er trug einen purpurroten Umhang mit goldenen Verzierungen. Er hatte ihn eng um den Körper geschlungen, um die Nässe fernzuhalten, trotzdem war sie sich fast sicher, dass die darunterliegende Kleidung ebenso edel aussah.
„Skyla! Komm her!“, ertönte die energische Stimme von Tante Brenda hinter ihr. Sie beeilte sich, die schmutzigen Holzbecher aufzustapeln und balancierte sie geschickt zum Tresen.
„Hol etwas von dem teuren Wein. Wir haben hohen Besuch“, wurde sie angewiesen und kletterte die knarrenden Stufen in den Weinkeller hinunter. Als sie mit einem vollen Krug zurückkam, knallte ihr die mürrisch dreinblickende Frau einen Becher vor die Nase und deutete stumm in eine Ecke. Dort hatte sich der ungewöhnliche Gast inzwischen niedergelassen und starrte durch ein kleines Fenster in die finstere Nacht hinaus.
Während Skyla den Raum durchquerte, fragte sie sich, was er da draußen wohl zu sehen hoffte. Es regnete in Strömen, und die alte Laterne vor dem Gasthaus konnte das Schwarz kaum erhellen. Abgesehen davon war das Glas des winzigen Fensters trüb. Seufzend fragte sie sich, wann sie wohl wieder zum Fensterputzen kommandiert werden würde.
Als sie den Holzbecher auf den Tisch stellte und etwas von dem Wein einschenkte, wandte der Mann den Kopf und murmelte geistesabwesend etwas, dass wie „danke“ klang. Skyla setzte ein höfliches Lächeln auf, nickte und wandte sich zum Gehen. Doch da hob der seltsame Gast ruckartig den Kopf und packte sie am Handgelenk. Das Mädchen spannte sich und ihr Lächeln wich einem drohenden Blick. Sie war zwar schlank und zierlich gebaut, aber durchaus in der Lage sich zu wehren. Schließlich brachte ihre Arbeit im Wirtshaus es mit sich, dass sie sich des Öfteren gegen Trunkenbolde verteidigen musste.
Der Mann warf ihr einen prüfenden Blick zu, dann lächelte er jedoch entschuldigend und ließ sie los.
„Verzeiht mir, ich wollte nicht grob sein. Ich hoffe, ich habe euch nicht erschreckt?“
„Nein, geht schon“, antwortete sie mit einem leichten Misstrauen in der Stimme.
„Bitte, setzt euch doch für einen Moment zu mir. Es wäre mir eine Ehre.“
Verwirrt starrte Skyla ihn an. Sie war es nicht gewohnt, höflich behandelt zu werden. Die meisten Kunden schlugen ihr gegenüber einen ganz anderen Ton an. Und die wenigsten die sie um ihre Gesellschaft baten, hatten ehrbare Absichten.
Ihre Neugier siegte schließlich über ihr Misstrauen und sie nahm ihm gegenüber auf einem der wackeligen Holzstühle Platz.
Er lächelte immer noch, während er sie mit einem seltsam interessierten Gesichtsausdruck musterte. Sie nutzte die Gelegenheit, um auch ihn in Augenschein zu nehmen. Durch das Flackern der Öllampe konnte sie sein Gesicht nur undeutlich erkennen, schätzte ihn aber auf Mitte Zwanzig. Er hatte lange blonde Haare und trug keinen Bart. Dieser Umstand sowie sein mit goldenen Ornamenten bestickter, dunkelroter Umhang ließen darauf schließen, dass er aus adligem Hause stammte. Er passte so gar nicht zu dem üblichen Volk, das sich sonst in der Taverne blicken ließ. Gelegentlich kamen Kreuzritter auf ihrem Zug ins geheiligte Land an der Stadt vorbei und machten Rast oder nächtigten in einem der kleinen Gästezimmer. Doch diese hatten üblicherweise weiße Umhänge und nicht rote. Zudem konnte sie auch kein, für diese Krieger übliches Kreuz auf seiner Kleidung ausfindig machen.
Ihre Gedanken mussten sich wohl deutlich auf ihrem Gesicht wiedergespiegelt haben, denn der Fremde meinte lachend: "Ihr fragt euch sicher, was ich hier in dieser Gegend zu suchen habe. Wenn ich ehrlich sein soll, weiß ich das selbst nicht so genau.
Aber ich bin unhöflich, verzeiht mir. Mein Name ist Tristan. Verratet Ihr mir auch den euren?"
Der förmliche Umgang war fast noch irritierender als sein Aussehen.
"Skyla", antwortete sie zaghaft.
"Ihr braucht keine Angst zu haben, ich bin friedlich. Und ich bin auch kein Steuereintreiber, keine Sorge!", entgegnete der mysteriöse Gast mit einem Augenzwinkern.
Erleichtert atmete das Mädchen auf. Sie hatte schon eine Befürchtung dahingehend gehegt.
"Ich stehe im Dienste des Königs und bin wegen eines Auftrags hier in der Stadt. Mehr darf ich dazu nicht sagen. Vermutlich würde ich euch damit ohnehin nur langweilen", fuhr er mit wichtiger Mine fort. „Ich lagere mit meiner Truppe oben in der Burg. Doch in meinem Zelt ist es kalt und ungemütlich, außerdem will ich die Stadt und deren Bewohner einmal aus der Nähe betrachten. Bei meinem Ausflug hat mich schließlich der Regen überrascht und ich bin hier herein geflüchtet."
Skyla war immer noch misstrauisch. In ihren Augen hatten die engen, schmutzigen Straßen nicht all zu viel Schönes und Aufregendes zu bieten. Sie konnte sich zwar durchaus vorstellen, dass es für einen Krieger langweilig war, jeden Abend am selben Ort mit denselben Menschen zu verbringen. Auch sie hatte gelegentlich Abwechslung und das Abenteuer gesucht. Doch der Mann lagerte immerhin in der Burg. Ein warmes, prasselndes Kaminfeuer, einen guten Wein und gepflegte Unterhaltung freiwillig gegen ihre düstere, dreckige Taverne einzutauschen, schien ihr aber doch sehr fragwürdig.
Auf eine entsprechende Bemerkung hin, entgegnete Tristan schulterzuckend: „Eine gepflegt Unterhaltung kann ich ja auch hier führen und über die Gesellschaft kann ich mich nicht beklagen. Der Wein lässt allerdings tatsächlich sehr zu wünschen übrig!"
Er verzog dabei so übertrieben angewidert das Gesicht, dass Skyla laut lachen musste. Schon befürchtete sie, ihren reichen Gast damit verärgert zu haben, doch der stimmte zu ihrer Erleichterung gelassen mit ein. Dass dies schon der beste Wein war, den sie hier zu bieten hatten, verschwieg sie ihm jedoch vorsichtshalber. Die offene und freundliche Art ihres Gegenübers ließ ihr Misstrauen langsam schwinden und neugierig erkundigte sie sich nach seiner Herkunft. Er gab jedoch nicht viel von sich preis, außer dass er "von weit her, aus dem kalten Norden" kam.
Während Skyla noch darüber nachgrübelte, was sie sich unter dem "kalten Norden" vorzustellen hatte, leerte Tristan seinen Becher und stellte ihn geräuschvoll auf den Tisch. Als er sich dann darüber beschwerte, was für eine miserable Bedienung es in dieser "Spelunke" hier gebe, wusste das arme Mädchen erst nicht, ob es betroffen oder belustigt sein sollte. Doch ehe sie sich noch zu einer Reaktion entschlossen hatte, stand der Mann auf und legte 5 Goldmünzen auf den Tisch. Mit einem Augenzwinkern verbeugte er sich vor ihr, nickte der Wirtin knapp zu und verließ die Taverne ohne ein weiteres Wort.
Verwirrt steckte Skyla die Münzen ein und begann die leeren Tische abzuräumen. Um das Geld hätte er ein halbes Weinfass bekommen. Genauso merkwürdig wie den adligen Gast, fand sie jedoch den Umstand, dass Tante Brenda sie die ganze Zeit mit Argusaugen überwacht und dennoch nicht lauthals dazu aufgefordert hatte, sich wieder an die Arbeit zu machen. Es war nicht viel los, die wenigen Weinbecher nachzufüllen hatte die ältere Frau mühelos alleine geschafft. Dennoch mochte diese es nicht, wenn Skyla sich während der Arbeit zu einem Gast setzte. Das Schankmädchen trug einen Stapel schmutziger Becher hinter den Tresen und fragte seine Tante beiläufig, ob ihr der Besucher bekannt gewesen war. Sie bekam nur ein knappes Nein zur Antwort und den Auftrag, Zimmer Drei noch gästetauglich zu machen. Danach dürfe sie für heute Schluss machen. Erfreut wünschte das Mädchen ihrer Tante eine gute Nacht und machte sich an die letzte Aufgabe für diesen Abend.
Während Skyla vergeblich versuchte, mit dem alten Strohbesen den Schmutz des letzten Bewohners vom Holzboden zu fegen, dachte sie über die seltsame Bekanntschaft nach, die sie eben gemacht hatte. Der Fremde war ihr vertraut erschienen, seine Gesichtszüge erinnerten sie entfernt an jemanden. Doch so angestrengt sie auch nachdachte, sie kam nicht dahinter an wen. Vielleicht lag es auch nur an dem schlechten Licht und sie bildete es sich nur ein. Doch der Gedanke wollte sie nicht loslassen. Tristan sah nicht schlecht aus, soweit das im schwachen Schimmer der Öllampe zu erkennen war. Seine eng anliegende Uniform, die kurz unter seinem Mantel zu sehen gewesen war, ließ erahnen, dass sie einen muskulösen und gestählten Körper verdeckte. Sein Gang war geschmeidig und eindeutig der eines geschickten Kriegers gewesen. Und die langen zerzausten Haare gaben ihm ein abenteuerliches Aussehen. Bisher war Skyla nie ernsthaft an Männern interessiert, sie würden sie ja doch nur davon abhalten, endlich von hier weg und in die große Welt hinaus zu gehen. Sie wollte das Land erkunden und Abenteuer erleben, auch wenn sie sich der Tatsache bewusst war, dass dies für sie als Frau vermutlich immer ein Traum bleiben würde.
So selbstständig und rebellisch das junge Mädchen meist auch war, manchmal träumte es insgeheim doch auch von einem Prinzen, der sie auf holdem Rosse in sein Schloss entführte. Unwillig schüttelte sie den Kopf und vertrieb diese kindlichen Bilder aus ihrem Kopf.
"Du bist doch kein kleines Mädchen mehr, das noch an so einen Unfug glaubt!", schimpfte sie sich, "Als ob hier plötzlich ein edler Ritter auftauchen und mich aus diesem Loch befreien würde. Wenn ich hier weg will, dann muss ich das selbst in die Hand nehmen."
Seufzend ersetzte sie die schmutzigen Laken durch saubere, wischte den kleinen Tisch ab und füllte den Krug darauf mit frischem Wasser. Ihre Arbeit war erledigt und müde kletterte sie die schmale Holzstiege hinauf, die in ihr eigenes Zimmer führte.
Dieser Begriff stimmte nicht ganz, denn es war nur ein winziges Kämmerchen. Neben dem schmalen Bett hatte gerade noch ein kleiner Holzkasten Platz. Doch es war Skylas eigenes Reich und mehr brauchte sie nicht. Neben ein paar einfachen Leinenkleidern, einem Paar Holzpantoffeln und wollener Unterwäsche für die Markttage in der kalten Jahreszeit, besaß sie nur noch ein Buch. Dieses betrachtete sie auch als ihren wertvollsten Besitz. Nicht, weil es tatsächlich soviel wert gewesen wäre, sondern weil es das einzige war, was ihr ihre verstorbene Mutter hinterlassen hatte. Auch jetzt nahm sie es vor dem Schlafengehen in die Hand und strich liebevoll über das alte Leder. Sie hatte es bereits unzählige Male gelesen und kannte die Geschichte beinahe auswendig. Es war die Erzählung einer Frau, die ihr Leben auf der Flucht verbracht hatte. Auf ihren unfreiwilligen Reisen war sie an die seltsamsten Orte gekommen und den wunderlichsten Menschen begegnet.
Skyla stellte sich gerne vor, dass es die Geschichte ihrer Mutter war, vielleicht hatte diese es ja sogar selbst geschrieben. Sie war in diesem Wirtshaus aufgewachsen und hatte ihre Eltern nie kennengelernt. Als sie älter geworden war, hatte sie ihre Tante solange mit Fragen gequält, bis diese ihr schließlich erzählt hatte, dass sie bei Skylas Geburt gestorben sei.
Auch wenn das Leben ihrer Mutter ein tragisches Ende genommen hatte, so wurde sie in Skylas Augen durch das Buch wieder lebendig, zu ihrem Vorbild. Sie war der Grund, warum das junge Mädchen sich nicht an einen Mann binden und als Ehefrau einsperren lassen wollte.
Ganz im Gegensatz zu den meisten anderen Frauen in ihrem Alter, wollte sie frei sein und die Welt bereisen. Sie wollte Abenteuer erleben und Seite an Seite mit mutigen Kriegern gegen Unholde kämpfen. Zumindest hatte sie sich als kleines Mädchen so ihr späteres Leben vorgestellt. Mittlerweile war sie 19, also schon längst erwachsen, und saß immer noch in der Taverne fest, musste als Schankmaid arbeiten und hatte es längst aufgegeben, auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Manchmal war sie versucht, das Leben, dass sie sich erträumt hatte, ebenfalls aufzuschreiben. So hätten wenigstens andere Menschen eine Freude daran, so wie sie an der Geschichte ihrer Mutter. Doch sie hatte in ihrem ganzen Leben noch kein anderes Buch zu Gesicht bekommen; für ein junges Mädchen war es ungewöhnlich genug, überhaupt lesen zu können. Diesen Umstand verdankte sie ihrem Onkel, einem außerordentlich talentierten Geschäftsmann. Was seine Besitztümer anging, war er überaus pedantisch und führte daher genau Buch über sämtliche Einnahmen und Ausgaben, die er am Markt tätigte, welche Mengen wovon er wann an wen verkaufte und wie viel Gewinn er damit erzielte. Wie er an die Waren kam, die er jede Woche am Markt feilhielt, hatte er ihr nie verraten und wahrscheinlich wollte sie es auch gar nicht wissen. Allerdings benötigte er ihre Hilfe, um an gut besuchten Markttagen den Überblick zu behalten, und so hatte er ihr Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht.
Müde ließ sich Skyla auf ihr Bett fallen, sie wüsste auch gar nicht, wie sie anfangen sollte. Noch einmal tauchte das Gesicht des Fremden vor ihrem geistigen Auge auf. Würde sie noch an ihre einstigen Träume glauben, so wäre er wahrscheinlich ihr holder Prinz. Nur das Gefühl, dass sie ihn kannte, diese Vertrautheit in seinen Zügen, konnte sie sich nicht erklären. Sie hatte immer noch keine Idee, an wen er sie erinnerte. Seufzend rollte sich unter dem dünnen Fell zusammen und schloss die Augen. Der Tag war lange gewesen und unter dem monotonen Prasseln des Regens schlief sie bald ein.
"Riiiing! Riiiing!" schrillt es direkt neben meinem Ohr. Entsetzt schnelle ich in die Höhe und nach der ersten Schrecksekunde wird mir klar, dass das Geräusch nicht den Weltuntergang angekündigt, sondern nur meine Traumwelt zerstört hat. Genervt schlage ich auf den altmodischen Wecker, der auf dem Nachtkästchen neben meinem Kopfpolster steht. Daneben liegt mein Handy und wieder einmal mehr überlege ich ernsthaft, doch wieder auf dessen Weckfunktion umzusteigen. Doch nachdem ich einmal zu spät zur Uni gekommen bin, weil der Akku streikte und dadurch 2 Wochen umsonst für eine Klausur gebüffelt habe, will ich mich nicht mehr darauf verlassen. "Auf die Elektronik ist kein Verlass, Mechanik ist gut, die tut was sie soll!", pflegt mein Opa in solchen Fällen gern zu sagen. Was den Wecker angeht, hat er zweifellos recht. Ich bin wach. Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen und marschiere ins Bad, um mich für die Uni fertig zu machen. Meine Schläfen pochen und Bruchstücke eines Traumes schwirren mir im Kopf herum. Irgendwas von einem fremden Mann und einer mürrischen, alten Tante. Verärgert schüttle ich den Kopf, um die Bilder zu vertreiben. "Nicht krank werden! Bitte nicht krank werden!", befehle ich meinem Spiegelbild, dass alles andere als gut aussieht. Jetzt ist gerade absolut kein passender Zeitpunkt, um mit Grippe im Bett zu liegen. 2 Klausuren stehen ins Haus und Samstag ist der große Maskenball. Dave hat mich gefragt, ob ich mit ihm hingehe und ich habe natürlich zugesagt. Seufzend binde ich mir die langen, braunen Haare zu einem Pferdeschwanz und mach mich auf den Weg zur ersten Vorlesung. Im Hörsaal angekommen warten Kate und Jenny schon mit einem Coffee-to-go auf mich. "Morgen ihr Zwei! Kate du bist die Beste, den brauch ich jetzt!", begrüße ich sie. "So schaust du auch aus", entgegnet Jenny grinsend, "Was ist denn mit dir passiert?".
"Na, Danke für das Kompliment. Hab schlecht geschlafen, irgendwas Seltsames geträumt. Ich hoffe ich werd nicht krank" erläutere ich. Dann verstummt das Gespräch, denn die Vorlesung beginnt.
In der Mittagspause sitzen Jenny und ich wie immer im Unipark unter unserem "Lernbaum". Gespräch Nummer 1 ist natürlich der Ball. Jenny ist schon total aufgeregt, daher trifft es das Wort "sitzen" nicht ganz. Wie ein oranger Gummiball hüpft sie auf und ab und gestikuliert mit Händen und Füßen. Offenbar will sie mir gerade ihre Vorstellung von DEM Traumkleid beschreiben. Was allerdings nicht sonderlich gut hinhaut, denn die Kopfschmerzen sind durch die frische Luft nur unwesentlich besser geworden und der seltsame Traum spukt mir immer noch im Kopf herum. Eigentlich träume ich nur selten, und wenn doch, dann kann ich mich normalerweise nicht mehr an den Inhalt erinnern. Umso seltsamer ist es diesmal, denn statt mit der Zeit zu verblassen, werden die Bilder dieses Traumes immer deutlicher. "Sandra, du hörst mir überhaupt nicht zu! Du musst mindestens genauso aufgeregt sein wie ich, sitz nicht so gelangweilt hier herum! Schließlich gehst du mit deinem Traummann da hin!" klingt Jennys Stimme empört durch meine Gedanken. "Ich bin auch aufgeregt Jenny, wirklich. Ich bin schon total nervös, ich werd sicher vor Aufregung kaum lernen können. Aber ich hab euch ja von diesem seltsamen Traum erzählte und irgendwie bekomm ich den nicht mehr aus meinem Kopf. Ich kann dir genau sagen wie der Typ in meinem Traum ausgesehen hat, ich kann sogar noch die Stimme von der alten Tante hören. Das ist echt unheimlich." entgegne ich entschuldigend. "Du hast von einem Typen geträumt? Sah er aus wie Dave? Das ist sicher dein Unterbewusstsein. Na wenigstens ist das schon aufgeregt wegen des Balls, wenn du es schon nicht bist!" lacht Jenny.
"Nein, er hat Dave überhaupt nicht ähnlich gesehen. Er schien eher geradewegs dem Mittelalter entsprungen zu sein. Obwohl, das stimmt nicht ganz, ich bin viel mehr dort gewesen. In so einem alten Wirtshaus mit Holzbechern und Kerzenlicht. Ich bin Cinderella gewesen und er mein Prinz oder so, nur goldenen Schuh hat er leider keinen dabei gehabt", witzelte ich.
Meine Gedanken blieben bei Dave hängen. Irgendwie kommt mir die Sache noch immer spanisch vor. Dave ist im selben Semester und in einigen Kursen arbeiten wir zusammen. Ich war sofort von seiner stets guten Laune und Übermotivation begeistert, an der mangelt es mir selbst nämlich zeitweise. Er ist einfach, direkt und unkompliziert, also der ideale Lernpartner für mich. Obwohl ich mich in seiner Gegenwart immer irgendwie klein und unbedeutend fühlt, als wäre ich plötzlich nur noch halb so intelligent, halb so schnell, halb so motiviert, ist es gerade dieser Umstand, der ihn in meinen Augen so großartig wirken lässt. Dass er nicht gerade schlecht aussieht und eine Sportskanone obendrein ist, ist nur das Sahnehäubchen.
"Ich versteh noch immer nicht, warum er mit mir zum Ball gehen will. Wir sind ja nur Studienkollegen, noch nicht mal richtige Freunde. Was will ein Überflieger wie er mit einer grauen Maus wie mir?", sinniere ich laut vor mich hin. "Zum Ball gehen!" lautet Jennys nüchterne Antwort, "Mach dir nicht immer soviele Gedanken über alles, freu dich lieber. Hauptsache ist, dass er dich gefragt hat!". Ganz so sehe ich das zwar nicht, aber ich will mir auch nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen, er schmerzt ohnehin schon genug. Zum Glück entdeckt Jenny im selben Moment Kate, die auf uns zu steuert und hüpft ihr aufgeregt entgegen. Diese ist zwar nicht so eine Energiebombe wie Jenny, aber sie zeigt trotzdem wesentlich mehr Engagement, sich für den Ball zu begeistern und so lasse ich die beiden quatschen und schließe die Augen. Ich muss an Jennys Worte denken, in denen sie Dave als meinen „Traummann“ bezeichnet. Ja, er ist perfekt. Aber wieso will der perfekte Mann mit mir zum Ball gehen? Er kennt eine ganze Menge Mädels, zumindest wird er ständig von welchen gegrüßt, wenn wir uns zum Lernen in der Mensa treffen. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass da mehr dahinter steckt. Aber vielleicht bin ich auch nur paranoid. Was mich an meinen anderen „Traummann“ erinnert. Ich kann sein Gesicht immer noch deutlich vor mir sehen, naja zumindest so deutlich wie ich es im flackernden Kerzenschein meines Traumens sah. Meine Mutter würde sagen, das Schicksal hätte an mein Unterbewusstsein geklopft, weil es mir etwas sagen will. Ich mag das Schicksal nicht. Es hält selten Gutes für mich bereit. Wenn er wieder einen neuen Schrecken für mich parat hat, soll es mir das lieber direkt zeigen und nicht mein Unterbewusstsein damit belästigen.
„He, Sandra! Schläfst du schon wieder? Wir müssen los.“, unsanft werde ich aus meinen Gedanken gerissen. Gähnend rapple ich mich auf und trotte hinter den Beiden her Richtung Hörsaal. Während ich noch mit der Müdigkeit kämpfe, dringt es schon wieder an meine Ohren:. „He, Sandra!“. Nur diesmal ist es eine deutlich tiefere Stimme. Dave kommt hinter uns hergelaufen und bleibt schnaufend neben mir stehen.
„Hallo, Dave. Wir halten dir einen Platz frei, Sandra.“ Jenny zwinkert mir zu und verschwindet mit Kate um die Ecke. Ich bin verwirrt. Dave hat die Vorlesung doch gar nicht belegt, zumindest meines Wissens nach nicht. Außerhalb der Kurse und Lerntreffen haben wir eigentlich so gut wie nie etwas miteinander zu tun.
„Hi, ähm...was machst du hier? Hab ich einen Termin übersehen?“ mutmaße ich.
„Nein, keine Sorge.“, lacht er, „du siehst aber ziemlich fertig aus, hast du Lernstress?“.
„Nein, das nicht. Hab nur schlecht geschlafen und Kopfschmerzen.“ Ich sehe wohl genauso aus, wie ich mich fühle. Na toll, und ausgerechnet so muss mich mein Schwarm sehen. Was für ein Kompliment…
„Ich hoffe ich werde nicht krank, sonst ist der Ball für mich gestrichen“, füge ich rasch hinzu, um mein katastrophales Aussehen wenigstens ein klein wenig zu rechtfertigen.
Seltsamerweise reagiert Dave fast entsetzt auf meine Worte: „Nein, nein. Das geht nicht. Du hast mir versprochen, dass du mit mir hingehst. Du kannst mich jetzt nicht einfach versetzen!“
„Ganz ruhig, bis Samstag ist ja noch genug Zeit. Außerdem würde ich das nicht als „versetzen“ bezeichnen, wenn ich dich gegen Kamillentee und Taschentücher eintausche.“, erwidere ich lachend, „Bist du uns aus einem bestimmten Grund hinterher gejagt, oder stand dir nur der Sinn gerade nach Sport?“.
„Ja…also nein, keine sportliche Fleißaufgabe. Ich wollte dich eigentlich nur fragen, ob unser Date zum Ball noch steht. Weil, naja…ich habe ein Gerücht gehört, dass du mit irgendeinem geheimnisvollen Typen hingehst. Und ich bin ja nicht sonderlich geheimnisvoll und fremd auch nicht unbedingt.“, erläutert er verlegen.
Na sowas, dass Dave auch einmal verunsichert sein kann. Hätte ich nie gedacht. Doch ich bin verwirrt. Wieso sollte jemand ein Gerücht über mich in die Welt setzen? Wer sollte der Kerl sein? Vielleicht ist eine seiner zahllosen Freundinnen eifersüchtig und hofft, er sagt seine Verabredung mit mir deswegen ab und geht stattessen mit ihr hin. Aber was hätte es für einen Sinn, zu behaupten ich würde mit jemand anderem hingehen? Ist ja naheliegend, dass Dave mich einfach danach fragt und ich das Gerücht aus der Welt schaffe. Sehr Seltsam.
„Also, der Freund meiner Schwester hat einen Kumpel, der mit Rick befreundet ist. Und der ist ja der Freund von Kate…“, antwortet er unsicher. Ich seufze und erkläre ihm, dass da wohl die stille Post etwas falsch zustellt hat und unser Date nach wie vor gilt. Erleichtert zieht er von dannen und ich mache mich auf den Weg zum Hörsaal. Nachdem die Vorlesung endlich zu Ende ist, worum es dabei ging, habe ich während des Halbschlafs nicht mitbekommen, erzähle ich meinen Freundinnen natürlich gleich von Daves komischem Verhalten. Als ich Rick als angebliche Quelle nenne, reagiert Kate verständlicherweise empört. Aber wenigstens verspricht sie, ihn zur Rede zu stellen.
Ich verabschiede mich von den Beiden und fahre nach Hause. Nachdem ich in der Straßenbahn beinahe eingeschlafen wäre, obwohl die Fahrt nur 15 Minuten dauerte, komme ich zuhause an und finde ein leeres Haus vor. Meine Eltern sind wohl noch in der Arbeit. Wieder einmal bin ich froh, dass ich nicht im Studentenheim wohnen muss. So gern ich meine Freundinnen auch um mich habe, die Ruhe meines Elternhauses ziehe ich dem Trubel einer WG doch vor. Ich stelle mich kurz unter die Dusche, nachdem sich die Müdigkeit aber auch dadurch nicht vertreiben lässt, rolle ich mich im Bett zusammen und schließe die Augen.
Es war noch dunkel, als Skyla erwachte. Laute Stimmen drangen von der Straße herein, scheinbar prügelten sich wieder einmal ein paar Betrunkene. In letzter Zeit kam das immer öfter vor. Die königliche Garde, die derzeit im Hof der Burg lagerte und deren Männer immer wieder durch die Straßen der Stadt streiften, machte wohl alle etwas nervös. Das Mädchen rieb sich den Schlaf aus den Augen und schwang sich aus dem Bett. Neugierig sah sie aus dem Fenster, aber die beiden Raufbolde kamen ihr nicht bekannt vor, soweit sie das im schwachen Licht der Wirtshauslaterne erkennen konnte. Der Streit schien auch schon wieder vorbei, zumindest trennten sich die Schatten und liefen in entgegen gesetzte Richtungen davon. Skyla spähte die schmale Holztreppe hinunter. Durch die Tür des kleinen Zimmers darunter drang der flackernde Schein einer Kerze und Onkel Tonys leises Summen war zu hören. Seufzend streifte sie sich ihr Leinenkleid über und schlurfte die Stiege hinab.
Sie mochte dieses Summen. Sie mochte Onkel Tonys verblüffende Fähigkeit, schon in aller Herrgotts Frühe hellwach und auch noch gut gelaunt zu sein. Etwas, dass sie nie zustande brächte und Tante Brenda schon gar nicht. Wieder einmal wunderte sich Skyla wie perfekt sich die Zwei doch ergänzten. Onkel Tony war ein blasser, hagerer Morgenmensch, er genoss die Ruhe, die um diese Zeit noch herrschte und nutzte sie, um das Geld zu zählen, die Vorräte zu kontrollieren und die Buchführung zu überprüfen. Er führte tatsächlich ganz akribisch Buch über alles, was über die Theke ging. Und wenn auch kaum jemand verstand, warum er das tat, es machte sich scheinbar bezahlt. Nicht jeder Wirt konnte es sich leisten, nachts für mehrere Stunden zu schließen. Wenn der Morgen graute und er die üblichen Dinge erledigt hatte, schloss er das Wirtshaus auf. Vormittags kamen nie all zu viele Gäste, mit Skylas Hilfe kam er gut zurecht bis Tante Brenda aufstand. Sie war das Gegenteil von Onkel Tony, robust, energisch und voller Durchsetzungsvermögen. Aber sie war auch ein Morgenmuffel, daher übernahm sie die Spätschicht und schloss in der Nacht die Taverne. Wenn Sperrstunde war, sprach sie ein Machtwort, das selbst die hartnäckigsten Säufer in die Flucht schlug. Es war kaum zu übersehen, dass Skyla von Onkel Tonys Blutlinie abstammte. Wenngleich sie auch nicht so eine Frühaufsteherin war, so ähnelte sie ihm doch sehr in ihrer Wesensart. Sie hatte ein fröhliches und verträumtes Gemüt, sie mochte Musik und Gesang, aber auch die Ruhe. Ihre Vorzüge waren ein wacher Geist und ein scharfer Verstand, der das Manko ihrer schmalen, nicht all zu athletischen Statur wieder ausglich.
Heute summte Onkel Tony eine fröhliche Weise, die Einnahmen schienen also zu stimmen.
„Du faszinierst mich immer wieder Onkel, wie kann man um diese Zeit nur schon so gut gelaunt sein?“ brummte Skyla.
Tony lachte und wünschte ihr einen wunderschönen, guten Morgen. Gegen seine gute Laune konnte sich das Mädchen kaum weheren und so begann sie, schon nicht mehr ganz so mürrisch, mit ihrer Arbeit. Der Tag verging wie jeder andere, doch abends tauchte erneut der fremde Mann auf. Nachdem Skyla ihm einen Becher Wein eingegossen hatte, forderte er sie wieder auf, sich zu setzen. Sie nahm ihm gegenüber Platz und blickte ihn abwartend an.
„Ob ihm wohl auffällt, dass der gute Wein aus ist? Hoffentlich macht er keinen Aufstand deswegen“, dachte das Mädchen sorgenvoll. Tante Brenda stand hinter der Theke und warf ihm einen skeptischen Blick zu, den er aber geflissentlich ignorierte.
„Also, Skyla“, begann er das Gespräch, „ich hoffe, du erinnerst dich noch an mich.“
Sie nickte knapp.
„Deine Tante offenbar auch“, fuhr er mit einem Schmunzeln fort.
„Woher wisst Ihr, dass sie meine Tante ist?“, jetzt wurde das Mädchen doch misstrauisch. Irgendwas stimmte mit diesem Mann nicht. Warum war er schon wieder hier? Warum wollte er sich unbedingt mit ihr unterhalten? Heute konnte es nicht wieder Zufall sein.
„Du hast sie gestern Tante genannt, als sie dir aufgetragen hat, Wein zu holen“, war die nüchterne Antwort. Damit konnte er durchaus recht haben, so genau konnte sie sich nicht mehr daran erinnern. Ihr entging allerdings nicht, dass er sich sehr wohl daran zu erinnern schien.
„Also gut, was wollt Ihr hier? Oder besser gesagt, von mir? Es gibt genug leichte Mädchen in der Stadt, falls es das ist worauf Ihr aus seid. Ich bin keines davon!“ Skyla warf ihm einen drohenden Blick zu.
Tristan sah sie erst verblüfft an, entgegnete dann aber fast beleidigt: „Den Eindruck mache ich auf dich? Wie kommst du nur auf so etwas? Ich bin ein Mann von Ehre!“
Er klang so ehrlich entrüstet, dass Skyla laut lachen musste. Tante Brendas Stirnrunzeln wuchsen um ein ganzes Stück und ihr Gegenüber setzte wieder einen beleidigten Blick auf. „Na schön, ein Mann von Ehre also. Seid ihr ehrenvollen Männer immer so launisch?“ seufzte sie. „Verzeiht mir, nur laut gedacht. Also, um auf meine Frage zurück zu kommen - was wollt Ihr hier?
„Um ehrlich zu sein bin ich tatsächlich wegen dir hier. Gestern bin ich wirklich nur rein zufällig vorbei gekommen, aber dann habe ich dich gesehen. Du erinnerst mich an jemanden aus meiner Kindheit. Ich weiß nur nicht an wen und ich kann auch nicht sagen, worin die Ähnlichkeit besteht, aber sie ist da. Das hat mich die ganze Nacht beschäftigt und ich dachte, wenn ich dich näher kennen lerne, finde ich es vielleicht heraus.“ antwortete Tristan und lieferte Skyla somit eine plausible Erklärung. Schließlich war auch ihr eine gewisse Vertrautheit aufgefallen. Se nickte und erläuterte, dass sie leider kaum etwas über ihre Herkunft wusste und auch an ihre Kindheit nicht all zu viele Erinnerungen hatte.
Das Mädchen fragte sich, ob es tatsächlich eine Verbindung zwischen ihnen geben könnte. Es schien ihr allerdings sehr unwahrscheinlich, schließlich gehörte er dem Adel an, während sie, naja, eben hart arbeiten musste, um zu überleben. Dass sie gemeinsam als Kinder gespielt hatten, war also höchst unwahrscheinlich. Und wären sie sich erst später begegnet, so könnten sie sich daran erinnern.
Tante Brendas energische Stimme riss sie aus ihren Gedanken und forderte sie auf, die Tische abzuräumen. Sie warf Tristan einen entschuldigenden Blick zu und machte sich an die Arbeit.
„Bis morgen, Skyla“, rief er ihr lächelnd zu, bevor er kurz darauf die Taverne verließ.
Von diesem Tag an kam er jeden Abend, setzte sich an seinen Stammplatz am Fenster und wartete darauf, dass das Mädchen für diesen Tag aus ihren Diensten entlassen wurde. Dann setzte sie sich zu ihm und sie unterhielten sich. Sie erfuhr, dass er seine Eltern ebenfalls nicht kannte und von seinem Onkel aufgezogen worden war, der als Hauptmann der königlichen Garde fungierte. Dadurch hatte er eine tadellose Kampfausbildung genossen und war noch sehr jung in diese aufgenommen worden. Diese hatte ihn dann schlussendlich auch hierher geführt. Eine Diebesbande trieb seit geraumer Zeit ihr Unwesen, das Lager musste sich hier irgendwo in den Wäldern befinden. Nachdem ein gewisser Robin Hood mit seiner Gefolgschaft die Wälder um Nottingham im Norden unsicher machte, die Reichen bestahl, um die Beute angeblich an die Armen zu verteilen, war der Adel hier in Sorge darüber, dass ihnen dies nun ebenfalls widerfahren könnte. Daher kundschafteten die Krieger tagsüber die Gegend aus, nachts konnten sie sich die Zeit vertreiben wie sie wollten.
Skyla
war neidisch. Er lebte das Leben, das sie sich immer erträumt
hatte. Im Sattel die Welt erkunden, das Schwert schwingen, für
die Gerechtigkeit kämpfen. Andere Dörfer, Städte und
Menschen kennenlernen. Als sie noch jünger war, hatte sie sich
darüber geärgert, dass sie keine Adlige war, nicht reich
genug, um eine geschmiedete Waffe, geschweige denn ein Pferd zu
besitzen. Aber mittlerweile war ihr bewusst geworden, dass sie
wahrscheinlich doch das bessere Los gezogen hatte. Schließlich
war sie eine Frau. Selbst wenn sie aus adligem Hause gekommen wäre,
hätte sie vermutlich nicht reiten und kämpfen lernen
dürfen, und in die Welt hinausziehen schon gar nicht.
Onkel
Tony nahm sie oft mit auf den Markt, wenn sie wieder einmal Vorräte
besorgen mussten. Während er mit den Händlern feilschte,
beobachtete sie das bunte Treiben. Immer wieder zogen feine Damen in
teuren, seidenen Kleidern, umgeben von einem Schwarm Hofdamen und
Dienerinnen, die Stände entlang. Die meisten trugen die Nase
höher als ihre kostbaren Hüte und Skyla fragte sich
jedesmal aufs Neue, ob sie wohl auch so geworden wäre, wäre
sie eine von ihnen. Es schien ihr, als hätten in dieser Welt
allein die Männer das Recht auf Glück und Freiheit. Oder
zumindest auf das, was in ihren Augen „glücklich und frei
sein“ bedeutete.
Eines Abends unterhielt sie sich mit Tristan darüber. Er war ein aufmerksamer Zuhörer und, obwohl er ein so ganz anderes Leben führte als sie, schien er sie zu verstehen. Er versuchte immer, alles auch aus ihrer Sicht zu sehen und dafür war sie ihm unendlich dankbar. Denn Onkel Tony war ein schlichter Mensch, der sein einfaches, ruhiges Leben liebte, der Gang zum Markt war ihm Abenteuer genug. Tante Brenda war zwar das genaue Gegenteil, aber auch sie war glücklich mit ihrem Leben so wie es war. Ihr tägliches Abenteuer bestand darin, einen Haufen durstiger Männer, und immer wieder auch Frauen, davon abzuhalten, das Wirtshaus niederzubrennen, das Mobiliar kurz und klein, oder sich gegenseitig die Schädel einzuschlagen. Und in dieser Aufgabe ging sie völlig auf. Außer Tristan gab es daher niemanden, der sie verstand, mit dem sie so offen und ehrlich reden konnte. Zugegeben, es war etwas störend, dass Tante Brenda sie nie aus den Augen ließ, wenn sie beisammen saßen, aber das nahm sie in Kauf.
Auf Skylas Gedanken über Frauen und die ihnen verwehrten Freiheiten antwortete er lächelnd, dass der Natur da wohl ein Missgeschick unterlaufen sein musste, als er Skyla in einen weiblichen Körper steckte. Erst war sie beleidigt, weil sie in seinen Augen offenbar ein Fehler der Natur war, aber nach genauerer Überlegung stimmte sie ihm sogar zu. Was sie wiederum sehr verwunderte, denn etwas eitel war sie ja doch und von einem attraktiven, jungen Mann als Missgeschick bezeichnet zu werden, sollte sie eigentlich wütend machen. Doch sie konnte ihm nicht einmal böse sein deswegen. Überhaupt kam ihr die Verbindung zwischen ihnen immer eigenartiger vor. Sie war glücklich in seiner Nähe, fühlte sich verstanden und genoss die ernsthaften Gespräche genauso wie die Abende, an denen sie einfach nur herum alberten, anderen Gäste beobachteten oder sich Geschichten ausdachten.
Wieder einmal saß Tristan in seiner Ecke und wartete darauf, dass Skyla endlich von ihren Pflichten befreit wurde. Es war der Abend nach einem Markttag, daher waren die Besucher besonders zahlreich und durstig. An einem Tisch hatten sich 3 Männer niedergelassen, die Skyla nicht kannte. Sie waren, ihrem Aussehen nach zu urteilen, vermutlich Bauern aus einem der umliegenden Dörfer und wegen des Marktes in die Stadt gekommen. Für sie waren die Geschäfte offenbar mehr als nur gut gelaufen und sie tranken gewaltig über den Durst. Das Mädchen musste ihnen immer wieder nachschenken und bei jedem Mal wurden ihre Sprüche derber und ihre Stimmen lauter. Als nun Tante Brenda für einen Moment in den Keller verschwand, griff einer der Trunkenbolde Skyla ans Gesäß. Sie wich zurück und drohte ihm, doch die Männer lachten nur und meinten, sie solle sich nicht so anstellen, es mache ihr doch sicher genauso viel Spaß. Skyla spannte sich und sah sich hilfesuchend um. Der Kerl hatte nur darauf gewartet, dass die Wirtin für einen Moment verschwand, das Mädchen hatte so etwas schon oft erlebt. Normalerweise waren immer einige Stammgäste des Nine Yards da, die ihr in solch einer Situation zur Seite standen. Gerade als sie Sam und Pete an der Bar entdeckte, versuchte der grobschlächtige Kerl auch schon, sie auf seinen Schoß zu ziehen. Empört schrie sie auf und rammte ihm ihren Ellenbogen in den Magen. Keuchend ließ er sie los und im nächsten Moment lag er auch schon auf dem Boden. Blut schoss ihm aus der Nase und Tristans Schwertspitze schwebte nur wenige Millimeter über seiner Kehle.
„Rühr sie noch einmal an und du bist tot!“, presste dieser wutentbrannt hervor, „ Und jetzt schert euch zum Teufel, bevor mir noch aus Versehen das Schwert aus der Hand rutscht!“
Der Kerl rappelte sich auf und hob beschwichtigend die Hände. Auch seine beidem Kumpane erhoben sich schnell und machten Anstalten, die Flucht zu ergreifen.
„Halt!“, brüllte Tante Brenda, die inzwischen wieder aus dem Keller zurück gekommen war und die ganze Szene beobachtet hatte. „Erst wird bezahlt! Das kostet extra, dass wir uns verstehen!“
Murrend holten die Drei ihre Geldsäckel heraus und legten der Wirtin je eine Münze in die fordernd aufgehaltene Hand. Wartend blieb Tante Brenda stehen, während Tristan jeder ihrer Bewegungen mit der Schwertspitze verfolge. Murrend legte jeder noch eine Münze dazu und Brenda nickte zufrieden.
Geht doch. Und jetzt raus! Lasst euch hier nie wieder blicken!“ befahl sie und die Männer zogen kleinlaut ab.
Skyla nickte Tristan dankend zu und machte sich daran, den Tisch abzuräumen. Dieser ließ langsam sein Schwert sinken und nach kurzem Zögern nahm er wieder in seinem Winkel Platz. Dem Mädchen entging jedoch nicht, dass er sie mit einer Mischung aus Wut, Verwirrung aber auch Anerkennung musterte und sie fragte sich, was ihm wohl gerade durch den Kopf ging. Dabei kam ihr der Gedanke, dass sie kaum etwas über seinen üblichen Umgang wusste. Wahrscheinlich ging es in seinen Kreisen normalerweise nicht so zu. Er erzählte oft von seinem Onkel, bei dem er aufgewachsen war, und manchmal auch von seinen täglichen Streifzügen. Das war aber auch schon alles, was sie über sein Leben außerhalb der Taverne wusste. Sie fragte sich, ob er wohl schon jemandem versprochen war.
“Oder besser gesagt, versprochen worden war“, korrigierte sie sich in Gedanken. Dass sich Adlige ihre Ehepartner nur selten selbst aussuchen durften war ein weiterer Grund, weshalb Skyla froh war, keine solche zu sein. Ihr graute es bei dem Gedanken, einen wildfremden Mann heiraten, mit ihm ein Bett teilen zu müssen. Da nahm sie dann doch lieber ihr hartes Leben als Wirtstocher in Kauf.
Als sich das Gasthaus langsam leerte, wurde sie endlich von ihrer Arbeit befreit. Heute war es wegen des Markttages besonders spät geworden und sie wäre am liebsten gleich schlafen gegangen. Doch nachdem Tristan immer noch auf sie wartete, gesellte sie sich noch für einen Schlummertrunk zu ihm. „Tut mir leid, aber ich bin hundemüde. Es war echt ein anstrengender Tag heute…“, begann sie, als er sie eine ganze Weile mit gerunzelter Stirn angestarrt hatte, ohne etwas zu sagen. „Tut mir leid? Ein „anstrengender“ Tag? Skyla, diese Kerle…wenn ich nicht da gewesen wäre, wer weiß was sie mit dir gemacht hätten! Und du tust so, als wäre nichts passiert!“, fiel er ihr aufgebracht ins Wort. Verdutzt starrte sie ihn an. „Is ja auch nichts passiert. Sowas kommt nun einmal vor, wenn man als Frau in einer Taverne arbeitet. Wenn du mir nicht geholfen hättest, dann hätten es Sam und Pete, oder Torian, oder sonstwer…irgendwer ist immer da. Nicht, dass ich dir nicht dankbar wäre für deine Hilfe…“, entgegnete Skyla.
„Mir geht es nicht um Dankbarkeit, sondern um deine Sicherheit. Kommt nun einmal vor…was ist, wenn einmal niemand da ist, um dir zu helfen?“
„Keine Ahnung“, das Mädchen zuckte die Schultern, „Bis jetzt ging es ja immer gut“.
„Das gefällt mir gar nicht“, Tristan schüttelte missbilligend den Kopf. „Du solltest dich nicht in solch niederen Kreisen aufhalten, diese Leute sind einfach widerlich.“
„Soso, ich halte mich also in niederen Kreisen auf. Soll ich dir was verraten? Ich GEHÖRE zu diesen „niederen Kreisen“! Diese „widerlichen“ Leute sind mein Onkel und meine Tante! Ich bin einer dieser Leute!“, fährt sie ihn wütend an. „Mir gefällt meine Arbeit auch nicht immer. Und ich finde das Benehmen mancher Menschen, nachdem sie getrunken haben, auch widerlich. Aber was soll ich machen? Das ist mein zuhause und meine Familie, das sind meine Freunde! Du hast kein Recht, über sie zu urteilen!“
„Skyla…es tut mir leid…so habe ich das nicht gemeint“, stammelte ihr Freund sichtlich betroffen.
Dem Mädchen tat es fast schon wieder leid, dass es so heftig reagiert hatte. Doch die Wut war noch zu groß, und so schüttelte sie nur den Kopf, sprang auf und ließ ihn verwirrt am Tisch zurück.
Missmutig schnappte sich Skyla Bürste und Holzeimer und machte sich daran, die schon fast blinden, winzigen Fenster des Wirtshauses zu schrubben. Sie hasste diese Arbeit, heute noch viel mehr als sonst. Nachdem sie Tristan einfach sitzen gelassen hatte, war sie ins Bett gekrochen und hatte versucht zu schlafen. Doch sie war viel zu aufgebracht gewesen und hatte sich die halbe Nacht hin und her gewälzt. Sie wunderte sich selbst am allermeisten darüber, dass der Streit sie so aufgewühlt hatte. Nun war sie müde, hatte Kopfschmerzen und musste überdies noch mit schmutzigem Wasser noch schmutzigere Fenster putzen.
Wenigstens war kaum etwas los, die Säufer waren schon wieder fort und für die allabendlichen Trinker war es noch zu früh. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, musste es kurz nach Mittag sein.
Gerade als es ihr endlich gelungen war, das letzte Fenster wieder halbwegs durchsehbar zu machen, ging die Tür auf und Tristan trat ein. Er kam mit einer schuldbewussten Mine auf sie zu. Es war ihr ein kleiner Trost, dass scheinbar auch er nicht all zu gut schlafen hatte können. Trotzdem war sie noch nicht bereit, ihm zu vergeben.
„Geh nur, mein Kind. Wir kommen schon eine Weile zurecht“, rief mir Onkel Tony vom Tresen aus zu. „Sieh nur zu, dass du vor dem Abendansturm wieder da bist.“
Skyla blickte ihn verwundert an.
„Ich sehe doch, dass ihr beide was zu klären habt. Und in der Stimmung verscheuchst du uns höchstens die Kundschaft“, fügte er lachend hinzu.
Skyla nickte ihm dankbar zu und verließ mit dem Krieger die Taverne.
Kühle Luft schlug ihnen entgegen, als sie auf die Straße hinaustraten, und vertrieb ein wenig Skylas Müdigkeit. Die Sonne hatte sich heute noch nicht sehen lassen und die grauen Wolken passten zu ihrer Stimmung. Um ihren schmerzenden Rücken zu entspannen, ging sie langsam die Straße hinab, den Blick finster zu Boden gerichtet und die Arme vor der Brust verschränkt.
„Ach, jetzt komm schon! Ich hab mich entschuldigt und du weißt doch selbst, dass ich das gestern Abend nicht so gemeint habe“, rief Tristan ihr nach und schloss mit schnellen Schritten zu ihr auf.
„Aja…warum hast du es dann gesagt?“
„Weil ich einfach so wütend war! Weil ich es einfach nicht in Ordnung finde!“ brauste er auf. Er machte eine kurze Pause und fügte schließlich leiser hinzu: „Weil ich nicht will, dass du dich mit solchen Leuten herumschlagen musst. Ich will nicht, dass dir etwas passiert…“
Skyla seufzte. Irgendwie war es ja rührend, dass er sie beschützen wollte, doch er war nicht ihr Vater. Es war nicht seine Aufgabe, auf sie aufzupassen, als wäre sie ein wehrloses, kleines Mädchen. Plötzlich kam ihr ein unschöner Gedanke: „Was wäre, wenn er aus Eifersucht so heftig reagierte? Konnte es sein, dass er mehr als nur freundschaftliche Gefühle für sie hegte?“ Doch schon im nächsten Moment tat sie diese abwegige Idee wieder ab. Schließlich war er ein Krieger der königlichen Garde und sie eine einfache Bürgerin, eine Liaison wäre in diesem Fall ganz und gar undenkbar. Zudem hegte sie selbst keinerlei Gefühle dieser Art für ihn.
Dennoch blieb sie stehen und blickte ihn forschend an.
„ Du empfindest doch nichts für mich, oder? Ich meine, wir sind NUR Freunde!“
Entgeistert sah er sie an. „Nein. Ich meine, ja…wir sind nur Freunde. Wie kommst du darauf?“
„Naja…Sam und Pete sind auch meine Freunde. Sie kennen mich seit ich ein kleines Kind gewesen bin. Sie haben mir schon oft aus solch einer misslichen Lage geholfen, dennoch haben sie nie so reagiert wie du. Für unsereiner gehört so etwas nun einmal zur Tagesordnung und das macht mir bewusst, dass wir aus ganz verschiedenen Welten stammen. Daher will mir kein anderer Grund einfallen, warum du dich mit mir abgibst.“
Inzwischen waren sie an der Stadtmauer angekommen. Die Burg stand auf der Spitze eines großen Hügels, der auf der Süd- und Westseite steil abfiel. In nördlicher Richtung war die Steigung nur gering und im Laufe der Jahre hatten sich die Hütten und Häuser , die anfangs nur vereinzelt außerhalb der Burgmauern gebaut wurden, vermehrt und schließlich war eine durchaus ansehnliche Stadt daraus entstanden. Diesen Umstand konnte man vermutlich ihrer Lage zuschreiben, denn ganz in der Nähe verlief eine der wichtigsten Handelsstraßen Englands. Daher war der riesige Marktplatz auf das Zentrum. Das Wirtshaus lag etwas abseits in einer Seitengasse, gerade weit genug weg, damit es nicht zu hektisch zuging, aber nahe genug, um vom Großteil der Handelsreisenden gesehen zu werden.
Tristan starrte nachdenklich auf die gewaltige Steinmauer, die sich vor ihnen in beide Richtungen erstreckte. Plötzlich schien er einen Einfall zu haben.
„Warst du schon einmal am Burggelände?“, fragte er das Mädchen.
Nein, das war Skyla tatsächlich noch nie.
„Gut, dann werde ich dir etwas zeigen. Komm mit!“
Sie kehrten um und gingen denselben Weg wieder zurück und weiter den sanft ansteigenden Hügel hinauf.
„Weißt du, ich glaube du hast ein vollkommen falsches Bild von mir“, erläuterte er nachdenklich. „Ich bin nicht arm, das stimmt. Ich habe eine glänzende Rüstung und einen teuren Umhang, sogar ein eigenes Pferd. Es ist mir ein sehr treuer Begleiter. Aber ich bin kein Adliger, sondern ein Krieger. Mein Onkel, der mich, wie du ja weißt, aufgezogen hat, hat immer auf eine gute Erziehung wert gelegt und dazu gehört auch das Benehmen bei Hofe. Als Hauptmann der königlichen Garde hat er immer wieder mit den reichsten und angesehensten Männern, und natürlich auch Frauen, des ganzen Landes zu tun. Daher mache ich auf dich vielleicht den Eindruck, ich wäre ein Edelmann. Aber im Grunde bin ich nur ein ganz normaler, langweiliger Mensch, genau wie du.“
Skyla sah ihn gespielt trotzig an. „Ah, langweilig bin ich jetzt also auch noch!“
Tristan knirschte mit den Zähnen und Skyla stieß ihm lachend in die Seite. „Du weißt mit Frauen umzugehen, muss ich schon sagen.
Am Burgtor angekommen öffnete ihnen ein freundlicher, älterer Mann, den Tristan mit dem Namen Anthony begrüßte, eine kleine Tür. Sie traten hindurch und standen im Vorhof der Burg. Entlang der Innenseite der gewaltigen Mauer befanden sich einige Handwerksgebäude, in denen reges Treiben herrschte. In der Mitte des relativ großen Hofes standen rund um einen kleinen Platz mit Feuerstelle zahlreiche, weiße Zelte. Auf Skylas fragenden Blick hin, ging Tristan zu einem der Zelte und schlug die Plane zurück. Er machte eine einladende Geste und Skyla trat geduckt in den winzigen Raum. Auf einer Seite war ein dürftiges Lager aus Stroh und Fellen errichtet worden, auf der anderen lagen einige schlichte Kleidungsstücke und ein Rucksack, aus dem ein kleines, ledernes Buch ragte. Es sah genauso aus wie jenes, dass Skyla von ihrer Mutter geerbt hatte.
„Hier hause ich. Überaus edel, nicht wahr?“, lachte der blonde Krieger.
Verblüfft drehte sich das Mädchen zu ihm um, soweit das in dem engen Raum möglich war. Es war tatsächlich nicht das, was sie erwartet hatte. Bisher hatte sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht, wie, oder vielmehr wo Ritter und Krieger eigentlich lebten. Dass sie nicht mit einem ganzen Hofstaat reisten, war einleuchtend, aber sie hätte doch zumindest vermutet, dass sie in einem Raum oder Saal in der Burg untergebracht würden, wo sie zumindest von festen Steinmauern umgeben wären und richtige Betten hätten. Tristan hatte recht, scheinbar hatte sie tatsächlich ein vollkommen falsches Bild von ihm.
Sie traten wieder ins Freie und setzten sich auf dicke Holzpflöcke, die rund um die erloschene Feuerstelle aufgestellt waren.
„Du hast recht. Ich habe mir aufgrund der edlen Damen und Herren, die ich auf dem Markt immer beobachte, ein Bild von deren Leben gemacht. Und wegen deines feinen Äußeren habe ich das wohl auf dich übertragen“, musste das Mädchen gestehen.
„Das war meine Vermutung. Aber nun kennst du ja die Wahrheit.“
„Stimmt“, entgegnete Skyla und nach kurzem Zögern erkundigte sie sich: „Ich hab ein Buch in deinem Rucksack liegen gesehen. Verzeih mir meine Offenheit, aber ich dachte nicht, dass ein Krieger die Muse hat, zu lesen.“
„Du denkst so einiges Falsches von mir“, lachte er. „Ich muss allerdings zugeben, ich lese wirklich nicht viel. Ich habe nur dieses eine Buch, es ist ein Familienerbstück. Aber wieso fragst du? Kannst du denn lesen?“
Das Mädchen nickte langsam. Es war nicht immer gut, als Frau lesen zu können. Viele Männer mochten es nicht, wenn eine Frau gebildeter war als sie selbst. Aber Tristan gehörte sicher nicht zu jener Sorte. „Ja, aber ich habe auch nur ein einziges Buch. Ich habe es von meiner Mutter geerbt. Es ist wahrscheinlich albern, ich weiß, aber ich stelle mir gerne vor, dass sie es selbst geschrieben hat. Dass es ihre Geschichte ist, die darin erzählt wird.“
„Das finde ich nicht albern“, Tristan schüttelte ernst den Kopf. „Wovon handelt sie?“
„Von einer jungen Frau, die in einem kleinen Fischerdorf an der Küste lebt, wo genau wird nicht erwähnt. Sie hat liebevolle Eltern und lebt ein glückliches Leben. Der Sohn eines betuchten Bauern aus einem Nachbardorf ist ihr versprochen und sie blickt in eine hoffnungsvolle Zukunft mit dem Menschen, den sie liebt. Doch eines Tages verlässt sie ihre Heimat Hals über Kopf, ohne einen Grund zu nennen. Allein mit ihrem Pferd Ceara, das von nun an ihr treuester Freund und Begleiter ist, reist sie von Ort zu Ort. Sie bietet überall bereitwillig ihre Dienste als Heilerin und Kräuterkundige an und wird meist auch willkommen geheißen. Wenn sie für längere Zeit in einem Dorf bleibt, erzählt sie von dessen Einwohnern, beschreibt die Unterschiede zu anderen, ihr bekannten Stämmen. Sie erwähnt verschiedene Gottheiten, Feste und Rituale und scheint fasziniert von deren Vielfalt zu sein. Dennoch verweilt sie nie lange an einem Ort, denn sie wird von etwas oder jemandem gejagt, das sie nur als „Áed“ bezeichnet. Auf der letzten Seite des Buches schreibt sie schließlich, dass sie eine Möglichkeit gefunden hat, die großen Wasser zu überqueren. Sie sieht voller Hoffnung in ein neues Leben, ohne Flucht und Verfolgung.“
Skyla kannte keinen einzigen der zahlreichen Orte, die in dem Buch benannt wurden, wohl aber die Götter und Feste, wenngleich sie auch nicht genauer darüber Bescheid wusste. Ihr war der Gedanke gekommen, dass die Frau keltischer Abstammung sein könnte und von Irland gekommen war. Sie hoffte wohl, Áed durch die Überfahrt abschütteln zu können. Das Mädchen fragte sich, ob ihr das jemals gelungen war.
Als sie geendet hatte, sah sie Tristan besorgt an. Denn sie wusste nicht, ob er sie vielleicht auslachte, weil sie sich Hoffnungen machte, dass ihre Mutter noch leben könnte. Doch er sah sie nur lange mit einem seltsamen, mitfühlenden Blick an und das Mädchen fragte sich, was er wohl dachte. Sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass mehr als nur Mitgefühl dahinter steckte. Doch immerhin nahm er sie ernst und machte sich nicht über sie lustig oder versuchte, mit einem trockenen Kommentar ihre Träume und Hoffnungen zu zerstören, wie es Tante Brenda vor langer Zeit gemacht hatte, als Skyla mit ihr darüber sprach.
Allerdings schien er zu einem ähnlichen Schluss gekommen zu sein, denn schließlich meinte er schmunzelnd: „Es ist wirklich ein schöner Gedanke, dass dies das Tagebuch deiner Mutter sein könnte. Die irische Abstammung würde zumindest erklären, warum du so anders bist als alle anderen Mädchen, die ich kenne.“
„Warum klingt das aus deinem Munde nur so, als wäre es etwas Schlechtes? Wenn ich mir so manche Dirne anschaue, bin ich froh, nicht so zu sein, wie eine junge Frau in diesem Lande scheinbar zu sein hat!“
Tristan stimmte ihr lachend zu, doch dann sah er sie wieder ernst und mit nachdenklichem Blick an. „Skyla, ich glaube, ich sollte dir auch etwas erzählen…“
Während er noch nach den richtigen Worten suchte, sprang sie plötzlich auf und rief entsetzt: „Oh nein! Ich habe die Zeit vergessen! Onkel Tony wird bestimmt schon auf mich warten. Verzeiht mir, aber ich muss zurück!“
Schon lief sie zum Burgtor, dass ihr Anthony rasch öffnete, und den Hügel hinab. Das Wirtshaus war bereits gut besetzt als sie ankam. Ihr Onkel nickte ihr knapp zu, verzichtete aber auf Schelte und sie begann schuldbewusst mit der Arbeit. Ihr blonder Freund ließ sich an diesem Abend nicht mehr sehen.
Und wieder schrillt der Wecker an meinem Ohr. Und wieder fahre ich erschrocken in die Höhe. Gerade war ich noch in einem muffigen, düsteren Wirtshaus und jetzt sitze ich in einem weichen Bett und von der Bettdecke aus starrt mich Darth Vader bedrohlich an. Ich habe den Geschmack billigen Weins im Mund, dabei habe ich seit Ewigkeiten keinen Alkohol mehr getrunken. Verwirrt schlurfe ich ins Bad, um ihn mit Zahnpasta zu bekämpfen. Langsam gehen mir diese seltsamen Träume auf die Nerven. Aber immerhin sind die Kopfschmerzen nicht mehr ganz so schlimm und nach der morgendlichen Katzenwäsche fühle ich mich sogar fast frisch. Auf der Fahrt zur Uni gehe ich noch einmal meinen Terminkalender durch. Heute und Morgen heißt es noch büffeln, übermorgen ist dann Shoppen für den Ball angesagt. Langsam werde ich doch nervös, Jennys Aufregung scheint offenbar ziemlich ansteckend zu sein. „Oh Gott, ich werde mit Dave zum Ball gehen!“, schießt es mir durch den Kopf. Mir fällt unser Gespräch von gestern wieder ein und die Panik in Daves Stimme, als ich angedeutet habe, dass ich vielleicht krank werde. Er hat sicher genug Mädels auf der Reservebank, deshalb verstehe ich sie nicht so ganz. Warum ist es ihm so wichtig, mit mir hin zu gehen? Hätte er tatsächlich Interesse an mir, so hätte er es mir einfach gesagt. Er ist nun einmal ein ehrlicher und direkter Typ, der sagt was er denkt. Es passt nicht zu ihm, mich aus heiterem Himmel zum Ball einzuladen, um mir dann bei einem romantischen Tanz, eng umschlungen, seine Gefühle zu gestehen…
„Na, was ist denn mit dir passiert?“, Jennys belustigte Stimme lässt meine Fantasien zerplatzen wie eine Seifenblase. Offenbar steht mir der Inhalt meines Tagtraumes deutlich ins Gesicht geschrieben. „Nichts, was euch etwas anginge“, antworte ich mit einem Zwinkern und die beiden grinsen verstehend. Um nicht mehr von meinen Gedanken preisgeben zu müssen, erkundige ich mich bei Kate nach dem Gerücht, und ob sie etwas in Erfahrung bringen konnte. Leider weiß aber auch Rick angeblich nichts davon. Naja, eigentlich kann es mir ja egal sein. Hauptsache, Dave lässt mich nicht hängen.
Vormittags haben wir praktische Übungen und die Zeit vergeht wie im Fluge. Nachmittags muss ich noch Lernen für die Klausur am nächsten Tag, doch auch dieser geht schlussendlich vorüber. Ich gehe früh ins Bett und wieder träume ich von diesem seltsamen Mann mit den langen, blonden Haaren, dem düsteren Wirtshaus, in dem es nach billigem Wein riecht und von einem glatzköpfigen, singenden Onkel. „Aha, der ist neu“, denke ich, als ich während des Zähneputzens den Traum Revue passieren lasse. Wie auch die letzten beiden Male kann ich mich nicht daran erinnern, was gesprochen wurde. Doch die einzelnen Gesichter sehe ich klar und deutlich vor mir und die Stimme des blonden Mannes scheint direkt in meinem Kopf widerzuhallen. Auch in der kommenden Nacht tauchen wieder dieselben Menschen in meinem Traum auf.
Doch heute habe ich keine Zeit, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, denn ich muss ein Ballkleid finden. Ein Ballkleid, das den hohen Erwartungen eines David Bloom gerecht wird. Und das auch noch, wenn ich es trage. Seufzend schwinge ich mich aus dem Bett. Das ist wohl eine „Mission Impossible“, ich bin einfach nicht der Kleidertyp. Sportlich und schlank ja, aber elegant und feminin ganz und gar nicht. Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen, warum habe ich nur ja gesagt? Panisch blickt mich mein Spiegelbild an, als ich mir die langen, für meinen Geschmack viel zu dünnen, Haare aus dem Gesicht kämme. „Keine Panik!“, befehle ich mir selbst, „es ist nur ein Ball und Dave ist auch nur ein Mensch, ein Mann wie jeder andere auch.“ Die Selbstmotivation trägt leider nicht all zu viele Früchte und so mache ich mich auf zur Uni, darauf hoffend, dass Jenny und Kate Wunder wirken und tatsächlich ein Kleid auftreiben können, in dem ich nicht ganz so maskulin aussehe.
„Schau nicht schon wieder so verzweifelt, Sandra“, Jenny klopft mir aufmunternd auf die Schulter, während wir im Auto Richtung Innenstadt fahren. Wir finden schon was Passendes für dich. Ich wette du bist ein Sandra Bullock- Typ, mit dem richtigen Outfit und ein bisschen Feinschliff machen wir dich zur Miss Uniball. Du wirst schon sehen.“
Entsetzt sehe ich sie an, Kate kann sich hinter dem Steuer das Lachen kaum verkneifen. „Siehst du, bei so einem komischen Scherz muss selbst Kate lachen. Hör bloß auf mit den Witzen, sonst fährt sie noch an!“, schimpfe ich.
„Quatsch, ich fahr doch nirgends an!“, verteidigt sich diese. „Außerdem sind wir eh gleich da“.
Im Einkaufszentrum angekommen, starten wir gleich in die erstbeste Boutique, die leider kaum Kleider anzubieten hat und in den wenigen sehe ich samt und sonders grässlich aus. Da stimmt mir schlussendlich sogar Jenny zu. In der nächsten haben wir schon mehr Glück, die Auswahl ist riesig. Nach kurzer Zeit fühle ich mich wie das Opfer einer schlechten Modenschau. Wieder einmal beneide ich Kate, sie ist so klein und zierlich, dass ihr einfach alles steht. Schon das zweite Kleid sitzt wie angegossen und das dunkle Blau passt perfekt zu ihren kurzen, blonden Haaren. „Wow! Kate, du wirst Rick sowas von umhauen am Samstag!“, schwärme ich begeistert. „Ich will deine Figur haben, nur für den einen Abend. Damit ich Dave gerecht werden kann“, füge ich, schon eher neidisch als begeistert, hinzu.
„Wem willst du gerecht werden? Dave? Wer ist das, der mysteriöse Fremde, mit dem du angeblich zum Ball gehst?“, ertönt eine belustigte Stimme hinter mir und ich erstarre. Jenny und Kate grinsen breit und ich spüre, wie ich rot anlaufe. „Ok, nicht umdrehen! Vielleicht geht er ja wieder weg. Nein, Blödsinn! Das wär unhöflich und dann wär er beleidigt und würd nicht mehr mit mir zum Ball gehen wollen. Aber wenn er sieht, wie ich mit knallrotem Gesicht aussehe, will er das sicher auch nicht mehr. Panik!“, die Gedanken sausen wie wild in meinem Kopf umher. Ich atme tief durch und entscheide mich schließlich doch fürs Umdrehen. Dave grinst mich über beide Ohren an und in seinen Augen blitzt es schelmisch. „H-h-hallo, Dave“, stottere ich schließlich. „Was machst du denn hier?“.
„Vermutlich dasselbe wie du, ich kann ja wohl kaum nackt auf den Ball gehen. Da würde ich dir sicherlich nicht gerecht werden“, erläutert er zwinkernd. „Du siehst übrigens noch viel hübscher aus, wenn du nicht so blass bist. Das Rot steht dir gut“, fügt er amüsiert hinzu.
Ich starre ihn nur an und bringe kein Wort mehr heraus. Am liebsten wäre ich auf der Stelle im Erdboden versunken. Jenny rettet zum Glück die Situation, indem sie ihn kurzerhand aus dem Laden scheucht. Schließlich bringt es Unglück, wenn Mann Frau vor dem Ball sieht.
Nachdem mich Jenny und Kate einigermaßen getröstet haben und ich nicht mehr ganz so rot im Gesicht bin, ziehen wir weiter und finden im nächsten Laden tatsächlich etwas, dass mich annähernd elegant aussehen lässt und auch Jenny findet schließlich doch noch ihr Traumkleid, dass sie mir neulich im Park so malerisch beschrieben hat. Zufrieden machen wir uns auf den Heimweg. Naja, so zufrieden wie man nach so einer Blamage eben sein kann.
In der Nacht vor dem Ball kann ich vor Aufregung kaum schlafen, was den Vorteil hat, dass dieser lästige Traum, der mir seit Tagen, oder besser gesagt Nächten, im Kopf herum spukt, nicht ganz so viele Kopfschmerzen bescheren hat können wie die letzten Male. Dennoch kann ich vor Nervosität kaum etwas anfangen mit mir. Endlich ist es Nachmittag und Jenny und Kate kommen mit einer Tasche voller Schmink- und Stylingzeug angerückt. Scheinbar besitze ich ihrer Meinung nach keine allzu große Auswahl an solchen Dingen. Für mich reichen Kajal, Wimperntusche und Puder vollkommen, doch wer schön sein will muss leiden. So kommt es mir zumindest die nächsten 2 Stunden vor, in denen ich Kämmen, Anmalen, Pudern, Haare auf und wieder zu machen und dann doch hochstecken über mich ergehen lassen muss. Doch irgendwann sind wir dann doch endlich alle fertig. Jenny sieht in ihrem knallgelben, knielangen Kleid und ihren feuerroten Haaren aus wie eine strahlende Sonnenblume und Kate ist bezaubernd wie immer. Eine Disneyprinzessin, nur nicht ganz so rosa und nicht ganz so kitschig. Und wenn ich mich im Spiegel so ansehe, muss ich zugeben, dass Jenny tatsächlich nicht zu viel versprochen hat. Wie Miss Undercover sehe ich zwar bei weitem nicht aus, aber für eine graue Maus wie mich lässt sich das Ergebnis durchaus sehen. Ich hoffe nur, Dave ist derselben Meinung. Oh Gott, Dave…ich hätte nicht an ihn denken sollen. In weniger als einer Stunde muss ich ihm so gegenübertreten, hoffentlich ist das Makeup dick genug, um meine roten Wangen zu tarnen. Denn rot werde ich sicher werden…
Ein lautes Ding Dong holt mich aus meinen Gedanken, Rick ist da. Nachdem er Kate entsprechend begrüßt und mit durchaus verdienten Komplimenten überschüttet hat, klettern wir alle in sein Auto. Wobei sich das mit diesen unsportlichen, einer Mordwaffe ähnelnden Schuhen als relativ schwierig erweist. Irgendwie schaffen wir es aber doch und 15 Minuten später sind wir an unserem Ziel angelangt. Dave und Jennys Freund Tim warten schon wie abgemacht vor dem Eingang. Toll, jetzt fange ich auch noch an zu schwitzen. Als ob mein rotes Gesicht nicht schon schlimm genug wäre. Jenny drückt meine Hand und flüstert mir zu: „Wenn es dich beruhigt, ich bin genauso aufgeregt wie du. Mindestens. Wahrscheinlich sogar noch mehr!“
„Warum? Tim ist doch dein Freund. Du weißt, dass er dich umwerfend findet, selbst morgens nach dem Aufstehen. Mit Hexenfrisur und Mundgeruch“.
„Mach mir jetzt meine Beruhigungstaktik nicht kaputt mit deinen logischen Kommentaren! Und danke für die Komplimente. Tz.“
Dave sieht wie immer perfekt aus. Im Anzug sogar noch perfekter als sonst, so unmöglich mir das bis jetzt auch erschienen sein mag.
„Wow! Sandra, du sieht wunderschön aus“, begrüßt er mich und ich merke, wie mir das Blut in die Wangen schießt, wieder einmal. Ich werfe ihm einen skeptischen Blick zu, doch seine Augen strahlen. Fast bin ich geneigt, zu denken, dass er wirklich Interesse an mir hat, so ehrlich schien mir sein Kompliment gemeint.
„Danke, du auch“, entgegne ich mit einiger Verspätung, wische meine Zweifel unter den sprichwörtlichen Tisch und strahle zurück.
Im Saal herrscht schon reges Treiben. Die Jungs erweisen sich als Gentleman und machen sich auf die Suche nach etwas Trinkbarem für uns. Jenny hüpft wie immer aufgeregt auf und ab, während Kate, auch wie immer, gelassen daneben steht. Und ich habe weiche Knie. Ich könnte weder hüpfen, noch gelassen aussehen. Warum bin ich Esel nur immer so nervös? Wir sehen uns doch fast jede Woche, lernen und lachen miteinander. Es ist lächerlich, wegen einer einzigen Verabredung so durchzudrehen. Während ich noch damit beschäftigt bin, mir Gedanken über meinen Mangel an Selbstkontrolle zu machen, kehren unsere Männer auch schon wieder zurück. Immerhin haben sie für jeden ein Glas Wein ergattert.
Wie umwerfend Dave doch aussieht, in seinem schwarzen Anzug. Ich glaube, bis jetzt hab ich ihn noch nie so schick gesehen. Obwohl, auf die Kleidung zu achten, fällt bei seinem perfekt symmetrischen Gesicht mit den himmelblauen Augen und den lockigen, schwarzen Haaren auch wirklich sehr schwer.
„Danke!“, entgegne ich mit einer ganz furchtbar klingenden, viel zu hohen Stimme. Warum höre ich mich so piepsig an? Ich bin doch keine Maus. Schnell trinke ich einen Schluck, hoffentlich ist die falsche Tonlage seinen Ohren entgangen. Kurz darauf starre ich erstaunt auf das leere Glas in meinen Händen. Blöderweise bin ich nicht die einzige, die sich fragt, wo der Wein abgeblieben ist. Eine Minute späte weiß ich es, so ein Mist. Das war eigentlich nicht geplant. Jessica sieht mich mit leuchtenden Augen an, als ob sie nur darauf wartet, dass ich in Daves Armen versinke. Der dagegen zeigt belustigt seine überaus charmanten Lachgrübchen, die mir bis jetzt, muss ich gestehen, noch nie aufgefallen sind.
„Willst du tanzen?“
Nur langsam dringt die Bedeutung seiner Worte in meine Gedanken vor. Oh Gott, hat er mich gerade tatsächlich zum Tanzen aufgefordert? Natürlich will ich! Aber ich kann nicht, konnte ich noch nie und mit diesen Schuhen wäre das glatter Selbstmord. Im übertragenen Sinne, versteht sich.
Durch meinen inneren Zwiespalt abgelenkt, vergesse ich ganz, ihm eine Antwort zu geben, bis Jessica schließlich aufgeregt mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum fuchtelt. „Sandra, Darling! Geht’s dir gut?“
Ich nicke, eigentlich als Antwort auf die Frage meiner besten Freundin, aber nachdem mein Blick sich einfach nicht von Daves himmelblauen Augen lösen will, missversteht er die Geste wohl und nimmt mich bei der Hand. Er führt mich auf die Tanzfläche, wo bereits eine beträchtliche Anzahl Paare übers Parkett wirbeln und ich durchkrame fieberhaft mein Gedächtnis nach den Erinnerungen an den letzten Tanzkurs. Was könnte das nur für ein Rhythmus sein? Walzer? Nein zu schnell…Foxtrott? Passt der Takt nicht! Boogy? Das könnte hinkommen. Fehlen nur noch die Schritte dazu. Wo in meinem löchrigen Nudelsiebhirn hab ich die denn wieder gespeichert? Egal, ich warte einfach ab, was Dave macht und schau was dann passiert. Sein Tanzkurs ist offenbar noch nicht ganz so lange her, denn seine Füße scheinen wie von selbst zu wissen, was sie zu tun haben. Ich stehe nur da und sehe ihn entgeistert an.
„Dave, schau mal auf meine Füße. Ist dir heute schon mal aufgefallen, was für Schuhe ich anhabe? Damit kann ich nicht wie eine Wilde herumwirbeln, da muss jeder einzelne Schritt wohlbedacht sein!“ Ha! Ein grandioser Einfall, mich auf meine hochhackigen Schuhe hinauszureden, um meine Ahnungslosigkeit was das Tanzen betrifft, zu überspielen. Meine Euphorie hält allerdings nicht lange an, denn kaum gesagt, ist das Lied auch schon zu Ende und während er noch damit beschäftigt ist, die Höhe meiner Absätze zu schätzen, beginnt der nächste Song. Ein langsamer Walzer, sofern mich mein nicht all zu ausgeprägtes Rhythmusgefühl nicht täuscht, mit dem passenden Titel „Could I have this dance for the rest of my life“. Immerhin einer meiner Lieblingssänger, Iren sind nun einmal die besten Musiker. Trotzdem kann ich in dem Moment nicht behaupten, er spräche mir mit dem Songtitel aus der Seele. Unsicher starre ich auf meine Füße und grüble, mit welchem Fuß der weibliche Part beginnt. Natürlich erwische ich den falschen.
„Autsch“, entfährt es Dave. Entschuldigend hebe ich nun doch den Blick, nur um in seinen strahlenden Augen zu versinken. Verdammt, wie kann man nur so verführerische Augen haben? Hat er seine Hand auf meiner Hüfte? Natürlich, wir tanzen. Wo sollte er sie auch sonst haben? Ich spüre seine Hände glühend heiß durch den dünnen Stoff meines Kleides. Er muss Fieber haben, bei den Temperaturen. Oder hab ich Fieber und fantasiere? Eiskalt läuft es mir den Rücken hinunter, als er mich sanft näher zieht. Nein, ich träume nicht. Wir stehen immer noch mitten auf der Tanzfläche und rühren uns nicht von der Stelle. Ich wäre auch gar nicht fähig gewesen, mich zu bewegen, denn meine Knie sind weich wie Pudding. Nur wenige Zentimeter trennen unsere Körper voneinander und mir kommt es vor, als würde mein Herz doppelt so laut pochen, wie der Bass der Musik, der aus den riesigen Lautsprechern dröhnt. Das muss er doch hören, er lacht sicher innerlich vor Schadenfreude über meine dämlichen Gefühle. Doch er sieht mich nur an, mit einem unergründlichen Ausdruck im Gesicht. Hoffnungsvoll, verträumt, verliebt? Verliebt…und so süß…liegen plötzlich seine Lippen auf meinen, im selben Moment in dem der letzte Ton des Songs erklingt. Ich wünschte, der Tanz würde nie enden. Welch Ironie…
Seufzend lösen wir uns schließlich doch voneinander. Unsicher schaue ich ihn an, doch er lächelt glücklich. Das nächste Lied, wieder etwas ziemlich Flottes, beginnt und wir flüchten Arm in Arm von der Tanzfläche, um von einer aufgeregt kreischenden Jenny in Empfang genommen zu werden. Mir ist noch immer siedend heiß und ich spüre die dunkle Röte in meinem Gesicht. In Ermangelung einer besseren Ausrede behaupte ich also, auf die Toilette zu müssen und flüchte nach draußen. Ich brauche jetzt erst einmal etwas frische Luft, vielleicht hilft sie ja, den Kopf frei zu bekommen.
Vor dem Eingang tummeln sich eine Menge überhitzte oder rauchende Ballbesucher und ich laufe ein Stück die Straße hinauf, an den parkenden Autos vorbei. Ich bin Nichtraucherin und kann den Geruch von Zigaretten nicht ausstehen. Doch nach ein paar Schritten bleibe ich wie angewurzelt stehen. In einiger Entfernung steht ein Mann, doch es ist nicht irgendeiner. Das ist der Kerl aus meinem Traum, ohne jeden Zweifel. Genau die gleichen langen Haare, die gleichen blauen Augen und das gleiche bartlose Gesicht. Nur die Kleidung stimmt nicht, dieser Mann trägt einen modischen, schwarzen Anzug. Das bilde ich mir sicher nur ein.
Ich schließe die Augen und sofort taucht das Bild des blonden, mittelalterlich gekleideten Kriegers vor meinem geistigen Auge auf. Eigentlich habe ich erwartet, dass der Kerl verschwunden ist, wenn ich die Augen wieder aufschlage, doch im Gegenteil. Er steht tatsächlich vor mir, in voller Lebensgröße. Mir entfährt ein erschrockenes „Huch!“ und ich taumle eine Schritt zurück.
„Hallo“, sagt er freundlich lächelnd.
Oh Gott, das Trugbild kann sogar reden, ich muss wirklich komplett verrückt sein. „Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich bin Jared“, stellt er sich vor. Ich starre ihn nur entgeistert an und bringe kein Wort heraus.
„Skyla, ist was passiert? Du bist ja leichenblass, belästigt dich der Typ etwa? Oh, wow…“, Jennys Stimme holt mich aus meiner Erstarrung und ich blicke sie irritiert an.
„Was? Nein, äh…hallo…“, stottere ich. Der Mann, Jared, wie ich jetzt weiß, sieht uns verwundert an und entgegnet entschuldigend, dass er mir nicht zu nahe treten wollte. Eigentlich hätte er sich nur vorgestellt, ihm war nicht bewusst, dass er so bedrohlich wirke. Jenny kichert und langsam finde ich die Sprache wieder.
„Nein, du wirkst nicht bedrohlich. Du erinnerst mich nur an jemanden, das hat mich im ersten Moment verwirrt. Entschuldige!“, bringe ich schließlich mit halbwegs fester Stimme heraus. Eine Gruppe leicht angetrunkener, junger Männer läuft grölend und lachend an uns vorbei und Jared ist für einen Moment abgelenkt.
„Jenny, das ist der Typ aus meinem Traum!“, flüstere ich meiner Freundin so leise und unauffällig wie möglich zu.
„Echt? Das ist dein „Traummann“?“, entgegnet sie aufgeregt und leider eine Spur zu laut. Jared lacht laut auf und erwidert: „Naja, als Traummann würde ich mich nicht gerade bezeichnen, aber ich gebe zu, da steckt schon einiges an Arbeit dahinter.“ Er klopft sich selbstzufrieden auf den Bauch und setzt dabei eine so stolze Mine auf, dass ich trotz meiner blamablen Lage lachen muss. Und das, obwohl ich wieder einmal die Schamesröte in meinen Wangen aufsteigen spüre.
„Nein, du bist nicht mein Traummann…also schon…aber…also, eher wortwörtlich. Ich meine...“, wieder einmal stammle ich verlegen herum. Ach Gott, warum nur kann ich nicht so wortgewandt sein wie Jenny? Sie weiß immer genau was sie sagen muss, um ihrem Gegenüber zu imponieren.
„Also, ich bin Jenny und das da ist meine Freundin Sandra“, stellt sie uns selbstsicher wie immer vor und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: „Und nein, sie ist nicht verrückt, sie hat nur schon ein wenig zu viel getrunken“.
„Danke, Jenny! Das war jetzt sehr hilfreich!“, ich rolle übertrieben mit den Augen.
„Gern geschehen“, zwinkert sie mir zu. „Und weißt du, wer noch zu viel getrunken hat? Dein frischgebackener Freund Dave.“
Verwirrt schaue ich sie an. „Wieso Dave? Der hatte doch noch gar nichts getrunken, als ich raus bin.“
„Die Betonung liegt auf hatte! Mensch, ihr küsst euch auf der Tanzfläche ganz romantisch und bei der nächsten Gelegenheit haust du ab. Das macht man doch nicht!“
„Mir war heiß…“
Das glaub ich dir aufs Wort. Aber du solltest trotzdem lieber wieder reinkommen, anstatt hier mit wildfremden Kerlen zu flirten, auch wenn sie noch so gut aussehen“ Jennys missbilligender Blick wandert von mir zu Jared, der unser Gespräch belustigt verfolgt hat und nun eine entschuldigende Mine aufsetzt.
„Tut mir leid, ich wollte dir nicht zu nahe treten. Du hast nur so blass um die Nase ausgesehen, dass ich sichergehen wollte, ob mit dir alles in Ordnung ist.“
Ich und blass um die Nase? Schön wär’s…oder zumindest besser, als immer gleich knallrot zu werden. Doch Jenny hat recht, ich sollte zu meinem richtigen Traummann zurück.
„Alles OK bei mir, danke. Aber ich muss gehen“
Meine Freundin zerrt mich bereits Richtung Eingang und lässt mir keine Gelegenheit, weiter über die verblüffende Ähnlichkeit des jungen Mannes und meiner Traumgestalt nachzugrübeln. Denn kaum betreten wir den Saal, kommen uns Kate und die Jungs entgegen. Bei Daves Anblick habe ich sofort wieder Schmetterlinge im Bauch. Er legt einem Arm um mich und plappert irgendwas von Mathematik daher. Oje, er hat wirklich ganz schön Durst gehabt, während ich draußen war. Dabei können das doch nicht mehr als 10 Minuten gewesen sein. Egal, er hält mich in seinen Armen. Betrunken oder nicht, von mir aus können wir die ganze Nacht so stehen bleiben.
Am nächsten Tag wurde Skyla schon im Morgengrauen von ihrem Onkel geweckt. Es war Markttag und sie sollte ihn begleiten. Als die Sonne aufging, standen die beiden bereits mit ihren Waren am Stadtplatz und beobachteten, wie sich dieser langsam füllte. Schon bald drängten sich die Menschen vor den Ständen und sie hatten alle Hände voll zu tun. Nach Mittag wurde der Andrang weniger und Tony schickte das Mädchen los, um bei den anderen Ständen nach einem etwas erlesenerem Wein zu suchen, Tristan hatte ja bei seinem ersten Besuch den letzten Rest des edlen Fasses bekommen. Eben dieser kam ihr auch kurz darauf entgegen geschlendert und begrüßte sie fröhlich. Als er ihr anbot, ihr bei ihrer Aufgabe behilflich zu sein, nahm sie dankend an. Schließlich hatte er mehr Erfahrung, was den Geschmack guten Weines betraf. Das Mädchen trank nur selten Alkohol. Wenn sie krank war gab ihr Tante Brenda heißen Rum, angeblich sollte der helfen. Sie konnte das bis jetzt aber noch nie bestätigen. Sie mochte den Geschmack nicht und sauren Wein noch weniger. Daher kam ihr Tristans Angebot sehr gelegen, ersparte es ihr doch das Kosten. Überdies war er eine angenehme Gesellschaft. Er machte sich einen Spaß daraus, seiner geringen Begeisterung über die mangelnde Qualität des Weines mit komischen Grimmassen Ausdruck zu verleihen. Skyla musste immer wieder ein Grinsen unterdrücken und sich beim Standbesitzer für Tristans unsittliches Verhalten entschuldigen.
Übertrieben genervt stieß sie ihn in die Seite und schimpfte: „Hör auf damit! Die werden sonst alle böse auf meinen Onkel und wollen womöglich nicht mehr mit ihm handeln, wenn du dich so unhöflich benimmst“.
„Ich mache doch gar nichts! Du wolltest, dass ich dir dabei helfe, einen guten Wein zu finden und genau das tu ich. Bis jetzt war eben noch kein guter Schluck dabei“, verteidigt er sich achselzuckend. Plänkelnd ziehen die zwei weiter, bis sie schließlich doch noch fündig werden. Tristan schulterte das mittelgroße Fass, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass Skyla ohne ihn verloren wäre, und gemeinsam machen sie sich auf den Rückweg.
Onkel Tony war zufrieden mit ihrer Ausbeute und versprach, Skyla heute früher aus seinen Diensten zu entlassen, wenn Tristan ihm beim Heimtragen der Ware helfe. Skyla wehrte ab, Onkel Tony könne schließlich keinen ehrenhaften Krieger als Packesel missbrauchen, doch dieser war gerne bereit auszuhelfen. Nachdem alle Waren in Keller und Küche des Wirtshauses verstaut waren, dankte Onkel Tony ihnen und erlaubte, dass sie noch ein wenig durch die Stadt zogen. Tante Brenda warf ihnen einen missbilligenden Blick zu, hielt sie aber nicht auf. Das Mädchen war hocherfreut über die spontan gewonnenen Stunden mit Tristan, obwohl sie sich doch etwas darüber wunderte. Onkel Tony war ein gutmütiger Kerl, der ihr viel gönnte, aber ihrer strengen Tante sah dies gar nicht ähnlich. Sie wollte sich aber nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen und so schlenderten sie fröhlich durch die Straßen, beobachteten das regen Treiben, die vielen, verschiedenen Waren und die unterschiedlichen Menschen. Nach einer Weile schlug Tristan eine andere Richtung ein und meinte: „Ich habe genug von dem Menschengewühl und dem Geschrei, lass uns vor die Stadt gehen. Ich kenne eine ruhige Stelle in der Nähe des Waldes, die will ich dir zeigen“.
„Na, da bin ich gespannt“ stimmte Skyla zu und schon bald lagen die staubigen Straßen der Stadt hinter ihnen. Vor ihnen breiteten sich sanft hügelige Wiesen aus und zu ihrer Linken lag ein dichter Wald, auf den sie nun zusteuerten.
Skyla mochte die Sonne und genoss die warmen Strahlen auf ihrer Haut. Sie kam leider nicht all zu oft aus der Stadt hinaus, obwohl sie die Wiesen und die Natur viel mehr liebte als den Staub und den kalten Stein der Straßen. Früher hatte sie sich gelegentlich nachts mit dem einen oder anderen Verehrer hinaus geschlichen. Die meisten waren Söhne von Stammgästen gewesen, etwa in ihrem Alter, kräftig und gutaussehend, aber nicht all zu hell im Kopf. Neugierig und abenteuerlustig wie sie war, hatte sie sich einige Male darauf eingelassen. Dann hatte sie allerdings einmal eine falsche Wahl getroffen und ein Kerl hatte sie gegen ihren Willen bedrängt. Nachdem er sturzbetrunken gewesen war, hatte sie sich schnell befreien und fliehen können. Auch wenn sie ihn nie wieder sah, so war sie doch vorsichtig geworden und ließ sich nicht mehr so schnell auf jemanden ein. Zudem arbeitete sie in letzter Zeit viel mehr und war ohnehin zu müde für nächtliche Abenteuer.
Der Wald zog sich einen kleinen Hügel hinauf und auf halber Höhe entsprang diesem, inmitten einer kleinen Lichtung, ein Bächlein. Die Sonnenstrahlen fielen durch die Blätter und glitzerten auf dem Wasser, das plätschernd über die Steine lief. Die beiden setzten sich an den Rand und hielten die nackten Füße hinein. Skyla lehnte sich an einen großen Felsen, schloss die Augen und lauschte dem Gesang der Vögel.
Ein Rascheln ließ sie aufschrecken. Sie blinzelte in die untergehende Sonne und hörte Tristans belustigte Stimme hinter ihr: „Na du kannst ja vielleicht schnarchen!“
„Was? Ich schnarche doch nicht!“, verteidigte sich das Mädchen verschlafen und gähnte.
„Und wie. Du hast sogar einen Hasen verscheucht, der hier vorbei gehoppelt kam. Schade, er hätte ein gutes Nachtmahl abgegeben.“
„Vielleicht war‘s ja auch das Knurren deines gefräßigen Magens, das ihn vertrieben hat.“, entgegnete sie beleidigt.
„Das kann natürlich auch sein“, lacht Tristan, „aber die Sonne geht schon unter, wir sollten zurückgehen. Sonst bekomme ich noch Ärger mit deiner liebreizenden Tante“.
„Nein. Es ist so schön hier, so ruhig…lass uns noch hierbleiben. Ich nehm die Schuld auf mich, falls sie Ärger macht, versprochen“.
Tristan zögerte kurz, nickte dann aber und setzte sich wieder neben dem Mädchen ins Gras.
„Gut, dann erzähl mir etwas von dir!“ forderte er sie auf.
Skyla überlegte, was er noch nicht über sie wusste. Eigentlich gab es nichts zu erzählen, ihr Leben war bisher kaum abwechslungsreich gewesen. Die Gedanken über ihre Mutter hatte sie ihm ja bereits mitgeteilt und sie war froh und dankbar gewesen, dass er zugehört hatte. Er konnte sie wahrscheinlich verstehen, weil er selbst nichts über seine Eltern wusste.
"Du hast mir von deiner Mutter erzählt, doch was ist mit deinem Vater? Weißt du irgendetwas über ihn?" Tristan schien gerade dasselbe gedacht zu haben.
"Nein, gar nichts. Meine Zieheltern sagten, sie wüssten nicht, wer er war. Meine Mutter wäre eines Tages hochschwanger in der Taverne erschienen. Sie hatten sie natürlich aufgenommen, aber über den Vater des Kindes hätte sie eisern geschwiegen. Bei meiner Geburt soll sie dann gestorben sein."
Tristan nickte und sah sie mit einem seltsamen, mitfühlenden Blick an. Das Mädchen fragte sich, was er wohl dachte und konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass mehr als nur Verständnis und Mitgefühl dahinter steckte.
„Wir sollten jetzt wirklich zurückgehen“, stellte er nur fest und stand auf. Inzwischen war tatsächlich die Sonne untergegangen und es war bereits fast dunkel im Wald.
„Wir sollten jetzt wirklich zurückgehen“, stellte er nur fest und stand auf. Inzwischen war tatsächlich die Sonne untergegangen und es war bereits fast dunkel im Wald. Skyla folgte ihm durch das Dickicht und kurz darauf traten sie auf die offene Wiese hinaus. In der Ferne konnten sie im Mondschein die Stadtmauer erkennen, doch der Himmel darüber war ungewöhnlich hell erleuchtet und es stiegen dichte Rauchwolken auf. „Oh nein, das sieht aus als würde es brennen!“ rief Tristan und eilig rannten sie auf die Stadt zu. ‚In kürzester Zeit hatten sie die Tore erreicht. Sie waren bereits verschlossen, doch der Nachtwächter öffnete ihnen widerstandslos, da Tristans roter Umhang ihn als Mitglied der Garde zu erkennen gab. Während sie durch die engen Gassen der Stadt rannten, wurden die Schreie der Menschen immer lauter und der Geruch von brennendem Holz stieg ihnen in die Nase. Skyla schwante Übles, denn sie liefen direkt in Richtung des Wirtshauses. Als sie den Marktplatz erreichten, konnten sie bereits die zahllosen Männer sehen, die hektisch Holzeimer am Brunnen mit Wasser füllten und weiterreichten, um den Brand zu löschen. Ein Blick um die nächste Ecke bot Gewissheit, ihr Zuhause stand in hellen Flammen. Skyla schrie entsetzt auf und rannte darauf zu. Verzweifelt versuchte sie, im Rauch und den aufgeregt hin und her eilenden Menschen, Onkel und Tante zu finden. Kurz bevor sie das Gebäude erreichte, fingen Sam und Pete sie ab und hielten sie fest. Flammen züngelten aus Fenstern und Türe und selbst hier, einige Meter davon entfernt, brannte die Hitze bereits auf der Haut. „Onkel Tony! Tante Brenda!“ kreischte das Mädchen wie von Sinnen und versuchte, sich zu befreien. „Skyla! Hör auf! Du kannst da nicht mehr rein, du kannst ihnen nicht mehr helfen! Skyla!“, riefen die beiden, doch sie wollte ihre Worte nicht hören. „Nein! Nein, das kann nicht sein!“ kreisten die Gedanken in ihrem Kopf und durch den Schleier aus Tränen und Rauch bekam sie kaum noch mit, dass Sam und Pete sie an Tristan übergaben, um wieder beim Löschen helfen zu können. Sie tobte und trat und schlug wie wild um sich, bei dem Versuch sich aus seinem Griff zu befreien, doch er hielt sie eisern fest. Schließlich gab sie den Kampf auf und verfiel in Apathie. Tristan brachte sie in sein Zelt, und bettete sie auf sein dürftiges Lager. Teilnahmslos lies sie alles über sich ergehen, ohne sich weiter zu wehren. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander, das Entsetzen lähmte sie und ihr Verstand weigerte sich, die Ereignisse zu akzeptieren. Tristan redete sanft auf sie ein, doch seine Worte drangen nicht zu ihr durch. Irgendwann wurde die Welt um sie herum langsam dunkel und sie schlief ein. Alpträume plagten sie, wieder und wieder hörte sie die entsetzten Schreie der Menschen und das Prasseln der Flammen, hatte den beißenden Geruch des Rauchs in der Nase und sah ihre Zeiheltern brennend in der Tür des Gasthauses stehen. Sie versuchte, zu ihnen zu gelangen, doch so schnell sie auch rannte, sie kam ihnen nicht näher. Dann explodierten die Flammen und Skyla fuhr mit einem Schrei in die Höhe. Schwitzend saß sie auf Tristans Lager und schnappte nach Luft. Dieser war sofort an ihrer Seite und legte beruhigend den Arm um sie.
„Skyla, hier. Trink etwas, dann geht es dir besser.“ Sie nippte von der Schale mit Wasser, die er ihr hinhielt, woraufhin zumindest das Kratzen im Hals besser wurde. Trotzdem war sie noch immer nicht im Stande zu sprechen. Sie nahm wahr, wie ihr Freund verschwand und kurze Zeit später mit einem vollen Eimer wieder kam. „Hier, wasch dich erst einmal, das kalte Wasser wird dir guttun. Kann ich dich solange alleine lassen?“, fragte er besorgt, während er ihn neben ihr abstellte. Das Mädchen nickte nur schwach und er verließ das Zelt. Sie starrte auf die Stelle, an der er gerade noch gestanden hatte, dann auf den Kübel. Langsam ordneten sich die Gedanken in ihrem Kopf und sie begriff, was Traum und was Realität gewesen war. Müde hob sie die Hände und wusch sich das Gesicht. Das kalte Wasser holte sie endgültig aus ihrer Erstarrung in die Gegenwart zurück. Sie wollte nicht wahrhaben, was passiert war, aber es zu leugnen hatte auch keinen Zweck. „Vielleicht waren sie gar nicht mehr im Wirtshaus, vielleicht konnten sie rechtzeitig ins Freie fliehen“, kam ihr in den Sinn und mit ihm ein Hoffnungsschimmer. Dieser wurde aber gleich wieder zunichte gemacht, als ihr Sams Worte einfielen: „Du kannst ihnen nicht mehr helfen!“ der Satz echote in ihrem schmerzenden Kopf. Es gab keine Hoffnung, sie waren fort und sie war allein.
Nachdem sie sich vom ärgsten Ruß befreit hatte, stand sie taumelnd auf und trat vor das Zelt. Die Sonne stand hoch am Himmel, sie musste lange geschlafen haben. Der Zeltplatz war fast menschenleer, die Krieger waren vermutlich auf Erkundungstour in den umliegenden Wäldern unterwegs. Tristan kam gerade mit Brot und einer Schüssel Suppe zurück und verlangte, dass sie etwas davon aß. Ihr war schlecht und auch ihr Appetit hielt sich in Grenzen, doch nachdem er nicht locker ließ, beugte sie sich seinem Willen und setzte sich mit dem Essen auf einen Holzpflock. Sie war zu müde und kraftlos, um sich mit ihm zu streiten. Tristan nahm neben ihr Platz und während sie lustlos auf einem Stück Brot herum kaute, stellte sie fest, dass auch er mitgenommen aussah. Er war blass und hatte dunkle Schatten unter den Augen. Wahrscheinlich hatte er in der Nacht noch beim Löschen des Feuers geholfen. Doch sie sah auch wieder diese Traurigkeit in seinen Augen, die sie sich nicht erklären konnte. Schließlich hatte er die beiden Verstorbenen kaum gekannt.
„Wie geht es dir?“ fragte er nach einer Weile zögernd.
Skyla blickte ihn müde an und schüttelte nur stumm den Kopf. Sie wusste ehrlich gesagt keine Antwort darauf.
„Nicht gut“, brachte sie dann doch heraus. Ihre Stimme war nur ein Krächzen und ihr Hals brannte. „Ich weiß nicht was passiert ist. Ich habe es gesehen, aber ich kann es nicht begreifen. Sie sind weg. Ich habe nichts und niemanden mehr, nicht einmal mehr ein Zuhause“.
Ihr versagte die Stimme und Tristan legte beruhigend einen Arm um ihre Schultern.
Nach einer Weile durchbrach er die Stille: „Ich war vorhin dort und habe mich umgesehen. Ich weiß selbst nicht so genau, was ich gesucht habe, aber ich habe tatsächlich etwas gefunden“.
Er zog ein kleines, verkohltes Etwas aus seinem Gürtel und hielt es dem Mädchen hin.
„Mein Buch“, wunderte es sich und schlug vorsichtig die ersten Seiten auf. Der Großteil war verkohlt, man konnte nur noch vereinzelte Wörter erkennen, aber der Ledereinband hatte es vor dem kompletten Zerfall geschützt.
„Ich weiß, es ist nicht viel, aber immerhin etwas. Die Steinmauern des Gebäudes stehen noch, sonst ist kaum etwas übrig. Das Grundstück und die Vorräte im Keller gehören dir. Du bist also nicht ganz mittellos“.
Beim Gedanken an das Gasthaus tauchte das grässliche Bild ihres Albtraumes wieder vor ihrem inneren Auge auf. „Ich will es nicht sehen. Ich will weg von hier, ich ertrage den Anblick der Ruine nicht“. Sklya schüttelte vehement den Kopf und schloss die Augen.
„Und wo willst du hin?“, Tristans Frage war berechtigt. Sie hatte keine Verwandten mehr und ihre Freunde waren alle in der Stadt zuhause. Sie kannte einige Bauern aus den umliegenden Dörfern vom Markt. Vielleicht konnte ja einer davon eine Magd gebrauchen, obwohl sie dazu vermutlich nicht all zu gut taugte. Die harte Arbeit im Stall und am Feld war wohl kaum vergleichbar mit ihrem Arbeitsalltag als Ausschankhilfe.
„Ich weiß es nicht“. Sie zuckte ratlos mit den Schultern.
Eine Weile saßen sie schweigend da und starrten düster auf den Boden.
„Skyla, hör mir zu. Es stimmt nicht, dass du niemanden mehr hast.“ Der Krieger rückte ein Stück von ihr ab und sah ihr ernst in die Augen. „Du hast mich, und ich werde dir helfen. Ich werde mit dir gehen, wohin auch immer, und ich werde dir auch erklären wieso“, begann er und Skyla runzelte die Stirn. Für eine Liebeserklärung war jetzt kaum der richtige Zeitpunkt und ein anderer Grund wollte ihr nicht einfallen.
„Es ist...eine lange Geschichte“, fuhr er fort. „Ich habe dir doch erzählt, dass ich mit einem Trupp der Garde die Wälder hier nach einer Diebesbande durchforste. Das stimmt, aber es gibt auch noch einen weiteren Grund weshalb ich ausgerechnet hier in dieser Stadt bin und warum ich ausgerechnet in euer Wirtshaus kam. Du weißt ja, dass ich bei meinem Onkel aufgewachsen bin und ich habe behauptet, ich hätte meine Eltern nie kennengelernt. Das stimmt nicht ganz...ich habe bis zu meinem 5. Lebensjahr bei ihnen gelebt. Mein Vater besitzt eine kleine Burg an der Nordküste, seine Ländereien sind überschaubar und die Gefolgschaft nicht all zu groß. Zudem liegt sie sehr abgelegen in einem der unwirtlichsten Teile des Landes, daher ist sie auch kaum bekannt. Meine Mutter ist eine Reisende gewesen, die, seit Jahren auf der Flucht, bei ihm Unterschlupf gesucht hat. Sie hat wunderschön ausgesehen und er hat sich auf Anhieb in sie verliebt. Daher hat er ihn ihr gewährt und ein Jahr später bin ich geboren worden. Sie sind gute Eltern gewesen, die mich geliebt haben und ich sie. Doch eines Abends, mein Vater ist noch auf einem Streifzug durch die Lande gewesen, haben meine Mutter und ich Hals über Kopf die Burg verlassen. Wir sind nächtelang geritten, zumindest ist es mir damals so erschienen, und haben uns tagsüber in den Wäldern versteckt. Den Grund dafür habe ich nie erfahren, doch mir ist nicht entgangen, dass sie panische Angst gehabt hat. Schlussendlich sind wir in die Stadt gekommen, in der mein Onkel zuhause ist und in seiner Obhut hat sie mich dann auch zurück gelassen. Seitdem habe ich sie nie wieder gesehen. Ich habe natürlich Fragen gestellt, je älter ich wurde, desto mehr wollte ich über meine Eltern erfahren. Doch erst als ich 20 Jahre alt geworden bin, hat mir mein Onkel zum ersten Mal brauchbare Informationen gegeben, nämlich das Tagebuch meiner Mutter. Sie hat es ihm gegeben, bevor sie weiter geritten ist, und ihn gebeten, es sicher für mich zu verwahren, bis ich alt genug sei, um mit dem Wissen darin umzugehen.“
Tristan machte eine Pause während sich in Skylas Kopf die Gedanken überschlugen. Schon als er erwähnte, dass seine Mutter auf der Flucht gewesen war, als sie die kleine Burg fand, fühlte sie sich an ihr eigenes Büchlein erinnert, dass sie noch immer fest umklammert hielt. Aber selbst wenn die Verfasserin tatsächlich Tristans Mutter gewesen war, erklärte das nicht, wie es in ihren Besitz kam.
Endlich setzte Tristan seine Erzählung fort: „Nun, sie schrieb, wie glücklich sie gewesen war, endlich eine sichere Unterkunft gefunden zu haben. Wie sehr sie mich, meinen Vater und das ruhige, abgeschiedene Leben geliebt hatte. Sie beschrieb die Gegend um die Burg, erzählte von den umliegenden Dörfern und wie gern sie die Menschen dort hatte. Doch sie verlor kein Wort über ihr Leben davor, über die Menschen die sie gejagt hatten. Auch erwähnte sie nicht, warum sie uns verlassen hatte und wohin sie vorhatte zu gehen. Ihre Erzählung bricht an dem Zeitpunkt ab, an dem sie Vater verlassen hatte. Doch auf den letzten Seiten zeichnete sie eine grobe Karte, mit einer Wegbeschreibung und der Erklärung, dass diese mich zu meinem Vater führen würde. Natürlich zog ich sofort los, um den markierten Ort zu finden und nach einer langen Reise war ich schließlich auch erfolgreich. Mein Vater war überglücklich, mich wieder zu sehen. Er erzählte mir, dass meine Mutter ihm nur eine schlichte Nachricht hinterlassen hatte, in der sie beteuerte, wie sehr sie ihn liebte, sie aber leider keine andere Wahl hätte, als ihn zu verlassen. Er sollte nicht nach ihr und den Kindern suchen, so wäre es das Beste für alle.“
Bei diesen Worten hob Skyla ruckartig den Kopf. „Den Kindern?“, fragte sie aufgeregt.
„Ja, den Kindern. Mein Vater hielt es erst für einen Fehler, der durch die Eile entstanden war, forschte aber nach und erfuhr dann von einer der Kammerzofen, Mutters Freundin und Vertrauten, dass sie zum Zeitpunkt der Flucht schwanger gewesen war.“
Langsam fügte sich das Bild in ihrem Kopf Stück für Stück zusammen. Natürlich, die Ähnlichkeit, die ihr gleich aufgefallen war, als sie Tristan zum ersten Mal gesehen hatte. Die freundschaftliche und offene Art zwischen ihnen, dass er immer verständnisvoll war und ihr immer zuhörte. Welcher Mann machte so etwas schon freiwillig? Sie hätte es eigentlich gleich merken müssen.
Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen. „Du bist mein Bruder!“
Tristan nickte. „So ist es, kleine Schwester.“ Er lächelte sie unsicher an, ihrer Reaktion auf diese Neuigkeit ungewiss.
Sie selbst wusste es genauso wenig. Sie spürte Freude in sich aufsteigen, Aufregung, weil sie einen neuen Blutsverwandten gewonnen hatte. Erleichterung, weil doch nicht allein auf dieser Welt war. Neugier, weil sie nun die Chance sah, mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren, über ihre Eltern, ihren Vater. Er lebte, sie konnte ihn kennenlernen.
All diese Gefühle tobten in ihr und sie wusste nicht, wie sie ihnen Ausdruck verleihen sollte. Sie hatte eine Familie! Der Gedanke brachte sie auf den Boden der Tatsachen zurück, Schuldgefühle stiegen in ihr auf. Sie hatte gerade ihre Zieheltern verloren, wie konnte sie da Gefühle wie Glück hegen? Sie schluchzte laut auf und endlich rollten ihr die Tränen über die Wangen, die sie bisher nicht hatte weinen können.
31
Der Regen trommelt laut an das Fenster der Straßenbahn und ich schließe müde die Augen. Es ist noch früh am Tag, das Abteil ist fast leer, und außer dem gelegentlichen Rascheln einer Zeitung und dem monotonen Prasseln der Tropfen auf der Scheibe ist nichts zu hören. Doch allein das klingt in meinen Ohren schon wie ein Trommelwirbel. Mein Kopf dröhnt und ich spüre ein Kratzen im Hals. Heute Nacht habe ich von Feuer geträumt, von Rauch, Asche und panischen Schreien. Als ich am Morgen schweißgebadet aufgewacht bin, musste ich husten und keuchen, als wäre ich tatsächlich dabei gewesen. Eigentlich sollte ich zuhause bleiben, ich glaube, die Grippe hat mich nun endgültig erwischt. Aber ich habe so ein unbestimmtes Gefühl, als ob ich irgendwo anders sein müsste. Ich weiß nicht wo, nur nicht daheim. Daher nehme ich gleich die erste Bahn und vermeide so den Wirbel und das Gedränge der 8:05 Uhr-Bahn. Es ist eindeutig eine gute Entscheidung gewesen, den Lärm der zahllosen schwatzenden Studenten hätte ich jetzt nicht ertragen. An der Universitäts-Haltestelle angekommen, trete ich erleichtert ins Freie. Auch wenn ich Regen normalerweise nicht mag, heute kommen mir die kühlen Tropfen auf der Haut angenehm vor und die frische Luft lässt mich leichter atmen. Ich trotte langsam durch den Park auf das Hörsaalgebäude zu, bleibe aber dann am Teich stehen. Im Freien fühlt sich mein Kopf leichter an und ich beobachte eine Weile die Enten, die friedlich im Wasser herum paddeln. Gedankenversunken starre ich vor mich hin, als mir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter klopft. Ich zucke zusammen und lasse vor lauter Schreck fast meine Tasche fallen. „Hallo, Sandra“, begrüßt mich Jared. Das war doch sein Name, oder? Ich versuche, mich zu erinnern, beschließe dann aber sicherheitshalber den Namen wegzulassen. „Hallo“, antworte ich mit einiger Verspätung. „Was machst du denn hier?“„Arbeiten. Und du studieren, nehm ich an?“„Ja…“Arbeiten? Wie ein Professor sieht er eigentlich nicht aus. Außerdem ist er viel zu jung dafür. Vielleicht ist es nur eine Ausrede und er ist ein irrer Stalker, schießt es mir durch den Kopf. Unsinn, ich bin wieder einmal paranoid. Warum sollte mich jemand stalken wollen?„Ich habe allerdings auch gehofft, dich wieder zu treffen. Ich muss dir etwas erzählen. Darf ich dich auf einen Kaffee einladen?“Stirnrunzelnd stimme ich nach einem Blick auf die Uhr zu. Es ist noch etwas Zeit bis die ersten Vorlesungen beginnen, und eine andere Ausrede will mir auf die Schnelle nicht einfallen. „Was studierst du denn?“, fragt Jared schließlich neugierig, während wir eine Tasse schwarzes Gold schlürfen. „Informatik…ich weiß, du denkst jetzt, ich wär ein Freak. Ich bin es gewohnt.“ „Keine Sorge, ich mag Freaks. Ich bin ja selbst einer“, lacht er. „Ich bin Tutor und korrigiere die Arbeiten der Informatikstudenten, wahrscheinlich auch deine“Skeptisch schaue ich ihn an und frage mich, ob das wohl gut oder schlecht für mich ist. Kommt wahrscheinlich darauf an, warum er mit mir reden will.„Du wolltest mir etwas erzählen.“, erinnere ich ihn.„Stimmt. Kannst du dich noch an die Bemerkung deiner Freundin am Ball erinnern? Sie hat gesagt, ich wär dein Traummann und du hast gemeint, das wäre wortwörtlich zu nehmen. Natürlich konnte ich mich daran erinnern, peinliche Erlebnisse vergesse ich nie. Leider. Ich nicke und er erklärt mir, dass er nun verstünde was gemeint war. Nicht das Wortspiel, das hätte er natürlich gleich verstanden, aber er hätte in der darauffolgenden Nacht geträumt. Und diese Nacht wieder. Und zwar von mir. „Du hast von mir geträumt? Was denn?“, frage ich irritiert. „Beim ersten Mal sind wir in so einer mittelalterlichen Spelunke gesessen und haben Wein aus Holzbechern geschlürft. Grauenhaften Wein wohlgemerkt. Ich habe mir den ganzen Vormittag eingebildet, ich hätte noch immer den Geschmack davon im Mund. Und heute Nacht hat es gebrannt und du bist völlig ausgetickt.“ Ungläubig starre ich ihn an. Das kann nicht sein. Will er sich über mich lustig machen? Weil ich so seltsames Zeug träume? Weil ich von IHM träume? Nein, das kann nicht sein. Ich habe ja heute bisher mit niemandem darüber geredet, also kann er gar nicht Bescheid wissen. Aber wieso haben wir dann dieselben Träume, wo wir uns doch kaum kennen?„Schau mich nicht so entsetzt an, ich kann ja nichts dafür, dass du in meinen Träumen rumspukst. Es war auch nichts Versautes dabei, ehrlich!“, verteidigt er sich lachend.Ich klappe den Mund wieder zu, der mir vor Schreck offen stehen geblieben ist und schüttle den Kopf. „Nein, das habe ich auch nicht gedacht. Es ist nur…es war das Wirtshaus aus dem vorigen Traum, das gebrannt hat, stimmt‘s? Und ich wollte reinlaufen und jemanden aus den Flammen retten…und du hast mich davon abgehalten.“Jetzt ist es an Jared, mich ungläubig anzustarren. „Woher weißt du das?“ „Ich habe dasselbe geträumt.“
Eine Zeit lang sitzen wir uns nur stumm gegenüber und grübeln darüber nach, was das zu bedeuten haben könnte. „Also…ich weiß nicht wie es dir, aber ich will das das wieder aufhört. Ich habe jedesmal irrsinnige Kopfschmerzen und bin hundemüde, wenn ich am Morgen aufwache“, erläutere ich schließlich mit müder Stimme.„Versteh ich, so schlimm war’s bei mir bis jetzt nicht. Aber ich finde es echt unheimlich und will wissen, was es damit auf sich hat. Wir könnten uns später in der Bibliothek treffen und versuchen etwas darüber herauszufinden, wenn du nach den Vorlesungen noch Zeit hast“, schlug Jared vor.Ich nicke zustimmend, doch beim Blick auf die Uhr muss ich entsetzt feststellen, dass ich total die Zeit übersehen habe. Ich sollte schon längst im Hörsaal sein. Während ich mein Geld heraus krame, um zu bezahlen, verabreden wir uns für 16:00 Uhr. Ich verabschiede mich und lege einen Sprint quer über den Campus hin, nur um dann doch noch zu spät zur Vorlesung zu kommen. Zwei Stunden später reicht mir die nette Dame in der Cafeteria gerade meinen Latte Macchiato zum Mitnehmen, als aus meiner Tasche die Melodie meines italienischen Lieblingsklempners Mario ertönt. Mein Handy. Eine offene Geldbörse in der einen und einen heißen Kaffee in der anderen Hand, ist das ein denkbar schlechter Zeitpunkt. Nachdem Jenny mir zumindest meine verführerisch duftende Fracht abgenommen hat, wühle ich nach meinem Handy, das natürlich wieder einmal ganz unten im letzten Winkel liegen muss. In letzter Sekunde drücke ich auf „Annehmen“ und murmle ein leicht genervtes „Hallo?“.„Sandra?“, meldet sich eine tiefe Männerstimme. Oh, Mist. Es ist Dave. Wir sind noch nicht einmal richtig zusammen und ich zicke ihn schon an, wie eine alte Ehefrau. „Dave! Entschuldige, ich wollte dich nicht an maulen. Bist du schon da?“Wir haben uns seit dem Ball nicht gesehen, aber Unmengen an SMS geschrieben. Er ist einfach so süß. Er wäre mir in meinen Träumen viel lieber gewesen. Eigentlich sind wir gleich zum Lernen verabredet. Warum ruft er mich denn an, wenn wir uns doch gleich sehen?„Nein. Tut mir leid, ich bin krank. Schon seit heute morgen, ich hab versucht, mich auf den Beinen zu halten. Aber ich glaube, ich habe Fieber. Ich bin unterwegs nach Hause. Tut mir wirklich total leid“Oh…ok. Dann gute Besserung.“ Ich hoffe, meiner Stimme ist die Enttäuschung nicht all zu deutlich herauszuhören. „Bleib im Bett und brav Tee trinken!“„Mach ich, danke. Wir holen das Treffen nach, sobald es mir besser geht“, versprach er. Mist, das ist gar kein gutes Zeichen. Ob er wirklich krank ist? Vielleicht ist es ja nur eine Ausrede, damit er mich nicht sehen muss. Vielleicht bereut er, was auf dem Ball zwischen uns vorgefallen ist und geht mir aus dem Weg, um es mir nicht sagen zu müssen. Vielleicht…„Sandra, du träumst schon wieder!“ Jenny hält mir den braunen Pappbecher vor die Nase und mustert mich mit einem besorgten Blick. „Das war Dave. Er ist angeblich krank und schon zuhause…“„Oh, schade. Dabei hast du dich doch so gefreut…aber mach dir keine Sorgen. Er wird sicher bald wieder fit sein. Glaub mir, er ist total vernarrt in dich, er lässt dich nicht hängen!“, versucht sie, mich aufzumuntern.Deshalb war Jenny meine beste Freundin. Sie kann fast immer an meinem Gesicht ablesen, was ich denke. Das erspart mir viel gefühlsduseliges Gerede, wofür ich ihr unendlich dankbar bin.Ohne unseren Mentor ist es ziemlich hoffnungslos, etwas lernen zu wollen. Mathematik mag ich ja durchaus gern, nur mit Logik hat der Inhalt dieser Übung meiner Meinung nach nicht viel zu tun. Daher finde ich die Kursbezeichnung „Mathematik und Logik“ ziemlich irritierend. Und Jenny hat damit sowieso nichts am Hut. Seufzend klappen wir die Bücher nach einer erfolglosen halben Stunde wieder zu. Während sich meine Freundin über die gewonnene Freizeit mit ihrem Schatz freut, bin ich deprimiert. „Ach, tut mir leid. Ich wollte dich nicht nochmal dran erinnern. Sollen wir noch etwas gemeinsam machen?“, bietet sie mir an, als sie meinen Gesichtsausdruck sieht.„Nein, danke. Passt schon, ich muss sowieso noch in die Bibliothek.“ Dass ich mich dort mit Jared treffe, verschweige ich sicherheitshalber. Sie würde es mir womöglich noch ausreden wollen und ich habe keine Lust, mit ihr darüber zu diskutieren.
Nachdem ich noch etwas Zeit habe, bis meine Verabredung auftauchen wird, suche ich mir einen freien Schreibtisch mit Steckdose für meinen Laptop und fange derweil an, im Internet nachzuforschen. Wie erwartet liefert mir der Begriff „gleicher Traum 2 Menschen“ hunderte von Ergebnissen, die meisten führen nur zu wenig seriösen Foren oder Blogs, einige zu Inhaltsangaben von Fantasie-Romanen. Also nichts was mir weiterhelfen würde. Schließlich stoße ich doch auf einige Legenden, die aber alle gemeinsam haben, dass eine Person immer wieder denselben Traum hat. In einer davon wird zwar erwähnt, dass es möglich sei, dass 2 Menschen vom selben Traum heimgesucht werden, jedoch nur, wenn diese Personen miteinander verwandt sind. Jared und ich sind das definitiv nicht, also konnte ich das auch ausschließen. Resigniert klappe ich den Laptop zu und mache mich ganz altmodisch auf die Suche nach Literatur zum angreifen.
Planlos irre ich durch die endlosen Reihen von Bücherregalen, die bis an die Decke reichen. Die Bibliothek hat drei Stockwerke, und jedes einzelne davon ist riesig. Ich weiß nicht einmal, wonach genau ich suchen soll. Traumdeutung gehört in die Abteilung Philosophie, soviel weiß ich. Das begrenzt die Auswahl immerhin auf ein Stockwerk. Nur welche? Ich wusste nicht, dass es so viele Arten davon gibt. Als Frau der Wissenschaft und Technik kann ich mit diesem Themengebiet rein gar nichts anfangen und bin daher total überfordert. Während ich noch ratlos auf die zahlreichen Bücher vor mir starre, kommt Jared plötzlich hinter einem Regal hervor und begrüßt mich kopfschüttelnd, mit den überaus motivierenden Worten: „Du bist völlig falsch, mit Ästhetik haben Träume ja nun wirklich nichts am Hut.“Ich setze eine gekränkte Mine auf und fordere ihn auf, mich aufzuklären, wenn er doch so viel mehr Ahnung davon hätte. Die hat er tatsächlich, er hat nämlich 2 Semester lang Philosophie studiert. Zwar nicht sehr erfolgreich, aber immerhin gut genug, um mich dumm da stehen zu lassen. Wieder einmal.
„Cogito ergo sum - Ich denke, also bin ich“, zitiert er René Descartes, einen berühmten Philosophen des 17. Jahrhunderts. So behauptet er zumindest, gehört habe ich den Namen noch nie, aber wenigstens den Spruch kenne ich.„Warum lässt du mich hier in diesem Labyrinth verzweifeln, wenn du selbst ganz genau weißt, wonach wir suchen müssen?“, erwidere ich schmollend.„Ich habe dich nicht gebeten, ohne mich anzufangen, oder?“, grinst er überlegen. Damit hat er zweifellos recht. Wir machen uns daran, die Metaphysik zu erkunden, denn dazu gehört die Traumdeuterei offenbar.Nach einer Stunde kenne ich nun zwar eine ganze Menge Fragen, auf die scheinbar niemand eine Antwort hat, eine Erklärung für unsere „Traumpartnerschaft“ haben wir jedoch immer noch nicht gefunden. Von den 2 Semestern Philosophiestudium dürfte nicht all zu viel hängen geblieben sein, denn mehr als Aristoteles, Kant oder Jung kennt auch Jared nicht. Früher schien man der Meinung gewesen zu sein, es wären Engel oder auch Dämonen, die einem durch Träume Botschaften überbrachten. An so einen Unsinn glaubt heutzutage natürlich keiner mehr. Laut Sigmund Freud, den sogar ich als Laie kenne, zeigt uns unser Unterbewusstsein in Form von Träumen Wahrnehmungen von Erlebtem, die wir bewusst nicht erfassen. Wenn ich das richtig verstanden habe, müssten Jared und ich also dasselbe erlebt, dieses im Unterbewusstsein gleich interpretiert haben und unser Gehirn hat dann auch noch die unbewussten Wahrnehmungen in genau identische Bilder umgewandelt. Klingt ziemlich unwahrscheinlich bis ganz unmöglich. Selbst wenn wir uns vor meinem ersten Traum schon einmal begegnet wären, was wir nicht sind, und selbst wenn wir etwas Erlebtes gleich aufnehmen würden, was kaum der Fall gewesen sein würde, weil wir total unterschiedliche Charakter haben, wäre es immer noch ganz und gar unrealistisch, dass in unseren Köpfen, genau zur selben Zeit, genau dieselben Bilder entstehen.
Seufzend klappe ich Freuds „Die Traumdeutung“ zu und stelle sie ins Regal zurück.„Das ergibt alles keinen Sinn! Jeder Theorie über das Träumen liegt derselbe Kern zugrunde, nämlich dass Erlebtes verarbeitet wird, entweder etwas Aktuelles oder etwas aus der Vergangenheit. Aber meine Träume haben angefangen, bevor ich dich überhaupt zum allerersten Mal gesehen habe.“Seufzend geben wir die Suche für heute auf. In 15 Minuten schließt die Bücherei ohnehin.
"Halt! Nicht so schnell!“, rief Skyla entsetzt und klammerte sich an den Hals des schwarzen Hengstes. Der Rappe war es nicht gewohnt, im Schritt zu gehen und wollte gleich zu einem Galopp ansetzten. Tristan griff ihm gerade noch rechtzeitig in die Zügel und bremste ihn. Er Sein Besitzer konnte ihn gerade noch rechtzeitig zurückhalten und redete beruhigend auf ihn ein. Das Mädchen verfluchte ihre Höhenangst, schalt sich ein feiges Huhn und richtete sich mit einem Ruck wieder auf. „So schwer kann das doch nicht sein, schließlich gibt es achtjährige Jungen, die schon so sicher im Sattel sitzen wie ich auf dem Boden“, dachte sie und griff trotzig nach den Zügeln. Langsam trottete das Pferd nun unter Tristans Führung vorwärts. Während sie eine Runde über die Wiese drehten, gewöhnte sie sich allmählich an das leichte Schaukeln und die erhöhte Position und entspannte sich etwas. Nach einer Weile getraute sie sich, alleine im Schritt zu reiten und der Rappe folgte, sehr zu ihrem Erstaunen, brav ihren Anweisungen. „Er mag dich! Mir gehorcht er nie so widerstandslos.“, lachte Tristan erleichtert, weil seine Bemühungen, Skyla das Reiten beizubringen, endlich Früchte trugen. „Sehr beruhigend, danke für den Hinweis“, murmelte diese, damit beschäftigt den Hengst im Kreis herum zu lenken. Nach jeder Runde schrumpfte ihre Angst vor dem imposanten Tier und ihr Vertrauen wuchs. Schließlich wagte sie es sogar, ihre Fersen kurz in die Seiten des Pferdes zu pressen, worauf es in einen leichten Trab fiel.
Tristan applaudierte, doch sie konnte seinen Enthusiasmus nicht teilen, zu groß lagen noch die Schatten der vorletzten Nacht auf ihrem Gemüt. Zugleich war sie jedoch auch ungeduldig. Sie wollte fort von diesem Ort, ihr altes Leben hinter sich lassen und endlich ihren Vater kennenlernen. Aber der Weg war weit und sie wusste natürlich, dass sie ihn nicht zu Fuß zurücklegen konnten. Nachdem Onkel Tony und Tante Brenda kein Pferd besessen hatten, es wäre ja auch kaum notwendig gewesen, war sie in ihrem ganzen Leben noch nie im Sattel gesessen. Sie hatte zwar immer davon geträumt, auf dem Rücken eines Pferdes über die weiten Ebenen zu galoppieren, aber bisher war das nur eine romantische Vorstellung für sie gewesen. In der Realität stellte sich dies jedoch als weitaus schwerer heraus, und vor allem als ganz und gar unromantisch. Immerhin hatte sie jetzt einen kleinen Erfolg errungen. Wenn sie noch ein wenig übte, konnten sie die Stadt hoffentlich bald verlassen. Ihr Bruder hatte sich um ihre verbliebenen Wertsachen gekümmert. Die Vorräte aus dem Keller des Gasthauses hatte er an diverse Händler verkauft. Nachdem sie an besagtem Tag erst frisch aufgestockt worden waren, war der Erlös nicht zu verachten. Das Grundstück hatte er mit Skylas Einverständnis einem reichen Edelmann zugesagt, der die Taverne wieder neu aufbauen wollte. Am Abend sollte das Geschäft besiegelt werden. Danach hing es nur noch von Skyla und ihren Reitkünsten ab, wann sie aufbrechen konnten. Sie verbrachten den Nachmittag auf den Wiesen vor der Stadt und das ausdauernde Training machte sich schließlich doch bezahlt. Selbst bei einem flotten Trab saß sie nun sicher im Sattel.
Nachdem Tristan einen stattlichen Preis für das Grundstück ausgehandelt hatte, besaß Skyla nun genug Geld für die Reise in den Norden und sie planten, am nächsten Morgen abzureisen. Nachts konnte sie kaum schlafen, obwohl sie müde und ausgelaugt von den vergangenen Tagen war. Immer wieder plagten sie Albträume. Die Geschichte, die Tristan über ihre Mutter erzählt hatte, ließ sie nicht los. Ihr erschien eine einsame, verängstigte Gestalt, die ziellos in dichtem Nebel umher irrte. Ihre Hilferufe verhallten ungehört und schließlich brach sie zusammen und Skyla erwachte zitternd und mit klopfendem Herzen. Der Morgen graute bereits, und nachdem der blonde Krieger noch leise neben ihr schnarchte, schlich sie sich aus dem Zelt. Es war noch ruhig im Hof und der Vollmond tauchte ihn in ein fahles Licht. Sie hatte nie Angst im Dunkeln gehabt, sie mochte die friedliche Stille der Nacht sogar. Auch heute wirkten der matte Schein und die kühle Luft beruhigend. Dennoch fühlte sie sich rastlos und nervös. Nach kurzem Zögern schritt sie schließlich auf das Burgtor zu und ließ sich von Anthony die Türe öffnen. Es tat weh, wenn sie an die schreckliche Nacht dachte, an der das Feuer ihr alles genommen hatte, aber es zog sie trotzdem an den Ort des Schreckens zurück. Sie spürte, dass sie keine Ruhe finden würde, ehe sie nicht noch einmal dort gewesen war. Tristan hatte es gut gemeint, als er ihr die Arbeit mit den Vorräten abgenommen hatte und sie war ihm sehr dankbar deswegen. Aber sie musste mit ihrem alten Leben abschließen, es hinter sich lassen und das konnte sie nur, wenn sie noch einmal dorthin zurückkehrte.
Ihr Bruder hatte die Wahrheit gesagt, es waren tatsächlich nur noch nackte, vom Ruß schwarz gefärbte Steinmauern zu sehen. Sam und Pete hatten geholfen, die Asche und die größeren, verkohlten Holzstücke, die früher einmal die Einrichtung dargestellt haben mochten, wegzuschaffen. Beklemmt stand sie vor der Tür, die nun nur noch ein gähnendes Loch war und starrte auf die Überreste ihres ehemaligen Heims. Während sie an der kalten Steinmauer lehnte und versuchte, die Gedanken und Gefühle zu ordnen, die über sie hereinbrachen, ging die Sonne auf.
Sie hörte Schritte näher kommen und als sie sich umdrehte, stand Sam vor ihr. Er und Pete waren Tonys beste Freunde gewesen. Fast jeden Abend hatten sie bei ihm an der Theke verbracht und auf ihn, seine Frau und seine Nichte aufgepasst, sie vor aufdringlichen Besuchern und Raufbolden, genauso wie vor Zechprellern beschützt. Man sah ihm an, dass auch er den Verlust eines Freundes betrauerte. „Skyla, es tut mir so leid! Wie geht es dir?“, fragte er mitfühlend. „Den Umständen entsprechend. Es wird besser. Und dir? Du siehst auch nicht gut aus.“ „Ich habe Tony schon mein ganzes Leben lang gekannt, er ist ein toller Kerl gewesen und auch Brenda ist mir über die Jahre ans Herz gewachsen. Aber so ist es nun einmal, die guten Menschen erwischt es immer viel zu früh.“ Skyla nickt seufzend. Am liebsten hätte sie die ganze, schreckliche Nacht einfach vergessen und nach vorne geblickt, aber sie fragte schließlich trotzdem: „Du warst da, oder? Erzählst du mir, was passiert ist?“ Sam nickte bedächtig. „Also…es ist alles so furchtbar schnell gegangen. Ich habe leider nicht mitbekommen, was die Ursache für den Brand war. Ich und Pete sind am Tresen gesessen und haben mit Brenda gequatscht, als plötzlich Rauch aus dem hinteren Zimmer aufgestiegen is‘. Aus dem kleinen, in dem Tony immer seine Bücher geführt hat. Er war schon schlafen gegangen, daher sollte eigentlich niemand mehr drin sein. Vielleicht hat er vergessen, eine Kerze zu löschen und die is‘ umgefallen. Ich weiß nicht. Auf jeden Fall haben wir versucht, die Flammen zu löschen, aber es hat sich so rasend schnell ausgebreitet. Is ja alles aus Holz gewesen. Als wir gemerkt haben, dass das wir das Feuer so nicht mehr unter Kontrolle bringen konnten, haben wir sofort alle raus gescheucht. Aber deine dickköpfige Tante is‘ die Treppe rauf gerannt, um dich und Tony zu holen. Sie hatte nicht mitbekommen, dass du noch unterwegs warst. Wir konnten sie nicht aufhalten und auch nicht hinterher, denn kaum war sie oben, is‘ die Stiege in Flammen ausgebrochen. Ich hab noch versucht, durchzukommen, aber das morsche Holz is‘ unter mir zusammengebrochen wir haben nichts mehr tun können. Es war überall Rauch und auf unsere Rufe hat niemand geantwortet. Wir mussten sehen, dass wir selbst raus kamen. Obwohl alle beim Löschen geholfen haben, waren wir trotzdem zu langsam. Es tut mir so furchtbar leid, Skyla. Ich wünschte, ich hätte ihnen helfen können.“ Er blickte sie geknickt an und schwieg.
„Es ist nicht deine Schuld, Sam. Ihr, du und Pete, habt uns so oft geholfen und ich muss euch wegen so vielem dankbar sein. Ihr seid, glaub ich, die Einzigen, die ich vermissen werde.“ „Vermissen? Gehst du weg?“, fragt er verblüfft. „Ja, kannst du dich an Tristan erinnern, den blonden Kerl, der mich immer besucht hat? Er ist mein Bruder, und er weiß, wer mein…ich meine unser Vater ist. Er besitzt eine kleine Burg an der Nordküste, ich will ihn kennenlernen.“ „Na, das sin ja mal gute Neuigkeiten für dich, ich wünsch dir nur das Beste. Hoffentlich is‘ dein Vater so, wie du ihn dir vorstellst. Aber was wird dann aus dem Wirtshaus? Oder besser gesagt, dem traurigen Überbleibsel davon“ Wehmütig blickte er auf die verrußten Steinmauern. „Hab ich einem Edelmann verkauft, der will es neu aufbauen. Ich drück dir die Daumen, dass er euch genauso willkommen heißt, wie mein Onkel bisher.“ Aufmunternd lächelte Skyla ihn an und erntete ein zweifelndes Stirnrunzeln. Inzwischen war die Sonne ganz aufgegangen und Tristan mit Sicherheit schon munter. „Ich muss wieder zurück. Grüß Pete von mir, ja?“ Sie umarmte ihn kurz und wandte sich zum gehen, als er sie noch einmal zurückhielt. „Warte, da is noch was…da war eine fremde Frau. An dem Abend, kurz bevor das Feuer ausgebrochen is. Sie hat mit Brenda geredet, ich hab leider nicht gehört was genau. Aber sie is mir aufgefallen, weil sie so seltsam ausgesehen hat. Sie hat eine Kapuze auf gehabt, aber die feuerroten Haare drunter waren trotzdem nich‘ zu übersehen. Und hübsch war sie, oh ja…und ihre Augen haben ganz unheimlich geleuchtet.“ Skyla runzelte die Stirn, ihr war keine rothaarige Frau bekannt. „Mehr weiß ich auch nich‘, tut mir leid. Wollt‘s nur gesagt haben.“ „Macht nichts, wird schon nicht so wichtig gewesen sein.“ So sicher war sie sich da zwar nicht, aber sie wollte sich jetzt nicht auch noch damit beschäftigen müssen. Sie verabschiedete sich noch einmal und lief die Straße zur Burg hinauf.
Als sie im Hof ankam, entdeckte sie ihren Bruder im Stall, wo er sein Pferd für die Reise vorbereitete. Stirnrunzelnd begrüßte er sie und schalt, weil sie heimlich in der Nacht verschwunden war. Skyla wies ihn darauf hin, dass sie bereits 19 Jahre zählte und daher nicht seine „kleine“ Schwester war; und so sehr sie sich auch über den neuen, großen Bruder freute, ein Kind war sie nun wirklich nicht mehr. Tristan grummelte, sagte aber nichts mehr dazu, und kurz darauf machten sie sich auf den Weg zum Schneider. Nachdem all ihre Habe verbrannt war, brauchte sie nun einiges für die Reise. Durch den Verkauf des Grundstücks hatte sie genug Geld, um sich ein Pferd und das notwendigste für Unterwegs zu besorgen. Nachdem sie ein paar schlichte Leinenkleider und –hosen, sowie warme Wollhosen für den „kalten Norden“ und Reitstiefel gekauft hatten, mussten sie nur noch beim Pferdehändler erfolgreich sein. Das Glück schien ihr ausnahmsweise hold zu sein, denn dieser hatte eine kleine, braune Stute im Stall, die, im Gegensatz zu dem riesenhaften Rappen des blonden Kriegers, sehr ruhig und friedlich wirkte. Nun wurde es Zeit für Skyla, ihrer alten Heimat endgültig Lebewohl zu sagen und voran in die Zukunft zu blicken.
Ihr erstes Ziel war Lincoln, die Heimatstadt Tristans. Da dieser nicht ohne weiteres den Dienst bei der königlichen Garde quittieren konnte, mussten sie erst seinem Onkel einen Besuch abstatten, bevor sie weiter in den Norden ziehen konnten. Der Hauptmann hatte darüber zu entscheiden, ob er für einige Woche aussetzen durfte. Der Krieger war zuversichtlich, dass dieser ihm die Zustimmung erteilte. Das Mädchen war ungeduldig und aufgeregt. Das erste Mal war sie weiter als einen kurzen Fußmarsch von der Stadt entfernt. Es gab so vieles da draußen, was sie noch nicht kannte. So vieles, was sie noch sehen und erleben wollte. Gleichzeitig hatte sie aber auch Angst vor dem Unbekannten, genauso wie vor der Ungewissheit, wie ihr Vater auf ihr Erscheinen reagieren würde. Dass dieser Tristan mit offenen Armen empfangen hatte, ließ sie Gutes hoffen, ganz konnte es ihre Zweifel aber nicht zerstreuen. Bisher hatte sie noch keine Zeit gehabt, sich näher nach ihm zu erkundigen. Sie war zwar neugierig, aber der Ritt war für sie als Neuling so anstrengend, dass sie sich bisher kaum unterhalten hatten. Doch es wurde zunehmend leichter und nach einigen Stunden saß sie halbwegs entspannt im Sattel. Dadurch konnte sie sich endlich auch etwas umsehen, die sanften Hügel und die umliegenden Wälder wahrnehmen. Das Gras war grün und saftig und die milde Frühlingssonne strahlte warm vom Himmel. Genau davon hatte sie als Kind geträumt. Auch als Jugendliche noch, doch da hatte sie sich bereits damit abgefunden, dass es niemals Realität werden würde. Und nun geschah es tatsächlich, sie ritt ins Abenteuer, ohne genau zu wissen wohin und was oder wer sie erwartete. Für einen kurzen Augenblick fühlte sie sich frei und glücklich. Dann fiel ihr wieder ein, was für einen Preis sie dafür hatte zahlen müssen und sie schämte sich ob ihrer Gefühle. Während das junge Mädchen noch mit sich haderte, tauchten in der Ferne die ersten Hütten eines Dorfes auf und als sie dieses kurze Zeit später erreichten, versank die Sonne bereits hinter den Hügeln.
Die kleine Taverne hatte nur ein Gästezimmer, aber Tristan war es gewohnt auf dem Boden zu schlafen und so nahmen sie damit vorlieb. Skyla war hundemüde von dem langen Ritt, doch gleichzeitig so aufgewühlt, dass sie nicht schlafen konnte. Nachdem sie eine Weile durch das winzige Fenster den Mond angestarrt hatte, fiel ihr Blick auf den blonden Krieger, der ebenso schlaflos in die Nacht hinausblickte. „Tristan?“ „Ja?“ „Erzählst du mir etwas von unserem Vater? Sie würde sich so gerne ein Bild von ihm machen, wissen, was oder viel mehr wer sie erwartete. Vielleicht würde sie dann etwas ruhiger. Tristan war gern bereit, sein Wissen mit ihr zu teilen, leider waren aber auch seine Erkenntnisse nicht all zu groß. Er hatte nur wenige Wochen bei ihm verbracht, bevor er aufgebrochen war, um seine kleine Schwester zu suchen. Er beschrieb ihn als etwas schrullig wirkenden, älteren Mann mit langen grauen Haaren und grauem Vollbart. Seine Art wäre aber sehr herzlich und offen, die Freude über das Wiedersehen seines verschollen geglaubten Sohnes wäre echt gewesen, da war er sich sicher, und daher würde es bei ihr sicherlich nicht anders sein. Dieses Wissen nahm dem Mädchen ein wenig von seiner Sorge. Dann kam ihr aber ein anderer Gedanke: „Wenn weder unser Vater, noch dein Onkel wussten, wohin Mutter wollte, wie hast du mich dann gefunden? Und woher hast du gewusst, dass du nach einer Frau und nicht nach einem Mann suchen musst?“
„Letzteres lässt sich leicht beantworten“, antwortete er. „Auf dem Zettel, den Mutter Vater hinterlassen hatte, war von einer Tochter die Rede. Frauen scheinen es manchmal spüren zu können, ob sie ein Mädchen oder einen Jungen in sich tragen, frage mich nicht woher. Ersteres ist etwas schwieriger zu beantworten. Ich bin zu meinem Onkel zurückgekehrt und habe somit denselben Weg zurückgelegt, wie als Kind damals mit Mutter. Ich habe ihn gebeten, ganz genau nachzudenken, von wem und worüber Mutter an diesem einen Tag, an dem sie mich zu ihm brachte, geredet hat. Erst wollte ihm kein Name einfallen, doch er wusste noch, dass sie über alte Zeiten geredet hatten; als sie noch Kinder waren und gemeinsam gespielt hatten. Es war ihm als ein Schwelgen in Erinnerungen erschienen. Beiläufig war die Sprache dann auch auf Mutters Bruder Tony gekommen, der ebenfalls stets dabei gewesen war und Mutter hatte erwähnt, dass dieser nun ein eigenes Wirtshaus in einer großen Handelsstadt im Süden besäße , obwohl er noch so jung war und wie stolz sie auf ihn wäre. Ich war mir zwar nicht sicher, ob es nur Zufall oder doch ein versteckter Hinweis gewesen war, doch es war die einzige Fährte die ich hatte. Es gibt, Gott sei es gedankt, nicht viele große Handelsstädte südlich von Lincoln und so versuchte ich, einem der Trupps zugeteilt zu werden, die in den Süden geschickt wurden. Ich war schon eine Weile hier, ihr habt ja einige Wirtshäuser. Zudem wusste ich nicht genau, nach was oder wem ich Ausschau halten sollte. Als ich dich aber an diesem Abend damals sah, erkannte ich sofort eine Ähnlichkeit zwischen dir und Vater. Sie ist nur schwach, aber sie ist da. Dann lernte ich dich näher kennen und wurde mir immer sicherer. Endgültig überzeugt, dass du meine Schwester bist, war ich aber erst, als du mir von deinem Buch erzählt hast.“
„Hmm…“, brummte Skyla nachdenklich. Dann fiel ihr etwas ein. „Deswegen diese seltsame Traurigkeit in deinen Augen, als ich von dem Buch erzählt habe. Und auch am nächsten Tag, nachdem…Onkel Tony gestorben ist. Natürlich, er ist auch dein Onkel gewesen. Hattest du gehofft, Hinweise auf Mutters Verbleib von ihm zu bekommen? Du hast ja nur selten mit ihm gesprochen, oder?“ „Ich habe ihn nicht gut gekannt, ja. Dennoch war er der letzte lebende Verwandte unserer Mutter, zumindest soweit ich weiß. Ich wollte erst ganz sichergehen, dass ich die richtige „Familie“ gefunden habe, bevor ich ihn darauf ansprach. Und da ich leider kaum Erinnerungen an meine Mutter habe, habe ich nach Ähnlichkeiten zwischen dir und Vater gesucht. Daher wollte ich auch unbedingt zuerst dich näher kennenlernen.“ „Verstehe…aber was ist mit deinem Onkel in Lincoln?“, überlegte Skyla. „Er ist nicht mein leiblicher Onkel, er ist ein Kindheitsfreund meiner Mutter. Doch auch das habe ich erst erfahren, als ich das Tagebuch bekommen habe. Er hat mich großgezogen und ich liebe ihn wie einen Vater, ob wir nun blutsverwandt sind oder nicht. Daher werde ich ihn auch weiterhin Onkel nennen.“ „Kann ich gut verstehen…“, murmelte Skyla schlaftrunken, die Müdigkeit holte sie nun doch langsam ein. Das Gespräch verstummte und die beiden fielen in einen tiefen Schlaf.
Die nächsten Tage verliefen ruhig, das Mädchen wurde immer sicherer im Sattel und sie kamen flott voran. Schließlich erreichten sie Lincoln in der Abenddämmerung und suchten sogleich Tristans Onkel auf. Dieser genoss als Hauptmann der Garde entsprechendes Ansehen und besaß ein eigenes Steinhaus direkt neben dem Übungsgelände. Seit sein Neffe selbst in den Dienst getreten und daher fast ständig auf Reisen war, wohnten nur noch er und eine ältliche Dienstmagd darin. Dabei war das Gebäude in Skylas Augen riesig. Sie war nervös und angespannt. Auch wenn es nicht ihr leiblicher Onkel war, so wollte sie doch einen guten Eindruck hinterlassen. Doch die Größe des Hauses, der ordentlich gepflegte Garten und die samtroten Vorhänge, die durch die blitzenden Fenster zu sehen waren, gaben ihr das Gefühl, in ihren schlichten Leinenhosen fehl am Platze zu sein.
Sie schritten auf die große Doppeltür zu, doch noch bevor sie anklopften, schwang eine Hälfte davon zur Seite und ein hünenhafter, schwarzbärtiger Mann trat daraus hervor. „Tristan!“, brummte er mit einem tiefen Bass und musterte die beiden mit gerunzelter Stirn. Ob seine Stimme nun freudig oder ärgerlich klang, konnte Skyla nicht beurteilen und ihr wurde noch unwohler zumute. Doch der Hüne klopfte ihrem Bruder, nun eindeutig freudig lachend, auf die Schulter. „Da bist du ja wieder, mein Junge! Und wen hast du da mitgebracht? Sag bloß, du warst erfolgreich!“ „Das war ich, Onkel. Darf ich dir meine Schwester Skyla vorstellen?“, antwortete Tristan mit einer höflichen Geste in meine Richtung. Nun musterte der dunkelbärtige Mann sie von oben bis unten und sie stellte sich schüchtern vor: „Guten Tag, Sire. Es ist mir eine Ehre, euch kennenzulernen.“ „Hahaha, du bist ja ein höfliches, kleines Ding! Na, die Freude ist ganz meinerseits. Kommt nur herein, in die gute Stube“. Mit einer einladenden Geste machte er ihnen Platz und sie traten ein.
Der Raum in dem sie nun standen, war allein fast schon so groß, wie das gesamte Wirtshaus gewesen war und überdies prunkvoll eingerichtet. An den Wänden hingen kunstvolle Wandteppiche und bronzene Kerzenständer. An der gegenüberliegenden Seite der Tür war ein Kamin angebracht. Onkel Derrins Magd eilte herbei, um Feuer zu entfachen und die drei ließen sich an der monströsen Tafel nieder, die die Mitte des Raumes ausfüllte. „Ihr seid sicher hungrig. Ich bin jedenfalls schrecklich hungrig! Tarja, bring uns was zu essen, wenn du mit dem Feuer fertig bist“, befahl der Hausherr mit einer tiefen Stimme, die es eindeutig gewohnt war, Befehle zu erteilen. Dennoch klang er dabei nicht unfreundlich und das Mädchen entspannte sich etwas. Während sie auf das Abendessen warteten, begann Tristan zu erzählen, was er erlebt hatte, seit er das letzte mal hier gewesen war. Sein Onkel hörte stumm zu und brummte nur zeitweise etwas Unverständliches in seinen Bart.
Die Magd tischte inzwischen auf und brachte jedem einen gefüllten Becher. Dem Geruch nach war es eindeutig Wein. Das Mädchen mochte diesen zwar nicht sonderlich, aber den Groll des Gastgebers auf sich ziehen wollte sie noch weniger. Daher nahm sie den angebotenen Becher dankend entgegen und stieß mit den beiden Männern auf die erfolgreiche Heimkehr der verschollenen Schwester an. Sie nippte zaghaft an ihrem Getränk und stellte verwundert fest, dass es gar nicht so übel schmeckte. Selbst der beste Wein, den es bei ihnen im Wirtshaus zu trinken gegeben hatte, war grauenhaft sauer gewesen, doch der hier war beinahe süß. Nun verstand sie auch Tristans übertrieben entsetzte Grimassen, als er für sie Probekoster am Markt spielen musste. Er war tatsächlich weitaus besseres gewohnt. Bei der Erinnerung daran musste sie lachen und die beiden Männer, die bereits kräftig zulangten, blickten sie verwundert an. „Verzeiht mir! Aber dieser Wein hier schmeckt köstlich. So etwas habe ich noch nie getrunken, der Wein, der in unserer Taverne serviert wurde, war weitaus saurer.“ „Freut mich, dass der Geschmack meines Weines euch so erheitert“, brummte Onkel Derrin mit vollem Mund. „Nein, das ist es nicht. Ich musste nur eben an den Tag denken, als Tristan mir die wenig schmackhafte Aufgabe des „Weinverkostens“ abnahm. Ich verstehe jetzt, warum er dabei solche Grimmassen schnitt.“ Der Hüne lachte herzlich. „Na da sieh einer an, du gibst aber gut acht auf deine neue, kleine Schwester, mein Junge. Das gefällt mir. Einer Dame gebührt schließlich nur das Beste, nicht wahr?“ Tristan nickte zustimmend. Er schien ebenfalls erleichtert, dass sie mit seinem Onkel halbwegs gut zurechtkam.
Nachdem sie fertig gespeist hatten, so gut und üppig, wie Skyla noch nie in ihrem bisherigen Leben, nahmen sie auf 3 großen, mit samtenen Polstern überzogenen Stühlen Platz, die direkt am Kamin standen. Darin fühlte sich das Mädchen wie eine kleine, graue Maus, die in einem besonders dreisten Moment auf den Thron des Königs geklettert war. Die beiden Männer begannen, über die Garde und die Arbeit zu sprechen. Skyla verstand nicht viel davon, zudem war sie hundemüde vom langen Ritt. Das leise Prasseln und die Wärme des Feuers wirkten angenehm beruhigend auf sie und nachdem sie eine Weile in die Flammen gestarrt hatte, fielen ihr die Augen zu.
Sie erwachte in einem kleinen, aber gemütlich eingerichteten Zimmer. Das Bett, in dem sie lag, war großzügig mit Fellen ausgelegt und angenehm weich. Sie hatte schon lange nicht mehr so gut und fest geschlafen, was vermutlich aber nicht allein der Verdienst des luxuriösen Bettes war, sondern hauptsächlich an der Tatsache lag, dass der gestrige Tag enorm anstrengend gewesen war. Die Sonne schien ihr durch das kleine, verglaste Fenster warm ins Gesicht und fast war sie versucht, noch liegen zu bleiben und den Moment zu genießen. Schließlich setzte sie sich doch mit einem Ruck auf und warf das Fell zurück. Ihr Leben hatte in so kurzer Zeit eine so drastische Wendung genommen, dass sie nun nicht einfach faul in der Sonne herumliegen konnte. Als sie aufstand, um sich zu waschen, fiel ihr auf, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte, wie sie in dieses Zimmer gekommen war. Das Knacken des glühenden Holzes im Kamin war ihre letzte Erinnerung, sie war wohl im Saal eingeschlafen. Nachdem sie sich den Schlaf aus den Augen und dem Gesicht gewaschen hatte, öffnete sie die schwere Holztür und trat auf einen langen Gang hinaus. Ihr Zimmer lag am Ende desselben, neben ihr und gegenüber befanden sich 3 weitere Türen, die der ihren ident waren. Sie hörte gedämpftes Stimmengemurmel und folgte diesem, bis sie zu einer Treppe kam, die in den großen Raum hinunterführte, in dem sie gestern Abend gegessen hatten. Tristan und sein Onkel saßen an der Tafel und ließen sich einen Eintopf schmecken. Skyla musste nicht nur sehr tief, sondern auch sehr lange geschlafen haben, wenn es schon Mittagszeit war. Als sie die Füße auf den weichen Teppich setzte, mit dem der gewaltige Raum ausgelegt war, hoben die beiden Männer die Köpfe.
Sie setzte sich zu ihnen an den Tisch, lehnte eine Schüssel Eintopf aber dankend ab. Ein Schluck Wasser reichte ihr für gewöhnlich als Frühstück. Die beiden ließen sich beim Essen nicht stören, jedoch schwiegen sie nun. „Verzeiht, ich wollte eure Unterhaltung nicht unterbrechen“, sagte das Mädchen entschuldigend. „Hast du nicht, Schwesterherz. Wir haben nur über die Ausbildung der jungen Rekruten geredet. Manch einer von ihnen weiß nicht zu schätzen, welch Ehre ihnen zuteil wird. Aber das wird für dich nicht von großem Interesse sein. Hast du gut geschlafen?“, antwortete Tristan gut gelaunt. „So gut wie schon lange nicht mehr. Mir scheint, ich habe noch nie in einem herrlicheren Bett gelegen.“, nickte sie zustimmend. Onkel Derrin lachte auf, sichtlich erfreut über ihre Begeisterung. „Nun, mein Kind, dann kann ich euch ja vielleicht überreden, etwas in meinem Hause zu verweilen? Gern würde ich dich als neues Familienmitglied besser kennenlernen.“
Für Skyla klangen diese Worte, aus dem Mund eines, ihr nahezu Fremden sehr seltsam. Doch sie freute sich auch darüber, so herzlich aufgenommen zu werden. Wenn es denn auch wirklich so gemeint war, sie konnte den brummigen Hünen nur schwer einschätzen. Seine Stimme war so tief, dass sie außer seinem Lachen kaum eine Emotion heraushören konnte. Und der dichte Vollbart erschwerte es ihr zusätzlich, etwas von seinem Gesicht abzulesen. Nach kurzem Zögern entschloss sie sich dann doch, wahrheitsgemäß zu antworten: „Ich hoffe ihr glaubt mir, wenn ich sage, dass ich keineswegs unhöflich sein will, denn ich bin euch überaus dankbar für eure Gastfreundschaft und würde gerne noch hierbleiben, Sire. Doch will ich auch meinen Vater kennenlernen, von dem ich mein Leben lang dachte, er wäre tot.“ „Natürlich. Ich verstehe deine Ungeduld, mein Kind. Trotzdem muss ich dich um einen Tag Aufschub bitten, denn ich brauche Tristan heute noch, um einige Angelegenheit in Bezug auf die Garde zu klären.“ „Die Pferde brauchen ohnehin eine Rast, und wie es aussieht sind sie nicht die Einzigen“, zwinkerte Tristan ihr zu. Sie sah scheinbar genauso müde aus, wie sie sich fühlte. Lachend fügte er hinzu: „Du kannst mitkommen, ich zeig dir das Gelände. Du kannst auch zusehen, vielleicht bist du ja ein Naturtalent.“ „Sicher, genauso wie im Sattel!“, antwortete das Mädchen sarkastisch, stimmte aber trotzdem zu. Geschlafen hatte sie lange genug und untätig herumsitzen konnte sie nicht, dafür war sie zu aufgeregt.
Nachdem Skyla schließlich doch noch etwas von dem Eintopf gegessen und festgestellt hatte, dass sie in ihrem ganzen bisherigen Leben noch nichts so Gutes zwischen die Zähne bekommen hatte, zeigte Tristan ihr das Übungsgelände. Es war nur wenige Hundert Meter vom Haus des Hauptmannes entfernt und sie hörten schon von Weitem die aufgeregten Zurufe der Rekruten. Auf einem großen, kreisrunden Platz hatten sich eine Handvoll junger Männer versammelt. Skyla schätze sie noch jünger ein, als sie selbst es war. Sie trugen einfache Leinenkleider und waren unbewaffnet. Offenbar sollten sie den Kampf ohne Rüstung und Waffen üben. Tristan erläuterte ihr, dass es nicht immer nur auf die eigene Stärke oder Größe ankam, auch die Gewandtheit war wichtig. Sie besaßen zwar alle Rüstungen, in denen die Bewegungsfreiheit weitgehend eingeschränkt war, doch wäre es auch wichtig, ungeschützt nicht gleich kapitulieren zu müssen. Wenn sie Strauchdiebe fangen wollten, mussten sie sich oft durch Dickicht und Gebüsch schlagen und das ginge ohne Rüstung deutlich einfacher. Oft waren die Wegelagerer ihnen in ihrem Territorium, wo sie sich viel selbstsicherer bewegten, als die ungelenken, schweren Krieger weit überlegen, selbst wenn sie in der Unterzahl waren. Aus diesem Grunde gehörte der Kampf ohne Rüstung und Waffen zur Grundausbildung. Bisher hatte Tristan stets diese Ausbildung übernommen. Es war zwar natürlich nicht möglich, diesen jungen Männern an einem Nachmittag alles beizubringen, doch er wollte zumindest versuchen, ihnen die Grundlagen einzubläuen, damit sie üben konnten, bis er aus dem Norden zurück war und sie ganz ausbilden konnte.
Nördlich des Übungsplatzes lagen die Stallungen Onkel Derrin hatte auch ihre Pferde dort unterbringen lassen. In den letzten Tagen, in denen sie fast pausenlos geritten waren, hatte Skyla ihre ruhige, kleine Stute tatsächlich liebgewonnen. Bevor sie zum Kampfplatz zurückkehrten, warfen sie noch einen Blick hinein. Die Pferde der Garde waren auf der Weide, nur ihre beiden standen alleine im hinteren Bereich. Ein junger Mann in Rekrutenkluft war gerade dabei, Skylas Stute zu striegeln. Er begrüßte sie höflich und erkundigte sich, ob sie die Besitzer wären. Er schwärmte regelrecht von der perfekten Haltung und Figur des Rappen, er schien ein außerordentlicher Pferdeliebhaber zu sein. Skyla bedankte sich für die Fürsorge, die er ihrer braunen Stute zuteil werden ließ, es wäre aber nicht nötig, sie kümmere sich gerne selbst darum. Zu Skylas eigenem Erstaunen waren diese Worte nicht nur reine Höflichkeit, die kleine, braune Stute war ihr in den letzten Tagen tatsächlich so ans Herz gewachsen, dass sie ihre Pflege kaum störte. Sie begann nun zu verstehen, warum ihre Mutter in ihrem Tagebuch von ihrem Pferd stets als ihrem besten Freund und treuesten Begleiter gesprochen hatte.
Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass es den beiden Rössern an nichts mangelte, wandten sie sich zum Gehen, als plötzlich eine Gestalt in der Türe erschien. Draußen strahlte die Sonne vom Himmel, daher war sie nur schemenhaft zu erkennen. Dennoch wusste Skyla sofort, dass sie nichts Gutes im Schilde führte. Sie strahlte eine Bedrohung aus, die scheinbar selbst die beiden Pferde spüren konnten. Die ansonsten so ruhige und friedliche Stute schnaubte und scharrte mit den Hufen. „Wer seid Ihr?“, rief Tristan dem unheimlichen Schemen zu, der stumm und reglos im Türrahmen stand. Statt eine Antwort zu geben, machte dieser eine rasche Handbewegung und im nächsten Augenblick stand das Stroh in hellen Flammen. Der flackernde Schein des Feuers fiel für einen Moment auf die Gestalt und Skyla konnte einen kurzen Blick auf ihr Gesicht erhaschen, ehe dichte Rauchschwaden ihr die Sicht versperrten. Sie konnte eine Frau erkennen, mir Haaren, so rot wie die Flammen selbst. Ein schrilles Wiehern holte sie aus ihrer Erstarrung und sie erkannte mit Schrecken, dass sich das Feuer rasend schnell ausbreitete und den Pferden immer näher kam. Panisch zerrten sie an ihren Stricken, der schwarze Hengst schlug aus und sie hörte einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem Schmerzenslaut. Aus tränenden Augen beobachtete sie, wie Tristan geistesgegenwärtig sein Schwert zog und mit zwei wuchtigen Hieben die Seile durchtrennte. Die Pferde stürmten durch das offenstehende Scheunentor hinaus. „Skyla, hinterher! Lauf!“, hörte sie ihren Bruder brüllen.
Sie konnte kaum noch etwas sehen und stolperte auf den hellen Fleck zu, der, wie sie hoffte, das Tor darstellte. Verzweifelt suchten ihre brennenden Augen das Grau um sie herum nach Tristan ab, doch er war nirgends zu sehen. Der Geruch und die grell lodernden Flammen erinnerten sie an die Nacht, als sie ihre Zieheltern verloren hatte und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. So musste es ihnen ergangen sein, als sie gestorben waren und nun würde sie dasselbe Schicksal ereilen. Ihr schwindelte, als die Luft immer knapper wurde und sie nur noch Rauch einatmete. Schwankend machte sie noch einen Schritt und fiel auf die Knie. Ein schrilles, schadenfrohes Lachen drang an ihr Ohr, das ihr durch Mark und Bein ging. Sie war versucht, einfach nachzugeben; liegen zu bleiben und zu warten, bis es vorbei war. Doch da wurde sie am Arm gepackt und wieder auf die Füße gezerrt. Sie zwang sich, weiter zu stolpern und brach kurz darauf durch den Rauch ins Freie. Hustend und röchelnd blieb sie im Gras liegen. Sie hörte Derrin Befehle brüllen, hektisch liefen die Rekruten durcheinander. „Tristan!“, schoss es ihr noch durch den Kopf, bevor die Welt um sie herum schwarz wurde.
„AU!“, fährt es mir durch den Kopf. Schmerzerfüllt zucke ich zusammen und merke, dass ich wieder einmal geträumt habe. An den Geruch von Rauch und kokelndem Holz gewöhne ich mich ja schön langsam. Aber irgendetwas ist diesmal anders, etwas stimmt nicht. Verwirrt blinzle ich mir den Schlaf aus den Augen. Ich bin doch wach. Doch der Schmerz ist noch immer da, mein Bein brennt höllisch. Ich schlage die Decke zur Seite und starre erschrocken auf meine Füße. Meine linke Wade ist knallrot, eindeutig eine Verbrennung. Ich muss doch noch träumen. Na toll…ein Traum, in dem ich träume, ich würde träumen. Wie wecke ich mich nun auf? Selbst zwicken funktioniert ja angeblich nicht, aber ein Versuch kann nicht schaden. „Au!“, entfährt es mir noch einmal. Nein, zwicken haut nicht hin, tut nur weh. Seufzend schwinge ich mich aus dem Bett und stelle mich unter die Dusche. Das kalte Wasser ist angenehm, zudem mir ohnehin der Schweiß auf der Stirn gestanden ist. Aber der Brandfleck auf meinem Bein ist immer noch da, wenngleich der Schmerz durch die Kühle etwas abnimmt.
Langsam zweifle ich daran, dass das ein Traum ist. Angestrengt denke ich nach, ob ich vielleicht gestern etwas getrunken habe und ein Black-Out an meiner Verwirrung schuld sein könnte. Aber nein, seit dem Ball habe ich keinen Tropfen mehr angerührt. Angst breitet sich in mir aus. Wenn ich nicht träume, mich aber auch nicht daran erinnern kann, woher die Verletzung kommt und der einzige Hinweis darauf in Erinnerungsfetzen des vergangenen Traumes zu finden ist, muss das wohl bedeuten, dass ich schlafwandle.
Ich beschließe, meine Mutter um Rat zu fragen. Wenn ich mir schlafwandelnd einen nächtlichen Mitternachtsimbiss gebrutzelt und mich dabei verbrannt hätte, wäre es meinen Eltern ja sicherlich aufgefallen. Als ich die Küche betrete, verschwindet sie gerade zur Haustür hinaus. „Mum, warte“, rufe ich ihr nach. Sie dreht sich um und blickt mich fragend an. „Ist dir heute Nacht nicht irgendetwas Seltsames aufgefallen?“ „Nicht dass ich wüsste, mein Schatz. Was ist denn los? „Ähm, also…ich dachte, ich hätte Geräusche gehört. Hab mich aber nicht nachsehen getraut, hätte ja ein Einbrecher sein können“, lasse ich mir schnell eine Ausrede einfallen. Jetzt, wo ich endgültig wach bin, kommt mir der Gedanke mit dem Schlafwandeln ziemlich absurd vor und wie ich meine Mutter kenne, würde sie sich wieder den ganzen Tag unnötig Sorgen machen, wenn ich ihr die Verbrennung an meinem Bein zeigte. „Ich habe nichts gehört. Aber ich schlafe auch wie ein Stein, das weißt du ja. Mir ist aber auch noch nichts abgegangen. Du kannst ja später deinen Vater fragen, der schläft noch“ Ich bekomme noch einen Schmatzer auf die Wange und weg ist sie.
Die Küche sieht aus wie immer, von einer nächtlichen Kochorgie keine Spur. Während ich den Arzneischrank nach der Brandsalbe durchsuche, lasse ich den gestrigen Abend noch einmal in Gedanken Revue passieren. Nachdem ich am späten Nachmittag nach Hause gekommen bin, habe ich mit Dave telefoniert, fast eine Stunde lang. Angeblich kommt er heute wieder zur Uni. Er ist fast eine Woche krank gewesen. Mir kommt vor, ich weiß gar nicht mehr wie er aussieht, so lange hab ich ihn nicht gesehen. 6 Tage sind aber auch wirklich eine lange Zeit…zumindest, wenn man verliebt ist. Danach habe ich gegessen, kaltes Mittagessen. Ich habe definitiv nicht gekocht. Nur Tee, doch wenn ich mir den übers Bein geschüttet hätte, was mir Tollpatsch durchaus zuzutrauen gewesen wäre, dann würde ich mich doch daran erinnern. Nein, ich habe ihn getrunken, ganz sicher. Dann habe ich nur noch im Bett gelesen, bevor ich eingeschlafen bin. Kein Herd, kein Feuer, keine Verbrennung. „Wo kommst du nur her, du verfluchtes Ding?“, murmle ich vor mich hin, während ich die krebsrote Haut eincreme. „Meinst du mich?“ Die verschlafene Stimme meines Vaters meldet sich hinter mir. „Nein, Dad. Natürlich nicht.“ Sein verstrubbelter Kopf schaut mir über die Schulter. „Was hast du Tollpatsch denn da wieder angestellt?“ „Wenn ich das nur wüsste…sieht nach einer Verbrennung aus. Nur wo sie herkommt, weiß ich nicht...“, erwidere ich nachdenklich. Er wirft mir über den Rand seiner dampfenden Kaffeetasse einen zweifelnden Blick zu. „Das sieht aber nicht aus, als wäre es schmerzlos erschienen. Schmierst du dir da eh das richtige Zeug drauf? Riecht ungesund…“ „Steht dick und fett Brandsalbe darauf. Wird schon wieder weggehen.“ Achselzuckend stecke ich die Creme in meine Tasche, sicher ist sicher. „Ich muss jetzt zur Uni, bis später.“, verabschiede ich mich und verschwinde zur Tür hinaus.
Während ich in der Straßenbahn sitze und versuche, die Geräusche um mich herum so gut wie möglich auszublenden, werde ich zunehmend nervöser. Die Salbe tut schon seine Wirkung, mein Bein brennt nur mehr minimal. Dennoch will mir nicht in den Kopf, wie das passiert sein könnte, und die Parallelen zu meinem Traum, der, genauso wie die zahlreichen vorangegangenen, mit der Zeit immer deutlicher wird, sind erschreckend. Ich zwinge mich, an etwas anderes zu denken, um die Panik zu vertreiben, die sich langsam in mir breit macht. Denk an etwas Schönes. An frischen Kaffee, an Schokolade, an niedliche Babykätzchen, an…Dave! Ich schnappe meine Tasche und warte ungeduldig in der Schlange vor dem Ausgang, dass die Tür der Bim endlich aufgeht. Er steht tatsächlich unter dem gelbgrünen Straßenbahnhalteschild und wartet auf mich. Ach, ist das süß! Mir kommt es vor, als wären Jahre vergangen seit unserem ersten Kuss. Aber, oje…wenn ich so schrecklich aussehe, wie ich mich fühle, läuft er mir sicher gleich wieder davon. Hektisch streiche ich mir die Haare glatt und den letzten Sand aus den Augen. Was leidlich wenig hilft. „Hallo, Sandra“, lächelt Dave mich entschuldigend an. „Es tut mir leid, dass ich dich Montag versetzt habe. Ich bin echt fix und fertig gewesen.“ „Hi, Dave. Kannst ja nichts dafür“, erwidere ich schüchtern. Verlegen zupfe ich an einer Haarsträhne herum. Verdammt, sei nicht so aufgeregt, sei locker! Ich atme tief ein. „Also…ähm…wie geht’s dir? Du siehst müde aus…“ Ist das Verlegenheit in seiner Stimme? Seit ich meinen Schwarm kenne, habe ich ihn noch nie nervös erlebt. Selbst beim großen Redewettbewerb letztes Semester, wo er vor so manchen hohen Tieren sprechen musste, nicht. „Mir geht’s gut. Jetzt bist du ja endlich wieder da!“, rutscht es mir heraus, sehr zu meiner eigenen Verwunderung. Mit der Hand vor dem Mund warte ich wieder einmal auf die Hitze in den Wangen, die die aufsteigende Röte normalerweise ankündigt. Doch Dave lacht erleichtert auf und hält mir den Arm hin. „Ja, jetzt bin ich da. Wollen wir?“ Ich hake mich schnell ein und wir schlendern durch den Universitätspark zum Hörsaalgebäude.
„Tut mir leid. Ich bin ein Idiot!“ Plötzlich bleibt er stehen und sieht mich direkt an. Entsetzt bleibe ich ebenfalls stehen und mein Herz setzt eine Sekunde aus. Oje, er bereut den Kuss tatsächlich schon. Ich habe es ja von Anfang an gewusst. Aus der Traum. Dass es ihm leid tut, dass er so mit mir gespielt hat, macht es kaum weniger schlimm. Ich will es nicht hören. „Sandra? Alles ok?“ Irritiert greift er nach meinen Händen und drückt sie. Ich merke, dass ich die Augen zugekniffen habe, um seine demütigenden Worte nicht hören zu müssen und mache sie langsam wieder auf. „Ja. Nein! Ich will das nicht hören!“ „Was?“ Seine Verwirrung wächst zusehends. „Deine Entschuldigung. Dass dir leid tut, was am Ball passiert ist. Dass du mir keine falschen Hoffnungen machen wolltest. Dass ich nicht gut genug bin“, sprudelt es aus mir heraus. Entsetzt über meine eigene Unfähigkeit, meine Worte zu kontrollieren, kneife ich wieder die Augen zusammen. Am liebsten hätte ich die Hände vors Gesicht geschlagen, aber die hält mein Peiniger unerbittlich fest. „Sandra, was redest du da? Ich will mich dafür entschuldigen, dass ich dir nicht gleich gesagt habe, wie toll du aussiehst. Nicht müde. Wunderschön habe ich sagen wollen. Aber ich bin echt feige, was dich angeht…“ Fassungslos reiße ich nun meine Augen auf und starre ihn an. Was hat er da eben gesagt? Hat er das ernst gemeint, oder sollte es nur ein schlechter Scherz sein? Für einen dummen Spaß sieht er mich viel zu ernst an. Oh Gott, er mag mich wirklich! Was sage ich denn jetzt? Du siehst auch wunderschön aus? Nein, passt nicht für einen Kerl. Danke? Arrogant. Ich hab dich lieb? Kitschig. Nichts? Auch nicht gut… Sein Gesichtsausdruck wandelt sich langsam von ernst in enttäuscht. „Ich bin auch feige…“, stelle ich schnell fest, um wenigstens irgendetwas zu sagen. „Merkt man, oder?“ Dave lacht erleichtert und nimmt mich in den Arm. Ach, wie habe ich ihn vermisst. Ich lasse ihn nie wieder los… „Gut, dass wir uns jetzt darüber ausgetauscht haben, dass wir beide feig sind. Was machen wir jetzt mit unserem neu gewonnenen Wissen?“ „Ich würde sagen feig und feig ergibt mutig…oder?“ Ha, jetzt kann ich bei Mr. Mathe-Genie auch noch punkten. „Find ich gut“, murmelt er, „aber leider hast du mich da gerade an etwas ziemlich unschönes erinnert!“ „Was??“ „In 5 Minuten beginnt dein Mathekurs.“ Nach quälenden eineinhalb Stunden ist die Vorlesung endlich zu Ende. Jenny und ich haben eine Stunde Pause, während Dave den ganzen Vormittag in einem Seminar sitzt. So ein Mist, ich kann es jetzt schon kaum erwarten, bis wir uns endlich zum Mittagessen wieder treffen. Diese blöden Schmetterlinge kitzeln ständig im Bauch, das lenkt mich viel zu sehr ab. Während wir unter unserem Lernbaum im Universitätspark sitzen, erzähle ich meiner Freundin von meiner Verletzung, um mich auf andere Gedanken zu bringen. „Haha, Sandra. Was hast du nur wieder angestellt?“, fragt sie amüsiert. „Wahrscheinlich hast du dir nur heißen Tee darüber geleert, so ungeschickt wie du bist.“ „Daran könnte ich mich doch erinnern…“ „Du würdest deinen Kopf liegenlassen, wenn er nicht angewachsen wäre, das weißt du selbst.“ Damit hat sie zweifellos recht. Ich bin eine vergessliche Chaotin, die ständig irgendwo irgendwas liegen lässt und sämtliche TerMiene vergisst. Dabei kann ich mir noch so viele Notizen machen. Sie sind alle sinnlos, weil ich sie entweder verschlampe oder schlichtweg vergesse, sie zu lesen. Aber das ist ja wohl ganz etwas anderes. Jenny setzt ihren grübelnden Blick auf, den sie immer benutzt, wenn sie angestrengt nachdenkt. „He, kannst du dich noch an diesen komischen Film erinnern, den wir vor Ewigkeiten einmal gemeinsam angesehen haben? Den mit Lindsey Lohan?“ Nein, kann ich nicht. Die hat schließlich viele Filme, aber die wenigsten davon sind sehenswert. „Freaky Friday? Ich stecke noch in meinem eigenen Körper, keine Sorge.“ „Nein, den habe ich nicht gemeint. Aber stimmt, das wäre auch eine Möglichkeit. Vielleicht hast du gar nicht mitbekommen, dass du während des Schlafens in einen anderen Menschen hinein gebeamt worden bist“, lacht sie, begeistert von der Idee. Ich finde das eigentlich gar nicht lustig, auch wenn ich natürlich nicht an so einen Quatsch glaube. „Ich meine den mit dem Zwillingsschwestern…“ „Was hat das doppelte Lottchen denn mit meinem Bein zu tun?“ Doch dann fällt mir ein, auf welchen Film Jenny angespielt hat und mir wird schlecht. Und das nicht nur, weil der Film echt mies war. „Achso…ich habe aber keine Schwester. Auch keine von der ich nichts weiß.“ Beim Gedanken an den Psychothriller, wo die Verletzungen des einen Zwillings zeitgleich auf den des anderen übertragen werden, schüttelt es mich. Was für ein krankes Hirn denkt sich nur solche Storys aus? „Woher willst du das denn wissen, wenn du doch nichts von ihr weißt?“, zieht Jenny mich auf. „…jetzt schau nicht so beleidigt, ich mach ja nur Spaß.“ „Glaubst du an Zauberei, Jenny?“ „Nein…zumindest nicht, solange ich nicht mit eigenen Augen einen Beweis dafür gesehen habe.“ „Du weißt, ich bin in diesem Punkt immer ganz deiner Meinung gewesen, aber diese Träume nerven schon genug und jetzt auch noch das…vielleicht verlier ich ja den Verstand…“ „Mach dich nicht verrückt, das geht schon wieder weg! Erzähl mir lieber, was da heute Morgen mit Dave war, so strahlend wie vor der Vorlesung habe ich dich auf dem Ball zuletzt gesehen“. Jennys Ablenkungsmanöver funktioniert und während ich ausführlich über die schönsten 15 Minuten meiner Woche berichte, vergeht die Zeit.
Gedankenverloren und glückselig starre ich in die hellblauen Augen meines Gegenübers und vergesse darüber sogar meinen Salat. Und wenn ich einmal aufs Essen vergesse, dann heißt das etwas. Ich bin glücklich. „Hallo, Sandra. Gut, dass ich dich hier treffe, ich habe dich schon gesucht. Hast du heute Nacht wieder von mir geträumt?“ Ich muss mich korrigieren…ich WAR glücklich. Jared hat echt ein Talent dafür, immer im unpassendsten Moment aufzutauchen. Dave verschluckt sich und bekommt einen Hustenanfall. Kein Wunder bei diesen Worten. Verzweifelt suche ich in meinem vor Schreck erstarrten Hirn nach einer Antwort, die meinen Schatz nichts Falsches ahnen, aber auch meinen Freund das Richtige vermuten lässt. Doch mir will einfach keine einfallen.
„Ja…“ Entgeistert pendelt Daves Blick zwischen Jared und mir hin und her. „Es ist nicht so wie du denkst, ehrlich. Lass es mich erklären…also…das ist Jared. Wir kennen uns vom Ball. Jared, das ist Dave, mein…“ Ja, was ist er? Mein Freund? Darf ich das einfach so sagen? Müssen wir das nicht vorher mit beidseitigem Einverständnis beschließen? Aber wenn ich EIN Freund sage, klingt das als wäre er nichts Besonderes. Und das stimmt ganz und gar nicht.
„…Freund!“, beende ich schließlich den Satz, hoffentlich halbwegs überzeugend. In Daves Verwirrung mischt sich die Spur eines Lächelns, scheinbar habe ich die richtige Wahl getroffen. Noch einmal Glück gehabt. Die beiden Männer werfen sich skeptische Blicke zu, aber immerhin reichen sie sich die Hand. „Ich muss jetzt sowieso wieder in mein Seminar. Wir sehen uns später.“ Dave haucht mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und verschwindet in der hungrigen Studentenmeute. Offenbar doch nicht richtig entschieden. Verdammt! Dabei hat der Tag so gut angefangen.
Zerknirscht starre ich auf meinen kaum angerührten Salat, während sich Jared auf Daves Stuhl niederlässt. „Tut mir leid, Sandra. Das war nicht meine Absicht, ehrlich. Da habe ich wohl nicht nachgedacht“, entschuldigt er sich schließlich. „Obwohl du mir ruhig hättest sagen können, dass du einen Freund hast.“ „Warum? Kann dir ja egal sein“, knurre ich ihn an
„Zum Beispiel, um solchen Missverständnissen wie gerade eben vorzubeugen“, argumentiert er lächelnd. Wo er recht hat… „Na gut, wo du schon einmal hier bist…wie schon gesagt, habe ich heute Nacht wieder geträumt. Ich vermute, dasselbe wie du. Brennender Stall, wilde Pferde, alles voller Rauch…“ Mein Gegenüber nickt.
„Ich habe sogar ein Souvenir aus meiner Traumwelt mit bekommen.“ Ich zeige ihm mein Brandmal, das inzwischen nicht mehr ganz so rot ist. Obwohl die Salbe scheinbar Wirkung zeigt, ist es aber immer noch deutlich zu erkennen.
„Autsch!“, spricht Jared meinen Gedanken laut aus. „Ich hatte heute beim Aufwachen das Gefühl, ich würde gleich ersticken. Nach einem ziemlich heftigen Hustenanfall war es aber besser. Nur, dass ich dann eine halbe Stunde duschen musste, um den Rauchgeruch loszuwerden, den ich mir wahrscheinlich eh nur eingebildet habe.“ Da wäre ich mir mittlerweile nicht mehr so sicher. Diese Gedanken passen eigentlich gar nicht zu mir, aber…was ist, wenn es doch mehr auf dieser Welt gibt, als die Wissenschaft erklären kann? Was ist, wenn wir in der falschen Abteilung gesucht haben?
Mühsam rappelte sich Skyla auf und kniff die Augen zusammen. Der Rauch trieb ihr immer noch die Tränen in die Augen und sie konnte ihre Umgebung nur verschwommen wahrnehmen. Sie wollte nach ihrem Bruder rufen, brachte aber nur ein Krächzen heraus und wurde von einem Hustenanfall geschüttelt.
„Ich bin da, es ist alles gut“. Seine Stimme klang genauso rau wie ihre eigene, als er ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter legte. ER kniete neben ihr und betrachtete sie mit besorgter Miene. Nur langsam kamen ihre Erinnerungen zurück, an den Brand, den Rauch, die unheimliche Frau mit den flammenden Haaren.
„Leben wir noch?“, flüsterte sie. Eigentlich sollte es ein Scherz sein, doch ihre Stimme versagte ihr den Dienst und so klang es eher kläglich als belustigt.
„Ja, wir leben noch…“, antwortete dieser todernst und murmelte etwas, das so klang wie „aber wer weiß wie lange noch“.
„Mach dir keine Gedanken. Wie fühlst du dich?“ Skyla setzte sich langsam auf und wurde erneut von einem Hustenanfall geschüttelt. Ihr war schwindelig und ihr linkes Bein brannte. Als sie den Leinenkittel ein Stück hochzog, offenbarte sich der Grund für ihre Schmerzen und der sonst so unerschrockene Krieger zog scharf die Luft ein. Die Haut war dunkelrot und warf große Blasen, sie musste im Stall auf glimmendes Stroh gefallen sein, als sie stolperte. Verwundert schüttelte sie den Kopf, sie hatte es in diesem Moment nicht gespürt.
„Es brennt nur ein bisschen, aber ansonsten geht’s mir gut. Was ist mit dir? Du warst viel länger drin.“ „Keine Sorge, ich bin zäh. Mir ist nichts passiert…“ Er zögerte.
„Aber?“ „Der Stalljunge…mein Rappe erwischte ihn mit dem Huf am Kopf, als er in Panik ausschlug. Er war ohnmächtig und ich konnte ihn im dichten Qualm nicht gleich finden…und dann musste ich zurück, um dir zu helfen…“ Skyla schoss das Bild des leblosen Körpers auf Tristans Armen durch den Kopf. „Er ist tot“, hauchte sie und wurde noch blasser, als sie es ohnehin schon war. „Warum sterben plötzlich alle um mich herum?“ Tristan schüttelte traurig den Kopf. „Mit dir hat es nichts zu tun. Ich war zu langsam, es war meine Schuld!“ Skyla runzelte die Stirn. „Nein! Das Feuer. Die Frau. Ich glaube ja an vieles, aber an den Zufall nicht!“ Langsam fiel ihr alles wieder ein. Der blonde Krieger sah sie fragend an. „Wieso Zufall? Hast du sie denn schon einmal gesehen?“ Sie erzählte ihm von Sams Beobachtung, und dass sie sich sicher war, eine Frau mit flammend roten Haaren in der Türe stehen gesehen zu haben. Bei der Erinnerung an das höhnische Lachen der Frau lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter.
„Ich habe sie auch gesehen. Das kann tatsächlich kein Zufall sein. Aber was will sie und hinter wem ist sie her? Hinter dir oder mir?“ Für Skyla lag die Antwort auf der Hand. „Hinter mir, vielleicht auch hinter uns beiden. Wir sind Geschwister und unsere Mutter ist nicht aus freien Stücken jahrelang rastlos umhergewandert. Tante Brenda hat nicht gewusst, dass ich mit dir unterwegs gewesen bin, an diesem einen unseligen Abend. Sie hat gedacht, ich schlafe in meinem Zimmer. Und wahrscheinlich hat diese mysteriöse Frau genau dasselbe gedacht, als sie die Taverne in Brand gesteckt hat. Sie hat meine Zieheltern ermordet und nun will sie auch mich töten!“ Tristan schwieg betroffen. Dem hatte er nichts entgegen zu setzen.
Skyla sah sich um, offenbar war sie nur wenige Minuten ohnmächtig gewesen. Aus dem Stall quollen noch immer dunkle Rauchwolken, doch er brannte zu ihrem Erstaunen nicht. Die Rekruten standen ratlos davor, scheinbar war es nicht ihr Verdienst gewesen, dass sich das Feuer nicht auf das ganze Gebäude ausgebreitet hatte. Einige Meter entfernt sah sie einen jungen Mann über dem Leichnam des Stalljungen knien. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und sie hörte ihn leise schluchzen. Plötzlich hob er ruckartig den Kopf und starrte sie aus hasserfüllten Augen an. Er sprang auf, ballte die Hände zu Fäusten und schrie wütend: „Das ist alles nur deine Schuld, du Hexe! Du verdammte, ruchlose Hexe! Dafür wirst du büßen!“ Skyla starrte ihn entgeistert an, während er wutentbrannt auf sie zustürzte. Tristan schien genauso verwirrt, reagierte aber, seinen kriegerischen Instinkten folgend, schneller und stellte sich dem tollwütigen Kerl in den Weg. Dieser wollte ihn zur Seite stoßen, hatte den fast doppelt so breiten Schultern des Kriegers aber nichts entgegen zu setzen. Einige der Rekruten eilten Tristan zu Hilfe und so beschränkte er sich darauf, ihr wüste Beschimpfungen entgegen zu schleudern. Als der Hauptmann, durch das Geschrei aufmerksam geworden, auf die beiden zukam, verzog er sich schließlich in Richtung Wohnhaus.
Auf Derrins fragenden Blick hin, hoben das Mädchen und ihr Bruder nur die Schultern und blickten sich ratlos an. Einer der Rekruten erörterte ihnen, dass Kiaran, wie der tobende Mann scheinbar hieß, der Bruder des Stalljungen war. Skyla verstand nun seine Trauer und Wut, nicht aber, wie er darauf kam, ihr die Schuld zu geben, geschweige denn, warum er sie als Hexe beschimpft hatte. Tristans Onkel beantwortete ihr ihre stumme Frage, indem er ihnen erzählte, was die Rekruten zu sehen geglaubt hatten. Erst durch den Rauch waren die jungen Männer und der Hauptmann auf die seltsamen Vorgänge im Stall aufmerksam geworden. Sie hatten gedacht, es wäre ein Brand ausgebrochen und während ein Großteil um Löscheimer rannte, liefen einige, darunter auch Kiaran, direkt zum Gebäude, um zu sehen, ob sich noch jemand darin befände. Sie sahen die Frauengestalt von der Ferne, doch im nächsten Augenblick war sie verschwunden. Genauso wie das Feuer, das sie eben noch durch den Türrahmen hatten lodern sehen. Nur der dichte Qualm und der Gestank nach nassem, verbranntem Stroh zeugten noch von den Flammen.
Derrin wollte nicht glauben, dass diese Frau den Brand ausgelöst hatte. Es musste ein Unfall gewesen sein, vielleicht hatte der Stalljunge nicht acht gegeben. Tristan argumentierte, dass es wenig Sinn machte, am helllichten Tag mit einer Kerze oder Fackel in den Stall zu gehen und anders war das Feuer nicht zu erklären. „Ich weiß, was ich gesehen habe, Onkel. Ich glaube genauso wenig an Hexerei wie du, aber diese Frau war die Ursache. Glaub mir, Skyla kann es bestätigen.“ Sie nickte zaghaft und versuchte, sich die letzten Minuten vor der Katastrophe ins Gedächtnis zu rufen. „Tristan hat recht. Es hört sich nach einem bösen Märchen an, aber es ist wahr. Sie hat nur die Hand gehoben und im nächsten Moment fing das Stroh wie aus dem Nichts an zu brennen.“ „Sie hielt sicher eine brennende Kerze in der Hand. Ihr standet schließlich am anderen Ende des Gebäudes.“, schlussfolgerte der Hauptmann. „Nein, Onkel. Es war dunkel im Stall, während draußen strahlender Sonnenschein herrschte. Eine Lichtquelle hätten wir selbst über diese große Distanz sehen müssen.“ Skyla schloss die Augen und griff sich an die Schläfen, die Diskussion war in ihren Augen müßig. Wer konnte schon sagen, was wirklich geschehen war. Das Gerede über Feuer, das aus dem Nichts kam und durch nichts wieder verschwand, über Hexen und…Magie bereitete ihr Kopfschmerzen. Sie glaubte nicht an Zauberei, auch nicht an Gott oder an das Schicksal. Weder Onkel Tony, noch Tante Brenda waren übermäßig religiös gewesen. Sie hatten sie zwar im christlichen Glauben erzogen, weil dies nun einmal die vorherrschende Religion im Lande war, Gedanken hatte sie sich bis heute aber kaum darüber gemacht. Genauso wenig glaubte sie jedoch an Zufälle, daher musste sie sich eingestehen, dass sie keine Erklärung für die Geschehnisse der letzten Stunden hatte. Kiaran hatte sie als Hexe beschimpft. Sie fragte sich, warum. Wenn er dasselbe gesehen hatte wie sie und Tristan, musste er doch wissen, dass sie nichts getan hatte. Dass es nicht ihre Schuld war, dass sein Bruder tot war. „Geht euch erst einmal waschen. Ich veranlasse, dass eure Pferde wieder eingefangen werden. Wir sehen uns beim Nachtmahl.“, brummte Derrin in seinen Bart und verschwand. Die beiden kehrten zu dem gewaltigen Steinhaus zurück und taten wie geheißen. Danach ging es Skyla etwas besser, der penetrante Rauchgestank verflüchtigte sich langsam. Nachdem die Schmerzen aber immer noch in ihrem Kopf wüteten, legte sie sich aufs Bett und versuchte zu schlafen. Doch der Gedanke an die unheimliche Frau ließ sie nicht los. Hexen, Zauberei, Magie…was für ein Unsinn, dachte sie. Und dennoch musste sie zugeben, dass der Anblick der dunklen Gestalt, nur erhellt durch den flackernden Feuerschein, etwas Magisches hatte. Etwas Düsteres, Unheimliches, Mystisches. Doch vor allem etwas Bedrohliches. Sie wurde gejagt, schoss es ihr durch den Kopf. Genau wie ihre Mutter. Was es tatsächlich auch ihr Los, ein Leben lang auf der Flucht vor etwas zu sein, dass sie nicht einmal kannte? Áed…ob das der Name der Frau war? Sie konnte sich bis jetzt keinen Reim darauf machen, sie kannte das Wort nicht. Das würde einen Sinn ergeben, trotzdem blieben noch so viele Fragen offen, Fragen auf die Skyla keine Antwort wusste und diese Unwissenheit machte sie nervös. Zusätzlich quälte sie der Gedanke an Kiaran und sie fragte sich, ob er vielleicht recht hatte. Natürlich hatte sie seinen Bruder nicht selbst umgebracht, aber wenn die Hexe, Áed, nur wegen ihr hier gewesen war und das Feuer entfacht hatte, dann war es tatsächlich ihre Schuld, dass er tot war. Genauso war sie auch für den Tod ihres Onkels und ihrer Tante verantwortlich. Sie brachte Tristan in Gefahr, auch er wäre heute beinahe gestorben und alles nur wegen ihr. Verzweifelt sprang sie auf, sie musste etwas unternehmen. Sie musste weg von hier, um möglichst viel Abstand zwischen sich und Tristan, seinen Onkel und alle anderen Menschen zu bringen. Sie musste gehen, um niemanden mehr zu gefährden. Nur wusste sie nicht wohin. Vielleicht wüsste ihr Vater Rat, aber auch ihn würde sie in Gefahr bringen, abgesehen davon, dass sie den Weg zu ihm nicht kannte. Außerdem hatte sie kein Pferd, sofern es Derrins Männern nicht inzwischen gelungen war, es wieder einzufangen. Entmutigt ließ sie sich wieder auf das Bett fallen und verbarg das Gesicht in ihren Händen.
Sie lag immer noch genauso da, als Tristan sie zum Nachtmahl holte. Es dämmerte bereits und am liebsten wäre sie liegengeblieben. Aber sie wusste natürlich, dass es keinen Sinn machte, sich vor der Realität zu verstecken, ob sie sie nun wahrhaben wollte oder nicht. Seufzend erhob sie sich und folgte Tristan die Treppe hinab. Derrin wartete bereits auf sie und brummelte irgendetwas Unverständliches in seinen Bart, während sie sich setzten. „Eure Pferde sind vor dem Stall angebunden. War gar nicht so einfach, die verängstigten Viecher einzufangen. Vor allem, nachdem Johnny ja…“, et stockte, offenbar war auch ihm gerade in den Sinn gekommen, dass Skyla nicht unbedingt daran erinnert werden wollte, dass wegen ihr ein Junge gestorben war. „Aber ich würde es begrüßen, wenn ihr noch einen Tag länger verweilt. Ihr müsst euch von den heutigen Strapazen erholen, Skyla. Und Tristan kann morgen die Schüler unterrichten.“ Tristan gab seine Zustimmung, ein Tag mehr oder weniger wäre nicht ausschlaggebend. Doch seine Schwester konnte ihm in diesem Punkt nicht zustimmen. „Ich weiß, dass ihr nicht an Hexerei glaubt, auch ich tue das nicht. Aber ich weiß, dass ich diese rothaarige Frau gesehen habe und ich weiß, dass sie hinter mir her ist. Es ist meine Schuld, dass Onkel Tony und Tante Brenda tot sind und es ist auch meine Schuld, dass Johnny gestorben ist. Ich kann nicht zulassen, dass noch jemand meinetwegen stirbt und solange ich hier bin, seid ihr alle in Gefahr. Am liebsten würde ich noch heute Nacht abreisen.“ Derrin sah sie mitleidig an. „Ich glaube tatsächlich nicht, dass es etwas mit Euch zu tun hat, aber wenn Ihr es wünscht, könnt ihr natürlich auch gleich morgen zu Tagesanbruch weiterziehen.“ Sie blickte Tristan flehend an, bat ihn stumm um seine Zustimmung. Doch dieser reagierte zornig, statt, wie erhofft, verständnisvoll. Er hielt nichts von Selbstkasteiung, sie solle aufhören, sich die Schuld an allem Bösen und Schlechten auf der Welt zu geben. Als sie trotz seiner finsteren Mine hartnäckig blieb, gab er aber doch nach. Er konnte seiner kleinen Schwester einfach nichts ausschlagen.
Am nächsten Morgen sattelten sie schon im Morgengrauen die Pferde. Skyla hatte kaum schlafen können und daher bereits alles gepackt. Als der Morgen immern och in weiter Ferne war und sie nichts Besseres mit sich anzufangen gewusst hatte, war sie zu Ash und Ceara gegangen und hatte sich mit ihnen unterhalten. Sie musste wohl schon dabei sein, verrückt zu werden, wenn sie mit Tieren sprach. Aber immerhin waren sie nun nicht nur gefüttert, gekämmt und gestriegelt, sondern auch sehr viel ruhiger als vorher. Der Schreck hatte auch sie aufgewühlt. Nun schwangen sie sich in die Sättel und ritten los. Nach wenigen Metern wurden sie jedoch bereits wieder aufgehalten. Kiaran stand plötzlich vor ihnen und gebot ihnen, stehen zu bleiben. Skyla fiel die enorme Ähnlichkeit zu dem Stalljungen auf, die sie in der Verwirrung ihrer ersten Begegnung nicht wahrgenommen hatte. Er hatte schulterlange, schwarze Haare und einen gleichmäßig kurzrasierten Bart. Er musste älter sein, als die anderen Rekruten, etwa in Skylas Alter. Sein Gesichtsausdruck hatte sich im Vergleich zum Vortag nur unwesentlich verbessert. Auch diesmal starrte er das Mädchen hasserfüllt an. „Ihr seid schuld daran, dass diese Hexe den Stall in Brand gesetzt hat. Euch ist es also zuzuschreiben, dass mein Bruder tot ist. Ihr werdet mir sagen, wer sie ist und wo sie ist, damit ich sie finden und töten kann!“, knurrte er mit bebender Stimme. Skyla zitterte, er hatte all ihre düsteren Gedanken und Ängste, die sie die ganze Nacht über verfolgt hatten, in 2 Sätzen ausgedrückt. Sie wollte ihm antworten, dass er recht hatte, ihm sagen, dass es ihr Leid täte. Doch ihre Kehle war staubtrocken und sie brachte kein Wort heraus. Tristan, der ihren inneren Kampf bemerkt hatte, antwortete an ihrer statt. „Seid kein Narr Kiaran, und geht aus dem Weg. Sie hat nichts mit dem Feuer zu tun. Es war ein Unfall, für den keiner die Schuld trägt.“ „Oh, natürlich. Ich sehe seelenruhig zu, wie ihr meinen Bruder umbringt und lasse Euch dann einfach Eures Weges ziehen“, er lachte trocken und humorlos auf. „Warum auch nicht, soll ich Euch vielleicht noch etwas Proviant einpacken? Und euch viel Glück auf euren Reisen wünschen?“ Skyla wurde noch blasser. „Ich habe ihn nicht umgebracht“, flüsterte sie kraftlos, aber selbst in ihren Ohren klang es nach einer dumpfen Ausrede. „Sagt mir jetzt wo diese Hure ist, damit ich sie bei lebendigem Leibe verbrennen kann“, brüllte Kiaran. „Wir wissen es nicht, ehrlich. Wir wissen weder wer oder was sie ist, noch wo sie ist. Das einzige, was wir mit Sicherheit sagen können ist, dass sie uns folgt. Deshalb verlassen wir auch die Stadt, damit nicht noch mehr Unheil unseretwegen geschieht.“, versuchte Tristan, ihn zu beruhigen. Sein diplomatisches Geschick und Auftreten schien zu fruchten. Etwas leiser antwortete der wütende Mann: „Dann komme ich mit Euch. Wenn sie euch folgt, wird sie früher oder später wieder in eurer Nähe auftauchen. Und dann gehört sie mir!“ Tristan schüttelte entschieden den Kopf, es wäre zu gefährlich für ihn. Doch Skyla nickte, sie wusste selbst nicht warum. Sie wollte ihn nicht in Gefahr bringen, aber aus irgendeinem Grund wollte sie, dass er mitkam. Vielleicht schlicht wegen der Tatsache, dass sie genau wusste, wie er sich fühlte. Weil sie sein Verlangen nach Rache verstand und seinen Schmerz nachempfinden konnte. Ihr Bruder blickte sie irritiert an, ihrem flehenden Blick konnte er jedoch wieder einmal nicht standhalten und schob die Entscheidung daher auf seinen Onkel. Der Hauptmann der Garde war wenig begeistert von der Idee, andererseits war Kiaran aber einer der vielversprechendsten Schüler, wenngleich er auch einige Jahre älter war. Er war geschickt, schnell und den Mangel an Körperkraft macht er durch seine überragende Raffinesse wieder wett. Etwas „praktische Erfahrung“ konnte ihm nicht schaden und so stimmte er schließlich zu. Kurze Zeit später machten sie sich endlich auf den Weg, jeder der Drei mit anderen Zielen und Hoffnungen.
Wieder einmal stehe ich ratlos in der Bibliothek. Der Übersichtsplan behauptet, die Belletristik wäre im 3. Stockwerk beheimatet, also mache ich mich ans Treppensteigen. Allerdings mit mehr Zögern als Elan in den Schritten, beinahe komme ich mir selbst lächerlich vor. „Legenden & Sagen“ prangt groß auf einem Schild zu meiner Rechten. Die Abteilung ist gar nicht einmal so klein. So viel Unsinn an einem Fleck, denkt mein mathematisches Ich. Es sind doch alles nur Märchen. Wie konnte ich auch nur denken, es gäbe tatsächlich eine mythische Erklärung für meine Träume? Und die Brandblasen haben sicher auch nichts mit den nächtlichen Aktivitäten meines Gehirns zu tun. Jenny hat mich einfach verrückt gemacht, mit ihrer Bemerkung über diesen blöden Film. Aber wo ich schon einmal hier bin, kann ich mich auch etwas umsehen. Schließlich mag ich Märchen ja sehr. Zumindest, solange ich nicht selbst eine Rolle darin spiele. Der größte Teil handelt von Rittersagen, ein weiterer Teil von irischen Mythen. Letzteres klingt schon eher nach Magie…habe ich das gerade wirklich gedacht? Magie? Seufzend streiche ich weiter mit dem Finger über die Buchrücken und versuche, aus den Titeln schlau zu werden. Wenn ich nur wüsste, wonach ich suchen soll. Doch dann halte ich plötzlich inne, mein Finger schwebt über einem unscheinbaren, braunen Buch, dessen Rücken seltsamerweise nicht beschriftet ist. Vorsichtig ziehe ich es heraus und versuche, die verschnörkelte Schrift auf der Vorderseite zu entziffern: Áed – Die Feuersage. Klingt durchaus vielversprechend, Feuer gibt es in meinen Träumen ja genug. Sogar mehr als mir lieb ist. Also schlage ich das Buch auf und beginne zu lesen.
Nach einigen Seiten habe ich immerhin eine Ahnung davon, wovon die Geschichte handelt: Feuermagiern. Es gibt so etwas wie Magie nicht, dessen bin ich mir sicher, folglich auch keine Magier. Aber die Geschichte fesselt mich trotzdem und ich mache es mir mit dem Buch in einer ruhigen Ecke gemütlich. Nach ein paar weiteren Kapiteln ist mir klar, dass ich vollkommen verrückt sein musste. Ein Magierzirkel, der es versteht, das Feuer-Element zu kontrollieren, unerkannt unter den Menschen lebt und sie beschützt oder auch vernichtet. Klingt eher nach einem Videospiel, als nach Realität. Die Kraft der Feuermagie darf ausschließlich zur Verteidigung des Volkes, nie aber für den eigenen Vorteil genutzt werden. Wer gegen diese Regel verstößt, wird gezeichnet, bekommt also eine neue Haarfarbe verpasst. Nämlich Rot, was sonst. Je schlimmer das Vergehen, desto intensiver der Farbton. Demnach muss die Hexe aus meinem Traum ja eine ziemliche Furie sein...oh Gott, habe ich da gerade von dieser Magierin als reelle Person gedacht? Wenn die Legende wahr wäre, wäre Jenny wohl eine von ihnen, und die kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Obwohl mir schon die ein oder andere Person einfallen würde, bei der sie durchaus zutreffen könnte.
So ein Unfug! Entschlossen klappe ich das Buch zu. Natürlich ist es frei erfunden und die Ähnlichkeit mit meiner „Traumhexe“ nur ein Zufall. Aber die Geschichte ist spannend und ich brauche sowieso wieder neuen Lesestoff. Wenn ich es schon einmal in der Hand habe, kann ich es auch mitnehmen.
In der Straßenbahn, auf dem Weg nach Hause, kreisen meine Gedanken um Dave. Sein enttäuschter Gesichtsausdruck, als er mich im Cafe sitzen lassen hat, will mir nicht aus dem Kopf gehen. Er hat mir nicht geglaubt, und das zu Recht. Aber was hätte ich auch sagen sollen? Dass ein anderer Junge in meinen Träumen rumspuckt? Da würde ich an seiner Stelle auch vor Eifersucht durchdrehen. Eigentlich ist es ja ganz süß, dass er so empfindet. Wenn es doch nur keine Grund dafür gäbe. Seufzend nehme ich das ausgeliehene Buch zur Hand und versuche, mich damit abzulenken. Doch schon nach wenigen Seiten beende ich den Versuch wieder – erfolglos. Ich werde ihn anrufen, gleich wenn ich nach Hause komme. Nein, ich werde zu ihm fahren und ihm alles erklären. Obwohl, das ist wohl auch keine gute Idee. Dann hält er mich sicher für aufdringlich und wer will schon eine nervige Klette als Freundin? Ein Überflieger wie Dave sicher nicht. Ohne zu einem vernünftigen Schluss gekommen zu sein, komme ich schließlich zu Hause an und gönne mit erst einmal eine Pizza. Nicht, dass ich ein Fan von Tiefkühlpizza wäre, aber nachdem ich vor lauter Schreck meinen Salat stehen gelassen habe, macht sich mein Magen nun schon lautstark bemerkbar. Während ich auf die Mikrowelle starre, drehen sich meine Gedanken genauso im Kreis wie mein Essen. Monatelang habe ich für diesen Jungen geschwärmt und davon geträumt, dass er mich wahrnimmt. Und jetzt, wo es tatsächlich passiert ist, droht ein anderer Traum wieder alles kaputt zu machen. Ich muss eine Erklärung für Jared und seine Bemerkung finden, ohne die Wahrheit zu sagen. Aber auch, ohne zu lügen. Warum musste Jared auch so einen dämlichen Scherz machen? Männer und ihre Witze. Ein Ping dringt durch meine düsteren Gedanken und ich verbrenne mir glatt die Zunge am heißen Käse. Guter Morgen, mieser Tag, noch mieserer Abend. Frustriert setze ich mich an meinen Schreibtisch, jetzt steht auch noch Mathe lernen an. Schlimmer geht’s immer.
Am nächsten Morgen werde ich von Sonnenstrahlen geweckt, die mich an der Nase kitzeln. Diese Nacht hat mich ausnahmsweise einmal kein Traum gequält, was meine Laune deutlich hebt. Und die warme Lichtflut verspricht endlich Frühling und ein ganzes Stück zuversichtlicher als gestern, hüpfe ich aus dem Bett. Ich werde Dave einfach sagen, dass Jared ein Teil meiner Vergangenheit ist und mich gerne ärgert. Er hat ja schließlich auch genug Freundinnen vor mir gehabt, und ich muss damit leben, dass sie ihm jederzeit über den Weg laufen können. Klingt nach einem Plan. Genau, so werde ich ihm das heute erklären. Eilig mache ich mich auf den Weg zur Straßenbahn. Doch leider hält meine Euphorie nicht lange an, denn an der Haltestelle ist weit und breit kein gutaussehender, schwarzhaariger Prachtkerl namens Dave zu sehen. Natürlich ist es dumm von mir gewesen, zu erwarten, dass er heute wieder auf mich wartet. Insgeheim habe ich es wohl trotzdem gehofft. Aber ich will mir meine Zuversicht nicht nehmen lassen und nehme mir fest vor, ihm beim Mittagessen alles zu erklären. Jetzt muss ich mich aber erst einmal Jenny und Kate stellen, die vor der Cafeteria auf mich warten.
„Hey, Sandra. Du siehst heute ja fast gut gelaunt aus. Wie kommt denn das?“, begrüßt mich Jenny, charmant wie immer.
„Ich habe Streit mit Dave…“
„Äh…ja, das erklärt deine gute Laune natürlich.“
„Aber ich habe ihn meinen Freund genannt, und er hat nicht widersprochen“, erläutere ich meine positive Stimmung.
„Das ist ein gutes Zeichen. Ich habe dir ja gesagt, deine Zeit wird schon noch kommen.“ Kates unerschütterlicher Optimismus kam wie immer genau richtig.
„Wieso ist er dann nicht hier? Gestern hat er dich doch auch hergebracht.“ Und Jennys Pragmatismus zerstörte wieder alles, wie immer.
Dafür musste sie sich mit einem Achselzucken und 2 bösen Blicken zufrieden geben.
Die Zeit bis zur Mittagspause kriecht quälend langsam dahin. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht ständig auf mein Handy zu starren und nach dem kleinen Briefsymbol am Display Ausschau zu halten. Er hat Vorlesung und er ist ein Streber, da hat er nun einmal keine Zeit zum Nachrichten tippen. Ein schwacher Versuch, mich zu beruhigen. Vielleicht will er jetzt auch einfach nichts mehr von mir wissen, weil er denkt, ich schmachte einem anderen nach. Vielleicht hat er meine Nummer schon vom Handy und meinen Namen aus seinem Gedächtnis gelöscht. Vielleicht…sollte ich mich eher auf den Dozenten konzentrieren, der da unten Kauderwelsch von sich gibt, anstatt mir von der trostlosen Atmosphäre des kalten, halbleeren Hörsaals die gute Laune kaputt machen zu lassen. Endlich ertönt das erlösende, vielstimmige Klopfen, das das Ende der Vorlesung ankündigt und ich stürme erleichtert bei der Tür hinaus. Auf dem Weg zur Mensa tut die Sonne wieder ihre Wirkung. Kate und Jenny haben heute wieder andere Stundenpläne, das heißt ich habe eine ganze Stunde Zeit, um Dave davon zu überzeugen, dass er immer noch mein Freund sein will. Mein Freund! Ja, ich werde ihn einfach ganz direkt fragen, ob es falsch war, ihn so zu bezeichnen, oder nicht. Nervös stehe ich vor der großen Glastür und trete von einem Bein auf das andere. Wenn er sich noch mehr Zeit lässt, verschwindet mein vorübergehender Mutanfall wieder. Sollte ich ihn anrufen? Nein, ich will nicht aufdringlich sein. Aber ich will auch nicht den Eindruck vermitteln, er wäre mir egal, also krame ich schließlich doch mein Handy heraus und drücke seine Nummer. Doch es meldet sich nur die Mobil-Box. Es wäre typisch für ihn, wenn er das Handy abdreht, während der Lehrveranstaltungen. Muss also nichts mit mir zu tun haben, versuche ich mich zu beruhigen. Er hat an diesem Tag zur selben Zeit Mittagspause wie ich, da bin ich mir sicher und er geht in der Mittagspause immer hierher essen. Also muss er hier vorbeikommen. Er wird doch nicht etwas auf sein Essen verzichten, nur um mir aus dem Weg zu gehen? Ist er wirklich so sauer auf mich, dass er mich nicht einmal sehen will?
Es ist zu spät, die Selbstzweifel haben meinen Mut wieder einmal aufgefressen und frustriert schleiche ich zu meinem Lernbaum. Wenigstens habe ich das Buch dabei und kann ein wenig lesen, um mich abzulenken. Ein junger Zauberlehrling, der seine Kräfte noch nicht zu beherrschen weiß, zündet aus Wut die Stiefel eines Burschen an, der ihn immerzu hänselt. Zum Glück ist ein Bach in der Nähe und die Füße sind schnell gelöscht. Leider bekommt der Junge jetzt orange Haare und muss sich erst wieder beweisen, bevor er einem Dorf als Wächter zugeteilt werden kann. Aber wenigstens hat er seinen Spaß gehabt, als der Tunichtgut mit glühenden Sohlen panisch davon gestürmt ist.
„Geschieht ihm ganz recht, dem Mistkerl“, murmle ich vor mich hin.
„Ich hoffe, du meinst nicht mich?“, ertönt eine Stimme hinter mir und ich zucke erschrocken zusammen. Dave lehnt lässig hinter mir am Baumstamm und wirft mir einen halb belustigten, halb fragenden Blick zu.
„Äh…nein.“
„Was liest du denn da?“
„Ein Buch“, lautet meine geistreiche Antwort, aber ich bin zu durcheinander, um was Vernünftiges hervorzubringen. Erst rauscht er wütend davon, dann lässt er mich den ganzen Vormittag zappeln und dann erkundigt er sich ganz unschuldig nach meinem Lesestoff?
„Ja…ok, das sehe ich. Na gut, du bist wohl sauer auf mich. Kann ich verstehen.“
Ich sauer auf ihn? Heißt das, er ist mir gar nicht böse? Ich habe mich ganz umsonst verrückt gemacht? Sein Dackelblick würde wohl einen Eisblock dahin schmelzen lassen und ich kann kaum meine Gedanken ordnen. Gemein, dabei habe ich mir doch extra so einen guten Plan zurecht gelegt. ER bringt alles durcheinander, jetzt muss ich mich neu ordnen.
„Nein, ich bin gar nicht sauer. Warum sollte ich auch?“ Naja, eigentlich war ich es jetzt schon. Er hätte mir doch sagen können, dass ich mir umsonst Sorgen mache! Hmpf!
„Naja, weil ich so unkollegial auf deinen Freund reagiert habe. Ist doch klar, dass du andere Freunde hast. Wär ja auch komisch, wenn nicht. Ich versteh zwar nicht ganz, warum du behauptet hast, von ihm zu träumen, aber es geht mich auch nichts an. Eifersucht gehört eigentlich nicht zu meinen Schwächen, also…entschuldige.“
„Wow…“ Wieder einmal eine ganz tolle Antwort, für die ich einen ziemlich zweifelnden Blick von meinem Angebeteten ernte, aber mehr fällt mir nicht ein. Ich kann einfach nicht denken. Dafür verspüre ich viel zu sehr den Drang, ihn zu umarmen und zu küssen. Jetzt. Sofort. Eine ganz kurze Sekunde bin ich noch fähig, mich über meinen Mut zu wundern, bevor meine Lippen auf seinen landen und mein Gehirn endgültig in Streik tritt.
Seufzend löse ich mich wieder von ihm. Ich habe mir vorgenommen, mit ihm zu reden, nicht ihn einfach so zu überfallen. Er streicht mir lächelnd eine Strähne aus dem Gesicht und wirft mir diesen einen, atemberaubenden Blick zu, der schon am Ball mein Herz zum Rasen gebracht hat. Wie soll man da auch ein vernünftiges Gespräch führen können?
„Ich deute das jetzt einfach einmal als ein ‚Entschuldigung angenommen‘, okay?“
„Okay…“ Ich weiß, ich sollte ihm erklären, dass es meine Schuld war und er durchaus das Recht hat, wütend zu sein. Aber der Moment ist zu schön, um ihn damit zu zerstören.
„Wie hast du mich überhaupt gefunden?“
„Du hast mir doch letztens davon erzählt, dass ihr einen eigenen „Lernbaum“ im Unipark habt. Und nachdem du so eine Sonnenanbeterin bist, war es naheliegend, dass ich dich hier irgendwo finde. Ich musste allerdings ziemlich viele Bäume abgrasen, bis ich den richtigen hatte.“, lacht er und ich laufe rot an. Er hat sich nicht nur jedes noch so unwichtige Detail gemerkt, dass ich ihm im Laufe der letzten Woche gesimst habe, er hat auch noch seine halbe Mittagspause geopfert, um mich zu finden.
„Da hast du aber Glück gehabt, denn weißt du, wer 20 Minuten lang vor der Mensa auf dich gewartet hat, während du hier spazieren gegangen bist?“ Ich grinse ihn schief an, in der Hoffnung, meine überschwängliche Freude damit überspielen zu können. „Wirklich? Dann bist du also nicht sauer?“
„Doch. Aber nur, weil du dein Handy abgeschaltet hast. Hätte mir das Warten erspart.“
„Entschuldige, der Akku ist leer. Ich habe verschlafen, deshalb bin ich zu spät gekommen heute Morgen. Ist einfach ein richtig mieser Tag gewesen, bisher.“
Er hat verschlafen, der Oberstreber Dave hat verschlafen. Wahrscheinlich, weil er sich die halbe Nacht schuldbewusst im Bett herumgewälzt hat und nicht schlafen hat können. Nun ja, gut. Das ist eher unrealistisch, aber träumen darf ich ja wohl noch. Von meinem richtigen Traummann natürlich. Seufzend nehm ich seine Hände in meine und schaue ihm in die Augen.
„Also, weißt du…ich will deinen Tag wirklich nicht noch schlechter machen, aber Jared ist nun einmal ein Freund und das soll er auch bleiben dürfen. Das mit dem Traum war nur ein dummer Scherz von ihm“, versuche ich, ihm zu erklären. Ihm dabei in die Augen zu sehen, war wohl keine gute Idee. Denn da sehe ich eindeutig ein Blitzen. Lacht er mich jetzt aus, weil ich meine Freiheit verteidige? Dann muss ihm wohl entgangen sein, dass ich ihn „meinen Freund“ genannt habe und ich habe mir nur eingebildet, dass er sich darüber gefreut hat. Seufzend starre ich unsere ineinander verschränkten Hände an und warte auf sein demütigendes Kommentar.
„Heißt das, du hast das tatsächlich ernst gemeint gestern?“, grinst er.
„Was?“
„Dass ich dein Freund bin. Also dein richtiger, fester Freund.“
„Kommt darauf an…“ Ich habe keine Ahnung, auf was das jetzt hinaus läuft und das gefällt mir ganz und gar nicht.
„Worauf?“
„Hm…“ Sag jetzt bloß nicht wieder irgendetwas Dummes. Die Antwort will gut überlegt sein. „Darauf, ob du dich darüber freuen, oder mich deswegen verspotten würdest, angenommen den Fall, es wäre ernst gemeint gewesen.“ Okay, das war nicht ganz das, was ich sagen habe wollen, aber vielleicht reicht es ja aus, um ihn zu verwirren und er entlässt mich aus diesem peinlichen Kreuzverhör.
Stirnrunzelnd sah er mich an. „Natürlich würde ich mich freuen. Wieso sollte ich dich verspotten?“
Ich zucke nur ratlos mit den Schultern.
„Gut, um es noch einmal ganz richtig und offiziell zu machen.“ Er tritt einen Schritt zurück und deutet eine Verbeugung an. „Sandra Parker, wollt ihr meine Freundin sein?“
Fast hätte ich vor lauter Verzückung „Ne, gar nicht“ gesagt. Aber Dave ist nicht einer meiner Cousins, er hätte den Sarkasmus womöglich nicht heraus gehört. „Es wäre mir eine Ehre, Mr. Dave.“ Ich mache einen Knicks, oder zumindest etwas das so ähnlich aussehen sollte und lachend zieht er mich in seine Arme. Ich bin jetzt also ganz offiziell die Freundin von Dave. Wahnsinn!
Skyla fröstelte und zog ihren Umhang enger um die Schultern. Sie war so weit vom Lagerfeuer abgerückt, dass sie die Wärme, die von ihm ausging, kaum noch spüren konnte. Düster starrte sie in die Flammen, die ihr mittlerweile soviel Leid zugefügt hatten. Tristan warf ihr einen mitleidigen Blick zu. „Skyla…“, begann er
.„Nein!“ Entschieden schüttelte sie den Kopf, ohne dabei den Blick zu heben.
„Doch! Es wird noch sehr viel kälter werden in der Nacht. Du holst dir sonst den Tod, wenn du erfrierst, hat keiner etwas davon.“
Er hatte recht. Schon jetzt klapperte sie so laut mit den Zähnen, dass es ihr vorkam, als wäre es meilenweit zu hören. „Das Feuer ist der Tod…“
Ihr Bruder seufzte. „Du bist genauso dickköpfig wie Kiaran. Seltsam, dass du ihn nicht leiden kannst. Ihr würdet gut zusammenpassen.“
Skyla hob ruckartig den Kopf und funkelte ihn empört an. „Ich kann ihn nicht leiden? Er hasst mich, und das zu Recht. Ich habe seinen Bruder auf dem Gewissen.“
„Er hasst dich nicht.“ Tristan warf einen Blick in die Richtung, in die der junge Mann verschwunden war, unmittelbar nachdem sie hier ihr Lager aufgeschlagen hatten. „Er trauert, genau wie du. Er weiß, dass der Unfall nicht deine Schuld war.“
Das Mädchen konnte den Zweifel in seiner Stimme hören. „Deshalb hat er in den letzten 3 Tagen, die wir nun schon gemeinsam unterwegs sind, kein einziges Wort mit mir geredet. Deshalb verschwindet er auch jeden Abend sofort in der Dunkelheit und taucht erst im Morgengrauen wieder auf.“
„Hm…“
Seufzend schloss sie die Augen. Es war eine Tatsache, es zu leugnen hatte keinen Sinn. Aber auf Tristan wütend zu sein half ihr auch nicht weiter.
„Tut mir leid. Denkst du, er weiß mehr als wir? Über diese…Hexe, meine ich. Wir waren beide im Stall, wieso gibt er mir allein die Schuld? Nur weil ich eine Frau bin?“
„Ich weiß es nicht. Onkel Derrin hat gesagt, dass man sich in der Garde die wildesten Geschichten über den Brand erzählt. Keiner war in der Nähe, aber alle glauben, ganz genau zu wissen, was passiert ist. Vielleicht denkt auch Kiaran, er hätte etwas gesehen, was gar nicht da war. Mach dir nicht so viele Gedanken, schlaf lieber. Und komm endlich ans Feuer.“
Skyla war schon immer stur gewesen, zumindest wenn sie Onkel Tony Glauben schenken durfte. Aber die Kälte zwang sie schließlich doch, näher an die verhasste Flammen zu rücken.
Ein Schrei zerriss die Stille der Nacht und Skyla fuhr erschrocken aus dem Schlaf hoch. Im ersten Moment glaubte sie, geträumt zu haben, doch Tristan war bereits aufgesprungen und lauschte angespannt. Ein erstickter Schmerzenslaut und ein dumpfer Aufprall waren zu hören.
„Bleib da!“, rief der Krieger ihr zu, während er schon in der Dunkelheit verschwand. Das Mädchen dachte nicht daran. Sie kniff die Augen zusammen und folgte im fahlen Mondlicht den schwachen Umrissen seiner Gestalt. Sie brauchten nicht weit zu laufen, um den Verursacher zu finden. Ein Mensch lag auf dem Boden, ein zweiter kauerte über ihm.
„Halt!“, rief die hockende Gestalt, als sie nur noch wenige Meter von ihnen entfernt waren. Sie hatte ihnen den Rücken zugewandt, musste aber ihre Schritte gehört haben und hob nun, halb zu ihnen umgedreht, in einer abwehrenden Geste die Hand. Die zweite ruhte weiterhin auf dem Mann am Boden. Skyla erkannte Kiaran in ihm und hielt erschrocken die Luft an. Die Fremde, denn es war eindeutig eine Frauenstimme gewesen, war in einen Mantel gehüllt und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Ihre langen Haare fielen ihr ins Gesicht und Skyla atmete auf. Sie waren braun, es konnte nicht die Feuerhexe und Kiaran hoffentlich nicht der nächste Unschuldige, der ihretwegen sterben musste. Tristan hielt inne und hob beschwichtigend die Hände. Ein Gegenstand blitzte im Mondschein an Kiarans Hals auf und das Mädchen musste nicht zweimal hinsehen, um zu erraten, dass es ein Messer war.
„Wer seid Ihr und was wollt Ihr?“, fragte der Krieger in seinem typisch diplomatischen Tonfall.
„Ich will Euch nichts Böses, aber wenn ich angegriffen werde, so weiß ich mich durchaus zu wehren.“ Die Frau antwortete mit derselben emotionslosen Stimme.
„Glaubt ihr kein Wort, diese Hexe…“, zischte Kiaran wütend, doch eine einzelne, gezielte Bewegung der Frau ließ ihn wieder verstummen.
„Ich bin keine Hexe.“ Skyla glaubte, einen Anflug von Empörung in der Fremden Stimme zu hören und aus irgendeinem Grund wollte sie ihr glauben. Bevor ihr jähzorniger Weggefährte wieder etwas Unüberlegtes tun konnte, sagte sie rasch: „Sie ist nicht die Feuerhexe, Kiaran. Seht doch hin!“
„Und wenn schon“, knurrte dieser, leistete aber keinen Widerstand mehr.
„Mein Freund hat Euch wohl mit… ‚jemandem‘ verwechselt. Wir sind friedliche Reisende, ihr habt mein Wort. Lasst ab von ihm.“ Tristans Worte zeigten Wirkung und nach kurzem Zögern gab die Fremde Kiaran frei. Den Dolch behielt sie kampfbereit in der Hand.
„Hört mir zu“, sprach sie fast schon freundlich. „Ich bin nicht euer Feind, im Gegenteil. Aber es bleibt keine Zeit für Erklärungen, wir müssen schnellstens von hier verschwinden.“
„Wieso? Was wisst ihr über uns?“ Tristan machte aus seinem Misstrauen keinen Hehl.
„Ich werde euch alles erzählen, sobald wir in Sicherheit sind. Bitte, habt Vertrauen in mich.
“„Angenommen, wir glauben Euch…wo sollten wir hin? Hier gibt es weit und breit keine Siedlungen, nicht einmal ein Dorf.“
„Keines, das auf einer Karte verzeichnet wäre, da habt Ihr recht. Also gut, soviel kann ich euch verraten. Ich kannte Tony und Berta. Ich kenne die Fragen, die Euch seit Eures Aufbruchs plagen, Skyla. Folgt mir, und ich verspreche Euch Antworten darauf.“
„Oh ja, das würde Euch so passen.“ Kiaran war aufgestanden und stierte die Fremde hasserfüllt an. „Ihr steckt mit dieser Hexe unter einer Decke und lockt uns in eine Falle! Wir wären ja närrisch, würden wir auf solch einen plumpen Trick hereinfallen!“
Die Frau schüttelte zornig den Kopf. „Ich kann euch auch zwingen, mit mir zu kommen, aber es wäre mir lieber, ich müsste es nicht. Wenn es jedoch der einzige Weg ist, um euch zu retten…“
„Warum?“, fiel ihr Skyla ins Wort. „Warum wollt ihr uns retten? Warum seid Ihr hier?
„Euretwegen! Kommt jetzt!“ Die Frau richtete sich auf und legte einen Ernst in ihre Stimme, der keinen Widerspruch duldete. Kiaran wollt erneut auffahren, doch Tristan hielt ihn zurück. „Eine bessere Option haben wir nicht. Noch einen Feind können wir uns nicht leisten.“
Das schien selbst der sture Krieger einzusehen, und sie eilten ins Lager zurück, um ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzusuchen.
Während sie der fremden Frau folgten, fiel Skylas Blick immer wieder auf das weißschimmernde Fell des Pferdes, das einige Meter vor ihr galoppierte. Hatte nicht ihre Mutter auch einen Schimmel besessen? Meine treueste Freundin, Bree, ist eine junge Stute mit einem Fell heller als das Weizenkorn. Sie kannte den ersten Satz ihres kleinen Buches auswendig, so unzählige Male hatte sie ihn schon gelesen. Inzwischen hatten sie den Pfad, der in den Norden führte, verlassen und ritten gen Osten. Die Gegend war hügeliger geworden und nach kurzer Zeit zeichnete sich vor ihnen die scharfe Silhouette eines Gebirges ab. Der Morgen graute bereits, als sie es erreichten. Zwischen 2 Hügeln führte ein kaum sichtbarer Pfad den Berg hinauf, der immer schmäler wurde, je höher sie kamen. Während auf der einen Seite kahle Felsen in den Himmel ragten, fiel das Gelände auf der anderen abrupt ab.
„Wo führt ihr uns hin, Frau?“, rief Tristan schließlich misstrauisch. „Die Pferde finden auf diesem schmalen Weg kaum noch Halt.“
„Habt noch etwas Geduld, es ist nicht mehr weit“, antwortete Besagte. Skyla hörte Kiaran etwas grummeln, war aber froh, seine Worte nicht verstanden zu haben. Auch ihr behagte diese ganze Sache nicht. Was, wenn er recht gehabt hatte und diese Fremde sie in eine Falle lockte? Aber die Schimmelstute, Bree,…„Bree“, hörte sie eine Stimme vor sich flüstern, wie das Echo ihrer Gedanken. Entsetzt zog sie an den Zügeln und brachte ihr Pferd damit ins Straucheln. Hinter ihr polterte es und Tristans Hengst schnaubte wütend. Er musste beim Versuch auszuweichen daneben getreten sein und Steine und Erdreich hatten sich gelöst. Erschrocken sah sie den kleinen Felsen zu, wie sie den Hang hinunterrollten, während ihr Bruder um sein Gleichgewicht kämpfte.
„Skyla, was machst du?“, rief er ihr aufgebracht zu, als er seinen Hengst endlich wieder unter Kontrolle hatte.„Ich…tut mir leid. Ich dachte, ich hätte was gehört und habe mich erschrocken.“
Verwirrt blickte sie wieder nach vorne, auf die Gestalt, die sich ihr nun zuwandte. Die Kapuze hatte sie immer noch tief ins Gesicht gezogen und Skyla konnte im Schatten beim besten Willen nichts erkennen. Sah sie ihr ähnlich? Oder Tristan vielleicht? Oder Onkel Tony? Der Gedanke, dass es sich bei der Fremden um ihre leibliche Mutter handeln könnte, war ihr nur im ersten Moment logisch erschienen. Bei genauerer Überlegung kam es ihr doch sehr unwahrscheinlich vor, der Zufall war zu groß. Deshalb verkniff sie sich im letzten Moment die Wahrheit. „Ist alles in Ordnung? „ fragte die Frau. Skyla war sich sicher, Sorge in ihrer Stimme gehört zu haben. Doch warum sollte sich ein fremder Mensch um sie sorgen? Doch nur, wenn er gar nicht so fremd war.
„Ja. Entschuldigt. Ich bin nur übermüdet und das Reiten noch nicht gewohnt.“
„Gut, wir sind fast da. Dann könnt Ihr Euch etwas ausruhen.“
Tatsächlich wurde der Weg nach der nächsten Biegung breiter und kurz darauf wichen die Berge zu ihren Seiten zurück und gaben den Blick auf ein kleines Tal frei. Skyla blieb stehen, eine seltsame Ehrfurcht erfasste sie. Der Morgennebel dämpfte die Geräusche, die vom Grund herauf schallten. Stimmen waren zu hören, Schafe und Hühner. Der Talkessel war klein, mehr als ein Dorf konnte hier nicht Platz haben.
„Seid gegrüßt, Andara. Wen habt Ihr uns hier mitgebracht?“, ertönte eine tiefe Stimme hinter ihnen, das leichte Misstrauen darin war nicht zu überhören.
„Seid auch Ihr gegrüßt, ehrenwerter Wächter.“ Die Frau stieg ab und deutete eine leichte Verbeugung an. „Es sind Freunde. Ich vertraue ihnen, die beiden Männer sind Mitglieder der königlichen Garde und ehrenhafte Krieger.“
Skyla entging das kurze Zögern nicht, als sie „Freunde“ genannt wurden. Wollte sie vielleicht erst Verwandte sagen? Oder doch eher Feinde, Opfer? Kiarans gerunzelte Stirn ließ sie vermuten, dass er Ähnliches dachte. Der ältliche Mann musterte sie mit strengem Blick, schien aber zu dem Entschluss gekommen zu sein, dass sie keine Bedrohung darstellten und nickte kurz, ehe er sich wieder in die Schatten der Felsen zurückzog.
Vor ihnen schlängelte sich ein Pfad in engen Serpentinen den Hang hinunter und nach wenigen Minuten schälten sich die ersten Hütten aus dem Dunst, der sich langsam hob.
„Folgt mir.“ Andara bog nach links ab und führte sie zu einer großen Koppel, in der einige Pferde grasten. „Unsere Tiere können auch eine Rast vertragen. Lasst sie ein wenig grasen.“
„Das würde euch so passen, was? Erst entführt ihr uns hierher, wo es keinen Ausweg gibt, außer dem bewachten Weg zurück und nun sollen wir euch auch noch unsere Pferde geben, damit wir ja nicht mehr fliehen können!“, brauste Kiaran auf und senkte seine Hand auf seinen Schwertknauf.
Andara seufzte. „Nein, ihr seid hier nicht gefangen. Ganz im Gegenteil, es ist eine Ehre für euch, hier sein zu dürfen. Die Dorfbewohner sehen es nicht gern, wenn Fremde auftauchen. Seht euch um, sieht dieses idyllische Fleckchen Erde für euch wie ein Ort voller Schurken aus?“
Der Krieger funkelte sie einen Augenblick lang an und schnaubte wütend, hielt sich jedoch zurück.„Kommt, ich bringe Euch in meine Hütte. Während wir uns stärken, erkläre ich Euch alles.“
Skyla schlürfte heiße Suppe und taute unter der warmen Decke langsam auf. Auch Tristan langte tüchtig zu, nur Kiaran saß wie immer stumm in einem Winkel und starrte griesgrämig vor sich hin.
„Wie kommt es, dass dieses Dorf hier niemandem bekannt ist? Mein Vater hat sehr detailierte Karten des ganzen Landes im Haus. Wäre es auf einer davon zu finden, so wüsste ich es“, fragte Tristan, während er auf einem Stück Brot herum kaute.
„Nun, es ist nicht gerade ein gewöhnliches Dorf. Die Bewohner schätzen die Ruhe und wissen dafür zu sorgen, dass es hier auch so ruhig bleibt. Doch ich sollte von vorne beginnen, bei mir.“
„Bree…“, fiel ihr Skyla ins Wort und erntete fragende Blicke. Ihr habt eure Schimmelstute Bree genannt.“ „Ja, das ist ihr Name.Weshalb fragt Ihr?“
Skyla hatte plötzlich einen Kloß im Hals und ihre Stimme zitterte, als sie entgegnete: „Mein Mutter besaß ebenfalls ein solches Pferd. Sie nannte es Bree, nach der heidnischen Gottheit Brigit. Ein erstaunlicher Zufall, nicht?“
Andara starrte sie verblüfft an, dann machte sich Erkenntnis auf ihrem Gesicht breit. „Du weist es“, flüsterte sie. Für einen Moment kämpfte Skyla noch mit ihrer Selbstbeherrschung, doch dann warf sie sich der fremden Frau an den Hals.
„Mutter“, murmelte sie schluchzend.
„Mein Kind.“Als sie sich wieder voneinander lösten, sah Skyla in Tristans verdattertes Gesicht.
„Was…? Wer…?“ Er blickte von einer Frau zur anderen, Hoffnung und Verwirrung kämpften in seinem Gesicht um die Oberhand.
„Das Tagebuch, Tristan. Es beginnt mit dem Satz: Meine treueste Freundin, Bree, ist eine junge Stute mit einem Fell heller als das Weizenkorn.“
Andara nickte. „Deshalb hast du gewusst, wer ich war.“
„Mutter? Aber müsste ich dich nicht wieder erkennen? Du siehst anders aus, als in meiner Erinnerung.“ Sein kriegerischer Instinkt ließ ihn offenbar selbst jetzt noch zweifeln. Skyla wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und räusperte sich. Tristan kämpfte sichtlich mit seinen Emotionen, doch er wehrte sich noch dagegen, ihr zu glauben.Die Frau seufzte und nahm ihre Kapuze ab. Sie war eine sehr schöne Frau, stellte Skyla fest, aber eine Ähnlichkeit mit ihrem Bruder konnte sie nicht erkennen.
„Gut, Ihr habt mich überzeugt.“ Tristans Blick schnellte zu ihr und wieder zu Andara. „Eine Verwandtschaft zwischen euch kann ich kaum leugnen.“
Skyla war irritiert. Sie selbst besaß keinen Spiegel, wusste also auch nicht wie sie aussah. „Du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten“, stellte der Krieger lächelnd fest. Scheinbar hatte er sein Misstrauen überwunden und die glückliche Tatsache akzeptiert.
„Ihr glaubt nicht, wie sehr ich mir diesen Tag herbeigesehnt habe. Seit fast 20 Jahren warte ich darauf, euch endlich wiedersehen zu dürfen.“
„Warum bist du gegangen? Warum hast du uns zurückgelassen? Wo warst du all die Jahre?“, sprudelten die Fragen aus Skyla heraus. Sie hatte sich in den letzten Wochen soviele Gedanken darüber gemacht, sich soviele Szenarien ausgemalt. Nun konnte sie es kaum erwarten, endlich Antworten zu bekommen.
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2015
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