Hunter lud mit einer hastigen Bewegung nach. Sein Atem rasselte, ging keuchend. Das Gewehr im Anschlag, suchte er die vor ihm liegende Lichtung ab. Er zischte einen Fluch, hantierte am Zielfernrohr.
„Wohin haben sich diese Dschungelratten verzogen?“
Da, ein leises Geräusch. Hunter warf sich blitzschnell und trotzdem fast lautlos auf den von tropischen Pflanzen überwucherten Boden. Glücklicherweise gab es hier keine Schlangen! Er robbte vorsichtig nach links, von wo das Geräusch gekommen war. Seine Bewegungen waren mechanisch, der Rhythmus hoch. Er kam erstaunlich schnell vorwärts, der dichte Pflanzenteppich behinderte seine Sicht, konnte aber seinen Vorwärtsdrang nicht stoppen. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, hob vorsichtig den Kopf und suchte mit zusammengekniffenen Augen sein Blickfeld ab. Da! Hinter dem krumm gewachsenen Baum. Hunters Puls hämmerte, während er seine Richtung änderte. Er robbte eine weite Kurve, so dass er den Gegner ins Visier nehmen konnte. Dabei verursachte er ein Rascheln. Er zuckte zusammen, wagte sich kaum mehr zu regen. Nach endlos langen Sekunden hob er den Kopf, die M16 Sniper bereits im Anschlag.
„Nein! Nicht schon wieder!“
Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. „McBlade!“
„Gib mir doch Bescheid, wenn du in meinen Sektor eindringst. Irgendeinmal erschieße ich dich aus Versehen.“
Es wäre beileibe nicht das erste Mal, dass ein Soldat von einem seiner Kameraden erschossen würde. Hunter schüttelte den Kopf, atmete hörbar aus. Die Anspannung fiel von ihm ab.
McBlade machte lediglich eine wegwerfende Handbewegung. Gleichzeitig vernahm Hunter ein auflehnendes Murren, das blechern aus dem Kopfhörer in sein Ohr drang. Hunter beobachtete kopfschüttelnd, wie McBlade seine Waffe nachlud: Langsam und umständlich. Solche Handgriffe musste ein Soldat beherrschen, so wie ein Autorennfahrer das schnelle Hochschalten nach einer engen Kurve oder ein Segler das Dichtholen des Vorsegels nach einer Wende. Ein Anfänger, dachte er, der wird nicht lange überleben.
* * * *
Die Straßenlaterne, die genau an der Stelle stand, wo der schmale Fußweg in die Quartierstrasse mündete, flackerte nervös. Als Enver näher trat, hörte er ein monotones, bedrohliches Summen. Das fahlgelbe Licht leuchtete die Straße nur mäßig aus. Die Ausläufer des Lichtkegels reichten knapp bis zur Telefonzelle, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite am Fuße eines Treppenabsatzes schweigsam und alleingelassen im Halbschatten stand. Die Apparaturen waren vor einigen Monaten mit roher Gewalt herausgeschlagen worden. Der goldene Litzendraht der ausgerissenen und zerfransten Kabel schimmerte matt im Licht der summenden Straßenlaterne. Vandalen hatten diesen Gewaltakt in einer regnerischen Samstagnacht vollzogen. Das Motiv? Vielleicht Freude am Zerstören? Langeweile? Niemand kannte die Antwort. Nicht einmal die Täter hätten eine Antwort gefunden.
Die Zelle, ihrer Funktionsgrundlagen beraubt, war darauf von der Telefongesellschaft kurzerhand aufgegeben worden. Teurer Unterhalt, zunehmende Handydichte. Sie stand seither stumm da, unnütz, überflüssig. Eine Ruine ohne Verwendungszweck. Ein trauriges Sinnbild für die unglaublich rasante Entwicklung in der Kommunikationstechnologie oder vielleicht eher ein Mahnmal für die Verrohung der Gesellschaft?
Das monotone Summen wurde immer lauter, glich nun einem hinscheidenden Röcheln. Dann ein kurzes Flattern, gleich einer etwas unbeholfenen Lichtshow an einem Hinterhofkonzert, ein scharfes metallisches Klicken und die Straßenlaterne verabschiedete sich endgültig von ihren Aufgaben, verweigerte jede weitere Lichtausstrahlung im Dienste der Gesellschaft und tauchte die Straße mit einem Schlag in eine tiefe, beängstigende Dunkelheit, die ab und zu vom Mond unterbrochen wurde, wenn sich ein Strahl reflektierten Lichts zwischen den dichten Wolkenfetzen hindurch zu zwängen vermochte.
Enver machte die plötzliche Dunkelheit nichts aus; er nahm sie kaum wahr. Er hatte kein Auge für ausgediente Telefonzellen oder streikende Straßenlaternen. Seine Gedanken kreisten leicht und ungetrübt, ohne bestimmtes Ziel. Seine dunkelbraunen Augen, die dem jungen Gesicht einen Hauch Sanftmut verliehen, beobachteten, ohne bewusst wahrzunehmen. Envers Schritte waren gleichmäßig, fast mechanisch und von einer gewissen Würde. Vor etwas mehr als einem halben Jahr hatte er eine Ausbildung als Logistiker in einem großen Verteilzentrum unmittelbar am Autobahnkreuz im Westen der Stadt begonnen. Seither stand er jeden Morgen klaglos um halb fünf Uhr auf, bereitete sich sein Frühstück – eine Schüssel Cornflakes – zu und hing in der kleinen Einbauküche seiner Eltern schlaftrunken seinen Gedanken nach. Kurz nach fünf verließ er jeweils das Haus um am Bahnhof den ersten Bus zu erwischen. Eine Tortur, zumindest am Anfang. Mittlerweile liebte er die frühmorgendliche Einsamkeit. Eine wohlige Schläfrigkeit umgab dann seine Sinne, schützte ihn, wie ein Schild, so dass keine negativen Gedanken eindringen konnten. Erst wenn er den Linienbus betrat und mit morgenrauer und belegter Stimme die ersten Worte mit dem Fahrer wechselte, erwachten seine Sorgen. Sorgen, die sich nicht von denen anderer Jugendlicher unterschieden. Er erinnerte sich dann an Dinge, die er noch tun musste, die er vor sich hergeschoben hatte, aus welchen Gründen auch immer. Spätestens, nachdem er im Betrieb in die Arbeitskleider geschlüpft war, die Stempelkarte in die Stechuhr geschoben hatte und sich auf seinen Job zu konzentrieren begann, verschwanden diese Gedanken für eine Weile. Manchmal hielt er während der Arbeit kurz inne und bestaunte das neue Hochregallager. Ein technisches Wunder das über hunderttausend Palettenstellplätze auf fünfzehn Etagen anbot und das modernste in ganz Europa war. Er verfolgte fasziniert die präzisen und effizienten Bewegungen des Kommissionierungsroboters, dessen skelettartigen Greifarme, von einer ausgeklügelten Software gesteuert, unermüdlich die verschiedensten Produkte ein und auslagerten. Der Arbeitsplan des Roboters wurde von den Bedürfnissen der über zweihundert zu beliefernden Filialen bestimmt. Wusste die Verkäuferin an der Kasse im Supermarkt am südlichsten Zipfel des Landes, dass sie mit jeder Barcoderegistrierung eine gigantische Maschinerie in Bewegung setzte? Nicht nur Maschinen, auch Menschen…. wurde es Enver auf einmal bewusst. Sein Arbeitsalltag, ein Produkt der vereinigten Kundenbedürfnisse. Sein Tagesablauf, seine Wege durch die Schluchten zwischen den Regalen: Gesteuert von anderen Menschen. Menschen, die ihrerseits wieder von Menschen gesteuert wurden. Menschen, die nicht wussten, dass sie steuerten und gesteuert wurden. Menschen, die vielleicht abends bei einem Glas Wein zusammen saßen und leidenschaftlich diskutierten, ob es Zufälle gibt oder ob das individuelle menschliche Leben nach einem ausgeklügeltem Plan abläuft, der irgendwo in einer virtuellen Datenbank gespeichert war. In Gedanken stellte er sich eine Pyramide vor. Zuoberst in der Spitze das Hauptprogramm, quasi das Betriebssystem, das die grundlegenden Dinge festlegt: Menschen führen ein Leben. Es beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Fakten, unerschütterlich und endgültig. Gab es noch mehr Grundsätze? Dinge, die unverrückbar gegeben sind, die niemals ändern, auch in einer Million Jahren nicht? Vielleicht die Fortpflanzung?
Er dachte an die wissenschaftlichen Meilensteine in der Biologie. Die künstliche Befruchtung, Retortenbabys oder das geklonte Schaf. Wie hieß es schon wieder? Die Fortpflanzung als unverrückbarer Grundsatz? Verwirrt verwarf er den Gedanken.
Envers Schritte wurden kürzer. Nachdenklich betrachtete er den Mond, der in diesem Moment hinter einer Wolkenwand hervorguckte und sich einige Momente später mit einem lang anhaltenden Glimmen wieder verabschiedete. Enver fuhr sich über die gewellten Haare. Mond und Erde, das ganze Sonnensystem, alles ist endlich. Der Zeitpunkt des Untergangs liegt zwar in weiter Ferne, trotzdem, die Erde wurde einmal geboren und sie wird einmal sterben. Ein weiterer Grundsatz, der über demjenigen des Menschenlebens steht? Enver zögerte. Was thront zuoberst auf der Pyramide? Welches ist die Regel aller Regeln? Eines schien ihm klar: Der Untergang unseres Sonnensystems würde im unendlich weiten Universum kaum eine Randnotiz Wert sein.
Seine Freunde hockten gelangweilt auf den klotzartigen Treppenabsätzen am Flussufer. Einige tranken billiges Bier aus Dosen und starrten gelangweilt ins Wasser, andere unterhielten sich in kleinen Gruppen. Seit einigen Tagen war der Regen ausgeblieben. Der Fluss wälzte sich träge und lustlos. Ein Strom aus schwarzer Tinte, der irgendwo in den Alpen entsteht, sich in dünnen Rinnsalen über Weiden schlängelt und sich auf dem weiten Weg ins Meer einen Reisebegleiter nach dem anderen sucht, dabei immer mächtiger wird, bis er sich in den Weiten des atlantischen Ozeans verliert. Enver war vor ein paar Jahren an einem Schulausflug mit seiner Klasse an die Quelle des Flusses gereist und hatte sich einen Spaß daraus gemacht, mit je einem Bein auf einer Seite des dünnen Rinnsals zu stehen. Bereits einige hundert Meter weiter talwärts hatte er den Bach nur noch mit einem kräftigen Sprung überqueren können. Gedankenverloren betrachtete er die unverwüstliche alte Holzbrücke, die seit vielen Jahren über den Fluss führte. Je später Flüsse überquert werden, desto schwieriger……
Enver begrüßte seine Freunde mit einem Handschlag, jeden einzelnen. Nicht so gestrig, wie sich die Erwachsenen begrüßen. Nein, mit dem rechten Arm weit ausholend, danach ein lautes Klatschen und ein zupackender Griff, wie beim Armdrücken. Dabei schaut man sich gegenseitig mit aufrechtem Blick in die Augen. Xenia, seine Schwester, hatte neulich – als sie sich gemeinsam einen Fantasy-Film angeschaut hatten – diese Form der Begrüßung als dummes und einfältiges Machogetue bezeichnet. Enver blickte sich suchend um. Mädchen waren – wie leider üblich – keine da. Obwohl sich die meisten Gespräche unter den Kameraden vor allem um Mädchen drehten, blieben die Jungs meistens unter sich. Ab und zu, viel zu selten, zog eine Mädchenclique mit ihnen. Das Verhalten einiger seiner Freunde änderte sich bei diesen Gelegenheiten radikal: Ihre Stimmen wurden lauter und aufdringlicher. Einige versuchten sich in den Vordergrund zu drängen, spielten sich gegenseitig aus. Nicht selten schlug die anfangs gute Stimmung um, wurde gehässig. Manche Mädchen zogen darauf genervt weiter, andere genossen es sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen. Nicht selten bildete eine unnötige und dumme Rangelei den negativen Höhepunkt dieser Spirale. Konsequenzen hatte dieses Verhalten innerhalb der Clique keine. Im Gegenteil, am nächsten Tag sprach niemand mehr davon, man gab sich Mühe zu vergessen. Nie wurde ein Ereignis erwähnt, geschweige denn aufgefrischt. Jeder schämte sich ein wenig und tat, als wäre nie etwas passiert.
Enver kannte die meisten seiner Freunde seit er denken konnte. Gemeinsam waren sie als kleine, pausbäckige Kinder auf dem lieblos angelegten Spielplatz zwischen den Wohnblöcken herumgetollt, während ihre Mütter auf den Parkbänken saßen und sich unterhielten. In den Kinderwagen, die sie während ihren Gesprächen immer wieder sanft hin- und her bewegten, lagen ihre kleinen Geschwister, die friedlich vor sich hin
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Andreas Knecht
Bildmaterialien: Edit Horvath
Lektorat: Edit Horvath
Tag der Veröffentlichung: 12.05.2013
ISBN: 978-3-7309-2693-2
Alle Rechte vorbehalten