„Ich bin, wie ich bin und ich werde auch immer sein, wie ich jetzt bin.“ Schlaue Worte, die bestimmt irgendwer Berühmtes mal irgendwo und irgendwann gesagt hat, doch auch, wenn dieser Kerl, oder diese Dame, es sehr gut gemeint hat, muss ich diesen Satz verneinen. Das war allerdings nicht immer so, denn bis vor ein paar Jahren habe auch ich diese Ansicht vertreten. Dann geschah allerdings etwas, das mich vom Tiefsten Inneren meines Selbst heraus verändert hat.
Meine Beine wackelten unruhig hin und her, als ich auf dem unbequemen Wartestuhl in der Praxis meines Hausarztes saß. Eigentlich wollte ich gar nicht hier sein, aber mein Sportlehrer hatte darauf bestanden, dass ich nach erneutem Umkippen während des Ausdauerlaufes mal in ärztliche Behandlung ginge. Ich hatte ihm gesagt, dass ich schon einmal wegen so einer Sache behandelt wurde und damals auch nur Stress die Ursache war, aber, wie Lehrer halt so sind, blieb er stur und schickte mich eigenhändig zum Arzt. Nun saß ich also hier, mein Kopf dröhnte, als hätte jemand einen Baseballschläger mit voller, männlicher, Kraft darauf niedergelassen und wartete bereits geschlagene 25 Minuten, die natürlich, wie sollte es auch anders sein, ewig erschienen.
Ein kleines, ich schätze mal 5 Jahre altes, Kind turnte herum und fand es sehr lustig mir immer wieder Lego Steine an den Kopf zu werfen. Dessen Mutter, die in der Erziehung schon völlig versagt hatte, lachte mich an und sagte nur: „Ist sie nicht süß?“ Meine Antwort darauf fiel dementsprechend patzig aus und ich glaube die Frau schob es auf meine Pubertät, denn sie lächelte unentwegt: „Ich finde das nicht wirklich süß, dass ihr Drecksblag mich, die sowieso schon mit Kopfschmerzen bestraft wurde, auch noch mit Lego Steinen bewirft.“ Wunderlicher Weise hörte das Kind meinen schroffen Ton und hörte auf mit dem Schabernack, sodass ich ungestört in einen Tagtraum über die Hochzeit mit einem stinkreichen Schauspieler, der mir zu meinen Geburtstag eine Villa auf Hawaii geschenkt hatte, versinken konnte.
Die freundliche Stimme einer jungen Dame riss mich aus dem Traum, denn sie rief meinen Namen auf und wies mich in Behandlungszimmer 1. Der Schreibtisch aus altem Kiefernholz wirkte bedrohlich und strahlte eine gewisse Art von Power aus. Ich selbst, die auf einem blauen Stuhl gegenüber dem grauhaarigen Arzt mit der Lesebrille saß, wirkte wie eine zahme Löwin im Zoo. Der Blick des Arztes hob sich von meiner Krankenakte, die Gott sei Dank, noch nicht allzu groß war und fixierte meine grünen Augen. „Also Lilly, was ist passiert?“ fragte er mit ruhiger Stimme. Ich erklärte ihm alles und auch, dass ich schon einmal deswegen behandelt worden war und ich mir eigentlich keine großen Gedanken mache. Er stimmte mir zu, dass die wahrscheinlich nur vom Stress abhinge und schickte mich nach Hause. Zur damaligen Zeit war mir das alles lästig gewesen, ich wollte lieber mit meinen Freunden Mist bauen, oder meinen Sport nachgehen.
So lebte ich weiter, bis zu dem einen Tag, der mich bereuen lies, dass mir zuvor alles egal gewesen war. Der Tag begann wie jeder andere, um 6:00 klingelte der verhasste Wecker und zwang mich unter die lauwarme Dusche zu springen, damit ich wenigstens so aussah, als wäre ich wach. Ein leckeres Brot mit Nutella zur Stärkung ein einen schönen Himbeer-Vanille Tee von Lidl als flüssige Begleitung zu dem Brot. Rund um ein Morgen, wie jeder Andere und ohne Anomalitäten, außer der Tatsache, dass meine Katze freiwillig mit mir schmusen wollte und nicht, wie sonst, ihre Ninjakrallen ausfuhr, um mir auf jegliche erdenkliche Weise Schaden zufügen zu können.
Schule war, naja man will ja nicht sagen, dass es mal wieder öde und ätzend war, aber das war es nun mal, also wüsste ich nicht, wie ich es anders formulieren sollte. „Hast du nicht auch mitbekommen, wie der Schäfer der Marie voll in den Ausschnitt geguckt hat?!“, Lisa war ganz aufgebracht, als sie mir die neuste Neuigkeiten überbrachte, doch mir war das sichtlich egal. „Mir doch Pusteblume!“, sagte ich und ging zu Johannes, auf den ich schon heimlich seit 2 Jahren stand. Wir waren gute Freunde, doch leider, aus meiner Sicht, waren wir eben NUR Freunde. Nachdem ich dann endlich den grässlichen Schulalltag hinter mir gelassen hatte, trafen Johannes und ich uns nachmittags bei mir. Als wir nicht wussten, was wir hätten tun können, sagte er: „Lass uns doch was an den Rhein setzen und Quatschen!“ Ohne eine wirkliche Chance Nein zu sagen, zogen wir durch das Feld in Richtung Rhein. Ich liebte den Frühling, denn die ganzen Blumen standen auf der Wiese, wie kleine Soldaten der Natur, in Spalier. Johannes pflückte eine Pusteblume und hielt sie mir vor die Nase. Durch schielen sah ich die Blume von Nahem und zählte die einzelnen Bestandteile. „Du sagst du immer `Mir doch Pusteblume´, also musst du es nun auch schaffen die Pusteblume mit einem Puster leer zu pusten!“ Ich lachte bei seiner Formulierung und füllte meine Lungen mit dem kostbaren Sauerstoff, ohne den niemand von uns Leben könnte. Mit einem heftigen Windstoss witterte ich meine Chance und tat so, als würde ich die ganze Blume leer pusten. Er erkannte meinen Täuschungsversuch und kitzelte mich an meinen Rippen, da er genau wusste, dass ich es nicht abhaben konnte. Ich wehrte mich so kräftig, dass ich über eine Baumwurzel stolperte und in die Tiefen des Grases fiel. Johannes bückte sich nach mir und half mir auf. Dabei war ich ihm so nahe gekommen, dass ich einfach nicht anders konnte, als meine Lippen auf seine zu legen. Alle Befürchtungen wurden bestätigt, als er mich weg schubste und verdutzt guckte. Ohne ein weiteres Wort ging er durch das Feld, weg von mir.
Von tausenden Gefühlen überwältigt ging ich nach Hause und setzte mich auf mein Bett. Ich schloss die Augen mit den Hoffnungen mich von der Welt abkapseln zu können. Auf einmal spürte ich eine Hand auf meinem Knie, als meine Schwester mich fragte, was los sei. Diese Berührung, diese flüchte Berührung ihrer Hand auf meinem Knie, löste etwas in mir, wie ich es nicht erklären konnte damals. Es fühlte sich an, als hätte jemand mein Gehirn genommen, es auf den Kopf gestellt und es mir wieder zurück gegeben. Erneute spürte ich den pochenden Schmerz in meinen Schläfen, der sich anfühlte, als würde mir jemand tausend Nadeln hinein stechen. Meine Hände zitterten wir Ästenlaub, meine Beine begannen zu zucken und ich hörte keine Geräusche. Meine Schwester war scheinbar wieder raus gegangen, als ich ihr nicht geantwortet hatte, denn als mein Sichtfeld anfing zu verschwimmen, sah ich sie nicht mehr. Nach endloser innerer Qual schaffte ich es mich in die Ohnmacht zu flüchten, weg von all den Schmerzen.
Doch ich erwachte wenige Stunden später, mitten in der Nacht. Ich erwachte jedoch nicht als die Person, die am Vorabend ohnmächtig geworden war, ich erwachte als etwas Abscheuliches. Mein Fuß zuckte, ich schüttelte ihn. Oder besser formuliert, jemand schüttelte ihn. Meine Arme und Beine bewegten sich, ohne dass ich einen Einfluss darauf hatte. Panisch versuchte ich Kontrolle über meinen Körper zurück zu erlangen, doch ich war gefangen und musste zusehen, was mit mir geschah. Ich ging in die Küche, mein Beine gingen Schnurstracks auf die mittlere Schublade zu, die Schublade, die für mich als kleines Kind immer tabu gewesen war, weil dort all die scharfen Messer gelagert waren, die meine Mutter sich im Laufe ihrer Hobbykoch-Karriere angeschafft hatte. Meine Hand schloss sich um den gelben griff des Käsemesser, dass in der Klinge bestimmt 30 cm miss. Ich wusste nicht, was mein Körper vor hatte, doch alles, wo ein Messer im Spiel war (Außer Kochen natürlich), konnte nichts Gutes bedeuten. Die Schublade schloss sich durch einen eleganten Hüftschwung meines jungen Körpers und die Katze, die mir mit großen Augen zu miauzte, weil sie wieder in irgendeinem Bett schlafen wollte, das bequemer war, als ihr eigenes Körbchen, wurde unsanft bei Seite getreten. Aus dem Hintergrund hörte ich nur ein leises Fauchen, als die Katze wieder landete und flüchtete. Mein Körper steuerte auf die Treppe zu, ins erste Geschoss. Auf der Tür stand in lustigen Buchstaben der Name „Vanessa“, der Name meiner 7 jährigen Schwester. Ich ging hinein, so lautlos, dass niemand mich hätte jemals hören können. Langsam begriff ich, was mein Körper da tat und warf mich mit meiner gesamten psychischen Kraft gegen die Befehle des Unbekannten. Ich wollte sie nicht erschrecken, das hatte die Kleine gar nicht verdient, doch mein Körper wollte nicht das, was ich wollte. Ich versuchte zu schreien, doch kein Laut drang aus meiner Kehle. Nicht einmal weinen konnte ich, denn ich war nur ein Geist, gefangen in seinem eigenen Körper. Ich gab nicht auf und stürzte mich immer wieder gegen die Macht des Unbekannter, der sich mittlerweile auf dem Schreibstischstuhl meiner Schwester nieder gelassen hatte und an ihr Bett gerollt war, das Messer mit der linken Hand so fest umschlossen, dass man in der Dunkelheit die Schemen meiner Adern sehen konnte. Ich wollte entfliehen, meinem Körper endlich wieder eigene Befehle geben und ihn wieder besitzen. Nach schier endlosen Versuchen gelang es mir einen grellenden und vor allem lauten Schrei zu bewirken, der meine Schwester hoch schrecken lies. Als sie mich sah fing sie direkt an zu weinen und schrie nach unserer Mutter, die fast direkt ins Zimmer stürmte. Ich selbst bekam allerdings nicht mehr viel davon mir, denn mein Blick verschwamm erneut und ein dröhnender Gedanke umfasste mich vollends: „Das Monster in mir war geboren!“
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2010
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