Cover

Wie ein Rosenblatt


Ein Leben unter der Obhut des Windes.



Es war einmal ein Rosenblatt, das getragen von der unsichtbaren, aber dennoch mächtigen Kraft des Windes über eine froschgrüne Wiese schwebte. Am Horizont streiften die Wolken das Land, verband das Leben die Welt und den Himmel miteinander.
Es schien so nah, doch in Wahrheit war es so fern, wie nichts anderes. Dieses stille Schauspiel der Harmonie wurde nur von der Sonne unterbrochen, deren warme Arme auf der Haut des Rosenblattes kitzelten.
Als das Rosenblatt so über die Wiese schwebte, beobachtete es viele schöne Plätze, doch immer, wenn es sich an einem Platz niedergelassen hatte, kam der Wind und drängte es hinfort. So konnte es niemals still stehen, gezwungen durch sein Leben zu hetzen. Hätte das Rosenblatt Gefühle, würde es sich selbst bedauern, würde Tränen der Trauer weinen und mit seinen Tränen würden neue Rosenblätter gedeihen und, dankbar für die kostbare Flüssigkeit, die Schönheit seiner Spezies weitertragen.
Doch soweit kam es nicht, denn das Rosenblatt, welches vermeidlich frei schien, wurde eingeengt von vielen Faktoren. Faktoren, die es ihm unmöglich machten, einmal auf sich selbst zu hören. Es würde gerne einmal das Meer sehen, auf dem salzigen Meereswind über die stillen Tiefen gleiten und den Möwen und Fischen bei ihrem täglichen Überlebenskampf zuzusehen.
Doch es ist nur ein einfaches Rosenblatt, geboren, um sich vom Wind leiten zu lassen. Sein freier Wille hat keinerlei Bedeutung für so mächtige Dinge, wie den Wind. Wieso sollte jemand schlauer sein, als der Wind? Der Wind, den es überall auf diesem Globus gab und den niemand auslöschen konnte. Dem Wind musste man gehorchen und ihm konnte man nicht widerstehen.
Wie sehr das Rosenblatt auch kämpfte, es konnte ihm einfach nicht entkommen, obwohl es viele Situationen gab, an denen es windstill war, gab es nie genug Zeit, um diese Momente zu genießen.

Doch irgendwann gab es diesen Moment, diesen langen Moment ohne Wind. Das Rosenblatt erklomm gerade einen kleinen Hügel voller roter Nelken, die freudig ihre Köpfe nach dem Rosenblatt reckten und es mit ihrer vollen Schönheit begrüßten. Das Rosenblatt drehte sich im Wind, sodass die Sonne seine Unterseite beleuchtete und ihm einen wunderschönen Glanz verlieh.
Auf einmal spürte das Rosenblatt, dass die tragende Kraft, welche es immer durch das Leben getragen hatte, verschwand und es fühlte, dass es fiel. Die Nelken zogen ihre Blüten ein, um nicht von den dutzenden herabstürzenden Blütenblättern verletzt zu werden. Das Rosenblatt landete unsanft auf einer Brennnessel-Pflanze, die sich schüttelte und das Rosenblatt zu Boden warf. Wie ein scheues Tier breitete sich das Rosenblatt in vollen Zügen aus und steuerte seinen Fall so, dass es unter einem grünen Blatt landete.
Es lag dort unten und freute sich darüber, dass es endlich würde tun und lassen können, was es selber wollte und nicht, was der Wind wollte.
Freudig zeigte es jede einzelne Farbe, die in seiner pflanzlichen DNA gespeichert war. Einen Moment lang sah es wunderschön aus, wie die Königin einer farbenlosen, grünen Welt.

Als es jedoch aufbrechen wollte und vollbringen wollte, was es sich schon immer gewünschte hatte, erschrak es plötzlich über seine Hilflosigkeit. Es konnte sich nicht von der Stelle bewegen, geschweige denn seine Träume erfüllen. Panik stieg in dem kleinen Rosenkörper auf und alle bunten Farben verblassten zu einem schlichten Grau. Das war der Zeitpunkt, an dem das Rosenblatt bemerkte, dass es den Wind brauchte und für diesen Gedanken schämte es sich. Es betete dafür, dass der Wind ihm verzieh und es weiter durch sein Leben trug. Doch der Wind kam nicht und die Verzweiflung in dem kleinen Rosenblatt wuchs.
Was könnte es noch tun, dass der Wind es erhörte und ihm verzieh?
Es dauerte zwei volle Tage, bis der Wind wiederkam und das Rosenblatt mit einem Ruck aus seinem Versteck katapultierte, dass ihm der Atem stockte. Es hatte sich noch nie so glücklich und frei gefühlt, wie in diesem Moment und so genoss es den Ritt mit dem Wind. Irgendwann, als die gemeinsame Zeit von Wind und Rosenblatt zu Ende ging, erlaubte der Wind dem Rosenblatt sich nieder zu lassen und dort zu einer neuen Rosenpflanze zu werden, mit vielen neuen Rosenblättern, die ihr Leben in Harmonie mit dem Wind verbringen würden. So wäre der Kreislauf des Lebens abgesichert und sowohl Wind, als auch das Rosenblatt wussten, dass dies die unvereinbarten Gesetze der Natur waren, an die sich jedes kleinste Lebewesen halten musste.

Noch bin auch ich ein Rosenblatt, aber es wird die Zeit kommen, in der ich als Wind den Rosenblättern den Weg leite.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 03.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /