Vor dem fast vollen Mond zeichnete sich die Gestalt auf dem Besen deutlich ab. Nach einer leichten Gewichtsverlagerung beschrieb der Besen eine sanfte Linkskurve.
Gemekka drückte den spitzen Hut fester auf den Kopf, vierzig Ellen unter ihr stand rabenschwarz der undurchdringliche Wald. Die Warze auf der linken Wange bewegte sich über den arbeitenden Kiefermuskeln auf und ab wie ein Schiff auf dem Meer.
Gemekka war spät dran. Sie konnte sich den geheimen Treffpunkt nie merken, weil Obamakka darauf bestand, ihn in einem seltsamen Turnus zu wechseln, den natürlich niemand aufschreiben durfte. Und so war Gemekka erst zur Hütte im Wald hinter dem Berg, dann zur Hütte am Waldrand nahe dem Bach und zuletzt zur Hütte auf der Lichtung unter der Eiche geflogen, die alle drei dunkel und leer im Wald gehockt hatten.
»Die Hütte zwischen den Tannen am Hang«, war es ihr schließlich kurz vor Mitternacht eingefallen. Viel zu spät, um pünktlich zu kommen, trotz einer neuen Formel für ihre Flugsalbe.
Sie verlagerte das Gewicht nach hinten. Das Gelände stieg hier leicht an, weiter hinten am Horizont konnte sie den Brocken erkennen.
Der dichte Wald teilte sich, die Hexe erkannte im fahlen Mondlicht die Bode, die über Felsen sprang. Die Fichten wichen weiter zurück und machten schließlich einer Lichtung Platz, die sich den Hang hinaufzog. An ihrem Ende stand zwischen zwei mächtigen Tannen ein verwinkeltes Häuschen. Gemekka steuerte ihren Besen in einen Halbkreis und setzte zur Landung an.
Weil sie in der Eile ihre Geschwindigkeit überschätzt hatte, zog die Hexe eine lange Furche über die vom blassen Mondlicht beschienene Lichtung und rauschte in einer Wolke aus Gras und kleinen Steinen in das Haus.
Die Tür riss aus den Angeln und krachte in den Raum. Gemekka pochte nach einer Rolle über die Reste ihres Besens mit dem Kopf hart gegen den Kessel in der Mitte des Raumes und läutete den neuen Tag ein.
»Au.« Benommen rieb sie sich den Schädel. Zehn Gestalten beugten sich über sie. Den Kopf gehoben sah sie in zehn behütete und sehr vorwurfsvolle Gesichter, darunter das von Obamakka. »Dein Hut brennt.«
Die zu spät Gekommene sprang auf die Füße, riss sich den rauchenden Hut vom Kopf und sprang darauf herum, während eine andere Gestalt die Tür aufhob und in den Eingang stellte. Das Licht des flackernden Feuers unter dem Kessel zuckte über hakige Nasen, runzlige Stirnen, hervorstehende Kinne und dürre Finger von sieben Frauen und drei Männern.
»Da wir jetzt endlich vollständig sind...«, begann Obamakka.
»Tut mir leid, ich dachte, wir treffen uns im Haus am Waldrand nahe am Bach...«, entschuldigte sich Gemekka. Obwohl ihr spitzer Hut jetzt wie ein rauchender Vulkankegel aussah, presste sie ihn zurück auf ihre struppigen Haare.
»Ha, das dachte ich auch!«, rief eine andere Hexe aus ihrer Ecke.
»Macht nichts. Also, da wir vollzählig...«
»Und dann dachte ich, wir treffen uns in der Hütte im Wald hinter dem Berg.«
»Da war ich ebenso erst«, rief eine andere aus dem Halblicht. Die Stille wurde jetzt durchbrochen von vielen anderen Bekundungen und zustimmendem Gemurmel. Obamakka erhob beide Hände. »Danke, das reicht, Gemekka, ist gut.«
Schlagartig herrschte wieder Stille im Haus. Obamakka räusperte sich und trat ein wenig weiter in das flackernde Licht des Feuers. Im Kessel brodelte es.
»Habt ihr schon gegessen?«, fragte Gemekka leise ihren Nachbarn, einen Hexer mit Ohren wie Kohlblättern und einer hohen, vorgewölbten Stirn. Der schüttelte stumm und ohne sie anzusehen den Kopf.
»Unsere Bemühungen um eine Einheit unserer Zunft waren von großem Erfolg. Etwa drei Viertel aller uns bekannten Begabten haben sich dem Bund angeschlossen. Ich möchte vor den Berichten aus der Region jedoch noch einmal auf das Problem mit der bevorstehenden sogenannten Walpurgisnacht hinweisen. Immer mehr Unbelehrbare reisen an. Im Gepäck haben sie Kessel und Kräuter, Besen und Butterfässer.
Sie wollen diese Nacht wieder einmal und gegen jede Vernunft feiern und werden dadurch unnötige und vor allem gefährliche Aufmerksamkeit erregen. Am Ende steht vermutlich, wir können es nicht ausschließen, von einigen besonders Übermütigen der Überfall auf eine Stadt an, dieses Jahr könnte es Blankenburg treffen.
Und es kommt noch schlimmer: Uns ist zu Ohren gekommen, dass ein bekannter Professor mit seinem Assistenten auf dem Weg nach Blankenburg ist, um Belege für unsere Existenz zu sammeln. Ein ganz schlechter Zeitpunkt für einen Überfall aber auch eine großartige Gelegenheit, der Wissenschaft zu beweisen, dass es uns nicht gibt.«
Die zehn Hexen im Raum murmelten aufgeregt, bis Obamakka weitersprach.
»Das wissenschaftliche Interesse nimmt zu. Die Menschen werden auf uns aufmerksam, es geht nicht nur mehr um Aberglaube oder Gerüchte, und je mehr echte Fälle von Magie dokumentiert werden, um so gefährlicher ist es für uns.«
»In Bamberg haben sie wieder eine von uns erwischt. Man hat sie denunziert, und da unsere Kameradin nicht ganz ausgebildet war, konnte sie sich nicht mehr befreien. Sie haben ihr den Kopf abgeschlagen«, meldete sich ein Hexer zu Wort.
Ein kollektives Stöhnen ging durch den Raum.
»Ihr seht, ich brauche die Notwendigkeit nicht mehr zu betonen. Wir müssen jetzt über den Antrag aus dem letzten Treffen entscheiden. Wenn ihn beschließen, werden wir alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, koste es, was es wolle.«
Obamakka sah in die Runde. Gemekka rauchte weiterhin der Hut, andere hatten ihn abgenommen und kratzten sich im struppigen Haar, rieben sich nachdenklich die warzige Nase oder das vorstehende Kinn.
»Wer ist dafür, selbst um einen hohen Preis, den Beschluss umzusetzen?«
Zögerlich hob sich die erste Hand, die anderen folgten mehr und mehr entschlossen, bis schließlich alle zehn den Arm erhoben hatten. Obamakka nickte zufrieden.
»Wir versammeln uns in der Walpurgisnacht hier. Gebt die Informationen bitte an eure Gruppenleiter weiter, wir müssen mit aller Macht zuschlagen. Jetzt lasst hören, wie die Lage in den einzelnen Regionen aussieht. Rohazukka, fang an. Wie sieht es im Südosten aus?«
Eine kleinwüchsige Hexe trat ans Feuer und erzählte von wachsender Einsicht in die Notwendigkeit der Einheit, von hoffnungsvollen Talenten, die in der Ausbildung stünden, von wichtigen Positionen, die eingenommen wurden, und von der Verfolgung und dem Versteckspiel.
»...Hordrokka, wie sieht es in Hessen aus... was macht Sachsen-Gotha, Karmelökka... wie weit sind wir in Mecklenburg-Strelitz, Mas-Safakka?«
Eine nach der anderen gab ihren Bericht ab und bekundete ihre Bereitschaft, für die Sache einzustehen. Nach den Berichten gab es eine Portion Bohnensuppe für jeden, Tee aus Bilsenkraut und die Gelegenheit, sich zwanglos zu unterhalten.
»Ich bin ja inzwischen im Rat einer Stadt im Norden...«, hörte Obamakka mit Genugtuung aus der einen Ecke, und aus der anderen: »...meine Frau führt das Geschäft in Nürn... ahem, in meiner Stadt, wenn ich auf Handelsreise bin, einfach fantastisch. Wir steigern unseren Umsatz jedes Jahr um zehn Prozent. Es ist überwältigend, ich kann inzwischen durch den Kontakt mit Dingen und Menschen fast fünf Jahre in ihre Zukunft sehen. Was das für die Geschäfte bedeutet...«
Obamakka stand unmerklich nickend inmitten der Gruppe. Es war gut, auf Versammlungen nicht die wahren Gesichter sehen zu lassen. Gab es Probleme, konnte kein rollender Stein den anderen mitreißen und eine Lawine auslösen. Die Zeit der fallenden Masken würde kommen, würde unvermeidlich sein, wenn das Netz dichter wurde. Bis dahin waren sie alle Hexen und Hexer, egal ob Bürgermeister oder Kaufmann, Superintendent oder Fürst, Graf oder Gelehrter.
»So, Damen und Herren«, sagte Obamakka vor Morgengrauen und klatschte in die Hände. »Auf die Besen, wir wollen schließlich nicht gesehen werden, Sonnwendkraut ist kostbar.«
Murrend löste sich die Versammlung auf. Gemekka flickte mit einem lockeren Spruch ihren Besen und flog eine kurze Strecke mit Hordrokka.
»Schade, ich werde die gemeinsamen Feiern auf dem Brocken vermissen.«
»Ach, sei nicht traurig«, rief Hordrokka, bevor sie in Richtung Magdeburg abbog. »Die Zeit wird kommen, da werden wir uns auf ganz andere Weise in aller Öffentlichkeit treffen.«
Gemekka grüßte, wäre dabei fast vom Besen gefallen und sauste über die Wipfel nach Westen, während in ihrem Rücken der Himmel grau wurde.
Irgendwie, dachte sie, waren die Treffen früher witziger gewesen, damals, als es noch nicht darum ging, die Welt zu beherrschen, als man nur die Nachbarschaft terrorisierte.
Vielleicht sollte sie doch noch einmal zur Walpurgisnacht auf den Brocken fliegen. Nur ein allerletztes Mal.
1
In ein paar hundert Schritten Entfernung standen Häuser, dahinter erhob sich die Stadtmauer von Goslar. Zwischen Kirschblüten erkannte der Mann, der sich Faust nannte, eine Bewegung, Stimmen hallten herüber.
Faust sprang auf. Diese Stimmen verhießen nichts Gutes. Und tatsächlich. Die Männer, mit denen ein Mann über die Wiese gerannt kam, waren bewaffnet. Sie trugen schwere Musketen mit sich, gehörten zur Stadtwache. Der Mann war Bernhard von Pier, Stadtalchemist.
»Bleib stehen, du Schwindler, du Hochstapler...«, rief der Mann. Die Stadtwachen bauten in Windeseile ihre Musketen auf. Die Gabeln erzitterten unter dem Gewicht der Flinten. Faust rannte im Zickzack durch die Bäume. Als Faust sich umdrehte brannten bereits die Lunten. Dann donnerte es.
Ein Baumstamm drei Fuß neben ihm schien zu explodieren. Holzsplitter fetzten ihm um die Ohren. Frisches Grün regnete auf ihn herab. Mit dem nächsten Schuss spritzte eine Fontäne Dreck und Grünzeug einen Schritt entfernt vom Boden hoch. Faust spürte Schmerzen im Gesicht, ignorierte sie, lief weiter, links an der Tanne vorbei, rechts an der kleinen Buche. Zwischen den Bäumen erkannte er seinen Wagen.
Ein Ruf hallte durch den Wald. »Kindermörder!«
Seine Füße trommelten auf den Boden, hoben sich über Wurzeln und kleine Baumstämme. Zwischen grünen Blättern tauchte der Wagen auf dem Weg auf. Seine zwei Pferde wackelten zur Begrüßung mit dem Kopf. Faust sprang mit nie geahnter Wendigkeit auf den Kutschbock, löste den Knoten, durch den die Zügel am Fußbrett befestigt waren, schnalzte mit der Zunge und griff mit schwitzenden Händen nach der Bremse.
Wieder donnerte ein Schuss. Faust hörte die Kugel an seinem Kopf vorbei pfeifen, duckte sich, löste endlich die Bremse, der Wagen rollte an. Der nächste Schuss schlug in die Seitenwand des Wagens ein, dort, wo eben sein Kopf gewesen war.
Trabt an, dachte Faust, trabt an. Schneckengleich kam ihm die Bewegung des Wagens vor, hysterisch das Zwitschern der Vögel, hörte Stampfen von Füßen und einen Ruf. »Schießt, lasst ihn nicht entkommen.«
Mit einem Seitenblick sah er Bernhard von Pier auf den Weg laufen, Faust geballt, hochrot der Kopf. Er rannte hinter dem Wagen her, kam näher. Faust trieb seine Gäule weiter an, zuckte mit den Zügeln. Der Verfolger rannte, hinter ihm stürmten die Schützen auf den Weg und bauten ihre Musketen wieder auf. Endlich gewann der Karren an Geschwindigkeit, der Griff von Piers ging ins Leere, der Mann stolperte, fiel in den Dreck.
Faust lenkte seinen Wagen den Weg hinauf.
Das letzte Donnern der Geschütze. Links vom Wagen spritzte Dreck vom Weg hoch. Die Pferde gerieten endlich in Wallung. Noch einmal kam er der Stadtmauer gefährlich nahe, da der Weg auf die Wiese vor dem Nordtor mündete. Menschenmassen strömten aus der Stadt, bewaffnet, aufgebracht und zur Gewalt entschlossen. Eine Sekunde lang glaubte Faust, sie seien seinetwegen da.
Doch da waren andere Wagen, andere Menschen, andere Vertriebene.
Scheppernd ging eine Scheibe zu Bruch. Die grölenden Städter rannten hinter acht großen Zigeunerwagen her, vereinzelt wurden Steine geworfen. Die Kaltblüter vor jedem Wagen zogen aus Leibeskräften. Langsam rumpelten die Karren von der Wiese auf einen neuen Weg.
Der Mann auf dem ersten Wagen, ein kräftiger Zigeuner mit mächtigem Schnurrbart, duckte sich. Ein von der Seite geworfener Stein ging fehl, landete im Gras. Der kleine Junge, der ihn geworfen hatte, lief ein paar Schritte neben dem Karren entlang. Der Zigeuner schnalzte mit der Zunge und trieb die gescheckten Pferde an, dann rollte sein Wagen in den dunklen Wald.
Man warf Steine und Stöcke hinterher, die meisten Menschen blieben am Stadttor stehen. Die Menge geriet erneut in Bewegung, wich einem kleineren Wagen aus, der von links auf die Wiese vor dem Tor rollte. Auf dem Kutschbock saß ein Mann in Schwarz mit einer flachen Mütze auf dem Kopf, schwang die Peitsche und ließ sie auf seine Pferde niederfahren. Die Rösser wieherten, stemmten sich ins Geschirr.
Die Städter wurden ein letztes Mal aktiv, Kinder rannten schreiend und pfeifend hinter dem vierrädrigen Wagen her, Männer schimpften und suchten nach neuen Steinen. Kurz vor dem Waldrand erreichte der Karren die anderen Wagen und hängte sich hinten an.
2
Schwere Wolken verdunkelten den Morgenhimmel über dem Harz. Das Licht schwand, der Wind frischte auf, drückte die Kronen der mächtigen Eichen nieder, der hellgrün belaubten Kastanien, der dunklen Tannen. Die ersten Körner rieselten herab, prasselten schließlich, wehten in Schwaden, tauten schließlich zu blassen Pfützen und versickerten zwischen halb vergammelten Krokussen, von der Lichtarmut und Kälte des Frühlings geschwächten Hyazinthen und dem ersten blauen Lattich.
An jenem Tag, während er von Quedlinburg kommend in die Ausläufer des Harzes vordrang, schlief Professor Ludwig Northoff unruhig und träumte hektische, kurze Träume, die aufflammten und erloschen wie Lichtreflexe auf einem Wasserfall. Sein Kopf mit dem pelzbesetzten Barett war leicht zur Seite gekippt, wippte auf und ab, rollte in einem Halbkreis nach vorne, bis der Professor mit einem leisen Grunzen die Nase in den Fahrtwind hob und mit faltigen Lippen schmatzte. Anschließend kippte der hagere Kopf wieder nach rechts auf die Schulter, und das Spiel begann von neuem.
Schwankend träumte er von seinem Ziel, das zwei Jahre zuvor zu seiner heiligen Mission geworden war, eine Mission, die den Horizont des Menschen erweitern sollte, die schließlich einen weiteren Beitrag zur enzyklopädischen Bildung des Menschen im Sinne Erasmus von Rotterdams darstellen würde. Im Traum tanzten schon vor Langem beiseitegelegte Bücher um ein Feuer herum, fraßen Singvögel Heilkräuter, kochte die Natur selbst in Gestalt einer großen Eiche Suppe in einem großen Kessel.
Northoff oblag es, jedem Vogel und jedem Kraut einen Namen zu geben. Bevor er dieses gewaltige Werk jedoch vollenden konnte, stand er wieder in Greifswald an der Universität und erhielt erneut eine Ehrung für seine Veröffentlichungen.
Mein bescheidener Ruf, träumte der Professor, jetzt sollte, Gutenberg sei gedankt, eine Buchreihe über den Menschen folgen und den Ruf vergrößern.
Northoff hatte von einem alten Freund in Stettin den Auftrag bekommen, dessen Sohn Ulrich gegen großzügige finanzielle Unterstützung auf seine Forschungsreise mitzunehmen. Rückkehr zu den Quellen, war es vom Professor Northoff Ulrichs Vater gegenüber genannt worden, Grundlagenforschung Als Gegenleistung sollte dem Jungen eine umfassende Erziehung zuteilwerden, die ihm bislang versagt geblieben war. Northoff hatte versprochen, den Jungen seinen Standort in der Welt finden zu lassen. Erst ein paar Wochen später, als er bereits mit Ulrich unterwegs war, fiel ihm ein, wie wenig der alte Freund von den Zielen der Reise hatte wissen wollen.
Ein Freund, der ihm im Traum die Hände schüttelte, sich auf einen Besen setzte und davonflog, während die umstehenden Menschen sich bekreuzigten und mit Hufeisen jonglierten, als wären sie Gaukler auf einer Maifeier. Dann träumte Professor Northoff, wie die Erde in Stettin angefangen hatte zu beben und schreckte aus seinem Schlaf hoch. Die schmale Brille war auf seine Nasenspitze gerutscht, das Barett hing ihm in die Augen.
Die Kutsche rumpelte über einen Stein. Vorbei an dichtem Unterholz huschte das Gefährt, ab und an schlug ein Ast gegen das Verdeck, drang ein Lichtstrahl durch die Kronen und glitzerte auf den Pfützen, die der jüngste Aprilschauer hinterlassen hatte.
Professor Northoff rückte die Brille auf seiner Nase zurecht und rieb sich die Augen.
»Ulrich, mein Junge, wo sind wir?«
Ulrich drehte seinen Kopf. Die Feder auf seinem Hut wippte im Takt der Schritte.
»Zwei Stunden nach Treenberg«, keuchte er pathetisch und stolperte fast über einen Stein. Northoff wusste noch immer nicht, was er von dem Jungen halten sollte. Sie waren erst seit gut zwei Monaten unterwegs, hatten auf dem Weg nach Süden Rostock und Schwerin gestreift, und in der Zeit hatte Northoff versucht, ihm eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie sehr die Dinge des Lebens miteinander verwoben waren.
Es gab nicht nur Bier und Mädchen. Wer die Welt als Ganzes verstehen wollte, musste sich mit der Naturwissenschaft beschäftigen, mit der Philosophie und Theologie, vor allem aber mit dem Menschen und seiner Natur. Gleichwohl spürte der Gelehrte an manchen Tagen einen Widerwillen in dem Jungen, der sich nur schwerlich überwinden ließ.
Wenigstens heute war Ulrich folgsam und tat, worum man ihn bat. Ohne Pause lief er jetzt seit fast zwei Stunden, das machte sein letztes Versehen zumindest im Geiste wieder wett.
»Dann kannst du jetzt ein wenig langsamer laufen, denn wir liegen gut in der Zeit«, sagte der Professor und zog seinen ergrauten Schädel wieder ins gekrauste Hemd zurück. Ulrich lächelte erleichtert. Der Alte hatte also von der kleinen Pause unter den Bäumen nichts mitbekommen.
Für alle Himmelskörper oder Sphären gibt es nicht nur einen Mittelpunkt, pflegte Northoff zu sagen, wenn Ulrich wieder einmal nicht verstand, in welchem Zusammenhang die Schädelknochen des Menschen mit der Kunst des Fechtens standen. Man müsse versuchen, über den Tellerrand hinaus zu blicken, es ginge nicht um den Sinn der Naturerscheinungen, sondern um deren Ursachen.
Der dunkelhaarige Junge zog dann immer die Augenbrauen hoch, zuckte mit den Schultern oder entgegnete leise: »Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.« Kopernikus konnte ihm gestohlen bleiben, das aber sagte er nie.
Es war nicht seine Entscheidung gewesen, dem Professor als Assistenten zu dienen, sein Vater hatte für ihn entschieden. Nie wäre Ulrich auf die Idee gekommen, sein geliebtes Stettin und die vielen einsamen Momente am Strand, in denen er Rötelzeichnungen von einlaufenden Schiffen anfertigte, einzutauschen gegen ein unstetes Leben auf Reisen, bergauf und talab dem Professor seine Taschen hinterher tragend, immer auf der Suche nach Beweisen und Belegen, um die sich die Mission des Alten drehte.
Stettin, die frische Brise, der Salzgeruch und das Haff, die windschiefen Bäume, die Kiefern am Strand, war seine Heimat, und alles, was Ulrich gewollt hatte, war malen und träumen und die Träume malen. Die Bahn der Gestirne interessierte ihn ebenso wenig wie der andere Unsinn, mit dem ihn Professor Northoff jeden Abend mästete.
»Hättest du besser auf das Pferd achtgegeben, könntest du jetzt neben mir sitzen.«
»Ja, Professor.«
»Na, eine Lehre für das nächste Mal.«
»Man vertraut eben keinem Mann mit geschlitztem Ohr sein Pferd an...«, murmelte Ulrich leise.
»Man vertraut eben keinem Mann mit geschlitztem Ohr sein Pferd an...«, sagte Professor Northoff und hob dabei den Zeigefinger. Ein Schmetterling fing seinen Blick, wurde jedoch abrupt abgelenkt durch ein langgestrecktes Heulen. Northoff runzelte die Stirn, Ulrich verlangsamte seinen Schritt und brachte die Kutsche rumpelnd zum Stehen.
»Hört Ihr, Professor? Ein Wolf!«
»Das ist unmöglich, weil viel zu früh, denn die Tiere sind…! Na, was sind sie, Ulrich, was sind sie? Dämmerungsaktiv«, winkte der Professor ab und suchte nach dem verschwundenen Schmetterling. »Und jetzt weiter, Ulrich, wir wollen am Nachmittag in Thale sein.«
Ulrich nahm die Griffe ein wenig fester in die Hand, trat an und zog die einachsige Kutsche weiter über den schlammigen Weg durch den Wald. Das Grün der Bäume empfand der Junge als erdrückend, das Zwitschern der Vögel als bedrohlich. Das offene Meer und Möwengeschrei waren ihm tausendmal lieber als Wolfsgeheul und Hohlwege.
Ab und zu wich Ulrich einem wassergefüllten Schlagloch aus, denn er kannte diese Löcher, in denen sich die Lichtstrahlen brachen, als heimtückisch und teilweise knietief. Schatten am Wegesrand, Bruchholz und dahinter erwartete Ulrich ganz sicher einen Räuber oder zwei, mit geschärften Schwertern, schweren Keulen und hässlichen, vernarbten Gesichtern.
Er starrte zu angestrengt auf den Weg zu seinen Füßen, um die zwei Männer hinter der nächsten Kurve rechtzeitig zu bemerken. Sie trugen braune Hemden und Hosen, die ihnen in Fetzen um den Körper hingen. Die Haare der Männer waren lang und zottig, die schweren Knüppel in ihren Händen sorgten für Eindruck.
»Brrr!«, machte Ulrich unwillkürlich, rutschte über den Boden, blieb an einer Wurzel hängen und brachte stolpernd die Kutsche zum Stehen.
Die Männer schlugen mit den Knüppeln in ihre offenen Handflächen, der eine kaute auf etwas herum und spuckte einen braunen Strahl vor Ulrich auf den Boden. Ulrich wagte nicht einmal zu keuchen, nur die Vögel zwitscherten hämisch, als hätten sie es gewusst.
»Her«, sagte der erste Mann nur. Er war größer als der andere, dünner, und als er sprach öffnete sich hinter seinen Lippen eine dunkle Kalksteinhöhle, in die gelbbraune Stalaktiten und Stalagmiten ragten. Der andere Mann, um einiges dicker, genauso unrasiert und dreckig, kaute seelenruhig weiter.
»Was ist, Ulrich, warum bleibst du stehen?«, fragte Northoff, als würde er die Wegelagerer überhaupt nicht sehen. Ulrich drehte sich mit weit aufgerissenen Augen um, wollte dem Alten sagen, ihr letztes Stündlein habe gerade geschlagen und anfangen, panisch zu schreien, als Northoff zu lächeln begann.
»Ach, Ihr seid es«, sagte er. »Wie laufen die Geschäfte?«
»Geld, Fmuck und die Klamotten, aber fackig, ne«, sagte der Lange ungerührt.
»Euer letzter Überfall hat sich weit herumgesprochen, ich hatte schon Angst um Euch. Wie ist es Euch denn so ergangen?«, fragte Northoff wieder mit fester Stimme. Ulrich war kurz davor, schreiend die Flucht in den Wald zu ergreifen.
Der Dicke sah seinen Kompagnon von unten an.
»Du kennst den, Gebhard?«
Der Lange sah zum Dicken hinunter, doch bevor er etwas sagen konnte, klatschte Northoff in die Hände. »Ich habe Euch ja bereits letzte Woche etwas für die freie Fahrt gezahlt, Gebhard, und hoffe, Ihr zwei habt das Geld gut verwendet.«
Jetzt runzelte der Lange die Stirn. Ein Stück Dreck fiel auf seine Nase.
»Welches Geld?«, fragte der Dicke.
»Na, das Geleitgeld für die Passage durch Euren Wald«, sagte Northoff verwirrt. »Ihr habt es ihm doch gesagt, Gebhard, oder nicht?«
Der Lange räusperte sich und schien zu überlegen. In Ulrichs Blick flackerte weiterhin Panik, der Professor hob die Hände, um seiner Ratlosigkeit Ausdruck zu verleihen. Ein Gedanke riss den langen Räuber aus der Überlegung.
»Und wenn ef fo if‘, ne, dann fahlft du halt nochmal, ne«, blaffte er. Der Dicke hob den Blick voller Misstrauen.
»Hast du mir schon wieder was unterschlagen?«
Der Lange legte den Kopf schief, biss die letzten zwei Zähne zusammen und starrte den Dicken verkniffen an. Seine Keule hing locker an seiner Seite.
»Hör fu, Ferdinand, du haft wieder diefen Ton, den ich nicht mag. Natürlich hab‘ ich dir nichtf vom Geld gegeben, weil ef gar kein... »
»Ich glaube es nicht. Natürlich, sagt er, natürlich habe ich dir nichts vom Geld gegeben. Hast du das gehört?«, sagte Ferdinand zu Ulrich, der sich vergeblich an einem Lächeln versuchte. Der Lange packte den Dicken am Kragen und zog ihn zu sich heran. »Wirft du mich wohl aufreden...«
»Du kotzt mich an mit deinen Ausreden. Seit drei Monaten höre ich mir das jetzt an. Du hast den Braten essen müssen, weil er sonst schlecht geworden wäre, du hast den letzten Schluck Wein nur getrunken, weil man Kopfschmerzen davon kriegt, und die wärmere Decke ist angeblich viel zu kratzig!«, fauchte Ferdinand. »Und jetzt unterschlägst du mir auch noch Geld, du elender Lump.«
»Ich hab‘ daf Geld nicht unterflagen...«, fauchte Gebhard zurück und hob die Keule. Mit katzengleicher Wendigkeit, die sowohl Ulrich als auch den Langen überraschte, drehte sich der Dicke um die eigene Achse und schlug dabei dem Langen die Faust in den Bauch.
Als der zusammenklappte und sich sein Gesicht auf gleicher Höhe wie das des Dicken befand, holte dieser aus, um ihm ordentlich aufs Maul zu hauen, seine Faust landete jedoch in der reaktionsschnell erhobenen Hand seines Gefährten.
Zwei Schläge: Faust traf Kinn, Keule traf Fuß, zwei Schreie, wütendes Fluchen. Anschließend ging die Klopperei los. Der Lange und der Dicke hieben mit Füßen, Fäusten und den Knüppeln aufeinander ein. Dazwischen beschimpften sie sich als Lügner, Betrüger, Räuber, Kameradenschwein und Abschaum.
»Ulrich, trab an«, sagte Northoff. Darauf hatte sein Assistent nur gewartet. Sie ließen das Räuberduo links liegen. Als sie um die nächste Biegung rollten, beruhigte sich endlich Ulrichs Herzschlag.
»Wie viel habt Ihr ihm denn gezahlt, Herr Professor?«
»Nichts, mein Junge, natürlich nichts.«
»Ihr sagtet...«
»Schlagen sie nicht gleich zu, hat der Reisende eine Chance. Denn rhetorisch, mein Junge, sind uns diese Halunken immer unterlegen. Der Mensch ist einfach schrecklich naiv.«
Northoff rieb zufrieden sein glattrasiertes Kinn und lehnte sich zurück. »Das Wort, mein lieber Ulrich, ist stets mächtiger als das Schwert.«
Die nächsten Stunden begleitete sie das Zwitschern der Vögel und fleckiges Sonnenlicht, der Weg unterbrochen von einigen Lichtungen, manchmal liefen ein Reh oder ein Wildschwein von Waldsaum zu Waldsaum. Schließlich wichen die Bäume zurück, und hinter einer Gruppe alter Eichen führte der Weg aus dem Wald. Links und rechts lagen im Sonnenlicht Felder, auf denen die Saat bereits eine Handbreit aufgegangen war. Der Weg führte leicht bergauf. Ulrich geriet rasch ins Schwitzen, dann kamen Häuser in Sicht.
Ein kleiner, schmutziger Junge am Wegesrand sah die beiden, hüpfte vergnügt und lief nebenher.
»Warum ziehst du denn die Kutsche?«, wollte das Kind wissen. Ulrich hatte keine Kraft mehr für ein Lächeln. Nach dem ersten Gehöft ließ er die Kutsche ausrollen, machte letzte Schritte und stand still.
»Ist das hier Thale?«, fragte Professor Northoff. Der Junge mit dem schmutzigen Gesicht schien zu überlegen. Ulrich fragte sich, ob das Dorf hier überhaupt einen Namen hatte.
»Mama«, rief das Kind, machte auf der Stelle kehrt und rannte über die schlammige Straße in das nächste Haus. Ein paar Hühner flatterten umher, hinter einem Zaun stierte eine Kuh herüber. Drei oder vier Gehöfte lagen am Weg, dahinter klapperte eine Mühle an einem Bach, und erst dort, wo der Wald wieder dichter wurde, konnte Northoff den Turm einer kleinen Kirche erkennen. Zwei weitere ärmliche Häuser scharten sich um den Platz davor.
Aus dem Haus, in dem der Junge verschwunden war, kam eine junge aber erschöpft aussehende Bauersfrau. Ihr zerrissenes Hemd stand halb offen und ließ die Ansätze runder, schwerer Brüste blitzen.
»Was wollt Ihr denn?«, fragte sie. Ulrich ertappte sich bei der Vorstellung, wie sie wohl ganz ohne Rock und Schürze aussah. Northoff stieg ächzend von der Kutsche, Ulrich streifte das Geschirr ab, ließ den Kutschkasten nach vorne kippen und streckte sich.
»Ist das hier Thale?«
»Bestimmt«, sagte die Frau. Sie schien Ulrichs Blicke zu bemerken, doch statt das ehemals weiße Kattunhemd vor der Brust zusammen zu raffen, reckte sie ihren Oberkörper und vergrößerte so den Spalt. »Aber Ihr wollt bestimmt nicht hierher.«
Northoff trat vor die Frau in der Tür. Der kleine Junge versteckte sich hinter ihr und sah neugierig zum Professor hinauf.
»Habt Ihr vielleicht einen Schluck Bier hier für mein Pferd, pardon, meinen Adlatus?«, fragte Northoff, nachdem er sich umständlich und ausgiebig geräuspert hatte.
Die Bäuerin hob die Augenbrauen, schickte ihr Kind ins Haus und nickte in Ulrichs Richtung. Dabei öffnete sich ihr Kleid noch weiter. Ihre Brüste waren mit dunklen Warzen besetzt. Auch Northoff wurde der Mund trocken.
Über ihrem Kopf hing an der Tür ein Hufeisen, daneben waren mit Kreide drei Kreuze gemalt. Northoff drehte sich zu Ulrich um, auf seinem Gesicht lag ein breites Grinsen. Mit dem Kopf winkte den Jungen heran.
»Hufeisen, mein Junge, ein Hufeisen.«
Ulrich hob die Schultern, murmelte »Na und?«, und griff nach dem Bier, das ihm vom Kind in einem Tonbecher angeboten wurde.
Er konnte sich ein Seufzen kaum verkneifen, denn er wusste, was ihn jetzt erwartete. Praktische Forschung, nannte es sein Lehrer, dabei lief es auf Körperkontakt hinaus, der ihm in dieser Form zwar nicht zuwider war, jedoch eine gehörige Portion Überwindung abforderte. Die Nähe einer Frau, so hatte Ulrich festgestellt, hatte ihn bislang eher im Geiste interessiert, auf dem Papier, als anatomische Studie in Rötelkreide. Die dralle Bäuerin stemmte die Hände in die Hüften.
»Nur Bier? Oder wolltet Ihr mit Pferd vielleicht etwas Anderes über euren Schüler andeuten?«
Northoff spürte, wie ihn die schlichte Direktheit, die primitive Sexualität der Bäuerin in Verlegenheit brachte. Zudem roch sie geradezu nach der Mal Franzos, der gallischen Krankheit, die Menschen auffraß wie ein Lindwurm, der von innen kam.
»Ich bin sicher, dass mein Schüler über viele Qualitäten verfügt.«
Die Bäuerin ließ eine Zungenspitze zwischen den blassroten Lippen blicken, musterte Ulrich von oben bis unten und trat von einem Bein auf das andere.
»Die ihr mir sicher nicht so einfach überlasst, was? Was wollt ihr?«
Informationen. In einer solchen Gegend war Wissen schwer zu bekommen. Zum Glück waren sie vorbereitet. Es würde nicht das erste Mal sein, dass sie sich die Arbeit aufteilten. Ein Kopf und ein Körper. Ulrich musste nur lernen, irgendwann einmal, wenn Northoff zu alt für die Forschung war, selbst die Kopfarbeit zu übernehmen und einem anderen den Körpereinsatz zu überlassen.
»Ich höre?«, sagte die Frau. Unter ihrem Kleid schwangen die Brüste schwer hin und her.
»Wir möchten uns nur mit ihnen unterhalten.«
»Gut, das können wir dann ja hinterher machen.«
Die Frau packte Ulrich am Ärmel und zog ihn ins Haus. Professor Northoff blieb mit dem Kind an der Tür stehen und hoffte inständig, dass Ulrich an den Tabaksbeutel dachte.
Die Stube war dunkel, verraucht, dreckig und schnell durchquert. Sie warf Ulrich auf eine quietschende Bettstatt im hinteren Teil des Raumes. Ihre Brüste sprangen aus dem geöffneten Hemd. Ihre Finger öffneten zielstrebig seinem Hosenstall.
»Pferd? Dein Professor hat nicht übertrieben, Jungchen. Endlich mal einer, der nich' verhext is', so wie unsere Männer.«
Ihr Mund öffnete sich weit, als wolle sie ihn verschlingen. Ulrich ahnte, dass alles an dieser Frau groß und weit und tief sein würde. Ihr Schnaufen wurde atemloser, doch ehe Ulrich die Besinnung verlieren konnte, kroch sie im Halbdunkel an ihm hinauf, drückte ihn tief in die Bettstatt und raffte den Rock. Bevor sie sich auf ihn setzen konnte, drehte sich Ulrich zur Seite. Seine Hand steckte längst in dem kleinen Tabaksbeutel, der ihm in den vergangenen Wochen ein treuer Begleiter geworden war und stets an einer Lederkordel an seiner Hose hing.
»Augenblick«, sagte er, holte aus dem Beutel etwas hervor, das eine wie mit Wachs bestrichene Hostie in der Größe eines Silbertalers aussah.
»Was ist das?«, keuchte die Bäuerin, ungeduldig und überrascht von dieser Unterbrechung.
»Es ist besser für uns«, antwortete der Junge und legte die Hostie an. Innerhalb einer Sekunde verwandelte sich die Oblate in eine winzige Mütze wie aus dünner, wächsern schimmernder Baumwolle, die der Junge geübt von der Eichel her über den steifen Degen rollte.
»Schweinedarm, hä? Davon habe ich gehört. Bist ein ganz sauberes Kerlchen, was? Ein Hochwohlgeboren mit einem Ding wie ein Bauer. Ist mein Glückstag heute«, zischte sie. Die Bettstatt knarrte bald erbärmlich, Holz knirschte, Stroh raschelte. Sie bekam mehr Lohn, als ihre Informationen wert waren, ahnte Ulrich.
Wer weiß, dachte er, wer sonst noch den Bauern vertrat.
Ulrich nahm einen tiefen Zug aus dem Krug. Das Bier war angenehm warm, aber fad. Zu wenig Hopfen und schlechte Gerste. Die Frau stopfte ihre Brüste zurück unter das Kattunhemd und setzte sich an den wackeligen Tisch.
»Was wollt Ihr wissen.«
»Gute Frau, sagt mir, das Hufeisen über Eurer Tür...«
Die Bäuerin erstarrte für einen Augenblick, dann blaffte sie Ulrich an. »Na, wie ist‘s Bier? Sagst ja gar nichts.«
»Tolles Bier. So nass.«
»Trink mal ordentlich, Junge, siehst durstig aus.«
»Bin ja auch den ganzen Tag gelaufen.«
»Jammere nicht, Ulrich. Wenn du nicht das Pferd...«
»...einem Mann mit einem Schlitzohr gegeben hättest. Ja ja.«
»Also, gute Frau, das Hufeisen... »
»Ach, Hufeisen, was ist mit Bier, wollt Ihr ebenfalls ´nen Schluck?«
»Nein, ich möchte wissen, warum hier ein Hufeisen über der Tür hängt. Und die drei Kreuze daneben, was haben die zu bedeuten. Gibt es hier im Dorf vielleicht Probleme?«
Die Bäuerin stemmte ihre Hände in die massigen Hüften und richtete sich auf. Der Schemel unter ihrem Hintern kippte um und polterte auf den Lehmboden.
»Probleme? Natürlich. Habter das da nich‘ wo Ihr herkommt, hä?«
»Probleme, nun, es kommt darauf an...«
Beim Lachen zeigte sie eine überraschend vollständige Reihe Zähne. »Jaa, ham‘ hier ´ne Menge Probleme, ne. Ernte letztes Jahr war schlecht, Winter zu kalt, wir hatten die Dings, die Pocken...« Sie stellte sich bequem und zählte an den Fingern ab. »...den Holzwurm im Gebälk, durchs Dach regnet‘s rein und letzte Woche is‘ne Kuh verreckt, ne. Probleme?«
»Interessant.« Professor Northoff wandte sich an Ulrich. »Mein Junge, gib mir bitte das Buch.«
Ulrich gab den leeren Tonbecher an das kleine Kind zurück, ging durch die Tür auf die Straße und holte eine schwarze Tasche aus der Kutsche. Das Tageslicht blendete. Im Bauernhaus war es verdammt dunkel. Northoff setzte eine kleine Sehhilfe auf die Nase, wühlte lange in der Tasche herum und zog ein in braunes Leder eingebundenes Buch hervor.
»Kuh... Kuh...«, murmelte der Professor und kratzte ab und zu sein Kinn. »Gibt eine Eurer Kühe vielleicht Rotwein?« Er nickte Ulrich aufmunternd zu. »Oder sprechen Eure Katzen? Oder gibt es bei Euch fliegendes Geschirr, zum Beispiel Untertassen?«
Die Bäuerin streckte ihren Kopf hervor, sah nach links, dann nach rechts, packte den Professor schließlich am Hemd und zog ihn zu sich heran.
»Die alte Keplerin!«, zischte sie. »Wohnt im Wald alleine, jaaa, nennt sich Kräuterweib, aber ha.« Sie spuckte auf den Boden. »Die Pocken komm‘ von ihr, die schlechte Ernte, waren die verfluchten Weiber, die Kuh, das Dach. Hat sogar unseren Tisch verzaubert, plötzlich läuft er.«
»Kann ich den Tisch einmal sehen?«
Die Bäuerin lockerte den Griff. »Ham wer verfeuert, ne, ist ja alles runtergefallen, hat ja kein Sinn mehr gehabt, ne. Letzte Woche ist die Keplerin auf ´ner Sau durchs Dorf geritten und anschließend ist mein Jüngster an Dings, ääh, hat er die Dings, hier, ne, gekriegt.«
»Die Dings?«
»Jaaa, schlimm, ekelig.«
»Hat sie jemand dabei gesehen, ich meine, die Keplerin?«
»Jaaa, mein Mann, wie er vom Wirt kam, ne, jaa, genau gesehen« sagte die Frau und ließ den Professor los. Der schob seine Brille zurück auf die Nase und rückte das Barett zurecht.
»Und wer ist die Keplerin?«
»Die macht immer so Handlesen und so, jaja, im Wald hinter Blankenburg. Ist eine ganz schiefe, die spricht mit Wölfen und reitet auf dem Besen und hat unsere Männer verzaubert, so dass sie ...« Sie nickte mit dem Kopf. »...nicht mehr können.«
»Können?«
»Na, keinen mehr hoch bekommen...« Wieder nickte sie, diesmal entschieden deutlicher in Richtung der Körpermitte des Professors. »In der ganzen Gegend sind die Männer nicht mehr in der Lage zu vögeln. Und das alles wegen der vermaledeiten Hexen. Brauchen mal ´nen Prozess, hier. Und dann, ruckzuck, Rübe ab.« Die Frau strich sich mit dem Zeigefinger über den Hals und holte ein knackendes Geräusch aus der Kehle. »Diese vermaledeiten Weiber. Klauen Kühe und Hühner, und dann sind unsere Kinder dran. Und die Pest bring se uns, die ham sich verschworen, ham se sich, gegen uns Menschen. Ich sach Euch, der Teufel, der ist überall, vor allem hier im Harz, hier.«
Je mehr sie sagte, umso lauter wurde sie. Ihr Gesicht rötete sich, Speichelblasen tauchten auf den blassen, aufgesprungenen Lippen auf, die Augen quollen aus den Höhlen. Ulrich wusste die Dunkelheit in den vielen Räumen, die er in den letzten Tagen gesehen hatte, besonders zu schätzen. Nachts, dachte er, sind wirklich alle Katzen grau.
»Die ham sich gegen uns verschworen und wollen die Welt übernehmen. Erst verzaubern sie unsere Ernten, ne, und die Tiere und die Kinder, und Pest und diese Mal Franzos, die ham se uns an den Hals gezaubert.«
»Habt Ihr Beweise, gute Frau?«
»Beweise? Wie Beweise? Wollt Ihr mich verarschen, hä? Seid Ihr auch einer von denen, hä? Ihr braucht nur die Frauen zu fragen, wann ihre Männer sie das letzte mal bestiegen haben. Keiner kriegt mehr einen hoch. Und ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie mir jemand erzählt hat, er hätte die ganzen Weiber herumfliegen sehen, Tsabitta und Köstritza und Dihomma und wie sie sich nennen, die geilen Weiber. Mit eigenen Augen gesehen. Brennen müssen die, brennen auf dem Scheiterhaufen.«
Jetzt schrie die Frau. Sie spuckte beim Schreien dem Professor ins Gesicht. Sie drängte ihn zur Tür.
»Und jetzt ist besser, wenn Ihr geht, überleg‘ grad, wo ich die Mistgabel zuletzt gesehn hab‘, weil ich glaube, dass Ihr einer von denen seid. Beweise, hier brauchen wir keine Beweise, wir glauben an das, was wir gehört und gesehen haben, hä, Beweise, was ist’n das überhaupt, hä, Beweise, schert Euch wech!«
Sie verschwand im hinteren Teil der Stube und kehrte gleich darauf mit einer gefährlich spitzen Mistgabel zurück. Professor Northoff hob beschwichtigend die Hände, der Junge befürchtete bereits das Schlimmste, als sich ein lautes Geschrei hundert Schritt die Straße hinauf erhob.
Ein herausgekehrter grüner Strauß an einem breiten, geduckt wirkenden Gebäude, das kurz vor dem Zusammenbruch stand, deutete in Ulrichs Augen auf einen Dorfgasthof hin. Eine Gruppe von zehn Männern drang in den Gasthof ein, man hörte Splittern von Holz und Wehklagen.
»Diese, diese Hunde!«, rief die Bäuerin und wandte sich ab vom Professor, der bereits zur Kutsche geschlichen war. Sie nahm die Mistgabel und stürmte zur Straße. »Das sind wieder die Quedlinburger, diese Hunde.«
Ulrich hatte das Geschirr der, wie er es nannte, Kreuzung zwischen Armesünderkarren und ungarischem Kotschi-Wagen bereits auf die schmerzenden Schultern genommen, da kamen die Männer wieder aus dem Gasthaus. Drei von ihnen rollten Fässer vor sich her, vier hielten zwei keifende Frauen und einen erbosten Mann zurück, den Ulrich für den Wirt hielt, die letzten trugen Äxte.
»Professor, was...«, begann der Junge, dann holten die Männer mit den Äxten aus. Die Bäuerin kam gerade rechtzeitig, um sich mit dem Schwall Bier, der aus den Fässern rauschte, die Füße nass zu machen.
»Das ist, nehme ich an, eine Gegenmaßnahme der Quedlinburger«, sagte Northoff, während er auf den Wagenkasten stieg. »Weil die Dorfbewohner mehr Bier produzieren, als sie für den Eigenverbrauch benötigen.«
»Na, und?« Mit einer Handbewegung gab ihm der Professor zu verstehen, das Thema fürs Erste nicht weiter zu behandeln. Sie rollten am Gasthaus vorbei. Der aufgebrachte Wirt schimpfte den abrückenden Quedlinburgern hinterher, die Faust erhoben. Die Bäuerin hatte ihre Mistgabel in den vom Bier getränkten Boden gesteckt und guckte grimmig, was Ulrich bei der Menge vergeudeten Bieres gut verstehen konnte.
»Nach Blankenburg?«, fragte er schüchtern.
Die Bäuerin wies mit der Hand in die Richtung der Kirche. Noch lange hörten die Reisenden das Zetern des Wirtes, der Frauen und der Bäuerin.
Bei Anbruch der Dunkelheit erreichten Professor Northoff und Ulrich die Stadt Blankenburg.
Der Wächter hatte bereits Fackeln angezündet und wollte gerade das Tor schließen, wies ihnen mürrisch den Weg, nachdem Northoff den Passierschein bezahlt hatte. Ulrich brachte die Kutsche vor dem Gasthaus Goldener Gockel in der Marktstraße zum Stehen, ließ Northoff absteigen und folgte ihm mit dem Gepäck. Die Tür war niedrig, der Schankraum düster. Northoff musste sich bücken und auf der Schwelle warten, bis sich seine Augen an das Zwielicht gewöhnt hatten.
»Wir bringen Euer Pferd in den Stall hinter dem Haus«, schlug der Wirt vor, ein mageres Wiesel mit dürren Beinen und fusseligem Bart, der mehr mit seinen Händen als mit der Zunge sprach.
»Nicht nötig«, winkte Professor Northoff ab. »Das schläft bei mir.«
»So witzig«, sagte Ulrich.
»Könntet Ihr bitte die Kutsche unterstellen? Zeigt dann meinem Assistenten den Stall, damit er sie später finden kann.«
»Braucht er Stroh?«
»Nein, er speist mit mir. Sonst rennt er morgen wieder so langsam.«
Die Wirtsstube war klein und verräuchert. Im Kamin flackerte ein Feuer. Vier Männer an einem der Tische, sonst war niemand im Gasthaus. Der Professor zog sein Barett und grüßte.
»Besuch«, sagte ein dicker Mann mit vollem Bart, wie ihn Kaiser Karl V. getragen hatte. Unter seinem Wams wölbte sich ein mächtiger Bauch über den Bund der Pluderhose. Die Spieler legten ihre Karten zur Seite und tranken fast synchron von ihrem Bier. Der offene Kamin in ihrem Rücken knackte und knisterte, das Holz warf Funken in den Raum. In der Luft lag der würzige Geruch von Tanne.
»Guten Abend, der Herr«, sagte der Dicke. »Was führt Euch nach Blankenburg?«
Northoff zögerte. Auf der zweiten Stufe hielt der Wirt inne. Welch ungünstig direkte Frage, dachte Northoff. Gemacht für eine günstig indirekte Antwort. »Der Mensch.« Sein Schritt in den Raum war halblang.
»Der Mensch?«, wiederholte der Dicke und lachte herzlich. »Kennen wir ihn?«
Ein großer, blonder Mann mit ernstem Gesicht und spitzem Kinnbart schlug ihm den Ellenbogen in die Rippen. Der Dritte, hager und asketisch im Körperbau, rieb sich schweigend seine krumme Adlernase und sah dabei zu Boden, ein kräftiger Mann mit Halbglatze ließ ungeduldig die Karten zwischen den Fingern knattern.
»Ich bin Wissenschaftler an der Universität Greifswald, von Stettin aus unterwegs auf einer Forschungsreise mit meinem Assistenten und Schüler Ulrich hier.«
Ulrich lächelte zaghaft. Das Gespräch hatte ihm gerade noch gefehlt. Jeder Satz hielt ihn länger davon ab, die Bilder in seinem Kopf zu zeichnen, die Penetration, die Hautfalten, die dunkle Hütte, die Schatten.
»Und Ihr sucht also den Menschen?«, fragte der Hagere mit der Adlernase.
Northoff kratzte sich am Hinterkopf. »Nun, ich untersuche ihn, um genau zu sein.«
»Ihr untersucht ihn. Erzählt uns mehr. Was genau untersucht Ihr?«
»Das Thema ist sehr komplex und ich stehe erst in der Mitte meiner Studien. Falls Ihr gestattet, möchte ich vorerst so viel verraten: es geht um Grundlagenforschung.«
»Verratet mir wenigstens, warum Ihr dazu gerade in unser verschlafenes Nest kommt«, sagte der Blonde.
»Es ist vor allem die Lage.« Northoff drehte seine Mütze zwischen den Händen, machte einen weiteren Schritt in den Schankraum und sah zu Boden.
Müsste mal gewischt werden, dachte er, bevor er den Kopf hob.
»Die Lage? Wovon genau sprecht Ihr, in Gottes Namen? Setzt Euch und erzählt«, forderte der Hagere. Der Dicke und der Blonde nickten, der Kräftige kniff kritisch die Augen zusammen.
Northoff drehte sich um zu Ulrich, der die Augen verdrehend an der Theke stand. Der Wirt neben ihm verzog keine Miene. Mit einem breiten Lächeln wandte sich der Professor wieder den Männern zu.
»Vielleicht ein anderes Mal. Die Reise hat mich sehr erschöpft, und mein Assistent hat noch eine Lektion zu lernen. Ich würde Euch gerne später ein paar Fragen stellen. Mit wem hatte ich die Ehre?«
»Mein Name ist Peter Solberg, Ratsherr von Blankenburg«, sagte der Bärtige. »Das ist Richard Dülmen, der Bürgermeister, und dort seht Ihr Burkhard Widmann, unseren Stadtkämmerer, daneben Claus Nowak, Ratsherr und Vorsitzender der Handwerkerinnung. Wie ist Euer Name?«
»Ludwig Northoff. Sehr erfreut.«
Er machte eine kleine Verbeugung. Die vier Männer neigten ihre Köpfe ebenfalls.
»Es würde uns sehr gefallen, wenn Ihr uns mehr über Eure Arbeit erzähltet. Vielleicht führt Euch morgen Euer Weg ins Rathaus.«
Northoff dankte. Der Wirt ging voran in den ersten Stock. Ulrich kämpfte sich schimpfend mit dem Gepäck hinterher. In der zweiten Etage, direkt unter dem Dach, öffnete der Wirt eine schmale Tür zu einem engen Zimmer. Ein Fenster führte hinaus zur Straße. In einer Ecke des Raumes stand ein zweites, kleineres Bett.
»Das Beste im Haus. Und das einzige mit zwei Betten.«
»Ich hoffe, es ist nicht zu hart«, klagte Ulrich. Ächzend setzte er das Gepäck ab. »Ich habe es mit dem Rücken.«
»Ulrich, hör auf, dich zu beschweren«, forderte Northoff. »Du hörst dich schon an wie mein letzter Assistent, der Alfred. Der Weg zu Wissen und Weisheit ist dornig.«
Northoff gab dem Wirt eine Bestellung für das Abendessen mit, schloss die Tür. Ulrich setzte sich prüfend auf sein Bett, sein Meister ging Hände reibend durch das Zimmer. Er hatte sein Barett achtlos auf den Nachttisch geworfen, die grauen Haare hingen ihm wirr um den Kopf. »Herrlich, Ulrich, wir kommen voran. Die Hufeisen, die Kreuze an den Türen, die Anschuldigungen. Wunderbar. Oh Jahrhundert, oh Wissenschaften. Es ist eine Lust zu leben. Ich sage dir, bevor wir in Süddeutschland ankommen, werden wir einiges mehr an Gewissheit erlangen. Von hier sind es etwa sechs Meilen zum Gipfel, das sollten wir an einem halben Tag schaffen.«
»Mit einem Pferd, ja«, knurrte Ulrich.
»Weißt du, wie viel uns der Gauner für ein neues Pferd abknöpfen wollte? Acht Taler, mein Junge, acht Taler. Für den mageren Klepper. Dieser Halsabschneider.«
Ulrich schweifte in Gedanken ab, während der Professor sich über die hohen Reisekosten beschwerte, wünschte sich zurück nach Stettin in sein Atelier, in die Marienstraße.
»Lies bitte erneut die Stelle.« Northoff setzte sich auf einen Stuhl und ließ sich von Ulrich die Schuhe ausziehen.
»Schuhe oder lesen?«
»Erst Schuhe, dann lesen.«
»Ich dachte, ich solle auch den Überzieher putzen.«
»Also bitte, erst putzen, dann lesen.«
»Und sollte ich nicht nach einem Pferd fragen?«
»Also gut, erst ausziehen, dann den Überzieher putzen, dann nach einem Pferd fragen und dann lesen.«
»Lesen, bevor oder nachdem der Wirt das Bier gebracht hat?«
»Herrgott, Ulrich, willst du bei mir was lernen, musst du auch was lesen. Du kannst dich nicht immer davor drücken. Denke daran, meine Junge: Du kannst zum Tier entarten; aber du kannst dich ebenso aus dem freien Willen deines Geistes zum gottähnlichen Wesen wiedergebären. Und der Weg dahin ist die Bildung.«
Der Professor stützte sich mit einem Fuß auf die Schulter seines Adlatus, und zog den anderen Fuß aus dem Schuh. Ulrich begleitete mit einem missmutigen Gesicht die Schimpftiraden des Alten, der nach dem Buch auf dem Nachttisch griff und begann, darin herumzublättern.
»Hast du deine letzte Lektion über die Schädelhälften gelernt? Ja? Nun, dann können wir heute ein neues Kapitel aufschlagen. Etwas, das zu unserer Aufgabe passt. Also. Laut Institoris und Sprenger gibt es dreierlei Arten. Die eine... na, wie hieß Institoris mit bürgerlichem Namen, Ulrich, wie hieß er?«
»Heinrich Krämer«, sagte Ulrich, öffnete seinen Tabaksbeutel und zog die Membran mit spitzen Fingern aus dem Tabaksbeutel. Er brauchte Wasser. Warmes Wasser und Seife. Gab es etwas Gutes, das Ulrich über seinen Lehrer sagen konnte, so war es dieser fast dogmatische Glauben an Seife, ein Werkzeug der Körperhygiene, das viele Ärzte als Ursache für Krankheiten verteufelten, da es den Körper erst für Erreger öffnete. Was auch immer daran war – nichts machte den Überzieher sauberer als dieses Stück Kernseife, das Northoff von einem Barbier in Stettin bezog.
»Richtig, gut, also, dreierlei Arten. Einige bezaubern, lösen aber den Zauber wieder auf, andere beschädigen, ohne wieder zu entzaubern, und einige können nur entzaubern... Was ist, warum putzt du nicht?«
Ulrich war in der Mitte des Zimmers stehen geblieben und lauschte. Es war totenstill.
»Hört Ihr das, Professor?«
»Was soll ich hören?«
»Nichts.«
»Ja, das höre ich.«
»Ist das nicht schön?«
»Ulrich, manchmal frage ich mich, ob du ganz bei Sinnen bist.«
Kopfschüttelnd schlug der Professor eine andere Seite auf, die er sogleich vorzulesen begann, während Ulrich auf die Membran starrte, die von seinen Körpersäften und denen der Bäuerin verklebt war und unangenehm roch.
»Laut der Theorie Aliboris, und das solltest du dir gut einprägen, hat der alte Brauch, in der Nacht vom 30. April auf den ersten Mai unerträgliche Musik zu spielen, den tatsächlichen Effekt, sie sichtbar zu machen. Hören sie also diese Musik, verlieren sie das zur Schau getragene Gesicht und zeigen ihr wahres Selbst, ob sie wollen oder nicht...oder nicht. Was ist? Du putzt ja immer noch nicht.«
Ulrich hielt den Überzieher angewidert in der Hand, sah zum Fenster. »Hört Ihr das?« Der Professor verstummte und lauschte.
»Nein, ich höre wieder nichts. Du lenkst ab, Ulrich.«
»Zu schön«, sagte Ulrich und holte den in einem Leinenbeutel steckenden, unförmigen Klumpen Seife aus der großen Reisetasche des Professors. »Zu schön.«
»Langsam denke ich, du willst mir gar nicht zuhören.«
Schulterzuckend stellte sich Ulrich in die Mitte des Zimmers, Northoff schlug eine neue Seite auf. »...treffen sie sich auf dem Brocken, um ihrem Meister zu huldigen, sich zu vergnügen, zu treffen, Rezepte auszutauschen, zu feiern... Rezepte austauschen? Was ist denn das? Wer hat das geschrieben? Rezepte, Ulrich, hast du wieder in meinem Buch herumgeschmiert? Ulrich!«
»Ich brauche Wasser.«
»Dann geh zum Wirt und hol dir welches. Aber lass den Überzieher hier. Ich will kein Aufsehen erregen.«
Der Wirt schickte ihn zur rothaarigen Magd, die sich als Philippa vorstellte und ihn mit tief ausgeschnittenem Hemd zur Herdstelle im hinteren Teil der Küche begleitete. Dort füllte sie aus einem Bottich frisches Wasser einen kleinen Kessel, den sie an einem Haken über die offene Flamme hängte.
»Wofür brauchst du das?«, fragte die Magd.
»Zum Waschen.«
»Du wäscht dich? Aber das ist doch ungesund.«
»Mein Meister ist da anderer Meinung.«
Die Magd, rothaarig, mager und nicht viel älter als Ulrich, blickte verschwörerisch über die Schulter, bevor sie ihr Gesicht ganz nah an sein Ohr brachte. Ulrich hatte nicht einmal Zeit, erschrocken zurückzuweichen »Ich mache es auch. Heimlich. Heute Abend, wie jeden Samstagabend.«
Und dann kicherte sie. Ulrich gefiel, wie ihr rotes Haar über die von Sommersprossen gesprenkelte Haut fiel. Ihre Brüste waren kaum mehr als eine Andeutung unter dem Kleid. Rotes Haar auf weißer Haut, dazu blassrosa Lippen und kleine, spitze Brustwarzen – ideal für eine Rötelzeichnung. Ob sie ihn diesen Kontrast zeichnen ließ, diese Authentizität? Nur Weiß und Rot, Papier und Kreide, die Wiedergabe der Natur, festgehalten für die Ewigkeit.
»Ich wasch mich jeden Tag«, sagte Ulrich. Ihre Augen begannen zu leuchten.
»Komm mit«, sagte sie und nahm ihn bei der Hand. Überrascht folgte der schmale Junge ihr, flüsterte, flehte fast.
»Darf ich dich zeichnen?«
»Später«, flüsterte sie. Ulrich seufzte unhörbar. Bekam er denn nie, was ihm wichtig war?
Die Vorratskammer war eng und roch nach Kohl, nach Äpfeln vom letzten Winter und nach Schinken. Sie klammerte sich an ihn und bohrte ihm ihre Zunge in den Mund. Ganz anders als ein paar Stunden zuvor. Diese Magd duftete frisch, nicht ranzig wie die Bäuerin. Hier brauchte er keinen Überzieher. Und doch war es nicht, was er wollte. Er wollte sie ansehen, mit den Augen verschlingen und ihr Antlitz zu Papier bringen.
Das dünne Kleid war schnell gehoben, die Beine gespreizt. Im flackernden Licht der Kerze, die das Mädchen auf das Regal mit den Broten gestellt hatte, jubelte Ulrich über milchweiße Haut, über spitze Brüste mit hellroten Nippeln, über rotes Haar auf einem köstlichen Schamhügel, der nach Jugend roch, und nicht nach Stall, sich in seine Augen brannte, rosa, blass, vorsichtig, faltig und feucht, die fixiert werden musste, erst mit den Augen, dann mit Kreide und schließlich mit Leim auf dem Papier, damit sie nicht verwischte.
Dass er nicht so tief eindringen konnte, sondern weit vor Ende des Weges auf Widerstand stieß, den das stöhnende Mädchen quiekend wie ein Ferkel ankündigte, nahm er nur unbewusst war. Zu sehr dachte er an seine Skizzen, die Kreide zwischen seinen Fingern, die Strich für Strich die Wirklichkeit nachbaute, ohne echt zu sein, die das Schönste des Menschen festhielt und einen schlechten Charakter vergessen ließ, Krankheiten, Hass und alles, was später kam.
Und schließlich überkam ihn doch die Lust, und er spürte die Reibungen seines Degens im engen Futteral. Das Haff im Winter und schattige Haine im Sommer, Rundungen und Öffnungen, Gefühl, aus dem Bilder entstanden, verlorene Dinge.
Der Wirt, mit Bier und Schweinshaxen auf einem großen Tablett, unterbrach Ulrich später bei dem Versuch zu verstehen, was die Mission im Harz mit den Grundzielen seiner Ausbildung zu tun hatte, warum er sich noch immer mit den Problemen des freien Willens, des menschlichen Schicksals, der mitmenschlichen Verantwortung und der sittlichen Entscheidung beschäftigen sollte, wenn es sich im Grunde genommen bloß um Aberglaube drehte.
Ulrichs Augen leuchteten beim Anblick des Tabletts. Schon lange hatte sein Magen geknurrt. Der Sinn stand ihm jetzt, wo sein inneres Auge satt war vom Anblick gespreizter Schenkel und spitzer Brüste, nach Bier und nicht nach Bruno.
Der Wirt ließ sie alleine mit den Worten: »Zum Frühstück haben wir Hafergrütze und kräftiges Bier, der geheime Ort ist hinter dem Haus, wo die meisten Fliegen sind.«
Northoff und Ulrich aßen schweigend und gingen dann zu Bett. Spät nachts setzte sich Ulrich an einen Tisch und brachte beim Schein des Mondes die ersten Skizzen zu Papier. Für einen Augenblick war er glücklich.
3
Der Hagel ließ nicht einfach nach, er stoppte so plötzlich, wie er eingesetzt hatte. Eben noch rauschten die erbsengroßen Körner einem Gazevorhang gleich von oben herab und das Prasseln auf den Blättern der Kastanien schwoll an zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen, jetzt herrschte plötzlich Stille.
Hier und da tropfte es von den Ästen, knarrte ein Baum, knackten Zweige. Selbst die Vögel schienen betäubt vom Lärm zu überlegen, ob es sich wieder lohnte, den Schnabel zu öffnen. Die Dunkelheit im Wald wurde zu einem hellen Grau. Lichter wurde es nicht, schon seit Wochen war die Sonne nur sporadisch zu sehen gewesen.
Tim streckte den Kopf unter einer Fichte hervor. Vorsichtig machte Tim erste Schritte zwischen kleinen Hagelhaufen, lief um Pfützen herum und hüpfte schließlich vor Vergnügen.
Das Leben hatte vor drei Tagen wieder einen Sinn bekommen. Seit er von einem Jahr beschlossen hatte, Spielmann zu werden und mit der Musik seinen Lebensunterhalt zu verdienen, war es mit ihm bergab gegangen. Sein Vater hatte ihn vor die Tür gesetzt und die Schmiede an Tims jüngeren Bruder übergeben, seine Mutter hatte es vor Kummer die Sprache verschlagen, und seine Großmutter hatte ihm lediglich den spöttischen Rat mit auf den Weg gegeben, sich vor den Wölfen in Acht zu nehmen.
Wölfe. Das Bild im Kopf war fertig, brauchte keine weiteren Details. Spitze Zähne, gelbe Augen, drohendes Knurren und unbändiger Hunger. Immer drehte es sich darum, wie viele Geißlein der Wolf gefressen, welche Mädchen im Wald er verschlungen und warum er den Spielmann zerrissen hatte.
Niemand jedoch hatte sich ein Bild davon gemacht, was es für Tim bedeutete, Musik zu machen. Was Martin Luther für Reformierte, war dieser Abend vor einem Jahr bei den Zigeunern für Tim geworden. Dieser Moment, in dem er die Macht der Musik gespürt hatte, war der Blitzschlag auf freiem Felde gewesen, die Erleuchtung des Unwissenden, die Aufklärung des Unmündigen.
Tim war auf der Suche nach Gesellschaft gewesen, nach einem leichten Mädchen, das seinem jugendlichen Trieb Erleichterung bieten würde, und hatte sich dabei einem Zigeunerlager genähert, das am Tag zuvor vor den Toren der Stadt aufgeschlagen worden war. Tim wusste, was Zigeuner mit sich brachten: Mord, Raub, Elend und Hass, aber er hatte auch von den heißblütigen Frauen gehört, die alles taten, damit ein Mann vor Lust seine Sinne verlor.
Doch dann war er Zeuge geworden, heimlich, im Schutze der Dunkelheit, welche Macht die Musik wirklich besaß. Er hatte sich neugierig zwischen die Wagen der Zigeuner geschoben, um einen Blick auf die Frauen zu werfen, und tatsächlich: Um ein flackerndes Feuer herum standen ein junger Mann mit einem seltsamen Instrument, das wie eine kleine Gitarre aussah, sowie eine Frau. Sie war wunderschön, mit einem spöttischen Blitzen um die Mundwinkel.
Der junge Zigeuner schloss seine dunklen Augen, legte den Kopf auf das Instrument, nahm einen Stock von einer Elle Länge, über den etwas Nachgiebiges gespannt war, und entlockte dem Instrument die ersten Töne.
Schon nach den ersten Klängen fühlte Tim, wie sich die Anspannung in ihm löste. In ihm tauchten Bilder auf, von ganz tief unten, verschüttete Erinnerungen, verdrängte Gefühle. Er sah den Zigeuner geigen, sein schwarzes Haar wippte, der Oberkörper steuerte jeder Bewegung der Arme entgegen. Das Instrument jaulte, sprach, sang.
Der bespannte Stock tanzte über die Saiten und es geschah etwas, mit dem Tim nicht gerechnet hatte. Die Frau stellte sich vor das Feuer und griff sich in den Schritt. Sie seufzte, bewegte die Hüften, die Augen geschlossen, den Kopf in den Nacken. Der Bogen tanzte über die Saiten, die Bilder verstärkten sich. Tim sah nackte Körper vor sich, vor Lust feuchtes Fleisch, warm und dunkel, spürte in den Lenden ein Ziehen und Spannen und wand sich unruhig in seinem Versteck zwischen den Wagen.
Die Frau presste die Hand fester gegen ihren Schritt. Die ersten Laute kamen über ihre Lippen, stärker und drängender noch als das Fiedeln des Geigers. Auf einmal spürte Tim eine Erektion, wie er sie noch nie zuvor in der Hose gespürt hatte. Es war, als hatte sein Blut beschlossen, sich in seinen Lenden zu sammeln um das Tuch von innen zu sprengen.
Die Frau kreiste mit den Hüften, stöhnte und presste die Hände in den Schoß. In einer unbekannten Sprache seufzte sie und hechelte, sie verdrehte die Augen. Der Bogen des Geigers tanzte über die Saiten, brachte Töne hervor, die Tim noch nie zuvor gehört hatte.
Unvermittelt rief jemand laut, und ein alter Mann brach in das Rund. Der junge Zigeuner ließ sofort den bespannten Stab ruhen, die Musik brach ab. Tim spürte, wie die Erregung abflaute, die unerträgliche Lust. Nur die Erektion blieb. Das Lagerfeuer knackte und knisterte
Der Geiger protestierte, der alte Mann wurde lauter und sprach ein Machtwort. Erbost packte der junge Mann sein Instrument und machte auf dem Absatz kehrt. Rasch war er aus dem Lichtkreis des Feuers verschwunden. Und hatte Tim diese Gelegenheit genutzt und sich zurückgezogen.
»Die Macht der Musik«, flüsterte Tim und wischte sich über die Stirn. Sein Blut pulste durch den ganzen Körper, rauschte in den Ohren nach. Lange Zeit konnte er kaum glauben, was er gerade erlebt hatte. Das musste er auch lernen, wenn er doch nur auch so spielen könnte. Dann wären die Frauen alle seins. Das war der Augenblick, in dem er sich fest vorgenommen hatte, Spielmann zu werden. Sein Vater hatte ihn enterbt, seine Mutter hatte ihn verstoßen. Die alte Geschichte. Es war ihm egal gewesen.
Dessen ungeachtet hatte sich Tim das Leben des Musikers einfacher vorgestellt. Zwei gravierende Probleme stellten sich heraus. Zum einen weil er kein Geld für eine Gitarre oder eines der seltsamen Instrumente gehabt hatte, mit dem der Zigeuner die Frau betört hatte, und er deshalb bis vor kurzem lediglich eine Triangel sein Eigen nannte, und zum anderen konnte er nicht einmal sie spielen.
Wenn er sich auf den Marktplatz stellte und versuchte, mit seiner Triangel eine Melodie zu spielen, um die Frauen zu betören, straften ihn die hübschen Damen mit Missachtung oder, schlimmer noch bewarfen sie ihn mit faulem Obst und trieben ihn aus dem Ort.
Dann aber traf er mit knurrendem Magen zwischen Osterleben und Haldeberg ein altes Mütterchen im Wald, trug ihr in der Hoffnung, sie würde ihm etwas zu Essen dafür geben, einen Klafter Holz in die Hütte. Doch statt ihm Wurst und Käse zu geben, verschwand die Alte mit knackenden Gelenken durch eine schmale Tür. Gerade wollte er enttäuscht wieder gehen, das trat eine wunderhübsche junge Frau in die Hütte.
Sie war splitterfasernackt, mit riesigen, wippenden Brüsten, einem breiten Becken und üppigen Schenkel. Ohne Umschweife kniete sie sich vor ihn und öffnete seine Hose. Sie ließ wortlos sein kleines Männchen in ihrem Mund verschwinden und weckte Gefühle, die vor lauter Musik bereits vergessen schienen.
Von so etwas hatte er seit Wochen nur träumen können in feuchten Nächten, während er sich unruhig im Stroh, im Gras oder im dreckigen Lager einer Elendenherberge herumgewälzt hatte.
Während Tim von oben und mit zitternden Knien betrachtete, wie sich der Kopf der blonden, wunderhübschen Frau auf seinem blitzschnell erwachsen gewordenen Mann vor und zurück bewegte, beschloss er, in Zukunft netter zu alten Frauen zu sein.
Wer wusste schon, ob nicht alle eine schöne Tochter hatten, die ihn für seine Hilfsbereitschaft belohnen wollten? Kaum hatte er die Ersparnisse der letzten Wochen bis auf den letzten Tropfen aus dem mit Fingern und Zunge verhätschelten runzligen Beutel zwischen seinen Beinen geholt und war ermattet auf einen wackligen Hocker gesunken, verschwand die nackte, blonde Frau wortlos mit schwingenden Hüften durch die Tür.
In beiden Mundwinkel glitzerten milchigweiße Tropfen. Glücklich aber mit knurrendem Magen verließ er die Hütte. Die trockenen Reste aus seinem Brotbeutel und ein paar Beeren waren das klägliche Mahl des Tages, ein Bett aus Moos unter einer Tanne sein Nachtlager.
Der nächste Tag begann so traurig wie der vorherige. Hungrig stellte er sich in der nächsten Ortschaft auf den Marktplatz und spielte wieder vergebens auf seiner Triangel, bis ihm der Magen in den Kniekehlen hing und er kurz vor dem Entschluss stand, Mundraub zu begehen und enttäuscht nach Rostock zurückzukehren. In diesem Moment humpelte ihm eine runzlige alte Frau mit einem schweren Sack auf der Schulter über den Weg. Buckel, Warzen, strähnigen grauen Haaren und eingefallenen Lippen.
Anfangs begegnete sie seinem Wunsch, ihr den Sack abzunehmen, mit ungerechtfertigtem Misstrauen, aber schließlich überzeugte Tim sie mit leichter Gewalt und trug ihr den Sack nach Hause. Seine Frage nach der Tochter, Enkelin oder Nichte hingegen schien sie nicht zu verstehen, und die Bitte um Belohnung erfüllte sie schließlich mit einem trockenen Kanten Brot und einer Ecke Käse.
Gerade jedoch hatte Tim die Hütte verlassen und sich auf die Suche nach einem Quartier für die Nacht gemacht, liefen ihm zwei junge Mädchen mit einem Korb in der Hand über den Weg. Auf die Frage, wohin des Wegs sie seien, antworteten sie im Chor: »Zur Großmutter.«
Tims Augen weiteten sich. »Braucht eure Großmutter zufällig Hilfe in der Küche?«
Krachend traf die Klinge den Holzklotz. Tim schwitzte. Er hatte Angst, sich in der Dunkelheit selbst in den Fuß zu hacken. Zwei Klafter später waren die beiden jungen Mädchen längst wieder im Wald verschwunden, und Tim traute sich kaum, nach einer Belohnung zu fragen. Er wollte nur noch schlafen. Vielleicht hatte die alte Frau ja eine Scheune.
»Ich habe nicht viel«, knarrte die Frau später am Tisch. Tim schlief beinahe im Sitzen ein. Aus dem Mundwinkel hingen ihm der letzte Zipfel Wurst. »Was könnte ich Euch geben?«
»Ein Bett«, murmelte Tim, während das Hemd an seinem Körper trocknete. So viel Holz hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gehackt. Für nichts und wieder nichts. Nein, nicht ganz richtig: für eine Mahlzeit.
Am nächsten Morgen erwachte Tim zusammengerollt vor dem Ofen, erhielt eine fette Hafergrütze und einen Krug Bier zum Frühstück, und gerade als er sich verabschieden wollte, um bei der nächsten alten Frau sein Glück zu versuchen, bevor er seine kurze Karriere als Spielmann an den Nagel hängte, drückte ihm die Alte eine Gitarre in die Hand. Eine echte spanische Gitarre mit fünf Saiten.
»Hier. Mein Mann hat sie spielen können. Ich leider nicht. Vielleicht könnt Ihr sie eintauschen gegen etwas zu Essen oder was Euch sonst noch weiter hilft.«
Und so hatte sein Leben eine ganz neue Wendung genommen. Rasch entdeckte er die Möglichkeiten der Gitarre, die ihm die Triangel nicht geboten hatte – nicht nur für das Spielen, sondern auch fürs Singen. Ihm gingen mit der Gitarre in der Hand auf einmal Worte, Melodien und Rhythmen wie von selbst über Zunge und Finger.
Zigeuner, dachte Tim, zieht euch warm an. Jetzt kommt Tim, der Spielmann.
Leider war aller Anfang schwer. Immer, wenn Tim auf den Marktplatz trat, dauerte es keine Minute, bis er Spiel und Gesang unterbrechen musste, weil ein Platzregen aus faulen Tomaten hereinbrach. Die Macht der Musik, dachte Tim, muss durch harte Arbeit erlangt werden. Zum Glück gab ihm eine Marketenderin in ihrem Planwagen Unterschlupf und nahm ihn ein Stück mit.
Sie sei auf dem Weg nach Kurland, wo sich ein Krieg zwischen Schweden und Polen abzeichne und ein gutes Geschäft verspreche. Tim schrubbte über die Saiten und sang, und die dralle Marketenderin trieb mit schnalzender Zunge die beiden Pferde an. Kurz hinter Wernigerode bremste sie die Pferde.
»Wenn du deine Zunge so gerne gebrauchst, solltest du es vielleicht zwischen meinen Schenkeln tun«, sagte sie und lüpfte den Rock. Zwischen Pfannen und Töpfen, Säcken voll Mehl, Grieß und Rüben, zwischen Kräutern und Krügen spreizte sie die Beine und ließ Tim, nachdem er sie nicht weniger als zweimal mit der Zunge zum Höhepunkt gebracht hatte, mit drei, vier und fünf Fingern untersuchen.
»Landsknechte«, keuchte sie, als ihr Tim seine Hand bis weit über das Handgelenk in sie schob, »haben immer so große Musketen. Das schafft Platz.«
Tim, dessen Magen lauter knurrte als die Pferde wieherten, griff sich mit der freien Hand einen Apfel aus einem Korb. Zuckend Zeter und Mordio rufend kam sie ein drittes und viertes Mal, und der Spielmann schwor sich, darüber ein Lied zu verfassen, das noch Generationen später allen Zuhörern die Augen feucht werden lassen sollte.
Als sie sich anschließend hinkniete und Tim seine Flöte in ihren mit einem großzügigen Stück Butter gefetteten Hintereingang schob, stopfte er sich ein herzhaften Stück Brot hinterher und dazu noch ein Stück kalten Schweinebraten. So hatte er sich das Leben als Spielmann vorgestellt. Sex, Dauerwurst und Motetten.
»Dieses Instrument beherrschst du wirklich meisterhaft«, grölte die Marketenderin bei jedem Stoß, den Tim zwischen ihren drallen Backen ausführte. Dabei schob sie sich einen strammen Rettich tief in die Möse. So viel Unersättlichkeit hatte Tim noch nie erlebt. Lustvoll biss er in eine Karotte und spritzte ihr in den Arsch.
Bei einer ausgedehnten Mahlzeit erzählte ihm die Marketenderin vom letzten Grafen der Blankenburger, der wieder auf Regenstein thronte, seit Gräfin Margarethe zusammen mit ihren Kindern an der Pest gestorben war. Sie berichtete Tim, der Graf sei schwermütig geworden, weil das Geschlecht auszusterben drohte.
Seit Jahren habe er nicht mehr gelacht, Unterhaltung sei ihm ein Fremdwort geworden, er hocke trübsinnig in seiner Felsenburg und warte angeblich auf den Tod. Das wisse sie, weil sie dem Grafen vergeblich ihre Dienste angeboten habe.
Die Gelegenheit, sich ein paar Taler zu verdienen, dachte Tim. Am nächsten Morgen trennten sie sich. Die Marketenderin hatte ihren Wagen zurück auf die Straße gen Nordosten gelenkt, und Tim hatte sich auf den Weg nach Südwesten, in Richtung Blankenburg gemacht.
Die Erinnerung an die letzten drei Tage tat gut. Tim hüpfte wieder vor Vergnügen und stapfte mit seinen Stulpenschuhen von Pfütze zu Pfütze, bis die Feder an seinem Hut wippte. Eine solche Gitarre war von Anfang an sein Wunsch gewesen.
Tim nahm das Instrument vom Rücken und zupfte die Saiten. »Und nun eine Hymne«, sagte er zu sich selbst. »Auf mich.«
Also griff er in die Saiten und spielte, bewegte selbstvergessen seine Finger.
»Dreeeeh dich nicht uuuuuum, ohohohoooo, der Spieeeelmann, der geht uuuuum, ohohohooo.«
Kurz darauf brach von der Seite her aus ein Wolf aus dem Unterholz. Keuchendes Knurren und asthmatisches Rasseln begleiteten das Tier, das langsam auf den Weg trottete. Müde Augen waren in Wahrheit ein taxierender Blick, der Blick vor dem Sprung, der Sprung vor dem Knurren, das Knurren vor dem Aufreißen des Mauls voller spitzer Zähne.
Tim stellte das Singen ein, blieb stehen und hielt die Luft an in einem kurzen Moment des Schocks. Wie ist das, wenn man stirbt, dachte Tim. Spürt man die Krallen im Rücken, den heißen Atem der Bestie im Nacken, bevor sich die Zähne in den Hals bohren? Oder verliert man das Bewusstsein, ist der Körper so gnädig und erspart einem die Qual?
Mit einem leisen Ping-Kling sank die Gitarre herab, Tims Hand zitterte. Der Wolf schlich näher, knurrte und ließ die lange Zunge aus dem Maul fahren. Die Worte trafen Tim wie ein Schlag mit der Schalmei.
»He du, Spielmann, wart mal.«
Aus dem Nichts kamen diese Worte. Nun, korrigierte sich der Spielmann, aus der Richtung des Wolfs. Doch Wölfe konnten nicht sprechen. Normalerweise.
»Wer, ich?«, fragte Tim zurück und sah genauer hin. Seine Stimme vibrierte unmerklich. Kein Mensch weit und breit, im Unterholz kein Versteck, das dicht genug war, um von dort einem dressierten Wolf Worte in den Mund zu legen, wie es Tim in Schwerin bei Zigeunern mit Tanzbären gesehen hatte.
»Ja, du«, erwiderte der Wolf. Obwohl das Tier keine Lippen hatte und sich die beiden Kiefer nur wenig auseinander bewegten, hörte Tim ganz klar die Worte aus der Schnauze kommen. In den Geschichten seiner Großmutter hatte er von sprechenden Wölfen gehört, das hingegen nie für möglich gehalten. Schließlich gab es auch keine sprechenden Kühe, Gänse oder Hasen. Aber Großmutter hatte immer die Wahrheit gesprochen, es gab sie, sprechende Wölfe, hier im Wald, im Harz. Und sie hatten eine tiefe Stimme.
Das Tier umschlich den Spielmann und setzte sich auf den kühlen Waldboden.
»Dich schickt der Himmel.« Der Wolf hob ein Bein über den Kopf und putzte sich. Tim sah sich um. Kein weiterer Wolf zu sehen. Trotzdem war Misstrauen angesagt. Schlief Tim nicht, stand vor ihm noch immer ein Wolf, ein heimtückisches Biest, das Menschen fraß, Schafe riss und Füchse terrorisierte.
»Au«, sagte Tim, der sich unauffällig in den Arm kniff, um einen Traum auszuschließen. »Mich?«
»Du spielst so, so herzzerreißend, du musst mir das beibringen.«
»Was?«
»Das schlechte Spielen.«
Tims Stimme nahm über die Angst hinweg eine Spur Empörung an. »Schlechtes Spielen? Hör mal«, erwiderte er. Wahrlich, er war auf alles vorbereitet gewesen, auf eine kurze Flucht, einen aussichtslosen Kampf und den Tod, jedoch nicht auf eine Diskussion über die hohe Kunst des Musizierens mit einem Tier, das nicht einmal Hände hatte. »In Halberstadt haben mir die Leute sogar Geld gegeben. Die Gitarre ist nämlich neu, musst du wissen, ich habe sie gerade erst bekommen.«
Der Wolf stand auf und hechelte vertraulich.
»Komm, bring’s mir bei.«
»Im Ernst? Du willst von mir das Spielen lernen?«
Tim war verblüfft, die Angst weg. Ein Wolf, der nicht bloß sprach, sondern zugleich noch lernen wollte, wie man Gitarre spielte. Besser als ein Wolf, der noch nicht gefrühstückt hatte.
»Ehrlich, ein so schlechter Musikant wie du ist meine Rettung.«
»Die Rettung? Aus welcher Lage?« Seine Stimme verriet wachsende Empörung. Wenn der Wolf nicht langsam aufhörte, über die Qualität seines Spiels zu lästern, würde er ausprobieren, ob die Klampfe gleichermaßen als Schlaginstrument zu benutzen war.
»Ich bin ein verzauberter Königssohn und lebte immer auf einer Burg oder einem Schloss, ganz sicher weiß ich’s nimmer. Denn eines Tages wachte ich auf und war ein Wolf, und neben mir stand eine alte Frau, die sagte, auf mir läge ein Fluch, und erst wenn mir der untalentierteste Spielmann der Welt das Gitarrespiel beibrächte, würde ich wieder zu einem Menschen und mich erinnern, wo ich hingehöre.«
Der Wolf stand auf und umkreiste den Spielmann wieder. Dessen Augen folgten ihm misstrauisch. »Komm. Bring mir das Spielen bei, genau so schlecht.«
Einen Augenblick überlegte Tim und sah in die Schatten hinter den Bäumen. Was würde der Wolf machen, wenn er sich weigerte?
»Und wie soll ich dich das Spielen lehren, du hast doch nicht mal Finger.«
»Ach, Mensch, was weiß ich denn. Ich hab nur gesagt bekommen: Lass dir das Spielen beibringen. Nun hinterfrag doch nicht alles.«
»Bin ich in all den Jahren etwa der erste Spielmann in diesem Wald?«
»Ja, Mann, die scheinen alle einen großen Bogen um diese Gegend gemacht zu haben. Also los, zeig mir, wie das geht.«
»Und du sollst nicht drei machbare Aufgaben lösen, ich meine, so was wie: drei Riesen erschlagen, in deinem Fall fressen, die Prinzessin retten und das Herz eines Alten fangen, das in einem Vogel lebt, der in einer riesigen Kirche im Wald herumflattert?«
»Nö. Davon weiß ich nichts.«
»Das ist ganz schön beknackt. Wer hat sich denn das ausgedacht? Was kommt im Anschluss? Du haust in die Saiten und es macht Puff, und du bist wieder ein Königssohn mit haarigem Rücken? Oder bildest du ein musikalisches Quartett mit einem Esel, einem Hund und einer Katze, und zusammen zieht ihr als Combo Katzenjammer durch die Landen?«
»Soweit hab ich das nicht durchdacht.«
»Ich glaub, man hat dich verarscht.«
»Meinst du?«
Langsam legte sich die Angst, und während er nachdenklich in die dunklen Tannen starrte, kam ihm eine Idee. »Gut, Herr...Wolf, ich werd’s versuchen. Aber eine Regel gilt.«
»Keine Frage.« Der Wolf hüpfte hechelnd im Kreis herum. »Sage mir ganz einfach, was ich tun soll.«
Ein breites Lächeln zeigte sich auf Tims Gesicht. Schlecht spielen. Er packte seine Gitarre, zupfte ein paar Saiten und ging zum Wegesrand. Auf dem Fuß folgte ihm der Wolf. Tim ging am Waldsaum entlang und sah auf die Bäume, seine Augen folgten dem Stamm bis zur Krone, dann ging Tim weiter.
Den Baum, der seinen Ansprüchen gerecht wurde, packte er an einem tiefhängenden Ast, zog an ihm, ergriff den nächsthöheren Ast und zog an ihm die Tanne bis zur Krone hinunter.
»Kraft und Biegsamkeit ist voll gefragt, auch beim Spielen der Gitarre. Also fass mit an...«, knirschte der Spielmann zwischen zusammengebissenen Zähnen. Der Wolf trat heran, Tim drückte ihm das herunter gebogene Ende der Tanne zwischen die Zähne, sagte »halt gut fest« und ließ, gerade als der Wolf seine Tatzen in den Ast krallte, die Tanne los. »Allerbest.«
»Ooooaaaahhhaaauuuuuu!«
Der Wolf wurde von der sich ruckartig aufrichtenden Tanne weit in die Luft geschleudert und fetzte durch die dichten Kronen der Bäume. Irgendwo, weit hinten im tiefsten Wald, fand der Wolf nach einem Parabelflug den Erdboden wieder.
»Verzauberter Königssohn, jaja.« Tim nahm seine Gitarre wieder vom Rücken, zupfte an der untersten Saite, spannte sie eine Idee straffer, zupfte erneut, wich einer Luftwurzel aus, strich über alle fünf Saiten und spielte wieder eine Melodie, die er vor Jahren einmal auf einem Volksfest gehört hatte.
»Oooh!«, begann Tim aus vollem Halse zu singen. »Ach wie guuut, dass niemand waißßßß, dass ich auf die Wöööölfe scheiß‘!«
Singend wanderte Tim durch den grünen Wald. Das Gelände wurde welliger, und weit vor ihm erhoben sich die ersten Ausläufer des Harzes. Der Weg machte immer wieder einen Bogen um ein besonders dichtes Waldstück oder schlängelte sich an einem Bach entlang.
Wenn Beleidigungen alles war, das er von einem sprechenden Wolf zu fürchten hatte, freute er sich schon auf die nächste Begegnung. Vor allem aber war Tim gespannt, wie sich Graf von Regenstein oder Blankenburg oder wie immer er hieß, auf seine Musik reagierte.
Graf Johann Ernst von Blankenburg, oder Botho, wie er sich seit einigen Monaten selbst nannte, saß in seinem hohen Lehnstuhl und grübelte ins trübe Halbdunkel des regnerischen Morgens. Mit der rechten Hand massierte er gedankenverloren eine für sein Alter überaus beeindruckende Erektion.
Der Graf hatte beinahe 60 Winter gesehen, und weiß war sein Haar geworden, das an der Stirn schon weit zurück gewichen war, doch bis auf ein paar Zipperlein wie der steife Rücken, wenn er sich morgens von der Bettstatt wälzte, erfreute er sich bester Gesundheit.
Dennoch seufzte Botho, und das aus gutem Grund.
Hagel prasselte auf das Dach des Palas, sprang von der Fensterbank hoch, rollte herunter auf die durchgewetzten Dielen im Rittersaal oder fegte hinter dem Fenster vorbei, um als kleiner Wasserfall den steilen Sandsteinfelsen hinabzujagen.
Irgendwo in der Rüstkammer rumpelte der alte Theodor, sein letzter Vertrauter, Diener, Begleiter seit Kindheitstagen. Wie alt Theodor war, wusste Botho nicht zu sagen, und Theodor selbst erinnerte sich nicht mehr daran. Botho konnte sich aber nicht an eine Zeit ohne Theodor erinnern, wusste, dass der Alte schon immer auf Schloss Blankenburg gedient hatte.
Erst Blankenburg, jetzt Regenstein.
Theodor, dachte Botho, du treue Seele. Wer sich um wen kümmerte, war allerdings nicht mehr ganz klar voneinander zu trennen. Theodor, der nicht mehr so gut hörte und sah, bereitete dem Grafen jeden Morgen die Hafergrütze vor, versorgte Hirsedieb, den klapprigen alten Zossen, im Stall mit Heu und schlurfte manchmal nur recht ziellos durch die leeren Räume der Burg.
Theodor hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jeden Monat die Rüstung zu polieren. Harnisch, Helm, Schwert, Brustpanzer - alles blitzte und blinkte. Und auch die Hakenbüchse hielt sein alter Diener in Ordnung. Mit einer solchen Hingabe putzte sein alter Diener das Metall, dass er Botho fast leid tat. So viel Arbeit für nichts. Nie wieder würde der Graf von Blankenburg die Rüstung anlegen, nie wieder würde er das Schwert schwingen.
Aller Tatendrang war aus ihm gewichen. Er wollte nur noch am Fenster sitzen und in den Regen sehen. Und vielleicht noch darauf hoffen, dass die Köchin wieder kam.
Schließlich ließ der Hagelschauer nach, bis lediglich ein leises Plätschern durch das offene Fenster zu ihm hereindrang. Der Regen fiel schnurgerade. Die Vorhaut glitt über die Eichel, auf und ab, auf und ab. »Ach ja.«
In der Ferne blitzte es. In einem kleinen Vogelbauer hockte ein rotbäuchiger Dompfaff und bellte vergnügt.
Mit knackenden Gelenken stand der Graf auf, sah zum Wappen derer von Blankenburg hinauf – weißer Turm auf schwarzem Grund, links und rechts flankiert von zwei stilisierten Geweihen – schüttelte den Kopf, bis die grauen Haare wippten und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, ehe er unruhig den Rittersaal von einer Seite zur anderen durchquerte.
Die beeindruckende Erektion ragte wie ein Speer aus seiner Hose, zitternd und mit einem feuchten Tropfen an der Spitze. Einmal hin, wieder her und wieder hin. Die Dielen im Rittersaal knarrten ebenso altersschwach wie das ganze übrige Gebälk der Burg.
»Ach, ja doch«, murmelte Botho leise und blieb stehen. Bevor die Erektion nachlassen konnte, baute Botho sie mit einigen schnellen Handbewegungen wieder auf. Das lustvolle Zittern, das ihn schon sein Leben lang treu begleitet hatte, schenkte seinem arthritischen Körper wohlige Wärme.
Ihm ging nicht aus dem Kopf, was der Bürgermeister bei seinem letzten Besuch vor einer Woche im Schloss gesagt hatte.
Es ging um die Stadt Blankenburg - und Botho wusste mit einem Blick auf das Rathaus, die prächtige Kirche und die gepflasterte Straßen genau zu sagen, warum sie bankrott war - um den Gesundheitszustand des Grafen, um die Schließung der Münze im Falle seines Ablebens, um die Wolfenbüttler, an die sein Lehen und die ganze Stadt Blankenburg fallen würde, weil er alt geworden, kinderlos und ohne Erben geblieben war.
Seit dem Tod seines Bruders vor fünf Jahren war er der letzte männliche Nachfahre der Regensteiner, war er der Letzte seiner Art.
Die Regensteiner waren bereits ausgestorben und die Blankenburger würden
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
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Tag der Veröffentlichung: 02.02.2018
ISBN: 978-3-7438-5589-2
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