Ich stieg am frühen Morgen in einen schwach besetzten Regionalbus, der eine halbe Stunde über hügeliges Land zuckelte. Weinberge, Kornfelder, Apfelbäume.
Ein paar Pendler gähnten auf den hinteren Sitzen.
Mörder, du bist ein Mörder.
So sehr ich es auch versuchte, es gelang mir nicht, mein Verhalten zu rechtfertigen. Ganz gleich, ob er Mia bedrängt hatte, ein Stalker gewesen war - ich hatte mir angemaßt, über Leben und Tod zu entscheiden.
In den Kurven wurde mir schlecht. Am liebsten hätte ich mich übergeben.
Ich war ein Gefangener meiner Triebe, niemals richtig frei, frei, um an mein Ziel zu kommen.
Welches Ziel? Eine Besessenheit, mehr war es nicht.
Mit meiner rechten Hand bereitete ich mich darauf vor, Philipp zu sehen. Versuchte, mit langsamen Bewegungen und festem Griff die Fantasie lebendig werden zu lassen, die mich so viele Jahre nicht hatte zur Ruhe kommen lassen. Die Fantasie von Philipp im Garten, neben mir, in meinen Armen.
Philipp. In meiner Erinnerung sagte er immer wieder »Ach, Jonas« und sah mich traurig an. Und in meiner Fantasie blies ich ihm einen und kniete mich dann vor ihn, damit er mich ficken konnte. In Wahrheit hatte er mich nur ein einziges Mal umarmt, nicht einmal geküsst. Und selbst diese Umarmung war nach all den Jahren verblichen. War zu einer Erinnerung ohne Wert verkommen.
Als eine Digitalanzeige den nächsten Halt ankündigte, war ich froh, aus dem schlecht klimatisierten Transportmittel zu kommen. Ob sich der Fahrer wunderte, dass sich die Türen zwar öffneten, aber niemand ausstieg? Der Bus ließ mich in einer Wolke aus Abgasen und Staub zurück. Das Brummen des Motors dröhnte noch lange nach, bis nur noch Vogelzwitschern die Stille durchbrach.
In die aufgehende Sonne blinzelnd versuchte ich mich an einer Orientierung. Weinreben zogen sich hinter der Bushaltestelle einen sanften Hügel hinauf. Auf der anderen Straßenseite begann hinter dem Graben ein Kornfeld. Die Ähren wogten sanft im Wind. Am Himmel trieben dünne Schleierwolken. Heute Abend würde es bestimmt wieder Regen geben.
Sein Traummann war Jesus, Gott, der heilige Geist. Und das Traumhaus, in dem dieser Traummann mit ihm lebte, war ein kleines Kloster in der Nähe von Ravensburg.
Ich hatte es durch einen verzweifelten Telefonanruf erfahren, Jahre später, als ich Liebeskummer gehabt hatte und tagelang nicht schlafen konnte. Da hatte ich bei Philipps Eltern angerufen und nach ihm gefragt.
Vielleicht kannten sie mich noch, vielleicht waren sie auch nur nett zu jedem, der sich nach ihrem Sohn erkundete.
Nein, hatte seine Mutter gesagt, Philipp ist nicht Mönch geworden, sondern Ordensbruder. Ja, er hat sich berufen gefühlt. Nein, das habe sie nicht geahnt, auch wenn er ihr immer alles erzählt habe. Aber ihr und seinem Vater sei es wichtiger gewesen, dass Philipp sein Glück fand, als wenn er ein Leben mit einer Lüge lebte.
Ich müsse es doch verstehen, hatte sie hinzugefügt. Ein richtiges Leben im Falschen könne es nicht geben. Man müsse bloß den Mut haben, aus sich herauszukommen. Sie hatte es so gesagt und nicht Coming-out genannt. Aber vermutlich hatte sie genau das gemeint.
Philipp hatte nach dem Abitur eine Ausbildung zum Sozialpädagogen gemacht und war dann, mit 22, in einen Benediktinerorden eingetreten. Hatte als Postulant das Klosterleben kennen gelernt, im Noviziat seinen Namen geändert und sich beim Profess Gott geweiht. Er nannte sich jetzt Benedikt, lebte im Kloster, schnitzte Krippenfiguren, zog Kerzen und betreute Kinder behinderter Eltern.
Seine Mutter hatte mir damals seine Adresse nicht geben wollen. Philipp habe darum gebeten, alleine gelassen zu werden. Ich solle es akzeptieren. Und das hatte ich getan. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich unsichtbar geworden war.
Das Gebäude war eine Enttäuschung. Ich hatte mir Türme vorgestellt, düstere Ecken hinter hohen Mauern, hatte auf Barock, Prunk und eine Kirche so hoch wie das Ulmer Münster gehofft. Hatte Besuchermassen und Kassenhäuschen erwartet. Nichts davon erwies sich als richtig.
Kloster Ellenreit war ein sachlicher, nüchterner Zweckbau aus der vorletzten Jahrhundertwende. Hier hätte genauso gut die Finanzverwaltung von Hintertupfingen residieren können. Moderne Anbauten aus den 70erjahren waren so erregend wie Kondome im Porno.
Ich trat durch eine gläserne Eingangstür, landete in einem Foyer, das zu einem Kreiskrankenhaus gepasst hätte. Nur die Kruzifixe an den Wänden und ein Psalm, der wie das Motto des Konvents an die Wand gepinselt war, sprachen eine andere Sprache.
Drei Stunden später gab ich meine Suche auf.
Ich hatte alle Zimmer durch, die ich ohne Schlüssel betreten konnte, das Refektorium ebenso wie die Kapelle, die Werkstätten und Gemeinschaftsräume. Ich traf Nonnen im schwarzen Habit, die allesamt 40 und älter schienen. Manche schienen von Askese nichts gehört zu haben, andere nahmen sie zu ernst.
Meine Enttäuschung schmeckte bitter.
Kein Philipp.
Ich guckte auf Namensschilder und Dienstlisten, doch nirgendwo entdeckte ich seinen Namen. Hatte er Urlaub? Nahmen Mönche den überhaupt? Oder lebte er hier nicht mehr?
Ich suchte noch eine halbe Stunde ohne Erfolg das ganze Kloster ab und schlich dann in ein Büro, das nach Verwaltung aussah. Vorsichtig durchsuchte ich die Aktenschränke, bis ich die Personalakten in einem Hängeregister fand.
Nervös blätterte ich durch die Reiter, bis mein Herz bis zum Hals klopfte, weil ich seinen Namen las. P-H-I-L-I-P-P. Diese Buchstabenkombination alleine brachte die Saite in meinem Bauch zum Schwingen, sogar nach so vielen Jahren.
Ich zog die Mappe heraus.
Kopien von Prüfungen, Sozialversicherungskarten, offiziellen Schreiben, schließlich Korrespondenz auf Spanisch, Antworten auf Englisch, kein halbes Jahr alt. Das war es, eine Spur.
Austausch, verstand ich und Meditation.
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.
Immer wieder zuckte ich zusammen, wenn auf dem Gang Schritte ertönten, doch ich konnte in Ruhe Vallegrande lesen, Monasterio und Mallorca. Gerade schob ich die Akte zurück, als ein Ordensbruder das Büro betrat.
Mallorca.
Das hatte mir noch gefehlt.
Erschöpft setzte ich mich mit brennenden Augen an der Bushaltestelle auf eine Bank, lehnte mich zurück und starrte in die hoch stehende Sonne. Die Luft war drückend, es roch nach gemähtem Gras und Staub. Mit fielen die Augen zu.
Ich rollte mich auf der Bank zusammen wie eine Katze vor dem Ofen. Sofort versank ich in einen lähmenden Schlaf.
Diesmal träumte ich von einer großen Kirche und davon, dass ich für vierzehn Tage in einem Kloster als Mönch arbeiten sollte, bis mich Julian davon überzeugte, dass es besser für mich sei, fliegen zu lernen.
Das Brummen eines schweren Dieselmotors schreckte mich aus dem Schlaf. Der Reflex, die Augen zu öffnen, obwohl ich durch meine geschlossenen Lider, sehen konnte, war geblieben und amüsierte mich. Die Sonne stand über den Weinhängen. Im Süden hingen dunkle Wolken am Himmel. Wie lange hatte ich geschlafen? Drei Stunden? Vier?
Ein Bus kämpfte sich aus Richtung Ravensburg den Hügel hinauf.
Ravensburg. Philipp. Mia. Besessenheit, die mit dem Tod geendet hatte. Ein Gedanke wie eine Zwangsjacke. Ich konnte immer noch behaupten, ich habe ihn nicht geschubst und er sei von alleine gesprungen. Besser noch: Sie musste denken, er habe den Freitod gewählt.
In meinem Bauch wuchs der Knoten. Nur ich wusste es besser. Wissen, das wie Unkraut in meinem Kopf wucherte und die schönen Blumen verdrängte, Wissen, das unnütz war und klare Gedanken im Keim erstickte. Erinnerungen, die jeden Tag stärker wurden.
Mallorca. Wie kam ich dorthin? Mit dem Flugzeug? In einem heruntergekühlten Flieger als blinder Passagier?
Ich stand auf, hob die Hand, um den Bus heran zu winken und erschrak. Wie sollte der Busfahrer, wenn er mich nicht sehen konnte, überhaupt wissen, dass ich zusteigen wollte. Während ich noch überlegte, mit welchem Zeichen ich den Bus zum Stopp bewegen konnte, wurde das Fahrzeug langsamer und hielt mit quietschenden Bremsen direkt vor mir.
Durch die geschlossene Tür sah ich den dicken Fahrer, der in seinen Rückspiegel starrte. Eine Sekunde lang erwog ich, gegen die Scheibe zu klopfen, da öffnete sich zischend die Tür in der Mitte des Busses, und eine Nonne im schwarzen Habit stieg heraus. Bevor sich die Tür hinter ihr wieder schloss, war ich schon in das warme Fahrzeug geschlüpft.
Der Bus war mit ein paar Pendlern besetzt, die mich nicht interessierten. Ich suchte mir einen Platz in der Mitte und nickte wieder ein.
Ich wurde unsanft durch eine Durchsage im Bus geweckt. Kein brummender Motor. Etwas stimmte nicht.
»Aufgrund eines Motorschadens können wir die Fahrt nicht fortsetzen. Ich habe einen Ersatzbus angefordert.«
Die Türen öffneten sich zischend.
Die ersten Fahrgäste stiegen aus, andere sahen sich irritiert um, als schienen sie sich zu fragen, ob das jetzt ein Rauswurf war. Meine Blase drückte. Ich stand auf und verließ den Bus.
Die Sonne hatte sich hinter dicken Wolken versteckt, die grau, fast schwarz über den Baumwipfeln hingen. Die Luft war schwül. Wir hatten an einer Bushaltestelle an der Landstraße mitten im Wald gehalten.
Das war hier echt der Arsch der Welt. Ich pisste in das Unterholz und dachte, ich hätte gegen den Wind gepinkelt. Erst als mich der nächste Tropfen im Gesicht traf, wurde mir klar, dass es regnete.
Ich sah zurück zum Bus.
Die ersten Fahrgäste starrten gen Himmel, hielten sich eine Zeitung über den Kopf oder strömten zurück in den Bus. Und dann öffnete der Himmel die Schleusen.
Innerhalb von Sekunden prasselten wahre Sturzbäche herab und machten meinen Körper sichtbar, als hätte ich eine zweite Haut bekommen, eine Haut aus Wasser.
Ich starrte an mir herab. Arme, Beine, Bauch und sogar mein Schwanz wurden sichtbar. So würde ich nie in den Bus gelangen.
Motorgeräusche. Ein Ersatzbus rollte an, und die Fahrgäste hasteten in das neue Fahrzeug, während uns ein Vorhang aus Wasser trennte. Niemals käme ich unentdeckt in das Fahrzeug. Der Regen wurde immer stärker, es blitzte und donnerte, der Fahrer des Pannenbusses schloss die Türen, rannte zum Ersatzbus, und dann dieselte der Motor und ich blieb alleine im Wald zurück.
Gestrandet. Ausgesetzt. Mist.
Ich hoffte nur, ohne Erkältung nach Spanien zu kommen, um von dort die Fähre nach Mallorca zu nehmen.
Ich wanderte durch kleine Dörfer, die auf beuren und hofen endeten, sah in fremde Häuser, nahm Würste, Bier und Brot aus Speisekammern, schlief in einem Heuschober, wachte schweißgebadet auf und hörte das Echo im Kopf.
Arschloch. Du perverses Arschloch. Was hat dich nur so vergiftet?
Zum ersten Mal seit langem fühlte ich mich wie ein Obdachloser, wie jemand, dem nichts geblieben war. Ganz unten angekommen. Niemand beachtete mich, niemand redete mit mir.
Ich schlief in der Gosse, ernährte mich von Dingen, die ich anderen geklaut hatte. Eine Perspektive für den Rest meines Lebens hatte ich nicht, nur die lächerliche Hoffnung, mit einem Besuch bei Philipp die Stimmen zum Verstummen zu bringen, die Stimmen, die mir sagten, ich habe etwas verpasst.
Dabei wusste ich, dass es nie darum gegangen war. Philipp hatte mir nie die Hand ausgestreckt, er hatte mir nie irgendwelche Angebote gemacht, die ich ausgeschlagen hatte. Ich war nie derjenige gewesen, den er sich vorgestellt hatte.
Vielmehr hatte sich meine Leidenschaft für ihn im Laufe der Jahre in eine Besessenheit verwandelt, die ich selbst nicht mehr verstand. Philipp war das Ideal mit der perfekten Seele. Der beste aller Menschen, der Mann, der mir geraten hatte, zu mir selbst zu stehen. Er hatte mein Leben zu dem gemacht, was es heute war, er war dafür verantwortlich, und dann hatte er sich für einen anderen entschieden.
Dabei würde er mein Leben doch erst komplett machen.
All die Defizite hatte ich auf seine Zurückweisung geschoben. Jetzt musste ich ihn mit meiner Besessenheit, meiner Gier und meinem Hass konfrontieren und er würde mir die Beichte abnehmen und die Absolution erteilen. Danach wäre ich geheilt. Kuriert. Ein ganzer Mensch.
Wasser aus einem Bach mit einem seltsamen Namen erfrischte mich am frühen Morgen. Wie lange kannst du den Kopf unter Wasser halten, bis die Bilder verschwimmen? Dennis an der Brüstung. Das war die eine Hälft von dem, was ich sehen konnte.
Dennis und der Hintern von Tim.
Auf allen Vieren. Von hinten. In den Arsch.
Ich war besessen. Und zwei Tage alleine im Wald konnten diese Besessenheit nicht kurieren. Zwei Tage geschlafen, zwei Tage Zeit verschwendet, zwei Tage versucht, das Biest zu zähmen. Essen, trinken, Unsinn machen, mich ablenken. Aber die Stimmen wollten nicht verstummen.
Wasser in der Nase, auf meiner unsichtbaren Haut, in meinen Lungen. In Bayern hört dich niemand husten.
Im Gras am Ufer sitzend, die Füße im kühlen Wasser, starrte ich durch die Baumwipfel zum Himmel und wünschte mir nichts weiter als reine Gedanken. Freude am Einfachen, nicht am Sex, nicht an Rache.
Ohne Thermometer vertraute ich nur der gefühlten Temperatur, und die war wieder über 30 Grad gestiegen. Kein Wetterumschwung war der Grund für das Gewitter gewesen, nur feuchte Luftmassen aus dem Süden. Auf dem Weg in die nächstgrößere Stadt lief ich, rannte ich, und zum ersten Mal seit langem spürte ich meinen Körper wieder, ganz ohne Penetration. Ich rannte auf der Landstraße in die Mittagssonne, bis meine Lungen brannten.
Das Leben war längst erwacht, doch nachdem ich zwei Tage als Eremit im Wald verbracht hatte, kam ich mir selbst inmitten von unter der Hitze ächzenden Rentnern und vereinzelt durch die schmalen Straßen huschenden Kleintransportern vor wie Robinson, der von seiner einsamen Insel in die Zivilisation zurückkehrte. Und ich konnte nicht behaupten, dass es mir gefiel.
Lärm, Abgase, rote Ampeln. Auch wenn für jemanden, der aus Berlin kam, dieser Ort eine Kleinstadt war, so nervte er mich. Weg, nur weg. In einer Bushaltestelle orientierte ich mich. Durch die Fußgängerzone und dann rechts. Im Bahnhof wartete der nächste unklimatisierte Zug in Richtung Süden auf mich.
Seit ich Northausen den Rücken gekehrt hatte, war jeder Besuch einer Kleinstadt wie ein Flashback meiner alten Heimat. Jeder Marktplatz hallte wider von meinen betrunkenen Schritten und barg mit Sicherheit eine Ecke, in die ich als Teenager gekotzt hatte. Vor jedem Kino, das mit Arthouse-Filmen und Kinderprogramm den Ruin abwenden wollte, sah ich mich in der Schlange stehen und ein Ticket kaufen.
Ein Karstadt im historischen Gebäude, in dem ich Mädchen begegnet war, die nichts von mir gewollt hatten, ein Brunnen als Treffpunkt für verliebte Teenager, ein Freibad voller Jungs in engen Badehosen, die mit Mädchen fickten, weil das normal war und ich war krank, war pervers, war nur eine dumme Schwuchtel.
Jede Kleinstadt war ein Museum, in dem meine Erinnerungen konserviert wurden, die quälenden, nie verrottenden Erinnerungen, für alle Zeiten in Alkohol konserviert. Und mit jedem Besuch in diesem Museum wurden alle anderen Momente wieder lebendig. Die Tage vor dem Fernseher mit Chips und Cola, die Abweisungen, die Pornos, die Nächte mit dem Dildo im Hintern, die Träume von Philipp und all den anderen Jungs.
Mein Kopf war ein Schrottplatz, auf dem niemals Ordnung herrschen würde. Ein Strand, dessen Sandkörner ich nie im Leben zählen konnte, und doch würde ich niemals aufhören, es zu tun.
»Hör auf damit, du änderst nichts, du kannst es nicht mehr ändern.«
Erschrocken drehte ich mich um. Ein Typ überquerte ein paar Schritte hinter mir auf flirrendem Asphalt die Kreuzung. Ein Auto hupte.
Er mochte etwa Ende zwanzig sein. T-Shirt, Shorts, Rucksack. Seine dunkelblonden Haare wehten in der heißen Brise. Die Schultern nach vorne gezogen, den Kopf gesenkt. Seine Augen waren auf mich gerichtet. Kein Handy, kein Begleiter. Nur ich.
»Du bekommst es einfach nicht aus dem Kopf, oder?«
Renn, dachte ich, und dass es unmöglich war. Niemand konnte mich sehen und erst recht nicht meine Gedanken lesen.
Meine Lippen hatten sich bereits geöffnet, und gerade wollte ich fragen, wie es sein konnte, als er mich erreicht hatte und an mir vorbeiging. Er presste sich die Hände an die Schläfen.
»Du weißt, dass es nicht gut ist, aber du bist einfach zu schwach, oder?«
Meine Panik verpuffte in einer dumpfen Explosion und hinterließ blanke Neugier.
Vorsichtig folgte ich ihm. Sein Schritt war schnell, seine Stimme etwas zu schrill.
»Ich will ihn rausholen, hier, immer und immer wieder.«
Seine Stimme wurde zornig. Er fluchte. Rausholen? Den Revolver? Folgte ich etwa einem Amokläufer?
Seine Schritte wurden langsamer. Er bog rechts ab. Die Straße wurde enger, die Häuser älter. Irgendwo in der Nähe war der Hafen, zum Bahnhof ging es geradeaus. Ob ich hier nur meine Zeit verschwendete?
Unvermittelt stoppte der Typ seine Schritte, blieb vor der Eingangstür eines Mehrfamilienhauses aus der Gründerzeit stehen. Ein weißes Schild unter den Klingeln wies auf eine Arztpraxis hin, und als ich nähertrat, wurde mir alles klar.
Er zögerte, murmelte etwas, drehte sich um, und ich fürchtete, er würde in mich rennen, doch rechtzeitig änderte er die Richtung, trat wieder an die Tür und versenkte den Klingelknopf.
Ein Summen ertönte und er stieß die Tür auf. Ich hatte nur eine Sekunde, um mich zu entscheiden. Ich stieß mit dem Fuß an die Tür, verbiss mir den Schmerz, und huschte in den kühlen Hausflur.
Blankgewetzte Holzstufen führten in den ersten Stock. Hier öffnete er die Tür auch ohne Summen und schloss sie, bevor ich hinter ihm eintreten konnte.
Dreistigkeit siegt, so viel hatte ich in den letzten Wochen gelernt.
Ich tippte die Klinke nur kurz an, und die alte Tür schwang knarrend auf. Rasch schlüpfte ich durch den Spalt in die Praxis.
Der Typ, auf halbem Weg zur Anmeldung, drehte sich um. Die Sprechstundenhilfe sah von ihrem Computermonitor auf.
»Richtig ins Schloss drücken, Herr Becker.«
»Hab ich doch«, maulte er. Zu viel Ungeduld steckte in seiner Handbewegung, die Tür knallte. Ich sah mich um.
Die Räumlichkeiten ähnelten bis auf die Anmeldung nicht der üblichen Arztpraxis. Ein paar Zimmerpflanzen und ein langer Gang, von dem mehrere Türen abgingen. Kein Wartezimmer. Keine anderen Patienten. Gemeinschaftspraxis. Es gab einfach zu viele Irre auf dieser Welt. Ich kannte sie sogar ohne Anmeldung, nur mit einem Tisch und zwei Stühlen. Nicht einmal ein Sofa brauchte es.
»Sie können gleich rein, Dr. Tietz kommt sofort«, bellte die Sprechstundenhilfe. Herr Becker trollte sich durch eine offene Tür in ein Sprechzimmer. Ich folgte ihm.
Das Sprechzimmer weckte böse Erinnerungen in mir. Holzdielen und Stuck, zwei Stahlrohrstühle, ein niedriger Tisch mit einer Packung Taschentücher und zwei Gläsern nebst Wasserkaraffe.
Ein Kastenfenster gab den Blick auf die gegenüberliegende Bausünde aus den 50ern frei. Herr Becker setzte sich seufzend in den Stuhl. Sein rechter Fuß wippte nervös. Die große Uhr an der Wand stand auf kurz nach Zehn.
Unpünktliche Therapeuten. Wie ich das hasste.
Wir beide erschraken, als ein Mann um die 60 in einem weißen Hemd und schlechtsitzendem Anzug in den Raum platzte, in der rechten Hand eine Tasse Kaffee. Mit der linken stopfte er sich ein letztes Stück Brötchen in den Mund. Unter dem Arm ein Klemmbrett mit beschriebenen Blättern.
»Florian, Sie sind ja schon da.«
»Ich hatte nicht so viel zu tun heute.«
»Hab ich Sie krankgeschrieben?«
»Ich bin arbeitssuchend.«
»Stimmt.«
Dr. Tietz setzte sich mit dem Rücken zur Tür auf den Stuhl. Ein letzter Schluck aus seinem Becher. Die Papiere raschelten.
»Erzählen Sie. Was macht die Lustlosigkeit? Wirken die Tabletten?«
»Ich hab keine Lust, sie zu nehmen.«
Dr. Tietz sah auf, überrascht. Zum ersten Mal zeigte sich auf Florians Gesicht ein Lächeln.
»Es ist ganz wichtig, dass Sie sie nehmen. Sonst erleben Sie wieder einen Zusammenbruch wie vor einem halben Jahr. Wollen Sie in einer therapeutischen Klinik landen? Dann machen Sie nur so weiter.«
Als Florian erkannte, dass sein Psychologe den Humor nicht teilte, verfinsterte sich seine Miene wieder. Dr. Tietz beugte sie wieder über sein Klemmbrett und notierte sich etwas. »Die Tabletten wirken also.«
»Meistens. Ich hab nur ständig so ein Ziehen im Rücken und mir ist dauernd schlecht, und im Kopf, da hab ich dieses Summen…«
»Und wie sieht es mit Ihrem Appetit aus? Immer noch so groß?«
»Manchmal. Wenn ich diese Gedanken, diesen Wunsch habe, dann …«
»Dann? Folgen Sie dem Wunsch?«
Florian wurde rot und sah auf seine Hände.
»Nein, ich darf ja nicht, das haben Sie mir ja gesagt. Ich esse dann etwas.«
»Gut, das beweist, dass Sie Ihre Impulse unter Kontrolle haben. Dabei helfen die Medikamente. Sind Sie noch überzeugt davon, dass jemand Sie…« Der Psychologe machte eine dramatische Pause und spuckte das nächste Wort so verächtlich aus, dass ich erwartete, er würde noch einen Fluch hinterherschicken. »… vergiftet hat, oder wissen Sie, dass es Ihre eigenen fruchtlosen Gedanken sind, um die Sie kreisen?«
»Ich …ja, aber diese Stimmen, die waren so deutlich, so klar. Und die haben mir gesagt, was ich tun soll. Ich weiß, Sie wollen nichts davon hören, dass ich glaube, dass mich jemand unter seine Kontrolle bringen will, aber die Stimmen können doch nicht nur aus meinem Kopf gekommen sein.«
»Die interessante Frage ist doch eher, wer sie dahin gebracht hat.«
»Was?«
»Wer hat Ihnen die Gedanken eingepflanzt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was meinen Sie - woher kommt dieser Wunsch, einfach alles hinter sich zu lassen, fortzugehen, und zugleich die Entscheidung abzugeben, glauben zu wollen, jemand würde Sie dazu zwingen?«
»Ich weiß nicht. Sie sind doch der Psychologe.«
»Sie müssen sich die Antwort selbst erarbeiten.«
»Ich will neu anfangen.«
»Sie wollen sich nicht dem Alltag stellen, den Herausforderungen. Sie haben eine niedrige Frustrationsschwelle. Und das sage ich Ihnen schon seit langem. Hören Sie mir überhaupt zu, Florian? Wir haben schon darüber gesprochen, mehrfach. Sie müssen weiter an Ihrer Impulskontrolle arbeiten.«
Ein Kugelschreiber kratzte auf Papier.
»Stimmt, ja, habe ich vergessen…«
Florian gab sich selbst eine Ohrfeige. Es tat mir weh. Mach das nicht, wollte ich sagen.
Der Psychologe sah von seinen Papieren auf. Sein Stift ruhte für zwei Sekunden und ejakulierte dann wieder seine Tinte.
»Erzählen Sie mir, was machen Sie, um Ihren Tag zu strukturieren?«
Florian räusperte sich und begann zu berichten, wie er immer um die gleiche Uhrzeit aufstand, darauf achtete, stets genug Shampoo und Duschgel im Bad stehen zu haben, wie er sich an den am Vorabend gedeckten Frühstückstisch setzte und seine Müslipackungen mit Gummiband verschloss, damit die Motten keine Nahrung fanden.
Ich schlenderte zum Fenster, um auf die Straße zu gucken. Sobald die Sitzung vorüber war, würde den Bahnhof suchen. Vielleicht konnte ich auf dem Weg dahin noch ein paar Titten anfassen.
Als ich mich wieder umdrehte, um auf die Uhr zu sehen, streifte mein Blick das Klemmbrett des Psychologen.
Ich traute meinen Augen nicht.
Statt sich Notizen zum Gespräch zu machen, malte er auf dem Blatt Papier herum, doch nicht irgendwelche Kreise oder geometrischen Figuren wie die, die man beim Telefonieren oder in einem langweiligen Meeting in sein Notizbuch kritzelt. Er zeichnete eine Skizze, die, soweit ich es erkennen konnte, ein Vogelhäuschen darstellte. Mitsamt Längenmaßen und einer Liste von Baumaterial, das er bei Hornbach kaufen musste.
Zwischendurch brummte er zustimmend oder auch überrascht, bis Florian die Schilderung seines Tagesablaufes beendet hatte und er etwas sagen musste, um sich nicht vollends die Blöße zu geben.
»Nun, Florian, das hört sich ja gut an. Der Mensch braucht einfach Routine, etwas, an das er sich klammern kann.«
»Wie lange muss ich die Medikamente noch nehmen?«
»So lange, bis Sie gesund sind.«
»Und wer entscheidet, ob ich gesund bin?«
Dr. Tietz sah beim Sprechen nicht einmal auf, sondern kritzelte einen kleinen Meisenknödel.
»Das entscheiden wir gemeinsam. Im Gespräch. Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens. Und davon sind Sie noch meilenweit entfernt.«
Florian seufzte. Ich starrte auf das Vogelhaus. Was für ein Arschloch. Ich gab dem Klemmbrett einen Schubs. Mit einem entsetzten Aufschrei griff Dr. Tietz nach den flatternden Blättern, erwischte sie nur halb, riss sie dabei auseinander, so dass sie wild durch die Luft wirbelten, als schneie es Zellstoff.
Eines der Blätter landete vor Florians Füßen auf dem Boden. Es war ausgerechnet das mit dem Vogelhaus.
So phlegmatisch der Psychologe in der vergangenen halben Stunde gewirkt hatte, so hektisch sammelte er jetzt die Blätter zusammen. Florian hob das Blatt auf und gab es dem Therapeuten zurück. Dr. Tietz riss es ihm aus der Hand.
»Wir müssen für heute Schluss machen. Nehmen Sie Ihre Tabletten und denken Sie daran: Struktur, Struktur, Struktur.«
Er streckte Florian die Hand hin. Hochrot der Kopf. Null Souveränität.
Ich stellte mich an die Tür. Der Kopfverdreher warf uns hinaus, in den Vorraum, der wie ein Wartesaal eines Finanzamtes wirkte.
»Nächste Woche machen wir dann fünf Minuten länger.«
15, wollte ich sagen und hoffte, dass Florian es tun würde, aber er, mit gesenktem Kopf zwischen den hochgezogenen Schultern, schlich nur in das Treppenhaus.
Auf der Straße schlug uns die Mittagshitze entgegen. Florian bog nach rechts ab, nicht in Richtung Bahnhof. Er kniff wie unter Schmerzen die Augen zusammen.
»Super, toll gemacht, echt schlagfertig. Hast du echt super gemeistert, diese Situation. Blöder Sack.«
Was soll’s? Ich folgte ihm. Ich fand es zu spannend. Seine Worte waren ein leises Flüstern, als dachte er nur laut, doch das schien nicht sein Problem zu sein.
»Haben Sie auch einen Vogel? Das hätte doch gepasst. Mann! Warum fällt dir das immer erst nachher ein.«
An der Kreuzung blieb er stehen. Eine hübsche Blondine im bauchfreien Top und wippenden Titten schlenderte an uns vorbei. Ihre enge Jeans offenbarte ein Arschgeweih. Florian ließ seinen Blick schweifen. Dabei würde er anscheinend lieber seinen Schweif blicken lassen.
»Lass es, schon gut, schon gut«, murmelte er. Seine Fäuste ballten sich an seinen Körperseiten. Er starrte ihr nach. Mir war, als könnte ich seine Zähne knirschen hören. Unvermittelt ließ er seinen Rucksack von der Schulter gleiten, öffnete ihn und holte eine zerknitterte Papiertüte heraus. Fast verzweifelt riss er eine angebissene Butterbrezel aus dem Papier und biss ein Stück ab.
»Gott, ist das peinlich.«
Auf der Stelle drehte er um und ging in die entgegengesetzte Richtung.
Bis zur nächsten Ampel folgte ich ihm. Wieder blieb er stehen und sah zu einer Gruppe noch knapper bekleideten Teenager hinüber, die Eis essend auf der anderen Straßenseite standen und schwatzten.
Die Ampel sprang um. Florian blieb stehen. Die Teenager kamen herüber. Sie waren vielleicht 15 oder 16. Ihre nackte gebräunte Haut, der Spalt zwischen den festen Brüsten im tief ausgeschnittenen Top und die schmalen Taillen hätten jeden hartgesottenen Sozialarbeiter schwach gemacht.
»Oh, mein Gott«, flüsterte er und stopfte sich den Rest der Brezel in den Mund. Die drei Mädchen und ein durchtrainierter Schönling um die 18 passierten uns. Ich starrte auf letzte Pickel über Schmollmündern, Brustmuskeln, die sich unter Baumwolle abzeichneten, auf feine Härchen auf zarter Haut, auf die Beule im Schritt.
»Das wäre geil, sie zu ficken, oder?«, flüsterte ich ihm ins Ohr und erwartete einen entsetzten Aufschrei, einen Sprung zurück.
Stattdessen legte er die rechte Hand auf die Brust und seufzte erleichtert.
»Verdammt, wo warst du so lange?«
Ich war so perplex, dass ich es versäumte, dem Typen zwischen die Beine zu greifen. Ich ging auf Abstand. Einen halben Meter. Reflexartig hob ich Hand vor Augen. Mein Blick ging durch sie hindurch, so wie er meinen Arm, meinen Bauch und meine Füße nicht halten holen konnte.
»Hast du mich etwa vermisst?«, fragte ich ohne nachzudenken.
Mein Begleiter blieb stehen, starrte an mir vorbei und ich wusste, dass er mich nicht sehen konnte. Halb erleichtert und halb wütend sagte er: »Weißt du, wie beschissen das ist, wenn dir alle einreden wollen, du seist verrückt?«
Wusste er eigentlich was er da sagte?
»Und du bist es nicht?«
»Nein, weil dich doch höre, so deutlich wie die Autos auf der Straße.«
»Und du hast mich vorher schon gehört?«
»Ja, aber nicht so deutlich. Was ist passiert?«
»Seit wann war ich weg?«
Florian hob den Blick, überlegte und presste sich plötzlich die Hände an die Schläfen. Endlich zeigte er so etwas wie Überraschung. Die Ampel zeigte Rot.
»Die Medikamente. Seit ich Medikamente nehme.«
Lautlos seufzte ich. Ein Schizo, mit echten Symptomen, medikamentös eingestellt, nicht so wie die Typen damals, die Obdachlosen in Hamburg, die sabbernd Satzfragmente wiederholten, die auch beim tausendsten Mal keinen Sinn ergaben. Er reagierte auf die Reize von außen, als habe er ein Funkgerät im Ohr.
Ich starrte den knackigen Hintern des Muskelprotzes nach. Sollte ich ihm nicht besser folgen? Bestimmt gab es da heute noch etwas Geileres zu sehen als dieses Elend hier, einen leicht übergewichtigen, etwas verpickelten jungen Mann, der mit sich selbst sprach und auf Stimmen von außen reagierte, als sei es so normal wie ein Gespräch unter Nachbarn, die sich zufällig auf der Straße trafen.
Was dachte er, wer ich sei? Ein Außerirdischer?
Ich musste grinsen. Und dann gingen die Gäule mit mir durch. Ich wusste, dass es gemein war, aber ich konnte nicht anders.
»Du bist aufmerksam, das ist gut. Wir mussten uns wegen der Medikamente erst ganz neu auf deine Hirnfrequenz einstellen«, murmelte ich.
Die Teenager warteten an der nächsten Kreuzung. Ich könnte sie in der Umkleide. Oder im Schwimmbad. Oder bei ihnen zu Hause. Mit Gewalt. Mir wurde flau im Magen. Ich musste dringend nach Mallorca. Nach Süden. Das Kapitel abschließen.
Florian nahm den Kopf in den Nacken, die Hände noch immer an den Kopf gepresst, und sah gen Himmel.
»Ich wusste es, ich wusste es immer. Ich bin nicht verrückt. Ich habe es die ganze Zeit verrückt.«
Die Ampel sprang wieder auf Grün. Nach Mallorca. Aber nicht im klimatisierten Zug. Vielleicht ging da was.
»Komm, wir müssen reden.«
Die Augen auf die Straße gerichtet, aber den Blick nach innen gekehrt, redete Florian vor sich hin. Ich lief ihm nach und wechselte ständig die Seiten, so dass meine Stimme von überall her zu kommen schien. Dabei musste ich immer auf der Hut sein, nicht von Müttern mit Kinderwagen umgenietet zu werden. Florian lief einfach weiter, sah sich dabei um, als wolle er sich vergewissern, dass ihm niemand einen Streich spielte. Und dass er sich so erhielt, beruhigte mich und machte ihn mir sehr sympathisch.
Florian erzählte von den Stimmen, die anfangs noch wie ein Ruf in der Ferne gewesen waren, wie ein Echo in seinen Kopfhörern, wenn er Musik gehört hatte. Dann waren die Stimmen immer deutlicher geworden, drängender.
»Sie haben mich beschimpft, mir gesagt, ich sei dumm und pervers.«
»Dann haben wir uns missverstanden. Diese Art der Kommunikation ist auch für uns ganz neu.«
»Wer bist du?«
Wer bist du? Ein Mörder. Ein Wichser. Ein schwuler Stalker mit einer irren Mission. Ein Unsichtbarer. Nicht real. Mich dürfte es gar nicht geben. Ich war jeder und niemand. Aber vor allem konnte ich kreativ sein. Wie lange war ich das nicht mehr gewesen? Albern und einfallsreich.
Ich konnte jeder sein. Nicht von dieser Welt.
»Ich bin Teil einer außerirdischen Intelligenz. Wir sind von weit her gekommen, um mit dir Kontakt aufzunehmen. Ich bin in deinen Kopf projiziert, nur du kannst mich hören.«
Florian taumelte unter der Last der Informationen. Auch das war ein gutes Zeichen.
»Das gibt’s doch gar nicht… Was wollt ihr?«
Mit jedem Wort kamen mir neue Ideen, mit jedem Satz baute sich eine neue Welt auf. Alles ergab auf einmal einen Sinn. Er war irre. Und ich war es auch. Gib dem Affen Zucker. Viel Zucker.
»Wir wollen Aufklärung, wollen aus der Erde einen besseren Planeten machen.«
Auf einem Parkplatz vor einem Supermarkt steuerte er einen schäbigen roten VW-Golf der ersten oder zweiten Generation an. Und ob da was ging. Mit einem Taxi nach Paris. Mit einem Irren nach Mallorca.
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Du bist einer der Auserwählten und hast eine Aufgabe zu erfüllen. Was genau, werden wir dir am Ziel verraten.«
Bevor Florian jedoch den Autoschlüssel aus der Hosentasche holte und den Wagen aufschloss, drehte er eine Runde um den roten Golf, kniete sich vor die Räder und fummelte an den Radmuttern herum. Ein Rad nach dem anderen schien er zu überprüfen. Auch noch ein Kontrollfreak. Der Junge ließ aber nichts aus.
»Was machst du da?«
Mit dem Autoschlüssel in der Hand blieb er an der Tür stehen. Schnappte nach Luft.
»Ich weiß nicht«, sagte er schließlich. »Ich muss das irgendwie machen. Was, wenn jemand die Muttern gelöst hat?«
Während ich noch überlegte, ob ich nicht doch lieber den Zug nehmen sollte, schloss er die Tür auf. Erst kam der Schreck, weil ich nicht wusste, wie ich ebenfalls ungesehen in das Auto kommen sollte, und dann die Idee.
»Warte. Steig nicht ein. Ich muss dir etwas sagen.«
Er verharrte in der Bewegung wie ein schockgefrostetes Huhn.
»Woher weißt du, dass du die Radmuttern kontrollieren sollst?«
»Meine Ahnung, es ist wie …«
»Eine innere Stimme?«
Er nickte.
»Ein Problem der Kommunikation. Diese Nachricht kommt von uns. Aber es ging nicht um die Radmuttern.«
Florian sah auf und starrte in meine Richtung. Ich wechselte den Standort. Meine Idee war genial. Sie war etwas, was ich mir gar nicht mehr zugetraut hatte: kreativ.
»Wir haben schon vor langer Zeit deinen Körper gescannt. Du bist tatsächlich vergiftet worden.«
Florian lehnte sich gegen das Auto und ballte die Fäuste. Hinter uns schepperte ein Einkaufswagen vorbei, geschoben von einer rauchenden Kleinstadtschlampe mit schwarz gefärbten Haaren.
»Ich wusste es. Und wer? Wer hat mich vergiftet?«
»Der militärisch-industrielle Komplex. Die wollen dich an der Rettung der Welt hindern, so wie alle anderen Auserwählen. Das Gift hält dich klein, beschränkt deine geistigen Fähigkeiten.«
»Und wo ist das Gift?«
»Zum Beispiel im Plastik von Autos. Ist dir der Geruch im Sommer schon einmal aufgefallen, wenn ein Auto zu lange in der Sonne gestanden hat?«
Florian drehte sich zu seinem Golf um und stierte hinein.
»Ja, genau. Und ich dachte, es sei… mein Gott, jetzt ergibt alles einen Sinn. Die Autofahrernation Deutschland. Einfacher als über die Autos kann man doch gar nicht die Kontrolle übernehmen. Und jetzt? Soll ich das Auto verkaufen und nur noch mit der Bahn fahren?«
»Ja, aber erst später, wenn wir am Ziel sind. Du brauchst dein Auto noch, aber bevor du einsteigst, musst du ab sofort erst einmal die Türen öffnen und zweimal um den Wagen laufen, bis die kontaminierte Luft raus ist.«
Florian nickte eifrig, und während er um den Wagen lief, kletterte ich in das stickige Innere auf die Rückbank. Im Fußraum lagen leere Verpackungen von McDonald’s, Pizzakartons, Coladosen, Snickers- und Mars-Papiere und mehr. Das reinste Chaos roch zudem nicht gut.
Durch die Windschutzscheibe beobachtete ich, wie Florian seine zweite Runde um das Auto beendete. Die Tür knallte. Die Karre hielt nur noch der Lack zusammen.
»Und am besten lässt du die Fahrertür jetzt immer einen Spalt offen, nicht abschließen. Damit die Luft zirkulieren kann.«
»Aber was, wenn das Auto jemand klaut.«
»Keine Sorge, wir kümmern uns darum.«
Er seufzte. Und ich wusste nicht, ob ich Angst haben sollte. Ich hatte bis auf Mias Stalker noch nie einen Irren getroffen. Im Film waren sie meistens Serienmörder oder tyrannisierten ihre Mitbewohner, bis einer ins Gras beißen musste. Florian schien, bei aller aufgestauten sexuellen Frustration, eher harmlos. Ein weiches Gesicht mit ein paar Bartstoppeln, die dunkelblonden Haare verwuschelt, die Augen wach. Ich war ein wenig neidisch, dass er bei diesen Mengen fetter und süßer Sachen, die er offensichtlich in sich hineinstopfte, so verhältnismäßig schlank geblieben war. Nur ein paar zu viele Pickel auf der Stirn und rund um die Nase zeugten von seiner ungesunden Ernährung. Ich wäre längst aufgegangen wie ein Hefeteig.
Die Genetik war erbarmungslos ungerecht.
»Was soll ich jetzt tun?«
»Was sagt dir deine innere Stimme?«
»Du bist meine innere Stimme.«
»Nein, ich komme von außen. Also – was willst du tun?«
»Ich würde gerne einfach mit dem Auto irgendwohin fahren.«
»Dann mach es.«
»Mein Therapeut hat gesagt, ich muss mich an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen.«
»Vergiss den doch. Dein Psychologe ist ein Schwachkopf. Der ist doch bloß neidisch. Du musst nach Süden. Dort treffen sich die Auserwählten. Auf dem Weg dahin erzähle ich dir alles, was du wissen musst.«
»Wann?«
»Hast du in den nächsten Tagen noch was vor?«
»Kann ich vorher noch zuhause vorbei?«
Auf dem Weg redete Florian ohne Unterlass, hantierte dabei mit der vermutlich seit Jahren hakelnden Schaltung mit der eingefahrenen Routine eines Tigers, der zu lange hinter seinen Gitterstäben hin und her gelaufen war.
Er lebte, so viel verstand ich, bei seiner Großmutter, seit seine Mutter sich mit unbekanntem Ziel und einem noch unbekannteren Liebhaber aus dem Staub gemacht hatte. Seinen Vater erwähnte er nicht, und ich bekam keine Gelegenheit, nachzufragen.
80 Jahre alt sei die Oma, aber noch gut beisammen, und er sei froh, dass er in ihrem Haus wohnen könne, gerade in seiner schwierigen Situation, und sie habe ihm schon immer geholfen, sei die einzige, die sich für ihn interessiere und habe Recht, wenn sie sage, dass eine Beziehung auf mehr basieren sollte als auf Sex, man wüsste ja, was dabei herauskäme.
Blinker, Schaltung, Bremse. An der Ecke die Sparkasse, daneben ein Edeka, Jägerzäune, 30er-Zone, Bäume in Kübeln aus Waschbeton.
Anscheinend war die größte Sorge seiner Großmutter, dass Florian mit einer Frau unterwegs sein könne, die er zuhause nicht vorgestellt hatte.
»Der Psychologe sagt, sie hat einen Knacks. Aber sie meint es ja nur gut.«
Mit quietschenden Bremsen hielt der Golf vor einem schlichten Einfamilienhaus aus der Nachkriegszeit. Verwilderter Vorgarten, keine Latten mehr am Zaun, bröckelnder Putz. Alptraum Wohnen. Das Bild wurde schärfer.
»Was brauche ich?«
»Ausweis, was zu trinken, Schlafsack oder Decken, falls wir… falls du im Auto schlafen musst. Bring zwei mit, man weiß ja nie. Ein Zelt, falls du eines hast. Und Geld.«
Er seufzte und öffnete die Tür.
»Dann muss ich Oma um zwanzig Euro anpumpen. Ich bin total pleite.«
Zwanzig Euro von Oma? Damit kämen wir noch nicht mal bis an die französische Grenze. Der Golf soff bestimmt 12 Liter auf 100 Kilometer.
»Gut. Dann muss ich dich das jetzt alleine machen lassen. Wir organisieren dir noch Geld. Ich schalte mich jetzt ab und erwarte dich in einer halben Stunde wieder hier.«
»Was soll ich meiner Oma sagen, wohin ich fahre?«
»Sag ihr, du gehst auf eine wichtige Mission. Mehr muss sie nicht wissen. Du bist alt genug. Ende der Nachricht.«
Er stieg aus. Die Tür knallte. Ich atmete aus. Was für ein Stress. Aber der Trip könnte ein riesiger Spaß werden. Falls mich Florian entlarvte, würde ich die unheimliche Begegnung der zweiten Art abbrechen und den Rest der Fahrt mit der Bahn zurücklegen. Ich war lange nicht mehr mit dem Zug gefahren. Seit dem letzten Besuch bei Julians Eltern. Als mein Leben noch in geordneten Bahnen verlaufen war
Bevor ich schwermütig werden konnte, kletterte ich auf den Fahrersitz und öffnete vorsichtig die Tür, stieg aus dem Wagen und drückte das lackierte Stück Schrott wieder ins Schloss.
Hinter dem Schalter stand eine Frau im grauen Kostüm. Im Foyer verkümmerten zwei Stechpalmen im Blähton. Eine ältere Dame steckte einen Beleg in die Hosentasche und ging. Mit heißer Luft im Rücken lief ich über buntgemusterte Auslegeware zur Kasse. Diese befand sich in einem gläsernen Kasten mit einer gesicherten Tür, die man nur mit einem Code öffnen konnte. Darin arbeitete ein Mann mit Schnurrbart. Geldscheine ratterten durch ein Zählgerät. Der Mann steckte die Scheine abgezählt in Bauchbinden. Ich kannte diese Kassen. In der Sparkasse Northausen hatte ich früher meine Einzahlungen zentral machen müssen. Ich dachte, diese Kassen seien längst durch Tresore in den Schaltern ersetzt, aber in einer Kleinstadt tickten die Uhren eben anders.
Ich brauchte nicht viel. Nur ein paar Hunderter. Wie dick wären sie wohl, wenn ich sie zu einer Rolle drehte? Der Schnurrbärtige stopfte Geldbündel in einen grünen Geldsack, verplombte diesen und warf ihn zur Seite. Ich wartete ein paar Minuten. Die große Uhr im Foyer tickte.
Schnurrbart nahm nur einen der Geldbeutel und ging zur Tür. Ohne einen weiteren Code eingeben zu müssen verließ er das Kassenhäuschen. Bevor die Tür vom Türschließer wieder zugezogen wurde, drängte ich mich hinein. Am Fuß erwischte mich das Türblatt. Der Schmerz war kurz und scharf. Die Tür blockierte eine Sekunde. Schnurrbart sah zurück, stutzte. Ich war drin. Er ging weiter.
Ich wischte mir über die Stirn. Ein Königreich für ein kaltes Bier.
Fächer mit Münzgeldrollen, Bauchbinden für Scheine, der Zählautomat. Die Münzen konnte ich vergessen. Aber der zweite grüne Geldsack hatte es mir angetan. Mit zitternden Händen entfernte ich die einfache Plombe. Der Reißverschluss flüsterte verheißungsvoll. Unter meinen gierigen Fingern knisterten Scheine. Es waren Fünfziger und Hunderter. Ein Blick durch die Scheibe. Eine Tür im hinteren Teil der Sparkasse öffnete sich. Der Schnurrbärtige kam zurück.
Atemlos rollte ich die Scheine zu einem Röhrchen, nicht viel dicker als eine Zigarette, und ließ es schweben. Der Reißverschluss flüsterte wieder. Die alte Plombe landete unter der Zählmaschine.
Der Mann war an der Tür. Mein Geldröllchen klebte am Rahmen. Piepsen der Zugangskontrolle. Er riss die Tür auf, drängte hinein. Ich blockierte die Tür mit dem Fuß und huschte hinaus, die Hand mit dem Geld am Boden, dort wo die Wand auf den Teppich traf.
Diesmal blieb er stehen.
Er starrte auf die Tür, die erst jetzt, mit einer Sekunde Verzögerung nur, zurückschwang.
Das Geld, er sieht das Geld, dachte ich und überlegte, ob ich rennen sollte.
Und dann nahm er mit der einen Hand das Türblatt, sah stirnrunzelnd hinauf zum Obertürschließer und zog mit der anderen Hand am Griff. Ungehindert schloss sich die Tür. Ich sah ihn noch den Kopf schütteln und rannte, die Hand mit dem Geldröllchen dicht über dem Boden, zum Ausgang. Die Automatiktür öffnete sich schnarrend, die Straße hatte mich wieder. Schweißgebadet bog ich um die Ecke und verschnaufte.
Mein erster Bankraub. Und er war auch noch erfolgreich.
Jetzt fehlte nur noch Florian.
»Ich musste noch die Wäsche aufhängen«, sagte er und warf einen Rucksack auf den Beifahrersitz. Bevor er seinen Lauf um das Auto begann, folgte ein kleines Zweimannzelt, dessen Hülle Staub angesetzt hatte. Ich kletterte leise in das heiße Fahrzeug, entrollte die Geldscheine, warf sie in das Handschuhfach und glitt auf die Rückbank. Eine Sekunde lang hatte ich Angst gehabt, seine Großmutter könnte ihn im Keller eingesperrt haben, um seine Reise zu verhindern.
Schließlich stieg auch er ein.
»Ich habe auch einen Fotoapparat mitgebracht. Wenn ich schon mal die Gelegenheit habe, Außerirdische zu treffen…« Er legte die Hände auf das Lenkrad und lauschte. »Bist du da?«
»In deinem Kopf«, sagte ich. Er löste sich aus der Erstarrung und legte die Hand auf den Zündschlüssel.
»Wohin fahren wir?«
Wohin? Wie kam man nach Mallorca? Von Barcelona aus?
»Nach Spanien. Fahr erst einmal nach Frankreich.«
»Nicht über die Schweiz?«
»Wir haben dir Euro organisiert. Guck mal in dein Handschuhfach.«
Florian beugte sich zur Seite und streckte die Hand aus, um das Fach zu öffnen, zögerte, als habe er Angst, ihm könne eine Klapperschlange entgegenspringen.
»Ich hoffe, unsere Peilung war genau genug. Wenn es schiefgelaufen ist, steckt das Geld im Tank.«
Mit einer hastigen Bewegung zog er am Griff und die Klappe krachte herunter. Die Scheine flatterten in den Fußraum. Florian fasste sich an die Stirn und sammelte das Geld auf.
»Das sind… fünf… sechs… über tausend Euro.«
»Das sollte für die ersten Tage reichen.«
»Tage? Davon lebe ich sonst fast zwei Monate.«
»Gut, dann fahren wir.«
Wir ließen das Wohngebiet rasch hinter uns, und Florian begann zu erzählen. So klar habe er die Stimme noch nie gehört und er sei ja kurz davor gewesen, dem Psychologen Glauben zu schenken und zu akzeptieren, dass sein Unterbewusstsein laut zu ihm gesprochen habe.
»Das sind die Medikamente. Und das Gift«, sagte ich von der Rückbank und hoffte, dass Florian nicht auf die Idee käme, die Dellen im Polster der Rückbank für die Arschabdrücke eines Unsichtbaren zu halten.
An der nächsten Ampel tänzelte wieder eine hübsche Blondine über die Straße. Sein Blick folgte ihr, die Hände krallten sich in das Lenkrad.
»Warum verkrampfst du?«
»Weil sie mich erregt.«
»Na, wunderbar.«
Ohne eine Antwort trat Florian, kaum war die Ampel umgesprungen, das Gaspedal durch. Der Golf machte einen Satz nach vorne und ich wurde in das Polster gepresst. In diesem Moment vermisste ich den Sicherheitsgurt.
Kaum hatte ich mich wieder aufgerappelt, schwenkte der Golf nach rechts und ich stieß mir den Kopf an der Fensterscheibe. Die nächsten Worte, die Florian sprach, waren nicht an mich gerichtet, sondern an einen weißen Kasten mit fünf horizontalen Schlitzen.
»Ein großes BigMac-Menü mit Cola, einen Royal-TS und Ketchup und Mayo, bitte.«
Die Antwort war kaum verständlich, aber ich war mir sicher, dass Florian den Preis bereits kannte. Belege dafür lagen im Auto genug herum.
Zwei Tritte auf das Gaspedal später streckte er die Hand aus dem Fenster und nahm eine dicke Papiertüte in Empfang.
Er parkte den Wagen neben einem Mercedes. Das Papier raschelte. Ich bekam Hunger. Wortlos und hektisch, fast manisch, stopfte Florian das Essen, oder jedenfalls das, was McDonald’s dafür hielt, in sich hinein. Er schmatzte, schluckte, kaute, schlang. Die Papiertüte raschelte und im Becher röchelte der Strohhalm.
»Alles klar bei dir?«, flüsterte ich von hinten in sein Ohr.
»Alles klar«, schmatzte er und stopfte sich eine Handvoll Pommes in den Mund.
»Hat dir die Blondine gefallen?«
»Hör auf. Mach das nicht.«
»Womit soll ich aufhören?«
»Flüster mir nicht ein, ich soll …«
Er brach ab und biss in den Burger.
»Du sollst was? Ich habe nichts gesagt.«
Mit vollem Mund winkte er ab, kaute mechanisch und griff nach dem Getränk. Wieder röchelte der Strohhalm. Mein Magen knurrte. Ich ahnte, was er mir hatte sagen wollen.
Fressen als Ersatzbefriedigung.
Ich war Laufen gegangen, wenn mich die Gedanken gequält hatten und die Lust zu groß geworden war, die Lust auf fremde Haut, die Gier auf Hintern und spritzende Schwänze.
Laufen und Fressen als Kur der Symptome, nicht der Ursache. So wurde aus etwas Gutem ein schleichendes Gift. Das konnte so nicht weitergehen.
»Du wolltest doch wissen, wo das Gift noch ist, oder? Es ist nicht nur im Auto.« Ich starrte auf den Verpackungsmüll, der meine unsichtbaren Füße umspülte. »Sondern auch im Essen von McDonald‘s und Burgerking, in den Süßigkeiten der großen Konzerne, den Softdrinks.«
Florian ließ den Burger sinken und starrte zur Scheibe hinaus. Neben uns stieg eine Familie in den Mercedes. Türen schlugen. Der Motor brummte.
»Aber, das bedeutet… die versuchen, uns durch das Essen zu kontrollieren?«
»Sie versuchen es nicht, sie tun es bereits.«
Er starrte auf die Pommes, die sich zwischen Salz und Fett in ihrer roten Pappe krümmten.
»Was ist das für ein Gift?«
»Das ist sekundär. Du musst das Gift aus deinem Körper bekommen.«
»Baut der Körper das nicht von alleine ab?«
»Nein, das dauert zu lange. Das Gift hat eine Halbwertszeit von 35 Jahren. Du musst es anders bekämpfen.«
»Und wie? Wie mache ich das?«
Hinter dem Parkplatz des McDrive endete die Kleinstadt. Ein Autohaus. Ein Mediamarkt. Ein gelbes Ortsschild mit rot durchgestrichenem Namen. Adieu heile Welt. Verklemmte Welt. Neurotische Welt. Es gab nur eine Kur für diese Krankheit.
»Du bekommst das Gift aus deinem Körper, indem du viel masturbierst. Jeden Tag, so oft du Lust hast. Das versuchen wir dir seit Langem zu sagen.«
Er schluckte. Im leeren Becher klapperten die Eiswürfel.
»Das sind die Stimmen gewesen, die laut wurden, wenn ich Lust hatte? Aber die Stimmen haben immer gesagt, ich soll nicht wichsen.«
»Tja, da haben wir uns also wieder missverstanden. Wir haben dir gesagt, was du tun sollst, aber irgendetwas war stärker als unser Sender.«
Seine Großmutter, nahm ich an. Armer Kerl.
»Jetzt wird mir alles klar«, sag er und presste die Hände an die Schläfen.
»Gut, dann nimmst du jetzt den nächsten Schritt zum Ziel. Befrei dich von deinen Fesseln.«
Florian lachte verzweifelt. »Und wie?«
Langsam schritten wir die Regale ab.
»Worauf stehst du?«
Skater Twinks 23, Gay Parade 19, Teenieexzesse 56. Ich war im Paradies. Florian starrte in einer Mischung aus Abscheu und Faszination auf die Hefte. Um uns ein paar der Trucker, für die dieser Sexshop an der Autobahn gebaut worden war. Oder die Familienväter, die sich in der Kleinstadt nicht in den Shop am Bahnhof trauen, den es wie in jeder Stadt bestimmt gab.
»Ich stehe auf nichts, keine Ahnung, ich hab doch noch nie ...«
»Erregt dich eines besonders?«, flüsterte ich und sah ihm über die Schulter.
Sein Mund öffnete sich. Analversaute Luder 110.
Er griff zu, holte ein Heft nach dem anderen aus dem Regal, blätterte es durch und legte es zurück. Doppelt fickt besser 66. Seine Finger hinterließen feuchte Flecke auf dem Papier. Vor den Heften mit Bondage und Pinkelspielen blieb er stehen. Das konnte ich nicht zulassen. Ich schlich an sein anderes Ohr.
»Du stehst auf Hintern, auf Analverkehr, das macht dich total geil.«
Florian kaute nervös an seinen Fingernägeln. »Ja, nein, ich weiß nicht…«
»Ganz sicher«, murmelte ich. »Und auf Cumshots.«
Florian steckte die Hand aus. »Aber meine Oma hat gesagt…«
»Denk an das Gift in deinem Körper.«
Diesmal hielt ihn nichts zurück. Florian nahm von jedem Heft, das ich ihm einflüsterte, eines aus dem Regal. Bald hatte er einen Stapel Pornos auf dem Arm.
»Ist das alles? Keine unausgesprochenen Wünsche?«
Er zögerte und griff sich zu meiner Überraschung und ohne, dass ich etwas gesagt hatte, einen Schwulenporno. Auf dem Weg zur Kasse kamen wir an den Dildos vorbei. Diesmal jedoch scheiterte ich mit meinen Einflüsterungen. Florian schüttelte den Kopf, sagte wiederholt nein, und weil uns der Typ an der Kasse bereits misstrauisch ansah, hielt ich meine Klappe.
Der Golf rumpelte über den Waldweg. Auf dem Beifahrersitz lagen die Pornos. Mein Herz klopfte. Ich konnte es kaum erwarten. Auch Florian schielte während der Fahrt immer wieder hinüber, so dass er das Lenkrad in letzter Sekunde herumreißen musste, um nicht von der Fahrbahn abzukommen. Einmal hatte ich ihn davon abhalten müssen, die Ausfahrt zu einem McDrive zu nehmen.
»Und ich darf da nie wieder essen?«
»Was die Konzerne nicht kontrollieren können, sind die Bioläden.«
Er seufzte. Irgendwann knarrte die Handbremse, und Florian nahm sich das oberste Heft.
»Das Gift ist dann in meinem Sperma?«
»Ja, aber du musst jetzt zum Wichsen nicht auf eine Sondermülldeponie fahren. Die Konzentration ist so gering, dass es ungiftig wäre, würde man es schlucken. Deshalb ist es so wichtig, dass du so oft wie möglich den Druck ablässt.«
Er starrte auf das Titelbild. Regungslos.
»Worauf wartest du? Willst du lieber was essen?«
»Könnt ihr mich eigentlich sehen?«
»Wir sehen, was du siehst.«
»Kannst du mich mal alleine lassen?«
»Klar. Wenn du tust, was nötig ist?«
»Versprochen.«
»Dann viel Spaß.«
Ein paar Sekunden vergingen, ohne dass sich Florian regte. Sonnenflecken tanzten auf dem Waldweg. In der Ferne rauschte der Verkehr auf der Bundesstraße. Er schlug die erste Seite auf. Das Papier zitterte.
Was er dann aus seiner Hose holte, ließ mich beinahe neidisch werden. Aber nur beinahe. Wie lange er nicht mehr gewichst hatte, wusste ich nicht, aber wie viel Zeit auch verstrichen war, verlernt hatte es nicht.
Ich sah ihm von der Rückbank zu, sah auf ihn und sein Heft, seine anfangs langsamen, fast andächtigen Bewegungen, die mit jeder Seite schneller wurden. Sein Atem beschleunigte sich ebenfalls, Stoff raschelte, Papier knisterte, Haut klatschte auf Haut, so laut, dass ich mit meiner rechten Hand unbesorgt in die Orgie einstimmen konnte.
Jedes Bild ein neuer Kick, jede Seite ein Augenöffner. Fast genauso erregend war der Anblick dessen, was Florian knetete, massierte und schrubbte. Es war der Beginn einer geilen Freundschaft, die mindestens bis nach Spanien halten würde.
Philipp, wir kommen, dachte ich noch, bevor wir unsere Körper entgifteten.
Wir fuhren erst in Richtung Norden und bogen dann nach Westen ab. Über uns ein blauer Himmel. Auf der Straße flimmerte die Hitze. Der alte Golf röhrte, aus den Lautsprechern schepperte Musik aus dem letzten Jahrhundert von einem Mixtape, und Florian erzählte von seinem abgebrochenen Studium, seiner Konzentrationsschwäche und den verpatzten Prüfungen. Er berichtete, wie er als Verkaufshilfe in einem Kleidungsgeschäft gearbeitet hatte, bis er die immer gleichen Kundenfragen nicht mehr ertragen konnte.
»Gibt’s das auch in M?«, äffte er eine Kundin nach. »Ich habe irgendwann in S, M und XL geträumt.«
Seit dem Abbruch seines Studiums lebte er wieder in seiner Geburtsstadt bei seiner Großmutter. Ganze drei Jahre hatte er es ohne sie ausgehalten. Er war sich dieser seltsamen Konstellation bewusst, aber nachdem er aus seiner WG rausgeflogen war, hatte er keinen Ausweg mehr gesehen. Mit den Frauen hatte Florian auch sonst nicht viel Glück gehabt. Dass er schon in der Schule nicht auf Sex stand, oder besser, stehen durfte, hatte sich bei den Mädchen bald herumgesprochen, und man hatte ihn als guten Kumpel zu schätzen gewusst.
Die fleischliche Lust, so hatte ihm seine Großmutter immer wieder eingebläut, ist der Krebs in einer gesunden Beziehung. Denn die Lust wird nie gestillt, die wird immer größer und will mehr, bis der andere Mensch nicht mehr ausreicht, wie bei deinen Eltern.
Florian hatte nie widersprochen. Doch mit jeder weiteren platonischen Beziehung war die Verwirrung größer geworden, und er hatte angefangen zu essen, wenn ihn die Lust überkam. Oder seine Oma hatte ihm etwas zu essen vorgesetzt, ihn konditioniert wie einen Hund, bis er die Essensglocken hörte, sobald er vor Geilheit zu sabbern begann.
Und irgendwann hatte er sich jedes Mal, wenn das Verlangen zu groß wurde, den Bauch mit Burgern vollgestopft. Fressen statt wichsen. Das war seine Devise. Ersatzbefriedigung, wollte ich ihm sagen. So wie ich Laufen gegangen war. Vorher, bevor ich unsichtbar geworden war.
Warum er so bedingungslos gehorchte, sagte er nicht, und ich wollte nicht nachfragen, um ihn nicht misstrauisch zu machen. Irgendwann, so fürchtete ich, würde er wissen wollen, warum wir Außerirdische unsere Stimmen in seinen Kopf projizieren, nicht aber seine Gedanken lesen konnten.
»Ich muss mal rechts ranfahren«, sagte er, nachdem wir hinter einer der vielen Ortschaften, die auf -ingen endeten, die Autobahn verlassen hatten.
»Du kannst schon wieder?«
»Ich muss doch, oder nicht?«
»Je mehr, desto besser.«
Als er danach den ersten Gang wieder einlegte, lag ein Lächeln in seinen Augenwinkeln. Der Weg führte uns über eine Bundesstraße in den Schwarzwald. Ich wusste nur, dass man über Freiburg nach Frankreich kam, und mit einer Straßenkarte hätten wir bestimmt einen direkteren Weg gefunden, aber hier war der Weg das Ziel.
Je weiter uns die Straße in den Wald führte, umso angenehmer wurde die Temperatur. Am frühen Abend wurde der Hunger nach einer weiteren Entgiftung zu groß. Sein steifer Schwanz in der Faust machte mich an. Konnte ich es wagen, ihm die Geschichte vom unsichtbaren Außerirdischen zu erzählen? Ich ließ es bleiben und erfreute mich nur am Anblick.
In einem kleinen Dorf schickte ich Florian zum Essen in eine Bauernschenke, in der sie regionale Produkte anboten. Bevor er sich auf der Sonnenterrasse mit Blick in ein enges Tal den Bauch mit Pfifferlingsalat und Zanderfilet vollschlug, ließ ich ihn das gleiche Gericht ein zweites Mal bestellen und es ins Auto bringen, damit wir es auf seine Unbedenklichkeit prüfen konnten. Wir seien zwar zuversichtlich, dass alles in Ordnung sei, aber der Vollständigkeit halber - er verstehe das sicher.
Der Bedienung sagte Florian, er müsse einem Freund, der nicht kommen könne, etwas zu Essen bringen. Eine Vorauszahlung samt Trinkgeld besänftigte das Misstrauen. Das Zanderfilet war das Beste, das ich seit Langem gegessen hatte. Auch der Riesling schmeckte ausgezeichnet.
Ich beglückwünschte mich zu der Entscheidung. Florian als Fahrer - etwas Besseres hätte mir gar nicht passieren können.
Bei Anbruch der Dämmerung ließen wir die Höhen des Schwarzwaldes hinter uns. Die warme Abendluft knatterte hinter dem Fenster und aus den Lautsprechern schepperte Rock.
Die Dunkelheit erwischte uns auf der Autobahn, und wir fuhren an der nächsten Ausfahrt ab. Wir mussten kurz vor Freiburg sein.
»Wo soll ich schlafen?«, fragte er.
»Wir dürfen nicht zu viel Aufmerksamkeit erregen.«
War ein Hotel eine Option oder zu gefährlich? Was konnte schon passieren, wenn ich neben ihm auf dem Boden pennte. Er konnte zum Beispiel auf mich treten oder mich schnarchen hören.
Das Schild wäre in der Dämmerung kaum zu erkennen gewesen, doch gerade noch rechtzeitig schaltete Florian die Lichter ein. Wie ein erschrockenes Reh tauchte es im Lichtkegel auf. Campingplatz. Toiletten. Duschen. Kiosk.
»In 200 Metern links abbiegen«, sagte ich mechanisch als einziges Zugeständnis an meine Rolle als Außerirdischer. Aber vermutlich bemerkte er diese Anspielung gar nicht.
Der Campingplatz brummte in hochsommerlicher Betriebsamkeit. Florian zahlte brav für ein Auto, einen Mann und ein Zelt.
Beim Aufbau stellte er sich gar nicht so dumm an. Der Schlafsack entrollte sich auf sandigem Plastik. Sein Autoschlüssel verschwand im Rucksack, wurde von meiner unsichtbaren Hand herausgefischt, schwebte auf das rechte Hinterrad.
»Ich wollte immer mal Zelten gehen.«
»Warum bist du es nicht?«
»Hat sich irgendwie nicht ergeben. Ich hätte mit Freunden zelten können, wenn ich nur…«
Er brach ab.
»Es bringt nichts, sich darüber Gedanken zu machen, was hätte sein können. Wenn du etwas verändern willst, fang in der Gegenwart an.«
Sein Lachen fiel mir eine Idee zu spöttisch aus.
»Dann möchte ich mich hier ausziehen und nackt durch die Nacht laufen.«
»Nun, vielleicht solltest du damit warten, bis wir alleine sind.«
Er seufzte. »Es ist doch eine Scheißwelt.«
»So seid ihr Menschen eben. Total verklemmt. In meiner Welt ist alles rund um die Fortpflanzung, ob erfolgreich oder nicht, so öffentlich wie bei euch das Trinken von Alkohol.«
»Was gäbe ich dafür, in deiner Welt leben zu können.«
Das glaubte ich ihm aufs Wort. Ich sagte ihm, ich sei am nächsten Morgen wieder in seinem Kopf und er solle nicht eher losfahren, bis er von mir gehört habe. Mein Fahrer verkroch sich in seine Dackelhütte, während ich im Schutze einer blickdichten Duschkabine warmes Wasser zu schätzen lernte. In den Waschräumen tropfte nur ein einsamer Wasserhahn. Ich hatte ohnehin keine Lust.
Der Abend war warm. Ein Flüstern lag über dem Campingplatz. Die Menschen saßen vor ihren Zelten, Wohnwagen und Wohnmobilen und redeten. Ich gehörte nicht dazu, und das hatte diesmal nicht den Grund, dass ich ein schlechter Gesprächspartner war. Diese Einsicht gefiel mir.
Ich klaute mir eine halbvolle Flasche Wein aus einem unbewachten Eimer, der mit halbetauten Eiswürfeln gefüllt war, und setzte mich neben dem Golf ins Gras. Über mir funkelten die Sterne an einem wolkenlosen Nachthimmel. Das monotone Zirpen der Grillen schwoll an und ab. Der Wein war trocken.
Ich versuchte zu verstehen, was Florian mir erzählt und wie seine familiäre Situation auf sein Liebesleben eigewirkt hatte. Am interessantesten fand ich die Frage, die ihm der Psychologe gestellt hatte. Sie wissen doch, hatte er gefragt, was beim letzten Mal passiert ist, oder?
Vielleicht hatte er versucht, Selbstmord zu begehen oder eine Frau zu vergewaltigen.
Morgen, morgen würde ich ihn fragen, ob ihn seine Familie dazu getrieben hatte, und ob er ihr jemals verzeihen konnte.
Irgendwann war auch ich müde. Ich hoffte, er wachte nicht auf, wenn ich das Zelt öffnete, um den Schlüssel zurück in seinen Rucksack zu schmuggeln. Und insgeheim hoffte ich darauf, dass er nackt schlief und ihn der Traum von den geilen Teenagern aus den Pornos erregte, damit ich ihm bei der Entgiftung helfen konnte.
Vor uns der blaue Himmel, die Luft knatterte am Fenster und die Motorhaube des alten Golfs fraß die Mittelstreifen wie PacMan seine Punkte. Auf dem Mixtape war überraschenderweise auch ABBA.
»Gimme, gimme, gimme a man after midnight, Won't somebody help me chase the shadows away«, grölte Florian, und meine Hoffnung wuchs, dass der Schwulenporno nicht nur ein Versehen gewesen war. Von der Rückbank stimmte ich mit ein.
»Siehst du? Stimmen im Kopf können auch was Gutes haben. Wann kann man schon mal alleine zu zweit singen?«
»Wenn die Stimmen nur nicht immer anderer Meinung wären.«
»Das wäre doch langweilig. Streit ist viel interessanter, dadurch kann man sich austauschen und wachsen.«
Er schnaubte verächtlich und sang die nächste Strophe alleine. Ob er das Tape auch bei seinem letzten Ausbruch gehört hatte?
»Was ist das letzte Mal passiert, als du deine Medikamente nicht genommen hast?«
Seine Hände umklammerten das Lenkrad, bis seine Knöchel weiß wurden.
»Ich will nicht darüber reden. Lies doch meine Gedanken, wenn du es wissen willst.«
»Das können wir nicht. Wir können nur hören, was du sagst und sehen, was du siehst.«
»Quatsch. Ihr könnt es alles, aber ihr glaubt, dass ich drüber reden soll.«
»Und du glaubst nicht, dass es gut wäre, darüber zu reden?«
Schweigend starrte er durch die Windschutzscheibe. Wir wechselten besser das Thema. Er hatte mich am Morgen im Auto überrascht. Ich hatte auf der Rückbank gelegen und gepennt und war erst durch das Knallen der Tür wach geworden. Sein Zelt hatte bereits auf dem Beifahrersitz gelegen. Obwohl ich pissen musste wie ein Brauereipferd, waren wir in Richtung französische Grenze aufgebrochen.
An einer Bäckerei kurz hinter Freiburg hatte ich ihn anhalten lassen und gebeten, erst nur ein Schokocroissant zu kaufen und es zusammen mit einem Kaffee an einen nicht einsehbaren Ort zu legen, damit wir es vorher auf Giftstoffe untersuchen konnten.
Ja, hatte ich ihm versichert, Star Trek sei uns ein Begriff, wir hätten die menschliche Kultur studiert, und er könne es gerne beamen nennen, weil der Begriff, den wir dafür verwendeten, ohnehin für Menschen nicht auszusprechen sei.
Ich hatte mir Kaffee und Schokocroissant geschnappt, in mich hineingestopft und Florian, der an den Fingernägeln kauend am Auto lehnte, leise zugeflüstert, die Ware sei unbedenklich und er könne das Gleiche essen.
Schließlich hatten wir die Grenze passiert, die nur noch ein blaues Schild war. Frankreich. Der Name hatte einen besonderen Klang. Hier hatten Julian und ich das erste Mal zusammen Urlaub gemacht. Hier hatte ich gedacht, ich könnte einen Mann genauso lieben wie Philipp, nur, weil er genauso aussah.
Frankreich: Hier hatten Philipp und ich verdammt guten Sex gehabt, mit allem, was dazugehörte. Frankreich war rückblickend aber auch der Ort der Erkenntnis, dass ich nur mit dem Schwanz dachte. Die Zeit mit Julian – sie war die Weigerung, die Lehren aus meinem bisherigen Leben zu ziehen.
Ich sei nicht wie mein Vater, hatte er gesagt, ich sei Herr meiner Triebe. Und ich hatte es glauben wollen. Das Ergebnis waren durchwichste Nächte mit Pornos und Webcam, waren verweigerte Seitensprünge, verpasste Gelegenheiten und eine ruinierte Beziehung.
Niemand konnte einen Menschen umkrempeln, ohne dass die Haut Risse bekam. Florian war ein perfektes Beispiel dafür.
»But there's nothing there to see no one in sight«, sangen wir, und ich war mir sicher, dass er keine Ahnung hatte, wovon die Schweden wirklich sangen.
Wir fuhren bald von der Autobahn ab und über Land, um die Maut zu sparen. Rechts hoben und senkten sich die sanften Hügel der Vogesen, zu unserer Linken ächzten Kornfelder unter der brennenden Sonne. Gerade in Frankreich, so las ich auf einem Zeitungstitel in einer Tankstelle, an der Florian beim Bezahlen der Rechnung mit meiner Hilfe die üblichen Höflichkeiten austauschte, hatte die Hitzewelle bereits viele Tote gefordert und die Ernte ruiniert.
Florian hatte in der Schule Französisch gelernt, aber weil er nie Gelegenheit bekommen hatte, die Sprache zu benutzen, war die Pflanze verkümmert. Zusammen, so war ich mir sicher, konnten wir noch etwas retten.
Zeit hatten wir genug. Mit der Karre würden wir die spanische Grenze erst in einer Woche erreichen. Hatte Florian noch in Deutschland behauptet, er könne aus dem Golf seiner Großmutter noch 120 Sachen holen, war ich inzwischen überzeugt, dass er damit nur den Kofferraum gemeint haben konnte. Kaum fuhren wir 90, wurde der Motor so laut, dass ich um die Zylinderkopfdichtungen bangte. Mit dem Golf unterwegs zu sein, war ein wenig wie das Gegenstück zu Speed. Wir durften nicht schneller als 80 fahren, sonst würde unser Gefährt explodieren. Entschleunigungstrip für zwei Wichser.
Mit jedem Kilometer wurde Florians Französisch besser, bei jeder Bestellung und jedem Einkauf musste ich weniger Vokabeln einflüstern. Vor den Gemüseläden blieb er immer wieder stehen, nahm Gurken, Karotten oder Zucchini in die Hand, wurde rot und ging. Meine Einflüsterungen blieben erneut erfolglos. Ab und zu fragte ich ihn, was passiert sei, als er seine Medikamente nicht genommen hatte, doch er rückte nicht mit der Sprache heraus.
Ab und zu fuhren wir rechts ran, damit Florian sich aus dem Handschuhfach die literarische Vorlage für seine Entgiftungskur holen konnte, und ich machte aus Solidarität mit, voller ungestillter Gier danach, mit Zunge und Lippen dieses Vorhaben zu unterstützen
Wie wird man los, was sich über Jahre hinweg im Körper angesammelt hat? Indem man darüber nachdenkt oder handelt? Kann man einstudierte Handlungen, Zwänge und Gedankengänge, die immer um das Eine kreisen, dadurch loswerden, dass man sich ihrer bewusst wird? Oder muss man sie durch neue, gesündere Gedanken und produktivere Handlungen ersetzen?
Mittags rasteten wir in einer alten Garnisonstadt, in einem Dorf, in einer Schenke. Mal hier, mal da. In einem Bistro aß Florian einen Salat mit Croutons, frisches Baguette mit Entenleberpastete, danach ein Entrecôte mit Fritten und zum Schluss eine Crème Brûlée. Dazu ein Glas Rosé. Ich schlug mir im Auto mit einer Portion für die außerirdische Qualitätskontrolle den Bauch voll und entspannte auf einer öffentlichen Bank an der Straße. Eine Platane spendete Schatten.
Beim Zahlen (Sag: »L’addition s’il vous plaît«) starrte er der süßen Bedienung ungeniert auf den Hintern. So langsam kristallisierten sich seine Vorlieben heraus.
»Ganz nett, oder?«, flüsterte ich ihm zu.
»Nichts ist so perfekt wie das in meinem Handschuhfach.«
Was sollte ich dazu schon sagen? Auf dem Weg zum Auto kamen wir an einem Gemüseladen vorbei, und Florian stoppte bei den Zucchini, nahm eine in die Hand und schluckte trocken. Ehe ich etwas Motivierendes sagen konnte, hatte er das Gemüse fallen lassen, als habe er sich verbrannt.
Immer wieder fuhren wir rechts ran, weil Florian Lust hatte. Ich ließ ihn gewähren und genoss den Blick über die Hügel. Er blätterte durch das Heft mit den Teenagern, starrte mit offenem Mund auf die entblößten Hinterteile, auf gespreizte Pobacken und die engen Öffnungen, auf perfekte Rundungen und teilrasierte Mösen. Neben ihm lag der Schwulenporno.
»Warum Ärsche, warum anal? Warum finde ich das so geil?«
»Macht es einen Unterschied, wenn du es weißt?«
»Ist es nicht krank, so sehr darauf zu stehen, ohne ihn jemals ausgeübt zu haben?«
»Du meinst, über deine Faszination will dir dein Unterbewusstsein etwas mitteilen?«
»Habe ich meiner Mutter vielleicht zu oft auf den Hintern gestarrt? Oder bin ich schwul? Hat es etwas mit meinem Vater zu tun, oder damit, dass mir Einfühlungsvermögen fehlt? Und ich habe noch immer den Wunsch, in der Öffentlichkeit zu wichsen. Ist das auch die Schuld meiner Mutter?«
»Vielleicht suchst du auch einfach nur nach Anerkennung. Du hast zwei Möglichkeiten: Steh zu deinen Vorlieben und mach deinen Frieden damit. Viele finden Gefallen an Hintern und du wärst auch nicht der einzige Mann, der auf Männer steht. Das ist nichts Illegales. Wenn du jedoch meinst, du müsstest herausfinden, warum du diese Bedürfnisse hast, wird das noch eine lange Reise.«
»Aber wie kann ich es genießen, wenn ich weiß, dass es nur eine Übersprungshandlung ist, der Ausdruck einer tiefsitzenden Störung.«
Wie lange war er schon in Therapie, dass er so analysierte?
»Glaubst du, es wird geiler, wenn du weißt, dass du deine Mutter damals beim Duschen von hinten gesehen hast oder wie sie von deinem Vater doggystyle gefickt wurde?«
»Vielleicht würde ich dann aufhören.«
»Und auf den Spaß verzichten?«
»Du hast Recht«, sagte Florian, blätterte um und gab sich einen neuen Kick.
Wieder verlor sein Körper etwas Gift. Ich begnügte mich diesmal mit dem Blick in das Tal.
Erinnerung ist gut, Reflexion ist nötig, aber selig sind die geistig Armen, denn sie werden das Himmelreich erlangen. Zu viel Wissen belastet. Man muss auch mal das Vergangene ruhen lassen. Arschlochgedanken.
Der Erinnerung könne man nicht trauen.
So hatte sich einmal meine Mutter geäußert, als ich sie auf die Demütigen durch die anderen Jungs in meiner Schulzeit und ihren mangelnden Rückhalt nach meinem Coming-out angesprochen hatte, und mir so ihr geringes Interesse an einer Aufarbeitung der Vergangenheit zu verstehen gegeben.
Und vielleicht hatte sie sogar Recht mit dieser Ansicht. Was brachte Aufarbeitung ab einem gewissen Punkt? Reichte nicht das Wissen, dass etwas im Leben schiefgelaufen war, um sein Leben zu ändern? Niemand brauchte das Eingeständnis und erklärende Worte des Unfallgegners, um den Schaden an seinem Auto zu reparieren.
Zurück blieb nur der Hass auf den Anderen. Ein Hass, der die Freude am Fahren nahm.
»Steh zu dem, was du bist und lass dir den Spaß nicht verderben«, sagte ich, als er abspritzte. Was für ein herrlicher Anblick, dachte ich noch, bevor auch ich kam. Scheiß egal, warum ich auf Zusehen stand. Es machte Spaß.
Am Abend übernachteten wir in einem kleinen, aber luxuriösen Hotel. Ich hatte ihn dazu drängen müssen, einen großen Teil unseres Geldes dafür aufzuwenden. Ich versprach, für Nachschub zu sorgen. Das Zimmer war klimatisiert, das Auto blieb offen. Ich beneidete ihn für den Luxus. Aber nur ein bisschen. Meine Freiheit war mehr wert.
Spät in der Nacht trieb ich auf dem Rücken im hellerleuchteten Pool, sah hinauf zu den Sternen und musste an den Urlaub denken, damals mit Julian.
Unsere Trennung hatte mich halb zerstört hinterlassen wie eine Puppe, der ein Kind die Füße abgerissen hatte. Es war wie Aufwachen aus einem schönen Traum gewesen, den man noch nicht bis zum Ende geträumt hatte, ein Zimmer, das nicht fertig gestrichen war, oder, um bei Florian zu bleiben, wie ein Zaun, an dem ein paar Latten fehlten.
Finde dich damit ab, dachte ich und tauchte unter. Lass es ruhen.
Am Morgen achtete ich darauf, dass Florian seine Medikamente nahm. Ich wollte nicht riskieren, dass er zu einem sabbernden Wrack wurde und Stimmen hörte, die nur in seinem Kopf waren.
Je weiter wir gen Süden fuhren, umso heißer wurde es. Wenn wir unterwegs hielten, um den 56 Pferden Wasser zu geben, erlaubte ich mir die Suche nach einem Thermometer, das mich mit 35° Celsius im Schatten schockierte. Auf den Zeitungen standen Schlagzeilen wie Jahrhundertsommer fordert weitere Todesopfer oder Killerhitze: Asphalt schmilzt.
Ich beschloss, mich in Lloret de Mar von Florian zu trennen. Party-Hochburg, Sauf- und Ficktourismus, Teenager, die offen für alles waren – das hatte ich von Lloret de Mar gehört und es schien genau das richtige für Florian zu sein. Bis dahin musste ich ihn dazu bringen, seine Fesseln zu sprengen, seine Vorbehalte abzulegen und das Gift aus seinem Körper zu holen.
»Lass die Vergangenheit ruhen«, sagte ich ihm, wenn er wieder mit seiner Lust haderte und der Angst, das Falsche zu tun. Wenn er seine Großmutter zitierte und seinen Therapeuten.
»Ich bin pervers«, sagte er mehr als einmal, bevor er zornig die Pornos ins Auto warf.
»Bist du nicht«, tröstete ich ihn. »Du brauchst nur jemanden, der die Welt so sieht wie du.«
Florian jammerte: »Den gibt es gar nicht.«
Und ich dachte an den Darkroom und Tim. Es gab genügend Menschen, die sich durch Lust definierten, die mit dem Schwanz oder der Möse dachten. Er musste sich nur aus den Fängen seiner Großmutter befreien.
»Vertrau mir«, sagte ich dann und fühlte mich im gleichen Augenblick schlecht. Nutzte ich ihn nicht nur für meine Zwecke? Versprach ich ihm nicht doch mehr als ich halten konnte? Was, wenn in Lloret de Mar nicht die Erlösung, sondern die Enttäuschung auf ihn wartete?
Der Weg musste das Ziel sein.
Ich schickte Florian zur Entgiftung kreuz und quer durch den Osten und die Mitte Frankreichs, von der Franche-Comté, wo wir die Delikatessenläden abklapperten und ich ihn für ein halbes Vermögen die leckersten Pasteten mit oder ohne Trüffel, Käse in tausend Varianten, herzhafte Salami, Pâté de foie gras, knuspriges Baguette und teuren Rotwein kaufen ließ, die wir dann auf einem Hügel in den Ausläufern der Vogesen genossen, bevor wir gemeinsam entgifteten.
Den langen Flaschenhals betrachtete er so lange, dass ich dachte, er würde endlich auch die letzte Hemmschwelle überschreiten, doch meine ermunternden Worte verfehlten ihre Wirkung.
Die Portion für die außerirdische Qualitätskontrolle brachte er mir manchmal hinter einen Baum oder einen Busch, und meine Warnung, er dürfe nicht dabei zusehen, wie wir die Lebensmittelproben zu uns hinaufbeamten, sonst könne er blind werden, fruchteten. Kein einziges Mal entdeckte ich ihn dabei, wie er mir nachspionierte.
Jeder Tag schien heißer zu sein als der vorherige. Im Fußraum lagen bald Berge leerer Wasserflaschen. Dabei hörten wir ABBA und Barbara Streisand auf französischen Sendern.
Wir fuhren vorbei an ausgedehnte Wiesen in der Region der Ardèche, entgifteten an ausgetrockneten Flüssen, genossen die menschenleere Einsamkeit abgelegener Orte und die Romantik kleiner mittelalterlicher Stelle. Mit jedem Tag entspannte sich Florian mehr, und sein Jammern über die fehlende Zielstrebigkeit, die ihm sein Therapeut aufgezwungen hatte, wich einer lustvollen Lässigkeit. Er prüfte die Muttern an seinem Auto nicht mehr, redete kaum noch mit sich selbst und eines Abends gab er auch endlich seinem Wunsch nach, bei einem Araber ein paar gut geformte Karotten zu kaufen und sie mit feinstem Olivenöl beträufelt bei seiner Entgiftung einzusetzen.
Zu meinem Glück bemerkte er nicht, dass am nächsten Morgen eine der Karotten fehlte.
Manchmal schliefen wir unter freiem Himmel, manchmal in einem Formule 1. In der Auvergne statteten wir den Vulkankegeln einen Besuch ab, bevor ich ihn wieder nach Süden schickte, damit wir uns in einem Museum über das Biest vom Gévaudan gruseln konnten.
Keine Sehenswürdigkeit war zu klein, als dass wir sie uns nicht ansahen. Manchmal fragte Florian, wie das zu seinem Ziel passte, und ich versuchte ihm klar zu machen, dass der Weg auch mal das Ziel sein konnte.
Der Pont Du Gard stützte einen azurblauen Himmel. Florian ließ seine Kameraklicken. Amerikanische Touristinnen trugen tief ausgeschnittene Tops, ihre Freunde enge T-Shirts. Ich ließ meine Finger spielen und spürte langsam die Notwendigkeit, mal wieder richtig zu ficken.
Die Nacht mit Tim schien eine Ewigkeit her.
Bei Anbruch der Dämmerung schlugen wir unser Lager in der Nähe von Avignon irgendwo in der Pampa auf. Die Temperatur sank nachts nicht mehr unter 20°. Wir tranken Rosé, den wir zuvor zusammen mit einer Flasche Pastis bei einer Kooperative gekauft hatten.
Ich fragte ihn nach seinem Ausraster, doch Florian wich aus. Stattdessen erzählte er von einem Kindergeburtstag. Er war der einzige Junge gewesen und hatte beim Flaschendrehen die ganzen Mädchen küssen müssen. Es war ihm unangenehm gewesen, falsch vorgekommen, aber sie hatten ihn gedrängt, den Spaß mitzumachen. Am Ende hatte er begonnen, Süßigkeiten in sich hineinzustopfen, weil er dachte, dass sie ihn dann in Ruhe lassen würden.
Als seine Großmutter ihn abgeholt hatte, war ihm so schlecht gewesen, dass er die letzte Stunde auf der Toilette verbracht hatte. Immerhin hatten ihn die Mädchen dann tatsächlich in Ruhe gelassen.
Als sich die Sternbilder drehten, wollte Florian nackt herumlaufen, und unter dem funkelnden Sternenhimmel sagte ich ihm, es sei okay, niemand könne ihn hier daran hindern. Zwei nackte Jungs in einer heißen Nacht. Es war, wie es früher hätte sein sollen, damals, als ich mich noch nicht getraut hatte, meine schwulen Neigungen auszuleben.
Bevor ich Philipp kennengelernt hatte.
Seine Erektion warf einen langen, wippenden Schatten im blauen Mondlicht und hielt auch im Schlaf an, in den er betrunken fiel. Ein Umstand, den ich ganz selbstlos ausnutzte, bis er aus dem betrunkenen Halbschlaf erwachte, noch träumend die Muskeln anspannte, und ich sein süßes Gift ganz tief im Hals spürte und auf der Zunge schmeckte.
Aus sicherer Entfernung beobachtete ich das schwere Auf und Ab seiner verschwitzten Brust und den Schreck auf seinem Gesicht. Sein Schwanz stand noch immer, und kein unsichtbarer Speichel war darauf zu erkennen.
»Wir mussten eine Probe nehmen«, versicherte ich ihm, mir über das Kinn wischend, bevor er wieder einschlief. Später nahm ich die Schlüssel aus dem Zündschloss, packte die Decke unter den Arm und legte mich ein paar Meter vom Auto entfernt unter eine Kiefer.
Ich träumte von Julian und dem Darkroom, kehrte wieder einmal in die Schule zurück und als ich früh am Morgen aufwachte, weil mich die Ameisen bissen und die Kiefernnadeln piksten, war die Angst vor dem, was war, größer als vor dem, was kam.
Freiheit ist die Abwesenheit von Zukunft und der Abschied von der Vergangenheit.
Ich legte mir die Decke über die Augen und schlief noch einmal ein. Erst lautes Fluchen weckte mich. Wie ein Amerikaner, der von der Highway-Police gebeten wurde, sich zur Leibesvisite an sein Auto zu lehnen, krallte sich Florian in das Autodach und stierte auf das leere Zündschloss.
»Die Autoschlüssel sind weg. Sie haben mich beobachtet, die Agenten, sie wollen nicht, dass ich weiterfahre.«
Ich führte ihn zur Decke und dem Schlüssel.
»Du warst betrunken und hast die Sachen aus dem Auto geworfen.«
»Aber was ist mit den Spuren?«, zischte er und zeigte auf die Abdrücke, die meine nackten Füße im Sand auf der Fahrerseite hinterlassen hatten. Mir wurde etwas mulmig zumute.
»Die sind von dir.«
Er stellte seinen Fuß in die Umrisse, die meiner hinterlassen hatte. Wir hatten beide Größe 43. Das beruhigte mich, ihn jedoch nur halb. Sofort rannte er wieder um das Auto und überprüfte die Radmuttern. Es wurde Zeit für sein Medikament.
Endlich zuckelten wir weiter, immer wieder am Straßenrand haltend und die Pornos aus dem Handschuhfach betrachtend, dem Mittelmeer entgegen, und Florian drehte weiterhin immer erst eine Runde um das Auto und ich erwischte ihn nur einmal, wie er auf die Radmuttern schielte, bevor wir wieder losfuhren, als unser Plan eine Änderung erfuhr.
Florian stellte das Auto auf einem von Bäumen gesäumten Markplatz ab und stieg aus, um einen Parkschein zu lösen. Die Tür ließ er wie von mir verlangt offen.
Ich kletterte in die glühende Luft und latschte in eine alte Tomate, die vom Markt des Vormittags übriggeblieben war. Stände wurden abgebaut. Eine Bühne stand verlassen in der Mitte des Platzes. Auf dem Boden lag ein Flyer. Alternative-Chanson-Festival. Das war gestern gewesen.
Mein Fluchen ging im Hupen eines Citroens unter, der vor einer Brasserie stand. Pernot-Reklame, grüne Markise, die geflochtenen Stühle hinter den silberglänzenden Tischen zur Straße gedreht, ein Kellner mit weißer Schürze.
Frankreich. Ich hatte es vermisst. Schade, dass ich den Moment nicht genießen konnte. Jetzt mit einem Pastis auf Eis und einem Espresso die Menschen beobachten, oder selbst ein Steak/Frites essen, dazu ein Demi Rosé trinken und den Abend hereinbrechen lassen, bis die Lichter angingen und die Musik begann.
Ich seufzte und suchte nach der Leuchtreklame einer Bank.
In der Einkaufsstraße stand die Luft und ich verbrannte mir auf dem schwarzen Asphalt beinahe die Sohlen. Direkt neben einem Quick-Schnellrestaurant sah ich drei grüne Buchstaben: BNP. Die konnten den Verlust von ein paar Hundert Euro verschmerzen. Hoffentlich musste ich nicht klingeln, um hereingelassen werden, so wie in den Filialen in Paris. Meine Hoffnung wurde jäh zerstört, als ich die Schleuse sah. Hier auf dem Land waren Misstrauen und Fortschritt ebenfalls angekommen.
Warten, dass jemand in die Bank wollte, mich in die Schleuse klemmen, am Wachmann vorbei, einen Zusammenstoß mit dem Kunden verhindern, ohne zu wissen, ob ich in der Bank überhaupt an Geld kam – das war mir alles zu riskant und aufwändig.
Einen Moment lang zog ich McDonald’s in Betracht, doch mir war klar, dass für einen Diebstahl entweder derjenige die Verantwortung übernehmen müsste, der die Kasse führte, oder der Teamleiter, der das Geld zählte. Am Ende gab es keinen Diebstahl in dieser Größenordnung, der nicht die Kleinen traf. Erst wenn ich offiziell eine Bank überfiel und die Versicherung einsprang, könnte ich die Verantwortung auf die große Masse abwälzen.
Vielleicht wäre ich wieder zurück zu Florian gegangen und hätte ihn vertröstet und ihm gesagt, das Geld müsse reichen, wir hätten technische Probleme, wenn nicht in diesem Moment ein dicker Mercedes die schmale Straße hochgerast wäre.
Er stoppte im Halteverbot mitten auf der schmalen Straße. Die Fahrertür öffnete sich, stampfende Musik dröhnte, und ein attraktivr Mann Anfang Dreißig in einem gut sitzenden Anzug, aber mit geschmackloser Sonnenbrille und zu viel Gel in den Haaren stieg heraus. In der Zwischenzeit rollte ein Transporter hinter den Mercedes.
Der Mann ließ die Tür offen und ging provokant langsam mit wiegenden Schritten zum Geldautomaten links vom Eingang. Seine Schultern schob er übertrieben lässig vor und zurück. In seinem Mundwinkel steckte eine Zigarette, die, auf halbem Weg ausgeraucht, achtlos auf dem Boden landete. Er machte sich nicht einmal die Mühe, sie auszutreten.
Er nahm die Brille ab, steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes und zog eine Kreditkarte aus der Hosentasche. Der Transporterfahrer hupte. Keine Reaktion. Eine alte Frau blieb kopfschüttelnd stehen und zog dann mit ihrem Hackenporsche weiter.
Der Automat schluckte das Plastik. Ich sah dem Mann über die Schulter und merkte mir fast unwillkürlich die vier Zahlen seines Pin-Codes. Ein perfektes Opfer. Ich war so gefangen in meiner Sichtweise, dass ich dem Typen nichts anderes zutraute, als dass er sein Geld auf illegale, zumindest jedoch unmoralische Weise verdiente. Die Maschine ratterte, die Karte wurde ausgeworfen und verschwand in der linken Hosentasche. Der Fahrer des Transporters hupte länger. Im Mercedes wurde jemand auf dem Beifahrersitz unruhig. Der Mann steckte das Geld in die andere Hosentasche, und gerade als er auf der Stelle umdrehte, waren meine Finger an seiner Kreditkarte. Er drehte sich weg, die Karte rutschte heraus, schwebte zum Automaten zurück.
Die Aufregung raubte mir den Atem.
Inzwischen standen drei Autos im Stau und hupten. Der Typ blieb plötzlich stehen. Ich drückte die Karte in Bauchhöhe gegen die Metallabdeckung des Automaten, bereit, sie fallen zu lassen. Langsam nahm er seine Sonnenbrille aus der Brusttasche und setzte sie wieder auf. Mit den gleichen, betont coolen Bewegungen schlenderte er zurück zu seinem Mercedes. Bevor er einstieg, machte er eine provokante Kopfbewegung zum Transporterfahrer.
Mit schweißnassen Fingern schob ich die Karte in den Geldautomaten. Der Typ ließ die Reifen quietschen. Pincode. Maximaler Betrag. Der Automat stellte die Verbindung zur Bank her. Hoffentlich hatte der Typ sein Limit noch nicht erreicht. Rattern. Die Karte kam heraus. Nein, ich wollte keinen Beleg, nur die Kohle. 1000 Euro. Der Stau löste sich auf.
Gleich noch einmal. Diesmal bekam ich nur noch 500 Euro. Das reichte. Ich steckte die Karte noch einmal hinein. Vermutlich zog der Automat sie von alleine nach 30 Sekunden Inaktivität ein.
Ich rollte das Geld zusammen und machte mich aus dem Staub.
Jetzt mussten wir bis zum Ende der Fahrt nicht mehr auf den Cent gucken.
Das Geldröllchen ließ ich über dem Boden schweben. In gebückter Haltung und ohne besondere Vorkommnisse, jedoch mit leichten Rückenschmerzen, erreichte ich den Marktplatz. Das Auto stand noch an seinem Platz, und auch Florian hatte sich nicht wegbewegt.
Er saß auf einer Parkbank. Doch in die Erleichterung mischte sich eine große Überraschung. Neben ihm saß eine Frau, die ungefähr, wie ich beim Näherkommen feststellte, Anfang zwanzig war. Sie trug ein schwarzes T-Shirt über einer weiten, bis zu den Knien hochgekrempelten Jeans. Bunte Perlen waren in ihre kurzen schwarzen Haare geflochten und ihr rechtes Nasenloch war gepierct. Auf dem Schoß ein Beutel aus buntem Stoff, neben ihr ein großer Rucksack.
Man konnte ihn aber auch keine Sekunde alleine lassen. Ich wusste nicht, ob ich begeistert oder entsetzt sein sollte.
Nach einem Umweg über das Auto, wo ich das Geldröllchen zwischen Windschutzscheibe und Motorhaube schob, schlich ich mich von der Seite an die beiden heran und lauschte. Florian wirkte angespannt.
»… das glaubt man echt nicht. Ich meine, das war ein Chanson-Musikfestival. Wer kann sich denn darüber aufregen, dass die nur Französisch singen?«, sagte sie und schlug die Hände in den Schoß.
»Und jetzt? Wolltet ihr wieder nach Hause?«
»Nein, wir wollten eigentlich weiter nach Süden. Eine Freundin treffen.« Sie zog einen Zettel aus der Hosentasche. »Irgendwo am Cap d’Agde soll es an einer Flussmündung einen Leuchtturm geben, auf der anderen Seite einen endlosen Strand, an dem morgen Abend eine legendäre Party abgeht. Aber das wird jetzt knapp.«
»Und mit der Bahn?«
»Naja, nur sehr umständlich, aber irgendwie kommt man da schon hin, notfalls per Anhalter. Ob ich das noch rechtzeitig schaffe bis morgen Abend? Und ich habe auch gar kein Geld dafür eingeplant. Wir wollten uns ja das Benzin teilen, ich meine, zu zweit…«
»Wenn du willst, kann ich dir Geld für ein Bahnticket leihen. Du kannst es mir überweisen, wenn du wieder zuhause bist.«
Es überraschte mich, wie spendabel er mit meinem mühsam geklauten Geld umging. Aber warum fragte er nicht, ob sie einstieg? Sie hatte ein niedliches Gesicht. Es konnte lustig mit ihr werden.
Die junge Dame wehrte erschrocken ab. »Ich wollte dich jetzt nicht anschnorren.«
»Schon okay.« Florian stand auf. »Warte kurz.«
Er griff in die Hosentasche. Der Autoschlüssel klimperte. Ich folgte ihm zum Wagen und fragte außer Hörweite: »Was ist passiert?«
»Chris hat sie nach einem Streit sitzengelassen.«
»Wer ist Chris?«
»Keine Ahnung.«
»Und? Willst du sie mitnehmen?«
»Mit ihr kann ich das Gift nicht loswerden.«
»Mal unter uns - du kannst auch ficken. Der Effekt ist der gleiche.«
»Ich weiß nicht, sie ist irgendwie nicht, ich meine, sie ist nicht, wie ich sie mir vorgestellt habe, weißt du? Ich meine, ihre Beine und der Hintern, die passen irgendwie nicht zusammen. Und hast du diesen Leberfleck auf der Oberlippe gesehen? Und dann das Piercing.«
Ich verstand, was er meinte, doch was sollte ich ihm sagen? Dass es Perfektion nicht gab? Ich war kein guter Rat in diesen Dingen. Ich konnte mich mit einer Abweichung von meinem Ideal auch nur schlecht abfinden.
»Und außerdem, die steht bestimmt nicht auf das, was ich will, ich will ihr ins Gesicht, ich meine, und auf die, die Dings, und in den Mund, wie in den Heften.«
»Woher weißt du, dass sie das nicht will?«
Weil Frauen nur in den Pornos auf so etwas standen, ich konnte mir die Antwort selber geben.
Florian seufzte.
»Los, nimm sie mit. Das könnte lustig werden. Du kannst nicht ewig alleine bleiben.«
»Sollten wir nicht unerkannt bleiben?«
»Es ist besser, diese Tarnung zu nutzen. Zu zweit fallt ihr weniger auf.«
»Die steht bestimmt auf Frauen oder ist total verklemmt.«
Das sagte der Richtige.
»Morgen sind wir am Mittelmeer, dann kannst du sie wieder loswerden, falls es nicht klappt. Ich habe dir übrigens noch etwas Geld organisiert. Das reicht auch für uns … euch zwei.«
»Und wenn sie mir nicht glaubt, dass ich vergiftet bin? Mich für bekloppt hält?«
Ich bat ihn, nichts von den Pornos und vom Wichsen zu erzählen und sagte ihm dann, wo er das Geld fände. Er zählte ungläubig die Scheine, schluckte, steckte sie ein und ging zurück zu ihr.
»Wenn du Lust hast, kann ich dich ein Stück mitnehmen. Ich bin auf dem Weg nach Spanien.«
Sie zeigte auf den Golf. »Damit?«
»Ich habe zwar keine Airbags, aber ich fahre auch nur 80.«
»Und damit schaffen wir es bis morgen Abend?«
»Okay, vielleicht 90.«
Ihr Lachen war sehr charmant. Sie hieß Anna und schien zu überlegen, ob sie sich auf diesen Trip einlassen konnte. Da hatte sie etwas mit Florian gemeinsam, denn auch ihm war deutlich anzusehen, wie schwer es ihm fiel, seine neugewonnene Freiheit für eine weibliche Begleitung aufzugeben, die er seine Großmutter nicht vorstellen konnte.
Schließlich bedankte sie sich für das Angebot und bat darum, vorher noch einmal telefonieren zu dürfen. Ich sagte Florian, er solle am Auto warten und folgte ihr.
Am Rand des Marktplatzes stand ein öffentlicher Fernsprecher auf einem Metallpfosten, ganz ohne Kabine. Anna wühlte in ihrem Beutel nach Münzen. Eine kleine Sprayflasche blitzte auf, und ich konnte die Aufschrift lesen. CS-Gas. So ganz naiv war sie also nicht. Das gefiel mir. Anhand der Nummer erkannte ich, dass sie in Frankreich anrief. Sie hatte einen netten Hintern und die Beine waren wirklich etwas knubbelig und die Hüften nicht an der richtigen Stelle rund. Aber das machte alles nichts, wenn man entgiften musste.
»Ich bin‘s, Anna…«, sagte sie nach einem kurzen Augenblick auf Französisch. »In Frankreich. Ja, noch nicht… die Party ist doch erst morgen, oder? …. Ja, das ist das Problem, Chris hat mich sitzen lassen… Wir haben gestritten. Okay, ich hab gleich kein Geld mehr. Ich fahr mit einem Typen weiter. Der ist ganz nett, ein bisschen doof, aber harmlos. Schreib dir mal das Kennzeichen auf, falls… ist okay, nein, schreib es bitte auf.«
Rasch diktierte sie der Person am anderen Ende der Leitung das Kennzeichen von Florians Wagen, warf noch hinterher, sie melde sich, brach mitten im Satz ab und hängte den Hörer in die Gabel.
Ihr Piercing wackelte, als sie nach einem Blick zum Auto die Nase rümpfte, Rucksack und Beutel schnappte und zum Auto ging. Florian hatte die Türen bereits geöffnet. Ich glitt auf die Rückbank und wartete darauf, dass Anna einstieg. Sie hielt ihren Beutel umklammert, als stecke er voller amerikanischer Schuldverschreibungen.
»Du hast mir gar nicht gesagt, wohin du fährst. Vielleicht haben wir ja das gleiche Ziel?«
Florian fuhr sich mit der Hand fahrig durch das Haar. Sein Blick flackerte. »Ich, ich glaube nicht… Weil, ich, also, das ist kompliziert.«
Anna musterte ihn, als habe er gerade ein Ei auf seinem Kopf zerschlagen und dabei wie ein Huhn gegackert. Befremdet, aber nicht besorgt. Hoffentlich vergeigte Florian das jetzt nicht.
»Na, dann los«, sagte sie, klappte den Beifahrersitz vor, und ehe ich in Panik geraten konnte, flog ihr Rucksack neben mir auf die Rückbank. Er verfehlte mich nur um wenige Zentimeter. Der Sitz klappte wieder zurück und sie stieg ein.
Ich war mir auf einmal nicht mehr sicher, ob mir damit nicht selbst ein Bein gestellt hatte.
Die Luft im Auto war stickig. Hinter der Blende die erbarmungslose Sonne. Anna kurbelte das Fenster runter. Jetzt donnerte der heiße Wind. Florian drehte die Musik lauter.
»Hast du nur Achtziger?«
»Nein«, schrie Florian über das Knattern. »Auch Neunziger.«
»Können wir mal was Anders hören?«, rief Anna und wühlte durch die Kassetten in der Beifahrertür. Die Hüllen flogen. »ABBA? Du hörst ABBA?«
»Ich hör alles.«
Von der Rückbank konnte ich ihren Kopf nur im Profil sehen, aber die heruntergezogenen Mundwinkel entgingen mir nicht. Ihre Hand streckte sich nach dem Handschuhfach.
»Nicht«, rief Florian noch rechtzeitig. Der Wagen schlingerte.
Anna hielt in der Bewegung inne. »Was ist da drin? Barbra Streisand?«
Ein Königreich für eine Idee. Florian hatte eine.
»Meine, die, eine tote Katze, die habe ich vorhin überfahren. Lass das bitte zu.«
»Du verarscht mich.«
Blöde Idee. Handschuhfach. Was war im Handschuhfach außer Pornos? Zu viel. Genau. Zu viel. Ich beugte mich vor und flüsterte in sein Ohr. Florian verstand schnell.
»Ich hab das Fach mit Mühe zugekriegt. Wenn du es aufmachst, kommt das ganze Geraffel raus. Eiskratzer, Wischtücher, Öl, Glühbirnen…«
Wir zählten alles auf, was uns zum Thema Auto einfiel, als wären wir bei Dalli Dalli.
Anna zog die Hand zurück, zuckte mit den Schultern. Ihre Titten unter dem engen T-Shirt wippten.
Der Wagen dröhnte im Tempo 80 über den glühenden Asphalt, Anna griff in ihren Beutel, der wie ein totes Tier im Fußraum lag, und holte eine Flasche Wasser heraus. Und dann begann die Kabbelei um Musik, das Fenster, riskante Überholmanöver und Florians Hantieren an der Gangschaltung, das sie offensichtlich ganz seltsam fand.
Ich dachte derweil an meinen Vater, der irgendwo in Südfrankreich in seiner Kommune wohnte und nach meiner Beerdigung bestimmt sofort wieder zurückgereist war. Ob er mich vermisste? So wie er mich die ganzen letzten Jahre vermisst hatte. Die Sehnsucht nach mir hatten Telefongespräche stillen können, in denen er mir von seinem Leben erzählte.
Nur so hatte er Nähe herstellen können, weil er sie mit einem schnellen Handgriff, wenn sie ihm zu unbequem erschien, wieder beenden konnte. Einfach auflegen. Sohn weg, Widerspruch weg.
Warum sollte ich meinen Vater besuchen? Um ihn zu sehen? Der Besuch wäre so oberflächlich wie ein Telefonat. Auf Distanz. Er konnte mir jetzt ohnehin nicht mehr helfen.
Während wir durch die trockene Landschaft fuhren, stritten sich Anna und Florian über die Bedeutung von INXS für die Geschichte der Popmusik stritten und ob Michael Hutchence sich bei Sexspielchen aus Versehen oder mit Absicht getötet hatte. Alanis Morissette erhielt anschließend von Anna Unterstützung bei ihrem Klagelied über ihren verflossenen Lover, die Betonung lag auf when you fuck her. Wer hatte sie sitzen gelassen? Chris. Christian.
»Bei den meisten Typen geht es immer nur ums Penetrieren", schimpfte sie. »Die wissen gar nicht, wie das ist.«
Als sie lauthals Melissa Etheridge mitsang, wusste ich Bescheid. Like the way I do. Frauen unter sich. Chris steckte in Christine. Anna war lesbisch. Mist. Die Pornos im Handschuhfach zu verstecken, war eine gute Idee gewesen. Florian schien der gleichen Meinung zu sein.
»Ich hab auch noch mehr von Abba.«
Anna winkte ab. »Vollkommen überschätzt. Nur der Hype durch das Gold-Album ist Schuld, dass die noch gehört werden. Sonst würden die noch nur von Hardcore-Fans verehrt, so wie die Doors.«
»Und warum sollte jemand ein Musical daraus machen? Das weltweit erfolgreich ist? Und demnächst soll sogar ein Film aus dem Musical gemacht werden. Doch nur, weil die Lieder immer noch gut sind.«
»Das hat doch nichts mit den Liedern zu tun, Waterloo ist doch nicht zeitlos. Das ist noch staubiger als ein alter James-Bond-Film. Dahinter steckt nur eine gut geölte Erinnerungsmaschinerie, die den ganzen Kram am Leben hält.«
Ich klinkte mich aus. Auf der Rückbank, im heißen Muff, der aus dem staubigen Polster kroch, träumte ich von meinem Vater, versuchte, mich an die Momente zu erinnern, in denen er die Hand eines kleinen Jungen genommen hatte, um mit ihm durch den Wald zu laufen und Pilze zu sammeln. In denen er einem kleinen Jungen ein YPS-Heft von der Arbeit mitgebracht hatte, dem ein Bausatz für ein Flaschenschiff beigelegt gewesen war.
Den Momenten, in denen er mit einem Schuljungen Vokabeln gelernt hatte. Dachte an den Moment, in dem der kleine Junge zwei Steinpilze mit seinen Gummistiefeln zertreten hatte. Die Sekunde, in dem ihm ein wichtiges Teil des Bausatzes zerbrochen war. Den Augenblick, in der er sich nicht an diese verschissenen Vokabeln erinnern konnte.
Aus den weichen Händen wurden harte Hände, und Worte wurden nicht mehr sanft wiederholt, sondern geschrien. Väterliche Ungeduld manifestierte sich in pulsierenden Ohren und einem Stein im Bauch. Tröstende Hände einer Mutter hätten vielleicht geholfen. Schuld sind immer die anderen. Und ein angeknackstes Selbstbewusstsein kann nie geschient werden.
Anna fragte nach einer Karte, und als Florian zugab, er habe keine, sein Ziel läge im Süden, schimpfte sie auf Männer, die sich lieber verfuhren, als nach dem Weg zu fragen. Das fand ich unfair, da wir uns bislang weder verfahren, noch den Vorschlag abgelehnt hatten, im Zweifelsfall das Fenster herunterzukurbeln und um Rat zu fragen.
»Das ist so typisch Mann«, sagte sie und fächelte sich Luft zu. Florian umklammerte das Lenkrad wie einen Rettungsring. »Und wie willst du zu deinem Treffen kommen? Hast du die Strecke im Kopf?«
»Um ehrlich zu sein – ja.« Sie kniff misstrauisch die Augen zusammen.
»Und wie wollen wir diesen Strand finden?«
»Hast du nicht gesagt, es sei in der Nähe von Montpellier?«
Anna machte einen Schmollmund. Florian zog die Schultern hoch, als wolle er wie eine Schildkröte seinen Kopf einziehen. »Wir können ja an der nächsten Tankstelle eine kaufen.«
»Ich muss eh mal pullern.«
Ich beugte mich vor und flüsterte in sein Ohr: »Und kauf was zu trinken.«
Er räusperte sich. »Ich kauf auch noch was zu trinken.«
»Oh, da denkt jemand mit.«
Florian lachte unsicher. Jetzt nur kein falsches Wort.
Nicht lange drauf erreichten wir die nächste Ortschaft und die erhoffte Tankstelle. Ich hatte um ehrlich zu sein tatsächlich auch keine Ahnung, wo wir waren, aber ich musste das nicht zugeben.
Unter dem Dach staute sich die Hitze. Gefühlte 40 Grad. Die Häuser auf der anderen Straßenseite ächzten in ihrer schlecht isolierten Hülle aus verblichenen Natursteinen. Jetzt fehlte nur noch ein hechelnder Hund. Mir lief der Schweiß den Körper hinab. Nackt sein bei dieser Hitze – welch Privileg.
Florian griff nach der Zapfpistole, Anna schnappte ihren Beutel und verschwand in Richtung Toiletten. Darauf stand ich eigentlich nicht, aber ich wollte mehr über sie erfahren. War sie rasiert? Hatte sie ihre Tage und war deshalb so gereizt?
Die Gästetoiletten waren verschlossen. An der Kasse holte sie den Schlüssel. Ihr Französisch war besser als meins. Dafür musste sie eine Sportfelge schleppen, an der ein kleiner Sicherheitsschlüssel hing. Sie hatte es eilig.
Die Toilette war sauber. Im Vorraum ein Waschbecken, das Klo hinter einer separaten Tür. Sie war zu schnell in der Kabine. Das Sichtfenster über dem Griff aus vergilbtem Plastik wechselte zu rot.
Gleich darauf raschelte Kleidung, die Dinge in ihrem Beutel klapperten. Sekunden später ein erleichtertes Seufzen. Ich wartete nicht auf das Plätschern. Der Wasserhahn entließ leise kostbares Nass. Ich trank, bis mein Bauch kalt wurde. Kurz bevor ich die Tür nach draußen öffnete, drang gepresstes Stöhnen aus der Kabine. Das auch noch.
Rasch verließ ich die Toilette. Draußen stand die Luft.
Florian wartete an der Kasse, ich schlich zurück ins Auto.
Wir wurden bereits ungeduldig, als Anna endlich die Beifahrertür aufriss. Sie schien sehr erleichtert.
»Danke, dass du gewartet hast«, sagte sie. »Ich musste…« Keine Details, dachte ich. Die Sonne versank hinter den Dächern. Wir waren irgendwo in der Nähe von Nimes. Keine Chance, jetzt noch zum Strand zu kommen, an dem Anna abgesetzt werden wollte. Es wurde Zeit, etwas zu essen und über die Nacht zu sprechen.
Wir hielten in einer kleinen Stadt am Fuße eines kleinen Hügels, auf dem ein altes Schloss thronte, um in einem Restaurant in der Fußgängerzone zu essen. Auf dem Bürgersteig standen vollbesetzte Tische. Es wurde geraucht und gelacht und genossen. Der Kellner trug seine weiße Schürze um die Hüften. Die Speisekarte stand auf einer großen Tafel. Tagesgerichte waren Quiche und Lammkarrées. Ich flüsterte Florian meine Bestellung ins Ohr
Während der Kellner etwas auf einen Zettel kritzelte, verschränkte Anna die Arme vor der Brust.
»Erwartest du noch jemanden?«
»Was?«
»Ich meine, das Essen, die zweite Portion. Erwartest du noch einen Freund?«
»Nein, das habe ich für…«
Um Himmels Willen. Anna legte den Kopf schief. »Du wolltest doch nicht etwa für mich mitbestellen, oder?«
Florian lächelte verlegen. Zicke. Lesbische Zicke.
Ich flüsterte ihm ins Ohr, dass er diesmal auf den Test verzichten könne. Das Restaurant sei zu abgelegen, um gefährdet zu sein. Er stornierte die zweite Portion Lammkarrées. Die Bedienung hob nur die Augenbrauen. Anna entschied sich für die Quiche und ein Glas Wein. Florian blieb beim Wasser, das der Kellner in einer großen Karaffe lieferte. Vermutlich hielt er ihn für einen Geizhals.
Der Aufenthalt machte mir keinen Spaß. Immer wieder musste ich anderen Gästen ausweichen. Ich versuchte, in der Küche etwas zum Essen zu organisieren, aber ich scheiterte. Zum ersten Mal ergab sich keine Gelegenheit zum Mundraub. Die Küche war eine Sackgasse und der Koch ließ sein Essen nicht eine Sekunde aus den Augen.
Verzweifelt und hungrig kehrte ich auf die Straße zurück. Der Himmel war blass geworden, die oberen Stockwerke des Bistros erstrahlten in der Sonne. Die Hitze war einer angenehmen Wärme gewichen. Doch ich wurde im Trubel unruhig. Zu viele Menschen, zu viele blank polierte Schuhe, die auf meine Zehen treten konnten.
Die beiden unterhielten sich recht zaghaft. Über das Wetter. Über die Musik auf dem Festival, das Anna besucht hatte. Über Florian und seine Karre.
Florian war während des Gesprächs sehr zurückhaltend, und Anna beäugte ihn misstrauisch. Ob sie sich fragte, woher er das Geld hatte, sie einzuladen? Oder was er alleine mit dem Auto in Südfrankreich machte? Und ob sich Florian fragte, warum Chris sie hatte sitzen lassen?
Doch als ich Anna und Florian so sitzen sah und bei ihrer unbeholfenen Konversation beobachtete, fühlte ich mich ausgeschlossen. Die Welt der Sichtbaren war so unerreichbar für mich wie das Stoffliche für einen Geist. Kein Teil des Ganzen, und am schlimmsten war, dass mich niemand vermisste.
Irgendwann hatten die beiden auch ihr Essen beendet und ich beschloss, uns ein Quartier für die Nacht zu besorgen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah ich einen Wegweiser zu einem 4-Sterne-Hotel der Gruppe Relais & Chateaux. Die hatten bestimmt einen Pool und einen Parkplatz, auf dem mich niemand schnarchen hörte.
»Frag sie, ob sie eine Idee für die Nacht hat«, flüsterte ich. Florian erschrak. Das Wasser in seinem Glas schlug Wellen.
»Heute kommen wir nicht mehr zu deinem Strand.«
»Ich weiß, das hast du schon gesagt. Pennst du in deinem Auto?«
»Nee, wir… ich… ich würde in einem Hotel übernachten.«
Anna nahm einen Schluck Wein. Jetzt würde sich zeigen, ob sie eine Schnorrerin und nur auf sein Geld aus war. Ihr Lächeln war eine Spur zu niedlich.
»Ich kann nicht zufällig in deinem Auto schlafen?«
Schon besetzt, dachte ich. Aber ich hatte einen anderen Vorschlag.
Das Schloss erhob sich über der Stadt. Bestimmt hatte hier im 18. Jahrhundert ein aristokratischer Tyrann, der mit der Zucht von Seidenraupen ein Vermögen gemacht hatte, bis zur Revolution seine Orgien gefeiert. Flankiert von runden, mittelalterlichen Türmen erhob sich die aus der Renaissance stammende Fassade über drei Etagen. Hier hatte sich anscheinend im Laufe der Jahrhunderte jeder Besitzer ausgetobt. Links und rechts von der breiten Tür hingen Fackeln. Die Plakette mit den vier Sternen funkelte golden in der untergehenden Sonne.
»Ich dachte, du redest von einem Formule 1. Bist du Millionär, oder was?«
»Nein, aber ich… ich habe reiche Freunde, also, die wollen, dass ich mir mal was gönne.«
»Kannst du dir vorstellen, was so eine Übernachtung kostet?«
»Nein, du?«
Anna schüttelte den Kopf. Unter unseren Füßen knirschte der Kies. Es roch nach Orangen und Buchsbäumen. Die Zikaden lärmten. Mein Magen knurrte. Blöde Kuh. Sie hatte mir das Abendbrot versaut. Zur Strafe hätte sie eigentlich wirklich auf die Rückbank gemusst.
»Du bist bekloppt.«
»Wie gesagt, wir können auch zelten oder du kannst im Auto schlafen.«
Anna legte den Kopf schief und sah zu Florian hinüber. »Nä.«
Der Mann an der Rezeption musterte die beiden, als seien sie zwei Außerirdische. Sein Englisch hatte eine sehr arrogante Färbung wie die der Franzosen in den amerikanischen Filmen. Selbst als Anna versuchte, die Unterhaltung auf Französisch zu führen, blieb der Empfangsmitarbeiter bei seinem Englisch.
»Die Übernachtung kostet 250 Euro pro Nacht im Deluxe-Zimmer.«
Florian schluckte trocken. »Wir nehmen zwei.«
Anna stieß ihn in die Seite. »Quatsch, eins reicht.«
Florian wurde rot. Der Hotelmitarbeiter hob die Augenbrauen.
»Wir haben ohnehin nur noch ein Zimmer. Oder die Suite.«
»Das Zimmer reicht«, sagte Anna und sah sich um. Im mannshohen Kamin hatte man zum Glück auf ein Feuer verzichtet, aber auch so beeindruckte die Lobby durch ihre Größe. Schwere Polstersessel mit roten Bezügen auf dicken Teppichen. Über uns erstreckte sich ein Rippengewölbe, das in Halbsäulen auslief. Von der Decke hing ein geschmiedeter Kerzenhalter. Von der Wand protzten Ölgemälde. Leise klassische Musik.
Und in diesem Moment war ich nicht mehr so sicher, ob Anna nicht doch auf Männer stand. Vielleicht war Chris ein Christian gewesen und sie hörte einfach nur gerne Melissa Etheridge. Aber mit ihren kurzen Haaren und dem burschikosen Äußeren sah sie doch, oder nicht? Diese Unsicherheit kratzte an meiner Hirnrinde wie ein Hund an einer Zwingertür. Lesbisch, nicht lesbisch, feindselig, friedlich, prüde, geil. Ganz sicher war ich nur in einem: Sie war eine Schnorrerin, die alles mitnahm, was sich ihr bot. Florian musste auf Schlüssel und Geld aufpassen.
Der Angestellte reichte das Anmeldeformular über den Empfangstresen. Florian trug sich ein, zeigte seinen Personalausweis. Kaum zu übersehen interessierte sich Anna für die Details auf dem Stück Plastik. Falls sie ihn identifizieren musste. Nach einem nächtlichen Übergriff.
Für den Wunsch, das Zimmer bar im Voraus zu bezahlen, erntete Florian geringschätzige Blicke. Ich flüsterte ihm zu, er solle mit seiner ungedeckten Kreditkarte für eventuelle Ausgaben garantieren und am nächsten Morgen bar zahlen. Der Schüssel hatte einen Magnetstreifen. Hilfe beim Hochtragen des Gepäcks lehnten sie ab.
Der Weg führte eine breite Freitreppe hinauf in den ersten Stock, über roten Teppich in engen Gängen, links, wieder rechts. In Nischen lauerten Ritterrüstungen, und Milchglasleuchten, die wie Kerzen flackerten, klammerten sich an die Wände aus Naturstein.
»Sag mal, was ist denn das für ein Tick mit dem Auto?«
»Was?«
»Bevor wir einsteigen, drehst du immer erst zwei Runden um deine Karre. Kontrollierst du etwa die Radmuttern?«
Florian lachte verkrampft auf. »Nee, Quatsch, ich… Ich lass nur die schlechte Luft aus dem Auto, du weißt doch, die Ausdünstungen des Plastiks im Auto sind giftig…«
Ich schlug mir vor den Kopf. Anna umklammerte ihren Beutel.
»Sagt wer?«
Jetzt kein falsches Wort, Florian, sag jetzt bitte nichts.
Zum Glück erreichten sie das Zimmer. Die Schlüsselkarte im Schlitz über der Türklinke war ein Kontrapunkt zum Gespensterschloss. Im Zimmer war es kühl. Das Licht flackerte. Irgendein Louis hatte für die Stühle Pate gestanden. Über das einzige Bett im Raum spannte sich ein Baldachin, ein bodentiefes Fenster führte zu einem Balkon, links ging es ins Bad, in dem eine freistehende Badewanne ihre gusseisernen Füße in schwarzweiße Fliesen krallte.
Der Sonnenuntergang über der Carmargue war traumhaft.
Florians Rucksack landete auf dem Bett. Wieder fuhr er sich fahrig durch die Haare.
»Naja, das ist kompliziert, ich, weißt du, kennst du das Gefühl, dass dich jemand von ganz oben beobachtet, weil du auserwählt …«
Nein! Nicht. Ich stellte mich hinter ihn und flüsterte ihm ins Ohr: »Das ist eine Information, die du für dich behalten solltest.«
Beinahe erschrocken richtet sich Florian auf. »Ah, stimmt, sorry.«
Anna verharrte in der Bewegung. »Mit wem redest du?«
»Ich, mit, also, niemand, manchmal rede ich mit mir selbst«, stammelte Florian.
»Du bist aber nicht so ein religiöser Spinner, der hier einem Gott seine Opfer bringt.«
»Ich, äh, ich kann dir das erklären, später.«
Ich brachte meine Lippen ganz nah an sein Ohr. »Sag ihr, du hättest früher in einem Callcenter gejobbt und würdest seitdem Stimmen hören.«
»Das ist eine Berufskrankheit. Ich hab in einem Callcenter gearbeitet, und da hört man irgendwann Stimmen.«
Er lachte so unbeholfen, dass ich ihn am liebsten getreten hätte, doch Annas Humor schien er damit getroffen zu haben. Sie lachte herzlich.
»Was machen wir denn jetzt mit dem angebrochenen Abend?«
Florian ließ die Arme baumeln.
»Ich finde, wir gehen noch an die Bar. Oder haben deine Freunde dafür kein Budget eingeplant?«
Schnorrerin. Lesbisch oder nicht. Aber sollte er seinen Spaß haben. Mein Magen wusste schon, wie ich die Abwesenheit der beiden nutzen konnte. Nur auf ein kurzes Wort musste ich mit Florian vor die Tür.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte er.
»Ist es okay, wenn ich schnell ein Bad nehme?«
»Mach nur. Ich geh so lange auf den Balkon.«
»Und unter uns - du müsstest auch mal duschen.«
Ich roch unter meiner unsichtbaren Achsel, und aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Florian das Gleiche tat. Wir waren zu lange alleine gewesen.
Anna verschwand mit ihrem Beutel und frischer Wäsche, die sie aus dem großen Rucksack gezogen hatte, im Bad.
Wir setzten uns auf den Balkon. Zwei Korbsessel, ein kleiner Tisch. Wahrer Luxus. Die ersten Sterne begannen zu funkeln. Unter uns leuchtete die Kleinstadt, in der wir vorhin gegessen hatten. In der Ebene flammten Lichter auf. War das schon Montpellier oder noch Nimes?
Die Zikaden lärmten. Die brennende Hitze war einer klebrigen Wärme gewichen. Das T-Shirt hatte unter Florians Armen dunkle Flecken. Es wurde wirklich Zeit für eine Dusche.
»Was hältst du von Anna?«
»Sie ist mir zu ehrlich, sie hat gesagt, ich soll duschen, na hör mal, ich meine ...«
»Wenn sie es nicht sagt, endest du als stinkender Penner.«
»Das muss ich mir nicht anhören.«
»Na, von mir schon.«
Florian seufzte. »Ich weiß nicht, ich sollte alleine bleiben.«
»Wieso?«
»Ich bin nicht gemacht für Gesellschaft.«
»Du bist schlagfertiger als gedacht. Du hast Humor, du bist eigentlich ein Frauentyp.«
Verlegen kratzte er sich am Kopf. »Bin ich das?«
»Allerdings glauben wir nicht, dass Anna die Richtige für dich ist. Du brauchst jemanden, der Spaß an der Lust hat. Und Anna steht entweder auf Frauen oder sie ist total frigide.«
»Aber du hast sie mir doch aufgedrängt.«
»Wir haben sie analysiert. Die Resultate sind eindeutig.«
»Ist sie vielleicht auch eine Auserwählte? Ich meine, haben wir das gleiche Ziel?«
»Sie steht nicht auf unserer Liste.«
»Stimmt ihre Geschichte? Dass sie zu einer Freundin will und sitzen gelassen wurde? Was, wenn sie eine von ihnen ist und für die Regierung arbeitet?«
»Sie will dich nicht vergiften. Vertrau deiner inneren Stimme. Und jetzt erzähl. Was ist passiert, als du deine Tabletten nicht genommen hast?«
Florian lehnte sich auf die Balkonbrüstung und starrte nach Westen, wo der Tag sich hinter einem lilafarbenen Streifen verkrochen hatte.
»Ich hatte gerade die Therapie begonnen, weil ich total am Ende gewesen war. Die ganze Zeit waren meine Gedanken um mein abgebrochenes Studium gekreist. Ich konnte manchmal tagelang nicht mehr schlafen und kam nicht mehr aus dem Bett raus. Dann habe ich diese Stimmen gehört, und irgendwie hat meine Großmutter meinem Bruder davon erzählt, und der rief mich dann an. Ich suchte mir den Therapeuten aus dem Telefonbuch heraus. Er war der erste, der noch Plätze frei hatte. Anfangs wollte er mich in eine Einrichtung einweisen. Aber weil ich einwilligte, die Medikamente zu nehmen, haben wir es dann bei einer Gesprächstherapie belassen. Nur habe ich sie nicht genommen, ich meine, wer nimmt denn gerne so einen Dreck zu sich, den er nicht kontrollieren kann? Und eines Tages habe ich den Rappel bekommen, bin in mein Auto gestiegen und an einen Baggersee gefahren, der eine FKK-Zone hatte. Da habe ich dann …«
Er kratzte sich wieder am Kopf. Du hast echt eine Dusche nötig, dachte ich.
»Ich habe Pärchen beim Sex beobachtet.«
Ich wackelte mit dem Kopf. »Na und?«
»Ich habe mir dabei einen runtergeholt.«
»Und weiter? Ich sehe daran noch nichts Verwerfliches.«
»Ich stand dabei neben den beiden.«
Blöd gelaufen. »Naja, Gott, passiert.«
»Aber nicht fünf Mal.«
Florian erzählte, wie er einmal verprügelt und dreimal verjagt wurde. Irgendwann wurde er anhand seines Autokennzeichens identifiziert und angezeigt. Dass er sich in Therapie befand, half ihm vor Gericht. Danach nahm er die Medikamente.
Vielleicht war ich doch nicht der beste Umgang für ihn. Einen Moment lang schwiegen wir. Das letzte Licht schwand. Der Himmel war sternenklar.
»Was passiert an unserem Ziel? Was passiert mit den Auserwählten?«
»Das sage ich dir, wenn wir da sind. Vertrau mir.«
Ich wollte noch etwas hinzufügen, als ich aus den Augenwinkeln sah, wie sich die Tür zum Bad öffnete und eine frisch geduschte Anna ins Zimmer trat.
»Wir unterbrechen die Verbindung. Ich muss mich um eine andere Auserwählte kümmern.«
Falls ich mich nicht noch in der Nacht in seinen Kopf einschaltete, würden wir uns morgen sprechen. Nur knapp schaffte ich es hinter Florian zurück ins Zimmer. Wortlos nahm er frische Wäsche und verschwand ebenfalls unter der Dusche. Anna nutzte die Gelegenheit, das französische Fernsehprogramm zu testen und gab nach ein paar schlechten Sendungen auf.
Eine gut riechende Dunstwolke spuckte Florian aus.
»Besser?«
Anna schnüffelte. »Irgendwas stinkt hier immer noch, aber das sind vermutlich deine alten Socken.«
Ich roch an mir. Unverschämtheit. Sie legte eine Hand auf die Klinke. In der anderen hielt sie den Beutel. »Ich hoffe, deine reichen Freunde gönnen uns einen Long Island Ice Tea.«
Florian nahm die Schlüsselkarte. »Sogar zwei.«
Die Tür knallte, und ich war alleine. Endlich. Auf der Karte des In-Room-Dining stand ein Clubsandwich mit Pommes. Genau das Richtige. Dazu eine Flasche Côtes de Provence. Ich hoffte nur, Anna und Florian zofften sich nicht. Auf eine vorzeitige Rückkehr eines der beiden hatte ich keine Lust.
Bevor der Zimmerservice an die Tür klopfte, hatte ich mich ebenfalls vom alten Schweiß befreit und roch wie ein Lavendelfeld. Ich nahm einen Kugelschreiber, bat ihn herein und verzog mich ins Bad. Dem Bellboy reichte eine Unterschrift auf der Rechnung, die ich ihm unter der Badezimmertür hindurchschob. Die Tür knallte wieder und ich stürzte mich auf Sandwich und Wein. Vom Balkon sah ich in die Ebene. Die Zikaden lärmten. Der Rosé war kalt. Ich war zufrieden.
Irgendwo in der Bar oder im Restaurant starrten sich die Verklemmte und der Wichser vermutlich sprachlos an. Konnte ich die beiden überhaupt alleine lassen? Aber was sollte schon passieren, in der Öffentlichkeit.
Was immer Florian mit sich herumschleppte – die Aggression, die damit verbunden war, schien sich ausschließlich gegen ihn zu richten. Zudem fand ich, dass er sich in den letzten Tagen gemacht hatte. Seine Einwände gegen Anna waren schwach gewesen und sein Widerstand zu kurz. Nicht jedes verkorkste Leben musste eines bleiben.
Sie überraschten mich dabei, wie ich gerade das Glas nachfüllen wollte. Ich hatte eben noch vom Balkon gepinkelt und mir zum dritten Mal vorgenommen, das Tablett mit dem dreckigen Geschirr im Flur zu deponieren. Kichernd polterten sie ins Zimmer und verstummten, als das Licht aufflammte.
»Was ist denn das?«, sagte Anna fassungslos und starrte auf den Teller mit der Cloche und die halbleere Flasche Wein im Kühler. Florian stand der Mund offen. Mist. Die Tür zum Balkon knarrte. Vorsichtig löste ich meine Finger vom Glas.
»Ich, äh…«
»Sag mal, du hast ja wirklich einen Tick.«
Florian hob total verdattert die Cloche hoch. Ich hatte nicht einmal Krümel übriggelassen. Jetzt wurde die Situation haarig. Anna war mit unsicheren Schritten an der Balkontür. Sie starrte hinaus
»Aber, ich…«
»Das sieht doch ein Blinder mit dem Krückstock. Was soll das Versteckspiel? Ich weiß doch längst, was hier läuft.« Sie hob betrunken den Finger wie Lehrer Lämpel.
»Du weißt es?«
Kein Wort von Außerirdischen, bitte, dachte ich, und auch von einer gespaltenen Persönlichkeit wollte ich nichts hören. Anna schwankte an Florian heran und griff nach den Fingern seiner rechten Hand. »Zeig mal deine Zähne.«
Florian wich zurück. »Na hör mal.«
»Ist doch okay, wenn du viel isst, man sieht es dir ja nicht mal an. Aber ich hoffe, das liegt an deinen Genen, und nicht daran, dass du danach kotzen gehst.«
Halleluja. Ein Hoch auf den Glauben an das Rationale.
»Aber ich hab doch keine Bulimie, na hör mal.«
»Und wann hast du das gegessen? Als ich auf der Toilette war?«, kicherte sie und presste die Hand vor den Mund.
Florian hob hilflos die Hände. Anna zuckte mit den Schultern. »Mach mal die Tür auf.«
Das Angebot nahm ich gerne an. Der Alkohol hatte mich müde gemacht. Vom Flur aus beobachtete ich, wie sie Teller und Cloche vor die Zimmertür stellte.
»Und der Wein?«, hörte ich Florian noch fragen, und Annas Antwort, bevor die Tür sich wieder schloss: »Den nehm ich, du hast ja schon die erste Hälfte getrunken.«
Die Luft im Auto stand. Aber nackt wie ich war, machte es mir nichts aus. Im Gegenteil – ich fand es geil. Ich kroch auf die dunkle Rückbank und überlegte, ob ich mir die Pornos aus dem Handschuhfach holen sollte. Doch ehe ich mich dazu aufraffen konnte, übermannte mich der Schlaf.
Das leise Knarren der Beifahrertür weckte mich. Sofort war ich hellwach. Draußen war es noch stockdunkel und mein Gefühl sagte mir, dass ich noch nicht lange geschlafen hatte. Zuerst dachte ich, Florian sei gekommen, um Kontakt mit mir aufzunehmen, doch wunderte ich mich darüber, dass er nicht die Fahrertür genommen hatte und anschließend über seine Piercings und die runden Umrisse. Ein Schlüssel klapperte. Stoff raschelte. Ich musste ihre Stimme gar nicht mehr hören, um zu wissen, dass Anna ins Auto gestiegen war.
»So, dann wollen wir doch mal sehen, ob du eine tote Katze im Handschuhfach hast oder eine Sahnetorte.«
Der Beutel flog in den Fußraum. Sie griff an das Licht der Innenbeleuchtung, fluchte, die Funzel flammte auf. Sie wirkte angetrunken. Anna guckte sekundenlang leicht schwankend aus dem Fenster zum Schloss hinauf und schien sich vergewissern zu wollen, dass ihr niemand gefolgt war.
Dann ließ sie das Schloss des Handschuhfachs knallen, die Lade krachte nach unten und warf die Pornohefte aus. Anna schrie überrascht auf, zuckte zusammen, presste eine Hand auf die Brust und atmete erleichtert auf. Keine tote Katze. Aber vermutlich fand sie es genauso eklig.
Mit spitzen Fingern nahm sie ein Heft auf und musterte den Titel. Anal Pleasures Teil 96. Auch das noch.
»Florian«, murmelte sie und fing an, das Heft durchzublättern. Ich beobachtete von der Rückbank ihre Mimik und suchte nach einem Zeichen der Abscheu, des Ekels, doch nichts dergleichen spiegelte sich dort wider. Erlebte ich hier die Blüte eines verklemmten Mauerblümchens?
»Du Sau«, flüsterte sie noch, sah wieder aus dem Fenster. Vor dem Eingang des Hotels tat sich nichts. Was ging hier vor? Kein verklemmtes Lachen, stattdessen teilten sich ihre Lippen. Die Augen weit aufgerissen blätterte sie von Seite zu Seite. Sie verschlang geradezu die obszönsten Bilder, rutschte unruhig auf dem Sitz herum.
Noch einmal sah sie aus dem Fenster, hektisch, nervös, aufgeregt. Sie griff zwischen ihre Füße nach dem Beutel und mir ging ein Licht auf. Nie hatte ich damit gerechnet, nie im Leben. Ich hatte sie falsch eingeschätzt. Dabei waren die Anzeichen so eindeutig gewesen.
Sie hielt einen ziemlich großen, pilzförmigen Stöpsel aus schwarzem Plastik in der Hand. So etwas hatte ich das letzte Mal in Berlin gesehen. Im Sexshop. Sie stand vielleicht doch auf Männer. Männer und Penetrationen.
Anna hob den Po vom Sitz und streifte mitsamt dem Slip die Hose herunter. Sie zog die Füße an, griff nach der Tube. Hektisch spuckte sie in die offene Hand und verteilte den Speichel auf dem mächtigen Pilz, spreizte die angezogenen Beine und ich konnte erkennen, wie sie den Pilz mit der abgerundeten Seite zuerst zwischen den Pobacken verschwinden ließ. Sie seufzte und keuchte, und ihr Stöhnen – es klang wie auf der Toilette des Rastplatzes.
Die Erkenntnis traf mich wie der Anblick einer strippenden Transe.
Keine Verstopfung quälte sie, nur die unstillbare Sehnsucht nach Erfüllung. Oder sollte ich besser Füllung sagen?
Das gelbe Licht der Innenbeleuchtung warf scharfe Schatten, zu scharf, um Genaues zu erkennen. Das Plastik schmatzte, sie schob und drückte, bis sie wieder beide Hände freihatte. Erleichtert ließ sie den Kopf gegen die Nackenstütze fallen. Mit der linken Hand blätterte sie eine besonders offensive Seite des Heftes auf, während sie die rechte in ihren Schoß presste.
Längst war die Erregung auf mich übergesprungen. Gemeinsam krümmten wir uns im Auto, sie auf dem Beifahrersitz, ich auf der Rückbank. Und als ich glaubte, sie würde sich jetzt gehen lassen, griff sie erneut in ihren Beutel. So geil mich der folgende Anblick machte, so ernüchternd war er zugleich.
In der Hand hielt sie einen mit Bändern versehenen, riesigen Strap-on-Dildo. Der künstliche Penis hatte nicht nur größer als mein Schwanz, sondern er verfügte auch über naturgetreu nachgebildete Hoden.
Lesbisch. Sie war lesbisch. So ein Mist.
Ich wusste jetzt, was ich Florian sagen musste. Lass sie gehen, würde ich sagen, sie wird dich hassen. Sie hat alles, was sie will, sie braucht keine haarigen Biester, die nach dem Pinkeln den Toilettendeckel nicht wieder herunterklappen. Sie braucht keine testosterongesteuerten Bartträger, die nur Fußball und Ficken im Sinn haben.
Der Strap-on verschwand in ihrem Schoß. Aus ihrem offenen Mund drang ein langanhaltendes Jammern. Ihr Becken tanzte auf dem zerschlissenen Sitz, ihr Kopf wippte vor und zurück. Atemlos bewegte sie dabei den Dildo in einem heftigen Rhythmus wie einen Kolben vor und zurück. Und nachdem sie ein letztes Mal umgeblättert hatte, griff sie mit der linken Hand unter ihr T-Shirt, presste sie auf die Hügel, zuckte, jammerte.
Wir kamen zur gleichen Zeit.
Was waren meine Worte gewesen? Florian, du brauchst eine andere Frau, eine, die Spaß an der Lust hat? Am liebsten wollte ich noch in dieser Nacht in sein Zimmer schleichen und ihm sagen, dass die Frau, nach der er suchte, ohne es zu wissen, dass die Frau, die seine Rettung sein könnte, seit einem Tag seine Beifahrerin war.
Die Sache hatte nur einen Schönheitsfehler.
Schade, dass du lesbisch bist und auf Frauen stehst, dachte ich. Mein Herz trommelte und ich spürte den Schweiß kitzelnd über meinen Körper laufen. Halb besinnungslos nahm ich noch wahr, wie Anna die Pornos zurück ins Handschuhfach stopfte, zwischen ihren Beinen herumfummelte und dabei ein Schaudern ihren Körper erzittern ließ. Sie ließ den Strap-on in ihrem Beutel verschwinden, knipste das Licht aus und verließ das Auto.
Ich wachte früh auf, weil mich der Restalkohol, die hohen Temperaturen im Auto und das grelle Sonnenlicht nicht schlafen ließen. Die analoge Uhr im staubigen Armaturenbrett des Polos zeigte kurz nach sechs. Mit knurrendem Magen schlich ich erst zum Restaurant, um mir von der Frühschicht ein paar Croissants, etwas starken Kaffee und viel Wasser zu klauen und anschließend im menschenleeren Pool die Hitze der Nacht loszuwerden.
Anna. So eine Sau. Von wegen prüde – sie war genau nach meinem Geschmack. Bis auf das Detail mit den Frauen. Aber andererseits – wer wollte ihr das verübeln? Ich stand ja auch auf das andere Geschlecht.
Über eine Stunde wartete ich im Auto auf Florian und Anna. Vielleicht waren sie sich schon nähergekommen? Hatte ich sie falsch eingeschätzt, und sie stand auf verkorkste Typen wie Florian?
Verfickte Unsicherheit.
Gegen zehn Uhr klackten schließlich die Griffe. Ihre Rucksäcke landeten im Kofferraum. Florian drehte brav seine Runde um das Auto. Anna trug ein luftiges Hemd über einem engen Top. Ihr kurzes Haar wurde von viel Gel in Form gehalten.
Keine Ahnung, ob sie noch gefrühstückt hatten, aber es schien Krach zwischen den beiden gegeben zu haben. Das Schweigen zwischen den beiden war viel zu laut.
Der Motor jammerte auf der Landstraße. Die heiße Luft knatterte am Fenster.
»Du hättest ruhig noch das vierte Croissant essen können.«
»Ich war satt.«
»Ehrlich, ich find das ok. Solange du mit Genuss isst.«
»Ich war satt, bestimmt.«
Anna schien zu lächeln, so viel erkannte ich im Profil.
»Du und das Essen – das ist eine seltsame Verbindung, oder?«
Wieder mahlten seine Backenzähne. Er zog es vor zu schweigen.
»Hast du eigentlich eine Freundin?«
Wo ich eine zickige Antwort erwartet hatte, kam nur verlegenes Kopfschütteln.
»Ich habe mich immer etwas schwergetan.«
»Aber manche Sachen machen doch zu zweit viel mehr Spaß.«
Wollte sie, ganz fürsorgliche Lesbe, ihn etwa dazu ermutigen, seine vermutete schwule Seite herauszukehren? Hilfestellung für einen jungen Mann, der aus seinem Schrank nicht rauswollte? Und der wehrte sich tatsächlich mit den Waffen des Idioten: »Wenn du von Schach redest – ich hab ne Oma, die ist echt fit darin.«
»Und einen Freund?«
Sein verlegenes Winden war zweideutig, sein langgestreckte »Nee« ließ zu viel Raum für unvorteilhafte Spekulationen.
Anna trat nach. »Ich kannte in der Schule mal einen, der hatte mit Frauen nichts anfangen können. Nach dem Abi hat er sich dann geoutet. Ich glaube, für Männer ist das noch schwieriger.«
Florian starrte verbissen nach vorne. »Ich kannte auch mal einen, der stand total auf Frauen, aber der hat sich nie getraut, sie anzusprechen, weil er zu Hause beigebracht bekommen hat, dass Sex vor der Ehe was ganz Schmuddeliges ist.«
Von der Rückbank konnte ich sehen, wie sie die Stirn runzelte.
»Ich kannte mal eine, die konnte mit den Typen in ihrer Klasse nichts anfangen, weil die schon mit 16 ein vorgefertigtes Rollenmuster vor Augen hatten, in dem die Frauen nur auf das passive Subjekt reduziert war.«
»Ich kannte noch einen anderen, der hat dann einfach das Thema Sex abgehakt.«
Anna zog wackelte mit dem Piercing. »Du bist also ein einsamer Wolf, der sich selbst genug ist?«
Florian zuckte mit den Schultern. Diese Geste machte mich langsam wahnsinnig. Konnte er nicht einfach mal zum Gegenangriff übergehen, statt immer nur den Hilflosen rauszukehren?
»Ich bin nicht so gut im Umgang mit Frauen.«
Wir wurden von einem Traktor überholt. Ich fand, dass Florian ruhig etwas schneller fahren konnte. Wohin auch immer.
»Du bist wirklich seltsam, weißt du das?«
Zur Antwort kam vom Fahrer ein verächtliches Schnauben.
»Jetzt erzähl mal. Das mit dem Essen, was soll das?«
Florian bremste ab, weil wir in eine Ortschaft kamen.
»Du meinst, du willst das wirklich wissen? Die Wahrheit?«
»Ja, sag‘s mir. Hast du einen heimlichen Freund dabei, der sich nicht zeigen will?«
Geschockt sah ich durch mich hindurch auf die Dellen, die mein unsichtbarer Arsch in der Rückbank hinterließ.
»Oder bist du einfach nur verfressen?«
Florian und ich holten tief Luft. Seine Finger trommelten auf das Lenkrad. »Hast du schon mal davon gehört, dass in unserem Essen nur Gift ist?«
»Wenn du von McDonald’s redest, kann ich dir folgen.«
»Und was meinst du, warum es da drin ist?«
»Weil die Nahrungsmittelkonzerne nur auf Profit aus sind? Weil billig auch gleichzeitig schlecht ist?«
Er schien etwas erwidern zu wollen, machte den Mund auf, hielt den Atem an und machte den Mund wieder zu. Deutlich war zu erkennen, dass es nicht die Antwort war, auf die er seine Argumentation aufgebaut hatte.
»Und du meinst nicht, dass eine Absicht dahintersteckt?«
»Klar. Geld. Darum geht es immer.« Anna runzelte die Stirn und schien von ihm wegzurücken. »Jetzt sag nicht, du bist so ein Verschwörungstyp.«
Ich brachte meinen Mund ganz nah an sein Ohr und flüsterte: »Lass es, sie wird es nicht verstehen, aber sie ist auf deiner Seite.«
Er schüttelte den Kopf wie ein nasser Hund. »Nein, Quatsch, ich mach mir nur so meine Gedanken. Ich meine, all das ungesunde Zeug, ich habe nur … ich will es loswerden. Auf dieser Tour.«
»Ich verstehe, du bist auf einem Entgiftungstrip.«
»So kann man es sagen.«
»Und dass dich Fastfood krankmacht, hast du ganz alleine herausgefunden?«
»Nein, dabei haben mir Außerirdische geholfen. Die überprüfen auch immer mein Essen, bevor ich es esse.«
Er haute den Satz so schnell raus, dass ich ihn nicht bremsen konnte. Aus. Vorbei. Jetzt hatte er einen Stempel auf der Stirn.
Tschüss, Anna, war nett mit dir.
Anna stutzte, als müsse sie überlegen, ob Florian das wirklich ernst meine. Egal, mit einer Lesbe wäre er ohnehin nicht glücklich geworden.
»Extraterrestrische Vorkoster also.« Sie streckte den Zeigefinger zur Windschutzscheibe und sagte heiser: »Zimmerservice telefonieren.«
Anna lachte herzlich und Florian stimmte mit ein, erst verhalten und schließlich befreit.
»Ich bin ein Auserwählter und auf dem Weg zu einem Treffpunkt, an dem sich andere Auserwählte treffen«, fügte Florian mit gespieltem Ernst hinzu und ich wollte ihm von hinten einen Stups geben, aber Anna lachte nur noch lauter.
Jetzt lief Florian zur Höchstform auf. »Und ich werde von Stimmen in meinem Kopf geleitet, die mir sagen, was ich machen soll.«
Mit beiden Händen wischte sich Anna die Lachtränen aus dem Gesicht.
»Ein Essgestörter mit Fantasie. Du bist echt nicht ganz dicht«, japste sie und zeigte auf die Tankstelle, die am Ortsausgang auftauchte. »Apropos Treffpunkt. Können wir mal anhalten? Ich muss meiner Freundin sagen, dass ich bald da bin.«
Florian setzte den Blinker.
Der Löwe von Agip streckte uns die Zunge heraus. Auf meiner Rückbank war Entspannung angesagt.
Ich überlegte, ob ich Annas Abwesenheit nutzen sollte, um Florian von meinen Beobachtungen zu berichten, aber viel spannender fand ich zu erfahren, was sie ihrer Freundin am Telefon sagte. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
»Bin gleich wieder da«, säuselte sie und verließ das Auto mit ihrem Beutel. Florian ließ die Tür offen, als er sich aus dem Auto wälzte und streckte. Ich kletterte ebenfalls hinaus und folgte Anna durch die Hitze zwischen den Tanksäulen. Würde sie auf dem Klo verschwinden, wäre ich diesmal Zaungast. Ihr Ziel war jedoch tatsächlich das öffentliche Telefon.
Sie sprach wieder Französisch, und ich erfuhr, dass es Sandrine war, mit der sie sich am Strand treffen wollte. Eine Freundin? Ihre Freundin? Es spielte keine Rolle, wie ich einen Augenblick später erfahren sollte.
Das Schlüsselwort, das sie benutzte, war mignon – niedlich.
»Und er hat so putzige Macken. Ich glaube, er ist ein bisschen verklemmt, weil er mir seine Pornos im Handschuhfach nicht zeigen will. Der ist richtig rot geworden.«
Sie machte eine Pause und hörte zu. Meine Fingerspitzen kribbelten. Keine Lesbe würde so über einen Mann reden, oder doch? Was wusste ich denn über lesbische Frauen? Nichts.
»Ich glaub ja, dass der in mich verknallt ist, aber…. Florian heißt er, genau… Und weißt du, warum ich glaube, dass er was für mich ist? Der hat Hetero- und Schwulenpornos dabei. Genau. Vielleicht ist er nicht so verdammt machohaft wie Christian.«
Ich schlug mir gegen die Stirn. Chris. Nicht wie Christine, sondern wie Christian! Ihr Freund hatte sie sitzen lassen.
Wegen eines Strap-ons.
Ich hörte kaum, wie sie mit Sandrine am anderen Ende der Leitung die letzten Details zur Party austauschte, den Ort wiederholte und die Uhrzeit. Wie würde ich es Florian sagen? Du, übrigens: Deine Traumfrau sitzt neben dir.
Während ich noch überlegte und Anna über den heißen Asphalt zurück zum Auto folgte, hockte Florian gerade vor den Rädern. Rasch lief ich hinten um das Auto herum. Die Türen standen sperrangelweit offen.
»Braver Kerl«, flüsterte ich, »aber lass die Finger von den Radmuttern.« Wie ein beim Wichsen ertappter Teenager schreckte er auf.
»Alles gut?«, fragte Anna. Florian räusperte sich und wischte sich die Hände an der Hose ab.
»Bestens.«
»Mein Gott, ist das heiß«, sagte sie. Sie zog ihr Hemd aus. Darunter trug sie nur noch einen Top, durch den sich die Nippel bohrten. Florian und ich gerieten ins Staunen. Jetzt war alles klar.
Ich schlüpfte über die Fahrerseite zwischen den Sitzen hindurch auf die Rückbank. Anna beugte sich über den Beifahrersitz und warf ihren Beutel in den Fußraum. Sie kaute auf der Unterlippe und schielte auf das Handschuhfach.
Ich verstand. Florian bestieg das Fahrzeug.
»Ich wisch noch mal die Scheibe sauber«, sagte Anna unvermittelt. Ihre Hand zuckte. Florian rief Nein. Eine Sekunde später riss das Handschuhfach seine Klappe auf und spuckte die Pornohefte aus.
Florian sah durch die Fahrerseite auf das Schlamassel. Ihm stand die Panik ins Gesicht geschrieben.
»Lass das!«, rief er und beugte sich vor, um nach den Heften zu greifen.
Anna schnappte sie ihm weg, sah sich die Titelbilder an, als habe sie sie zum ersten Mal gesehen.
»Oh, na, das sind also die toten Katzen.«
Wie ein Tiger im Zoo, der durch die Gitterstäbe nach einem Stück Fleisch angelte, griff Florian nach den Heften. Anna lachte.
»Du stehst auf Popos?«
In einem Comic aus den 50ern wäre Florian rot angelaufen und aus seinen Ohren wären Dampfwolken gestoßen. Er löste seinen Gurt. In wenigen Schritten war er am Kofferraum. Die Haube verdeckte die Sicht, rauschte knallend herab und gab die Sicht frei auf Florian, ihren Rucksack in der Hand.
Er schleuderte ihn zu Boden. »Raus!«
Anna stutzte. Ihr Lachen gefror. Florian verstand es vollkommen falsch. Es war doch nicht böse gemeint, sondern eine freundliche Geste, ein Lachen der Verbrüderung. Sie stand auf ihn, warum sah er das denn nicht? Der Grat zwischen Auslachen und Mitlachen war zu schmal für ihn.
»Warte, ich…«, setzte Anna an, doch Florian war so in Rage, dass ihn kein Argument mehr erreichen konnte. Sie stieg mit einem Porno in der Hand aus dem Auto und wedelte damit vor Florian Gesicht. »Sag mal, kannst du vielleicht mal einen Augenblick zuhören?«
Der sah sie nicht einmal an, schlug an ihr vorbei greifend die Beifahrertür zu und stapfte mit eingezogenem Kopf zurück zur Fahrerseite.
»Florian, Mensch, warte doch mal.«
Er tat es nicht, warf stattdessen den Motor an und gab Gas.
»Was machst du? Fahr zurück.«
Meine Stimme klang viel zu schrill, aufgeregt und entsetzt für einen Außerirdischen, aber es schien ihn nicht zu stören.
Anna blieb in einer Wolke heißer Abgase zwischen den Tanksäulen zurück, das Pornoheft in der einen Hand und hinter sich den Rucksack, der wie ein überfahrener Hund dort lag, wo ihn Florian hingeworfen hatte.
Der kleine Wagen schlingerte zurück auf die Straße. Beinahe hätte uns der Laster auf der Gegenfahrbahn gerammt.
»Bleib stehen, Florian, was soll das?«
Ich krallte mich in den Rücksitz und wünschte mir, ich könnte mich anschnallen. Fünf Minuten lang redete ich auf Florian ein, der hinter dem Lenkrad saß wie ein Geisterfahrer, die Hände in das runde Plastik gekrallt.
»Ich weiß«, murmelte er, doch seine Worte wirken nach innen gekehrt und nicht für mich bestimmt. »Es war falsch.«
Wieso gerade in der nächsten Ortschaft ein Quick-Schnellrestaurant mit Drive-in war, wusste der Himmel. Florian steuerte zielstrebig darauf zu und bestellte sich am Autoschalter zwei blasse Croques, die nicht mehr waren als gehaltlose Scheiben Toast mit Kunstkäse und Schinken dazwischen, dazu eine fettige Portion Pommes und noch einen großen Burger, dessen Haferflocken auf den Brötchenhälften ein mehr als fadenscheiniges Alibi waren.
Auf diesen Rückfall war ich nicht vorbereitet.
Er parkte das Auto in der entlegensten Ecke des Parkplatzes im Schatten einer Platane und fraß, als habe er zwei Tage lang nichts gegessen. Mich überraschte die Selbstverständlichkeit, mit der er zwischen den Bissen die Flasche Pastis, die wir vorgestern in der Nähe von Avignon gekauft hatten, an den Hals setzte und, gluckgluckgluck, zwei Fingerbreit leerte.
»Was ist los, Florian? Wir machen uns Sorgen.«
Kauen, Schlucken, Schlingen.
»Sie gehört zu denen, oder? Es war kein Zufall, sie wollte mich bloßstellen, weil sie meine Schwachstelle kennt. Sie ist Teil des industriellen Komplexes und keine Auserwählte.«
»Schwachstelle? Wovon redest du?«
»Es war wie damals«, sagte Florian. Um seinen Mund hatte sich ein fettiger Ring gebildet. Über sein Kinn lief Ketchup. »Als mich mit 13 meine Großmutter erwischt hat.«
»Jetzt sag nicht, deine Großmutter hat deine Pornos gefunden.«
»Wenn es nur das wäre«, sagte er schmatzend und starrte in die vertrocknete Grünanlage jenseits des Parkplatzes. »Sie hat mich mit einer Kerze erwischt.«
»Hattest du keine Taschenlampe?«
Sein Gesicht verschwand hinter seinen fettigen Händen.
Seine Großmutter hatte ihn daraufhin unter die eiskalte Dusche gestellt, bis er blau angelaufen war. Danach wurde Florian von ihr mit allem, was die Küche hergab, gemästet. Kuchen. Käse. Brot. Bratkartoffeln. Sie musste dieses Ritual mit der Zeit noch mehrfach durchgeführt haben, manchmal, weil ihr seine Tittenmagazine namens Schlüsselloch und Sexy, die ihm angeblich ein Freund ausgeliehen hatte, in die Hände gefallen waren, und manchmal, weil sie ihn wieder mit einem phallischen Gegenstand im Hintern und dem Steifen in der Hand auf dem Dachboden entdeckt hatte.
»Ich mag das Gefühl, okay? Aber ich steh nicht auf Männer, ich bin nicht schwul.«
Vielleicht hatte er Recht, vielleicht wollte er es sich auch nur nicht eingestehen.
Irgendwann bekam Florian allein bei dem Gedanken an nackte Haut und Kerzen schon Hunger. Ich fragte mich, ob sein Psychologe ihm diesen Zusammenhang eingetrichtert hatte.
»Und weil Anna jetzt deine Pornos entdeckt hat, bist du durchgedreht?«
Florian starrte aus dem Fenster, als habe er eine Idee gehabt. Aus einem leichten Auf und Ab seines Kopfes wurde ein heftiges Nicken.
»Ja, ja, genau. Das klingt doch logisch, oder nicht? Das ist doch, was ihr wollt, ich soll selber auffe Lösung komm‘.«
Das nächste Viertel des Pastis folgte. Ich hätte längst gekotzt.
»Hast du deinem Therapeuten schon mal von deiner Oma und der Dusche erzählt?«
»Nein, habbich mich nicht getraut. Der hält mich sons‘ für schwul.«
»Und das bist du nicht?«
»Nein, binnich nich‘.«
»Findest du Anna attraktiv? Kommt das noch dazu?«
Florian Stimme wurde schwer und er griff nach den Pornos.
»Entgiften, ich muss entgiften.«
Hier auf dem Parkplatz? Eine ganz schlechte Idee.
»Lass es. Anna würde das für dich machen, die kann dir beim Entgiften helfen.«
»Ihr habt doch selbst gesach‘, sie is‘ keine von uns, du hass gesach‘, ihr habt sie analysiert.«
Analyse bekam in diesem Zusammenhang eine ganz neue Bedeutung.
»Wir haben neue Befunde bekommen. Während des Tankstopps. Du kannst sie auserwählen, und dann ist sie eine von euch.«
»Aber sie is‘ nicht perfekt«, nuschelte Florian und holte seinen Schwanz aus der Hose. Vor ihm lagen die perfekten Brüste, Schenkel und Pobacken knackiger Teenager. »Sie hat dieses Muttermal und sie isso laut und redet so viel. Und habter gesehen, dassie Speckrollen am Bauch hat? Ich mein‘, dann bleib ich doch lieber bei mein‘ Heften.«
»Sie wird perfekt sein, wenn du sie mit anderen Augen siehst. Stell dir den Sex mit ihr vor.«
»Genau das hab ich getan«, sagte er und begann, trotz seiner fortgeschrittenen Trunkenheit das Beste aus dem Entgiftungsprozess herauszuholen. Auch meine Lust stieg und ich sah durch alle Fenster nach draußen auf den Parkplatz. Wir konnten jetzt keine Beobachter gebrauchen. Erst da sah ich den Beutel im Fußraum. Ihren Beutel. Sie hatte ihn vergessen, als Florian sie aus dem Auto geworfen hatte.
»Obwohl sie lesbisch ist. Da ist nix mit Heirat unn so, und es soll doch perfekt sein, oder nich? Damip sie nich‘ irnwann wieder abhaut.«
Hochzeit? In welchen Kategorien dachte er denn? Kein Sex vor der Ehe und bis dass der Tod euch scheidet. Was für ein Chaos. Ich wollte ihn packen und richtig beuteln.
»Es gibt keine Perfektion, das ist Humbug, und sie ist auch nicht lesbisch. Ich hab den Beutel gescannt. Darin ist ein Strap-On-Dildo. Ihr Dildo! Sieh doch nach, sie hat ihn hier vergessen.«
Er unterbrach seine Manipulationen und legte das Magazin aus der freien Hand. Ungläubiges Staunen. In zwei Sekunden hatte er den Sack offen. Einen Moment später hielt er den Strap-on in der Hand. Mühsam hielt der die Augen auf.
»Damit fickt sie ihre Freundin Christina."
»Nein, der war für ihren Freund Christian. Denk doch mal an das, was sie über Männer und Penetrationen gesagt hat. Die ist total versaut, eine Seelenverwandte, das Yang zu deinem Ying.«
Florian warf den Dildo zurück in den Beutel und sackte im Sitz zusammen.
»Dr. Tietz hatte Rech‘. Ich bin total verkorkst, ich hätt‘ niemals losfahren dürfn, dassis‘ alles eure Schuld, dieser ganze Quatsch mipm Auserwähltsein, dassisoch alles Lötzinn.«
Er spülte seinen Mund mit einem großen Schluck Pastis leer. Seine Augen waren nur noch ein paar Schlitze.
»Fahr los, zu diesem Strand, an dem sie sich mit ihrer Freundin trifft. Und dann wirst du sehen, dass unsere Einschätzung stimmt.«
Ich konnte über den Rückspiegel sehen, wie sich seine Augen schlossen und der Mund offenstand.
»Lammich«, murmelte er noch. Seine Hose stand offen, die Augen waren geschlossen. Alkohol tötete die Lust. Leises Schnarchen. Das war es. Eingesperrt in einem Auto, dessen Innenraumtemperatur sich langsam der 50°-Celsius-Marke näherte, mit einem besoffenen Schizo hinter dem Lenkrad, der die größte Chance seines Lebens vertat, weil er die Vergangenheit nicht ruhen lassen konnte.
Ich aß die Reste seiner Burger, trank dazu warmes Wasser, das noch vom letzten Tankstopp übrig war, und überlegte.
Es konnte doch nicht sein, dass ich hier gestrandet war? Florian schnarchte leicht. Die Straßenkarte steckte in der Beifahrertür. Cap d’Agde. Kirche. Flussmündung.
Schnell fand ich den Punkt, auf den Anna eine Stunde zuvor noch ihren Finger gelegt hatte. Ein kleiner, weiß gefüllter Doppelstrich führte von einer Landstraße weg und endete kurz vor dem Meer. Das war das Ziel. In dieser hohlen Gasse muss er kommen.
Wer sagte denn, dass Außerirdische keine Autos bewegen können? Ich würde ihm sagen, wir hätten ihn gebeamt. Ihn und sein Auto. Oder ferngesteuert, falls er zwischendurch aufwachte. Die Straße war leer. Ich musste es riskieren. In der Mittekonsole lag eine Sonnenbrille. So sah man seine geschlossenen Augen nicht.
Anschließend verstaute ich seinen Schwanz in seiner Hose, nicht jedoch ohne zuvor noch vergeblich zu versuchen, eine Erektion herbeizurubbeln. Scheiß Alkohol. Das wäre doch die beste Gelegenheit für eine geile Geisterfahrt auf seinem Schoß gewesen.
Unbefriedigt schob ich den Fahrersitz so weit es ging nach hinten und setzte mich zwischen Florians Beine. Viel Platz war nicht zwischen Lenkrad und meinem Bauch und ich hatte einige Schwierigkeiten, die Gänge einzulegen. Mein nackter Fuß rutschte mehr als einmal von der Kupplung.
Anfangs würgte ich den Motor mehrfach ab. Wie lange war ich nicht mehr Auto gefahren? Drei Jahre? Vier? Der Wagen hoppelte vom Parkplatz.
Ich überlegte, zurück zur Tankstelle zu fahren, aber mit dem betrunkenen Schizophrenen im Schlepptau würde ich bei Anna nicht punkten können. Hysterie und Panik wären vorprogrammiert. Ich konnte nur versuchen, vor ihr am Strand zu sein und dort auf sie zu warten.
Über die Einzelheiten der Begegnung machte ich mir keine Gedanken. Und das war auch gut so.
Die Straße endete an einem hohen Zaun. Daran hing ein großes Schild, das den Zutritt verbot und auf den offiziellen Eingang ein paar hundert Meter weiter verwies. Hinter dem Zaun verbarg ein dichter Kiefernwald den Blick auf den Strand. Ein paar Vögel krächzten. Das Gras war verdorrt.
Das also war Annas Ziel gewesen. Ich starrte auf das Schild.
Zone Naturistes stand darauf.
Mein Französisch reichte, um zu verstehen. Ich Idiot.
Links von mir ein etwa fünf Meter breiter Wasserlauf, der einen kleinen Binnensee mit dem Meer verband, getrennt nur von zwei Schleusentoren, die ihre besten Zeiten bereits hinter sich gelassen hatten. Naturschutzgebiet. Menschenleer. Seltene Vögel paarten sich hier. Ich verstand. Erst weiter hinten, hinter dem Leuchtturm, konnte ich Autos erkennen, die Straße, über die sie gekommen war und die hier eine Brücke auf das andere Ufer vermisste.
Aber ich war genau richtig hier. Ich war am Ziel. Bis auf eine Situation an einer Ampel, an der die Blicke einer alten Frau auf den hinter mir schlafenden Florian erst überrascht und dann ungläubig gewesen waren, hatte ich die drei Stunden Fahrt gut überstanden. Florian war eine gelegentlich schmatzende und schnarchende, sehr weiche Sitzauflage gewesen, die etwas zu sehr nach McDonald’s roch und sich kaum bewegte. Ab und zu, wenn ich durch eine Stadt gekommen war, hatte ich versucht, mit einer Hand zu lenken und mit der anderen einen von Florians Armen ans Lenkrad zu heben. Zweimal war es mir auch gelungen. Beim dritten Mal wäre ich beinahe in einen Getränkelaster gekracht.
Vielleicht war es Schicksal, vielleicht auch nur logisch, denn wir hatten ja darüber gesprochen. Anna stand, den Rucksack geschultert, neben dem Leuchtturm, von dem sie gesprochen hatte, und starrte auf meine Seite des Ufers. Ich fluchte lautlos. Sie war zu früh. Jetzt konnte ich Florian hier nicht mehr abstellen und hoffen, dass die beiden noch irgendwie zusammenfanden.
Als sie die Handbremse knarren hörte, hatte ich ihre Aufmerksamkeit gewonnen.
Anna stutzte und starrte über den Wasserlauf zu uns hinüber.
Vorsichtig glitt ich vom Fahrersitz.
Was jetzt?
Florian hing auf seinem Sitz wie tot. Die Sonnenbrille verbarg seine Augen. Tot. Wie die Leiche aus Immer Ärger mit Bernie, die immer wieder auftauchte und den Eindruck erweckte, Bernie sei noch am Leben. Man hatte mit Bernie gespielt wie mit einer Puppe.
Ich beugte mich über Florian und kurbelte das Fenster herunter. Auf die Entfernung konnte sie mein Theater unmöglich erkennen. Zudem hatte ich die Sonne im Rücken. Es konnte klappen.
»Wo ist deine Freundin?«, rief ich und bewegte dabei die Kinnlade des Schlafenden wie ein Bauchredner seine Handpuppe. Auf und zu, auf und zu, im Rhythmus meiner Worte. So rücksichtslos, wie ich seinen Kopf drehte, würde er morgen sicherlich über fiese Verspannungen klagen.
Sie schirmte die Sonne mit der Hand ab. »Vermutlich auf deiner Seite.«
»Und was machst du dann da drüben?«
»Was?«
»Was du dann da drüben machst?«, sagte ich lauter.
Sie streckte den Kopf vor, als würden die drei Zentimeter mehr einen Unterschied machen, und rief zurück: »Der Typ, der mich mitgenommen hat, hatte keine Ahnung. Und du hast meine Karte. Jetzt sitze ich hier. Und was machst du hier?«
»Ich war gerade in der Gegend…«
»Deine Stimme klingt komisch, geht es dir gut?"
»Ich glaube, ich bin etwas erkältet. Sorry wegen heute Morgen, du hast da einen wunden Punkt angestoßen."
»Der scheint sehr wund zu sein, so wie du reagiert hast.«
Ich griff nach dem Beutel und wedelte damit vor dem offenen Fenster herum.
»Du hast was vergessen.«
»Hast du reingeguckt?«
»Ja, sorry. Aber nicht benutzt.«
»Dir ist schon klar, dass man sowas normalerweise nur zu zweit benutzt.«
»Zwei Frauen?«
»Was meinst du? Stehe ich auf Frauen? Oder auf Männer?«
Ich nahm Florians linke Hand und strich ihm damit durch seine Haare. Ich fand mich ziemlich gut als Puppenspieler. Florian schmatzte schläfrig.
»Ich glaube, dass dein Freund Chris dich hat sitzen lassen, weil er sich nicht von dir ficken lassen wollte.«
»Woher weißt du das?«
»Das haben mir die Außerirdischen gesteckt.«
Sie lachte und sah auf das Wasser zwischen uns. »Unsere Vorstellungen von einer Beziehung waren etwas zu unterschiedlich.«
»Ich kann mir das wiederum gut vorstellen.«
Anna griff in ihren Rucksack und holte das Pornoheft raus, mit dem Florian sie an der Tankstelle hatte sitzen lassen. »Stehst du auf Männer?"
»Nein, aber ich mag das Gefühl. Das Leben ist zu kurz für nur eine Seite der Lust.«
»Die wenigsten Hetero-Männer, die ich getroffen habe, wollten, dass ich ihnen was in den Hintern stecke.«
»Wie du gemerkt hast, bin ich anders.«
Anna grinste, so viel konnte ich auch über die Entfernung erkennen. In diesem Moment zuckte Florians rechte Hand, und er schmatzte wieder. Er wachte doch nicht etwa auf?
»Und jetzt?«, rief sie über den Fluss.
»Ich finde, wir sollten das mit unseren gemeinsamen Vorlieben genauer diskutieren.«
»Ich hab aber keine Lust mehr zu schreien.«
»Dann musst du wohl den Weg zurück zur Straße. Ich warte hier auf dich. Weck mich, falls ich schlafen sollte.«
Ich lehnte Florian in den Sitz und verschränkte seine Arme vor der Brust. Mein Herz raste. Das würde wie der Übergang zwischen den Prequels von Krieg der Sterne und der Originaltrilogie sein. Holprig und mit fehlenden Informationen, aber auf die Details achteten ohnehin nur Freaks.
Anna stand noch auf der anderen Seite, schien zu überlegen, ob sie über die Schleusentore klettern sollte. Doch dann tat sie wieder etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Mit einer raschen Bewegung zog sie ihr Top über den Kopf. Dann stieg sie aus den Jeans und war Sekunden später splitternackt. Sie stopfte ihre Sachen in den Rucksack, hob ihn über den Kopf und stieg in das Wasser.
Ich verließ das Auto, drückte die Beifahrertür leise zu und schlich zum Ufer.
Bis zu den Knien, zu den Schenkeln, zur Scham, zum Bauchnabel, zu den großen Titten. Ihre Augen weiteten sich. War das Wasser kälter als erwartet?
Sie drehte sich auf den Rücken, das Wasser spritzte, sie prustete und hielt den Rucksack nach oben, legte ihn auf den Bauch und stieß sich kräftig mit den Beinen ab. Der grüne Stoff des Rucksacks färbte sich am unteren Rand dunkel.
Schließlich erreichte sie das Ufer. Den Rucksack über den Kopf gehoben stieg sie die Böschung hinauf. Das Wasser perlte von ihrem nahtlos gebräunten Körper. Zumindest ihre Brüste waren perfekt.
Sie stellte ihren Rucksack am Auto ab und sah sich um. Ich bestaunte ihren Hintern. Auch der war okay. Ich wusste gar nicht, was Florian daran auszusetzen hatte.
Vorsichtig langte sie durch das offene Fenster und rüttelte Florian an der Schulter. Aus einem Schnaufen wurde ein Grunzen wurde ein erschrockenes Schnappen nach Luft.
Florian fuhr hoch, riss sich die Sonnenbrille von der Nase, blinzelte und starrte Anna an.
»Fuck«, fluchte er. Panik. Er sah sich um. Das war nicht mehr der Parkplatz, auf dem er eingeschlafen war. Ich spürte die Aufregung in meinem Bauch flattern.
»Schlecht geträumt?«, sagte Anna. Florian rückte auf seinem Sitz zur Fahrzeugmitte und starrte Anna durch das Fenster an, als wäre sie ein Alien. Seine Zunge war noch schwer.
»Wie kommst du denn hierher?«
»Ich bin geschwommen. Mensch, du klingst ja wirklich ein bisschen angeschlagen.«
Florian rieb sich die Augen und musterte seine nackte Mitfahrerin ausgiebig, bevor er sich umsah.
»Und wie komme ich hierhin?«
»Vielleicht haben dich deine Außerirdischen hergebeamt.«
Anna lachte und stützte sich in das Fenster auf die Tür. Sie streckte den Po nach hinten. Durch das Fenster sah ich die Überraschung auf Florians Gesicht und wie es in seinem Kopf arbeitete. Außerirdische? Na, ganz sicher doch.
»Dann bist du am Ziel?«
»Ich hoffe es, jetzt muss ich nur noch da rein.« Sie zeigte auf das Schild. »Irgendwo ist hier ein Loch im Zaun, da kann man durch.«
»Was ist das denn nun für eine Party?«
»Sie wird dir gefallen.«
»Wieso? Gibt’s da was zu essen?«
»Weißt du nicht, für was die Ecke hier bekannt ist?«
»Nein, keine Ahnung.«
»Hier in der Nähe gibt es die größte Nudistenkolonie Europas.«
»Du wolltest auf eine FKK-Party?«
»Ich steh auf FKK.«
In Florians Augen irrlichterte die Ratlosigkeit. »Ich kann nicht, ich hab doch noch eine Aufgabe zu erfüllen.«
Anna richtete sich auf, streckte die Brust raus und griff sich so unauffällig zwischen die Beine, dass Markus es von seinem Platz im Auto nicht sehen konnte.
»Ich glaube, ich habe da die richtige Aufgabe für dich.«
Mein Fahrer presste die Hände gegen den Kopf.
»Mir platzt der Schädel, ich muss eine Kopfschmerztablette nehmen.«
»Mach, ich geh dann schon mal vor.«
»Wohin?«
»Zum Strand, kommst du mit?«
»Ich weiß nicht…«
Anna nahm den Rucksack hoch und angelte sich den Beutel. Am Zaun drehte sie sich noch einmal um.
»Bis gleich«, sagte sie, und in ihren Augen blitzte mehr als nur ein freundliches Lächeln. »Ich bin froh, dass du mir nachgefahren bist.«
Florian winkte matt durch die schmutzige Scheibe. Wir sahen zu, wie Anna auf alle Viere ging, um durch eine Lücke im Maschendrahtzaun zu kriechen. Allein der Anblick war die Fahrt wert. Florian glotzte.
»Oh, mein Gott…«
»Worauf wartest du?«, sagte ich durch das offene Fenster.
Er zuckte zusammen.
»Was habt ihr gemacht?«
»Teleportation.«
»Aber warum hierher?«
»Was meinst du, was könnte der Grund sein?«
Florian starrte auf das Loch im Zaun. Kaum hörbar sagte er: »Das Ziel. Das hier ist das Ziel.«
»Siehst du? Du kommst selbst auf die Lösung.«
Er ließ den Kopf gegen die Nackenstütze fallen. »Du meinst, hier treffen sich die Auserwählten?«
»Ja, und wir müssen uns korrigieren. Anna ist auch eine Auserwählte. Sie weiß es nur nicht, weil wir mit ihr keinen Kontakt aufnehmen können. Aber ihre innere Stimme hat sie an diesen Ort geführt.«
Florian fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht.
»Und jetzt?«
»Jetzt gehst du hinterher und erfüllst deine Aufgabe.«
»Welche?«
»Mach die Welt zu einem besseren Ort.«
»Und wie?«
»Du brauchst nur Anna zu folgen.«
Kopfschüttelnd öffnete Florian die Autotür. Aus dem Kofferraum holte er seinen Rucksack, wühlte darin und holte seinen kleinen Kulturbeutel heraus. Zwei kleine Plastikstreifen. Einer mit Kopfschmerztabletten, einer mit seinen Psychopharmaka.
»Nimm die Kopfschmerztabletten. Und wirf den Rest weg.«
»Bin ich geheilt?«
»Vielleicht warst du ja nie krank.«
Ich fand, dass das ein gutes Schlusswort war.
Tag der Veröffentlichung: 24.02.2017
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