Cover

1

Ich träumte von Julian, träumte von Kommandos, von unausgesprochenen Vorwürfen. Träumte von Forderungen, von Überforderungen und fühlte mich seltsam gefangen in meiner Beziehung.

Mein Herz raste, als mich die Sonne weckte. Ich starrte in den hellgelben Ball, der über den Baumwipfeln stand. Der Anblick schmerzte. Ich schloss die Augen, presste die Lider fest zusammen, das Bild blieb. Mein Arm, den ich vor die Augen hielt, brachte keine Linderung. Er war wie aus Glas. Dann erst wachte ich richtig auf.

Ich war unsichtbar. Mein Arm, meine Augenlider, mein Kopf – für niemanden mehr sichtbar, es sei denn, man kippte einen Eimer Farbe über mich aus.

Das Experiment im Institut, die toten Wissenschaftler, die verbrannten Kleider und meine verlorene Identität. Das alles kam mir wieder zu Bewusstsein. Hier auf einer Hollywoodschaukel in einem Kleingarten, zwischen Gartenzwergen und Kinderplanschbecken. Ich zog die graue Pferdedecke, in die ich mich eingehüllt hatte, über den Kopf. Mich fröstelte ein wenig.

Ich hatte eine ganze Nacht durchgefickt, hatte alles rein- und wieder rausgelassen, hatte geschluckt und gespritzt, hatte mit unbekannten, gesichtslosen Männern den besten Sex seit Jahren, aber wieso dachte ich an den letzten Sex mit Julian? Seine verschämten Bewegungen unter der Bettdecke, während er seine Pläne für mein Leben darlegte. Ich hockte mich auf den Rand des Planschbeckens und ließ die Beine ins Wasser baumeln. Vögel zwitscherten, zwei Eichhörnchen hüpften durch die Morgensonne. Es war beinahe romantisch.

Die Sonne stand ganz links von mir im Osten. Julian. Er hatte mich nicht mehr in den Arsch gefickt. Dass er nur noch Sex mit mir wollte, wenn ich zuvor das Licht löschte, war eine Sache. Aber er hatte sich ansonsten auch nicht mehr für meine Bedürfnisse interessiert. Immer häufiger war der Gedanke daran, ihn zu treffen, zu sehen, zu spüren, angenehmer gewesen als ihn tatsächlich zu treffen, zu sehen, zu spüren.

Die Distanz war aufregender gewesen als die Nähe. Die Vision schöner als die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit war anstrengend, war fordernd, war launisch und kniete sich nicht hin, hatte eine andere Meinung, war intelligenter, erfolgreicher, schöner, besser. Die Wirklichkeit war kritisch, mäkelnd und nie so willig, wie die Fantasie.

Ich dachte mit dem Schwanz, war mit dem Dildo im Arsch aufgewacht und mir meiner eigenen Unzulänglichkeit bewusstgeworden.

Mein Studium hatte ich nie abgeschlossen, mein Leben hatte ich nie auf die Reihe bekommen. Stattdessen hatte ich mich an der Fantasie aufgegeilt, wie Julian von einem anderen Mann gefickt wurde, wie er sich vor seinen Kollegen kniete oder es mit ihm in der Öffentlichkeit im Berghain trieb.

Ich hatte mich überflüssig machen wollen, weil ich davon überzeugt gewesen war, es seit langem zu sein und von niemandem vermisst zu werden. Und nun, endlich, war ich verschwunden. Jetzt musste ich niemandem Rechenschaft ablegen. Ich konnte sein, was ich wollte, und wenn es bedeutete, wie mein Vater zu sein.

Mit den Füßen in angenehm kühlem Wasser starrte ich in die aufgehende Sonne. Ein lauer Wind kräuselte die Oberfläche des Swimmingpools.

Ficken, ohne an die Konsequenzen zu denken. Das eigene Leben leben, selbst wenn es nach oberflächlichen Reizen gierte.

In der U-Bahn festigte sich mein Entschluss. Während ich nackt durch die Wagen mit schwitzenden Menschen schlich, Männern auf den Sixpack starrte und auf den Hintern, beschloss ich, die größte Lücke in meinem Kopf zu füllen, die ich kannte: Philipp. Was auch immer ich tun musste, um ihn nackt zu sehen, ihm einmal näher zu sein, als ich es mir je hatte erhoffen können und ihn vielleicht auch einmal zu ficken, notfalls mit fremder Hilfe, ich würde es tun.

Auch wenn ich mich dazu auf die dunkle Seite begeben musste.

Ich war unsichtbar. Vogelfrei. Verantwortungslos.

Seine Eltern wohnten garantiert noch im gleichen Haus wie vor zehn Jahren. Schließlich war der Vater Beamter gewesen, so einer zog nicht um. Sie wohnten in Brachingen, einem kleinen Ort in der Nähe von Northausen.

Als ich noch nicht in Philipp verliebt gewesen war, hatte Brachingen einen schrecklichen Klang besessen, den Klang einer Körperfunktion. Es tut mir leid, sagt der Betrunkene auf der schlechten Party, aber ich muss mal brachingen.

Doch das letzte Jahr vor dem Abitur hatte alles anders verändert. Danach hatte Brachingen wie ein Versprechen geklungen, dass nie eingelöst worden war.

Das Jahr, in dem ich mir eingestanden hatte, dass ich auf Männer stand, weil ich mich in Philipp verliebt hatte. In seine Augen, seine sanfte Art, sein Verständnis. Nur ihm hatte ich mich anvertraut. Weil er es geahnt hatte, weil er mich durchschaut hatte wie ein kleines Kind. Nächtelang hatten wir geredet, und am Ende hatte ich gehofft, er würde mich nicht nur verstehen, sondern meine Gefühle erwidern.

Aber ich hatte mich geirrt.

Nicht einen einzigen Kuss hatte ich von Philipp bekommen, nicht einmal nach dem Abitur. Keine Chance, nur eine unschuldige Umarmung. Er hatte mich sanft, aber bestimmt zurückgewiesen.

Ich bin nicht das, was du denkst, hatte er gesagt, und das zu akzeptieren, war die schwerste Aufgabe in meinem Leben gewesen. Und eigentlich hatte ich es nie akzeptiert. Nicht in einer Sekunde.

 

2

Am Bahnhof Zoo hatte ich die Wahl zwischen einem Direktzug über Hannover, einem heruntergekühlten ICE, oder einer überhitzten Regionalbahn, bei der ich mehrfach umsteigen musste, aber ich nahm lieber das in Kauf, als eine Stunde lang zu frieren. Eine Erkältung war das Letzte, das ich gebrauchen konnte.

Der Zug war voller alter Leute, Radfahrer, Kinder. Kein Unterhosenmodel auf Reisen weckte meine Neugier, keine Skater in engen T-Shirts. Meine Lust war fürs Erste gestillt. Wenigstens für ein paar Stunden. Ich setzte mich auf einen freien Platz und starrte aus dem Fenster.

Kein Spiegelbild eines glatzköpfigen, sexsüchtigen Idioten störte den Blick auf die Landschaft. Und ich war froh darüber.

Northausen rückte mit jedem Halt auf in der Hitze flirrenden Regionalbahnhöfen näher. Ich war lange nicht mehr zuhause gewesen. Nach meinem Abitur hatte ich die Stadt verlassen, um in Hamburg Germanistik zu studieren. Wie unrecht ich der Stadt getan hatte. Ich hatte gedacht, sie sei zu klein für mich gewesen.

Was hatte ich gewonnen, seit meiner Flucht? Ein abgebrochenes Germanistikstudium und die Gewissheit, ein Arsch zu sein. Mich hatte niemand vermisst und ich war selbst schuld daran.

So viele Jahre hatte ich in der hübschen Stadt gewohnt, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Von der Stadtmauer wusste ich nur, weil ich mein Rad ab und zu an sie gelehnt hatte, und den Gesundbrunnen kannte ich nur als einen tollen Ort, um zu kotzen. Fachwerkhäuser und die wunderschöne Lage am Harz waren an einen ignoranten Teenager verschwendet worden.

Freunde erwarteten mich dort nicht, nur meine Mutter, die es nicht geschafft hatte, in einer anderen Stadt neu anzufangen. Aber ich hatte nicht das Bedürfnis, sie zu sehen. Ich hatte sie nicht sehen wollen, als ich noch lebte. Tot hatte ich noch weniger Lust dazu.

Zwei Regionalbahnen später erreichte ich Northausen. Nach Brachingen fuhr keine Bahn, ich musste den Bus nehmen, falls einer fuhr.

Am Bahnhofskiosk verhedderte sich mein Blick in der aktuellen Ausgabe der Northauser Nachrichten. Nicht die Schlagzeile über den Super-Sommer schockte mich – es war eine kleine Überschrift: Northausener unter den Berliner Reaktortoten.

Sekundenlang überlegte ich, wer außer mir noch im Forschungsreaktor gewesen war, als das Unglück geschah. Vielleicht stammte einer der Wissenschaftler aus meiner Heimatstadt, oder einer der Sicherheitsleute.

Erst als ich mich vor das Regal kniete, so dass mein Schwanz den kühlen Boden berührte, und die ersten Zeilen las, begriff ich, dass von mir die Rede war.

Ich war der Tote. Ich wurde vermisst.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass niemand in meine Richtung sah, hob ich die Zeitung an und las den Artikel. Viel Neues erfuhr ich nicht, aber als ich meinen Namen las, erschrak ich tiefer als erwartet.

Jonas Koch wird beerdigt.

Tot. Kein Zurück. Mir kam das Lied von den Ärzten in den Sinn.

Dann bin ich ein Star, der in der Zeitung steht…

Tolle Leistung.

Als Jugendlicher hatte ich mich einmal auf den Friedhof an der Apostelkirche verirrt. Wir hatten zusammen gesoffen, mein bester, nein, mein einziger Freund Alexander, seine Freundin Tine, ihre beste Freundin Claudia, die in mich verliebt gewesen war. Noch vor dem Abitur waren die drei von der Schule abgegangen, hatten ihren Realschulabschluss gemacht und mich alleine gelassen. Mich und mein Gefühl, nicht zu wissen, wohin ich gehörte.

Besoffen waren wir in mondheller Nacht über den Zaun geklettert und ich hatte mich vor den Mädchen zum Affen gemacht, war mit gespieltem Buckel und gelähmten Bein wie ein deformierter Totengräber zwischen den Grabsteinen hin und her gehumpelt und hatte meine Freunde zum Lachen gebracht.

Claudia hatte mich immer wieder verliebt angesehen, doch mehr als Freundschaft hatte ich nicht für sie gehabt. Und das war mir so unangenehm gewesen, weil ich es nicht verstanden hatte. Am liebsten hätte ich mich damals begraben lassen, aus Scham, Trauer und Abscheu vor mir selbst. Ich hatte damals keine Ahnung, dass ich das 15 Jahre später einmal würde nachholen können.

Ich wusste nicht, was ich erwartete und was mich dazu trieb, Zaungast bei meiner eigenen Beerdigung zu sein. Wer würde dort sein? Mein Vater? Würde er aus Südfrankreich anreisen? Meine Mutter bestimmt, die wohnte schließlich um die Ecke. Mein jüngerer Bruder? Ich hatte so lange keinen Kontakt mehr zu ihm gehabt. Und sonst? Freunde hatte ich keine. Ich war nie der Typ gewesen, der Freundschaften pflegte. Nicht während des Studiums und nicht danach. Meine Schulfreunde hatten mich aus den Augen verloren. Nach meinem Outing sowieso. Aus den Augen, aus dem Sinn. Ich war nicht einmal zur Beerdigung meiner Großeltern gefahren, die vor ein paar Jahren kurz hintereinander gestorben war. Es war, als habe mich ihr Tod nichts angegangen, als gehörte ich nicht dazu.

Jetzt würde ich die Konsequenzen meiner Verweigerungshaltung erfahren, meiner selbstgewählten Isolation. Niemand würde kommen außer meinen Eltern und meinem Bruder, und die war mir egal. Geschah mir Recht, dass mich auch im Tod niemand mochte. Ich mochte mich schließlich auch nicht.

Nach Mittag erreichte ich den Friedhof an der Apostelkirche. Wie meine Mutter es geschafft hatte, mir einen Platz auf dem Friedhof zu ergattern, konnte ich nur erahnen. Hätte ich nur etwas von ihrer Hartnäckigkeit und Sturheit, von ihrem Dickkopf und ihrer Dominanz geerbt, stattdessen war ich lediglich so unsensibel und berechnend wie sie geworden.

Auf dem Weg zum Friedhof geriet ich nicht nur aufgrund der steigenden Temperaturen ins Schwitzen. Der Gedanke, meine Familie wiederzusehen, vor allem meine Mutter, stresste mich mehr als gedacht. Seit ein paar Jahren hatte ich nur mit ihnen telefoniert, hatte keinen der drei gesehen.

Unsere Familie war so bilderbuchmäßig auseinandergebrochen, als mein Vater meine Mutter verlassen hatte, dass sich niemand die Mühe gemacht hatte, die Teile zusammenzukehren. Mein Bruder war bei unserer Großmutter in Bayern untergekommen, und mein Vater in einer Künstlerkommune in Südfrankreich.

Meine Mutter hatte mir das Leben in den Jahren, die wir zusammengelebt hatten, so zur Hölle gemacht, dass ich sie kaum noch besucht hatte. Weder während meines Studiums, noch in der Zeit, in der ich versuchte, in Berlin Fuß zu fassen. Unsere Kommunikation hatte sich hauptsächlich auf unbefriedigende Telefonate beschränkt.

Die mit meinem Vater waren etwas seltener, dafür länger gewesen. Doch auch er hatte mich eher als verbaler Abfalleimer benutzt, als eine Möglichkeit, sich Dinge von der Seele zu reden, die weder seine Kommunarden, noch seine Kunden hören wollten.

Mit meinem Bruder hatte ich nie ein enges Verhältnis gehabt. Zu verschieden waren wir. Er hörte Hiphop, fuhr Skateboard und flog zum Surfen nach Australien. Das Einzige, das wir gemeinsam hatten, war unsere eigenbrötlerische Art, der Wunsch, sich zurückzuziehen. Das brachte uns nur noch weiter auseinander.

Doch während sich meine Aggressionen gegen mich selbst richteten, hatte er mit exzessivem Hedonismus ein hautschonenderes Ventil gefunden. Reden konnten wir über die Trennung unserer Eltern nie. Früher dachte ich, er wolle nicht reden. Inzwischen war ich davon, dass sie ihn nie so sehr berührt hatte wie mich.

Erst dachte ich, mich geirrt zu haben, weil zwischen den Grabsteinen niemand zu sehen war, aber als ich um die Ecke bog wurde mir alles klar.

Kein Sarg, keine Blumenkränze, kein Grabstein.

Was mich erst überrascht hatte, erschien mir bei reiflicher Überlegung nur zu logisch. Was war mehr von mir übriggeblieben als ein Portmonee und meine Kleider?

Ein Sarg wäre Geldverschwendung gewesen, gerade für eine Frau, die Zeit ihres Lebens befürchtet hatte, zu kurz zu kommen. Meine Urne war schwarz und schlicht, und ich wusste, dass meine Mutter das billigste Modell gewählt hatte, dass der Bestatter im Angebot hatte.

Die Urnenwand war neu. Zu meiner Zeit hatte es an dieser Seite des Friedhofes nur einen Ständer mit Gießkannen gegeben. Jetzt reihten sich dort dutzende Din-A-4-große Fächer aneinander. Davor war die Trauergemeinde versammelt.

Ich hatte mich nicht geirrt. Die Anzahl der Personen war sehr übersichtlich. Doch außer meinen Eltern und meinem Bruder sah ich Julian und eine anderen jungen Mann, der mir bekannt vorkam.

Während ich noch grübelte, überwand ich die Distanz. Unsichtbar und ohne die Absicht, einen der Anwesenden anzufassen.

Du solltest nicht hier sein, schoss es mir durch den Kopf, und das Bedürfnis zu gehen wurde unerträglich stark.

Meine Familie zu sehen, bereitete mir körperliches Unbehagen. Ich spürte, wie sich meine Kopfhaut zusammenzog. Ich hatte keine Sekunde lang das Bedürfnis, mich zu offenbaren. Nicht einmal um meinen Bruder tat es mir leid. Zu oft waren wir aneinandergeraten, zu fremd waren wir uns geworden. Julian zu sehen hingegen versetzte mir einen Schlag in den Magen, Julian hatte ich nicht erwartet.

Aber vielleicht war das auch wieder genau mein Problem. Ich hatte am Ende gedacht, er sei gegen mich gewesen, er habe mich nur noch aus Mitleid nicht verlassen. Sympathie für mich hatte ich ihm nicht mehr zugestanden. Liebe noch weniger.

Alles, was ich von Julian sah, waren sein Arsch und sein breites Kreuz. Dieser Luxushintern, den ich so selten hatte besitzen dürfen. Ich fühlte in diesem Moment wieder die Erwartungshaltung. Tu etwas, schien Julian mit dem Rücken zu mir zu sagen. Mach etwas aus deinem Leben. Nimm es in die Hand.

Von hinten schlich ich mich an die Besucher meiner Beerdigung heran. Eines Tages, wollte ich singen, wird' ich mich rächen. Ich werd' die Herzen aller Mädchen brechen. Dann bin ich ein Star, der in der Zeitung steht, doch dann tut es dir leid, doch dann ist es zu spät. Die Herzen gebrochen? Ich hatte es anders im Sinn gehabt. In der Zeitung stand ich jetzt auch, anders jedoch, als ich es mir erträumt hatte. Und meine Rache bestand nicht darin, ein Star zu werden, sondern zu sterben, mich abzuschaffen.

Weg. Beerdigt. Wie damals auf dem Friedhof.

Zu spät.

Meine Familie sah aus wie früher, und nicht einmal auf meiner Beerdigung trugen sie Schwarz. Meine Mutter hatte sogar geschafft, ein rotes Kleid anzuziehen. Dennoch war das hier keine Feier des Lebens, das war eine reine Totenmesse. Hier wurde nicht über alte Otto-Witze gelacht, die mein Bruder früher immer erzählt hatte. Es war der Abschluss eines Lebens, das für die anderen nie ein Grund zur Freude gewesen war.

Ein Mann, der nicht wie ein Pfarrer aussah, sondern wie ein Angestellter der Stadt hob die Urne, die billige, in das kleine Fach und setzte eine Platte davor.

Ich warf einen letzten Blick auf Julian. Er sah gut aus, nur die Ränder unter den Augen standen ihm schlecht. Doch wer war der andere Typ? Der mit den kurzen dunkelblonden Haaren und dem engen, gut geschnittenen schwarzen Hemd? Der so ganz anders wirkte, viel cooler als Julian in seinem Business-Anzug? Ich kannte ihn, ich hatte ihn doch früher schon mal gesehen. Er war aus Northausen. Er war.

»Tschüs Tim«, sagte Julian und gab dem Unbekannten die Hand.

Tim. Der Tim? Und dann machte es Klick und ich hatte nur noch Augen für meinen ehemaligen Mitschüler.

Alles, was ich während meiner Schulzeit an Hänseleien auszuhalten hatte, war auch von Tim gekommen. Er hatte mich als Schwuchtel bezeichnet, noch bevor ich wusste, dass er Recht gehabt hatte. Er hatte mir die Luft aus meinen Reifen gelassen, weil ich mein Fahrrad zu nah an seinem geparkt hatte. Er hatte Witze über meine Frisur, meine Klamotten, meine Schuhe, meine Art zu gehen und meine Pickel gemacht, und weil er viele coole Freunde hatte, damals, war ich auch für sie zur Zielscheibe des Spotts geworden. Sie hatten mich nicht verprügelt, aber ich hatte nie dazugehört. Ich war immer der Außenseiter gewesen. Auf den Partys, zu denen mich Alexander manchmal mitgeschleppt hatte und auf denen ich mir vorgekommen war wie ein Schwein im Schlachthof, war ich ein Fremdkörper gewesen. Und ich hatte mir nicht viel Mühe gegeben, diesen Eindruck zu vermeiden. Ich hätte Tim hassen müssen, aber ich hatte dazu nicht die Kraft gehabt. Ich war ihm einfach nur aus dem Weg gegangen. Bis zum Abitur. Und dann hatte ich ihn niemals wiedersehen wollen.

Wie sehr hatte er sich verändert. Sein Gesicht war noch so markant und männlich wie zuvor. Aber der Grungebart fehlte. Dafür hatte er einen deutlichen Schritt gemacht, was seinen Modegeschmack anging. Gutsitzendes Hemd, lässige schwarze Jeans, Lederschuhe. Dass er trotz der Hitze auf Shorts und Sandalen verzichtet hatte, sprach für ihn. Aber es war schließlich eine Beerdigung.

Aber genau dieser Gedanke irritierte mich schließlich. Was machte er auf meiner Beerdigung? Genugtuung verspüren, dass ich, sein langjähriges Opfer, endlich unter der Erde lag? Jetzt, Jahre später, konnte er sich doch nicht ernsthaft noch immer an meinem Elend ergötzen.

Was zum Teufel steckte dahinter? Warum war der einzige Besucher auf meiner Beerdigung der Mitschüler, der mich am meisten gehasst hatte? Und warum sah der auch noch so verdammt gut aus?

Mein Selbstmitleid war wie weggeblasen. Die Konditionierung setzte sich auch über Trauer hinweg. Wahrscheinlich würde ich selbst auf meiner eigenen Beerdigung einen Trauergast ficken, wenn er sich auszog. Und wahrscheinlich musste der Trauernde nicht einmal das machen, um mich geil zu machen.

Tims Körperdrehung überraschte mich, und beinahe hätte er mich über den Haufen gerannt. Ich wich nach hinten aus und drehte mich zur Seite.

Eines Tages. Werde ich mich rächen.

Manchmal hatte ich davon geträumt, mit dem heutigen Bewusstsein in den Körper meines 13-jährigen Ichs zurück zu kehren und mein Leben noch einmal zu leben, wie bei Peggy Sue hat geheiratet. Das wäre vielleicht die einzige Möglichkeit eines reinigenden Fegefeuers.

Die Trauerfeier war vorbei. Hatte ich etwas verpasst? Gedenkworte? Wer hätte sie sagen sollen.

Julian gab auch meiner Mutter mit einem Abschiedsgruß die Hand, sagte meinem Vater, wie sehr er gehofft habe, ihn zu einer anderen Gelegenheit einmal kennen zu lernen, und lächelte meinem Bruder aufmunternd zu.

Ich sah sie gehen, alle vier, sah sie verschwinden, sich ohne ein weiteres Wort trennend. Nicht einmal mein Tod hatte es vermocht, ihnen die Sprache wiederzugeben. Vielleicht gingen sie noch etwas essen, gemeinsam, aber worüber wollten sie reden? Sie hatten keine gemeinsame Zukunft, und jetzt fehlte ihnen auch noch ein Stück gemeinsame Vergangenheit.

Tim war bereits gegangen, und ich hatte nicht lange darüber nachdenken müssen, ob ich ihm folgen sollte oder Julian. Tim und seine Demütigungen. Was auch immer ich mit ihm tat, heimlich, in der Nacht, es würde nie gutmachen, was er als Jugendlicher versaut hatte. Nie wieder würde er nachholen können, was er mir angetan hatte. Einmal Opfer, immer Opfer.

Aber eines wusste ich: Wenn Tim als einziger meiner Schulfreunde nach so vielen Jahren, die wir uns nicht gesehen hatten, bei meiner Beerdigung auftauchte, ließ das noch die eine oder andere Frage offen.

Irgendwie brauchte ich jetzt Antworten, auch wenn sie alte Wunden aufrissen. Außerdem hatte ich Lust, Tim beim Duschen zu beobachten.

Er hatte sein Auto in einer Nebenstraße geparkt. Es stand in der prallen Mittagssonne, und als er die Fahrertür öffnete, quoll nach Plastik stinkende Hitze aus dem Wagen.

Tim wandte den Kopf ab und ging um das Fahrzeug herum, um die Beifahrertür zu öffnen und einmal durchzulüften.

Ich weiß nicht, was mich ritt, aber ich hatte nur eine Sekunde lang Zeit, und ich wollte diese Gelegenheit nicht verpassen. Also stieg ich durch die Fahrertür ein, kämpfte mich auf die Rückbank, kauerte mich in den Fußraum und hoffte, dass er nicht noch etwas einladen musste.

 

3

Eine Zeitreise begann.

Jeder Meter brachte mich zurück in meine Jugend. Tim war mein Denkmal für die versaute Jugend und der Grund, warum mein Outing auf ewig mit Demütigung und Leiden verbunden war.

So viele Jahre waren wir in die gleiche Klasse gegangen. So viele
Jahre war er immer in meiner Nähe gewesen. Und immer hatte ich Angst vor ihm gehabt, vor seiner Willkür, seinen Freunden, seinem Hass. Es war, als sei Tim mein unterdrücktes Eingeständnis gewesen. Bedrohlich, unbestimmt, weil ich nicht wusste, warum er mich immer abgelehnt hatte. Später träumte ich in einsamen Nächten von Tim, von seiner Wut auf mich und einem Gespräch mit ihm, aber in den Träumen konnte ich nicht verstehen, warum er das getan hatte.

Weil du schwul bist, hätte er vielleicht gesagt, aber Tim hätte sich doch nicht daran stören müssen. Tim war immer beliebt bei den Mädchen gewesen, er hätte sich nicht mit mir abgeben müssen, so wenig wie es die anderen Jungen aus meiner Klasse getan hatten, nachdem Alexander gegangen war.

Nach dem Abitur hatte ich die Stadt verlassen und wir waren uns nie wieder begegnet. In meinen Träumen jedoch, damals in Hamburg, hatte ich immer wieder das Gespräch gesucht und nicht gefunden. Hatte Antworten geträumt, die am Morgen keinen Sinn mehr ergaben. In meinen Träumen hatte ich ihn zur Rede gestellt, als er mir die Luft aus den Reifen gelassen hatte. In meinen Träumen war er nicht mehr davongekommen.

Eines Tages, hatte die Stimme in meinem Schädel immer wieder gesagt, als ich in Hamburg, in meinem Zimmer, Geschichten über mein anderes, nie gelebtes Leben geschrieben hatte, in denen ich mich an allen rächte, die mir wehgetan hatten, als ich versucht hatte, meine Erinnerung so zurechtzubiegen, dass Tim keine lose Schraube mehr war.

Eines Tages werde ich mich rächen.

Es war ein Satz, wie ein Galgenstrick, wie eine Überdosis Schlaftabletten, ein Satz, der mich mein ganzes Leben lang verfolgte. Und mich beinahe umbrachte.

Eines Tages werde ich mich rächen.

Ich hockte in meinem Fußraum, spürte Krümel an meinem Arsch und staunte über die Unordnung in dem Familienkombi. Er musste geheiratet haben, und er hatte sogar mindestens ein Kind. Der Kindersitz auf der Rückbank war voller Flecken und weiterer Brötchenkrümel.

Hochzeit. Kinder. Eigenheim?

Nach knapp fünf Minuten Fahrt setzte er den Blinker und bog von der Umgehungsstraße in ein Neubaugebiet ein. Fast meinte ich, sichtbar zu werden von der Enttäuschung und ein wenig Genugtuung, die durch meinen Körper flossen. Ein spießiges Neubaugebiet.

Tim fuhr den Wagen auf die Auffahrt, zog die Handbremse. Der Motor erstarb. Die Tür knallte. Ich sah, wie er auf dem Weg in der Hosentasche nach seinem Schlüssel kramte, aufschloss und im Haus verschwand.

Ich öffnete die Tür einen Spalt und schlüpfte aus dem Wagen. Zum Glück hatte die Karre keine Alarmanlage. Vorsichtig drückte ich die Tür wieder zu.

Die Sonne stand hoch über dem Neubaugebiet, die Hitze hatte noch zugenommen. Die Betonplatten auf der Auffahrt glühten. Kleine Steinchen bohrten sich in meine Sohlen, die sich verbrannt anfühlten.

Tim, und wieder dachte ich an sein spöttisches Grinsen, mit dem er meine Verzweiflung über sein Mobbing quittiert hatte, an die schulterzuckende Ignoranz, mit der er einfach so weitergemacht hatte, weil er so unangepasst und cool gewesen war, hatte sich mit seiner Frau ein Fertighaus gebaut, wie ich es vom spießigsten Mitschüler nicht erwartet hatte.

Ein niedriger Zaun trennte den Vorgarten von der asphaltierten Nebenstraße. Dahinter Rosenstöcke, Malven im Schatten, ein junger Apfelbaum, frisch gemähter Rasen und Plastikfenster in gelbgetünchten Mauern.

Ich konnte klingeln, und ich konnte hoffen, dass Tim bei diesem Wetter auf seiner spießigen Terrasse sitzen würde, unter einem spießigen Sonnenschirm.

Was konnte ich tun? Ihm in einem Moment, den er nicht erwartete, mit voller Wucht In die Fresse hauen? Das wäre eine späte Genugtuung. Wie nahm man für etwas Rache, das schon jahrelang zurücklag? Das längst verziehen, wenn auch nicht vergessen war.

Die Luft aus den Reifen lassen. Aber wenn er nicht wusste, dass ich es war, wäre die Genugtuung nur halb so groß. In Wirklichkeit wusste ich es nicht, als ich über den Zaun stieg, die trockene Erde des Blumenbeets an den Füßen spürte, den kühlen Rasen zwischen den Zehen. Rasch ging ich um das Haus herum. Dahinter lag eine breite, von niedrigen Büschen eingerahmte Terrasse.

Auf dem schmalen Rasen davor lagen Spielzeuge, ein Plastiktrecker und Kinderschaufeln in einer Sandkiste. Der Sonnenschirm vor der Schiebetür spendete einem Liegestuhl Schatten.

Ach, ich war genial.

Neugierig ging ich über den Waschbeton der Terrasse zur Schiebetür. Sie stand einen Spalt offen. Vorsichtig schlich ich in das kühle Wohnzimmer. Zum Glück hinterließ ich keine schmutzigen Spuren auf dem weißen Teppich.

Möbel aus dem Katalog, ein großer Fernseher, furnierte Türen. Dahinter ein gefliester Flur. Auf den Fotos an der Wand Urlaubsszenen mit Tim, einem kleinen Jungen und einer gutaussehenden Frau.

Je älter die Fotos wurden, umso mehr ähnelte Tim darauf dem großen Arschloch, das ich aus der Schule kannte. Ich erinnerte mich an einen Spruch, mit dem ich damals beschrieben wurde. Wir verabschiedeten eine Mitschülerin, weil die Eltern in eine andere Stadt umzogen, und Tim hatte für die meisten aus der Klasse einen kleinen Text geschrieben, den der Klassenlehrer vorlas.

Für mich hatte er geschrieben: Ist Jonas Mann oder ist er Frau? Er weiß es selbst nicht so genau.

Die Klasse hatte gelacht. Und auch wenn ich es mir damals nicht hatte eingestehen wollen, so war Tim mir vermutlich einen Schritt voraus gewesen. Aber das hatte ich zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst. So war ich nur zu einem Idioten geworden. Mein Coming-out war später gekommen.

Ich hörte Schritte, dann erschien Tim wieder, das Mobilteil eines drahtlosen Telefons in der Hand. Ich hörte mit an, wie er jemandem davon erzählte, gleich einen Lukas abzuholen und mit ihm erst zum Musikunterricht und anschließend nach Hause zu fahren.

Und, ja sie er auf der Beerdigung gewesen. Und nein, bis auf die Familie und einen Ex-Freund sei keiner dagewesen.

Ja, sagte er, es sei schade. Und dann beendete er das Gespräch.

Reglos stand er einen Moment lang mitten im Wohnzimmer. Gedankenversunken. Warum war er auf meiner Beerdigung gewesen? Mein Folterknecht? Um sein Werk zu beenden? Mir gefiel Tim in diesem Moment nicht. Mein Bedürfnis, ihm Körperlich weh zu tun, schwand zusehends. Ein Ruck ging durch meinen schlimmsten Feind.

Er ging zu einem Regal in der Ecke des Wohnzimmers und entnahm ihm einen Schuhkarton. Tim trat aus dem Wohnzimmer und setzte sich unter den Sonnenschirm an den Gartentisch und öffnete den Schuhkarton. In ihm lagen Fotos. Unsortiert und in Fototaschen, in Briefumschlägen gesammelt und mit Büroklammern zusammengeheftet.

Ich stellte mich leise atmend hinter ihn und erkannte die Aufnahmen sofort: Bilder aus unserer Schulzeit. Ein Schuhkarton voller Erinnerungen. Erinnerungen an Ausflüge mit der Klasse, dem Jahrgang. In die Toscana in der 11. und nach Berlin in der 9. Klasse. Erinnerungen an Geburtstagsfeiern bei Freunden, Bekannten und
Klassenkameraden. Dafür, dass ich mich nicht so häufig hatte auf den Partys blicken lassen, war ich ziemlich oft auf den Fotos zu sehen.

Tim nahm ein Foto in die Hand. Es zeigte mich als 17jährigen auf einer Videoparty im Haus von Alexanders Eltern. Das Sweatshirt in die Jeans gestopft. Die Frisur nicht als solche zu bezeichnen. Verklemmt schon auf den Fotos. Unsicher, wohin ich gehörte. Selbst auf einem Foto drückten meine Bewegungen Unsicherheit aus.

Doch dann kamen andere Bilder von mir. Tim wühlte im Karton und fand Fotos aus dem letzten Schuljahr. Anderes Lächeln, andere Frisur, andere Klamotten. Das war das Jahr, in dem ich beinahe jeden Tag mit Philipp abgehangen hatte, das Jahr, in dem ich mich unsterblich verliebt hatte. Das Jahr, in dem ich beschlossen hatte, zu mir und meinen Gefühlen zu stehen. Ein Finger zeichnete die Konturen meines Seidenblousons nach. Das Foto war für die Abizeitung aufgenommen worden.

Ich lächelte auf dem Bild. Offen. Selbstbewusst. Ungewohnt. Tim hielt das Foto lange in der Hand. Der Kopf sank nach unten, die Schultern zuckten. Spät erst merkte ich, dass er heulte.

Leises Seufzen und Schniefen verdrängte die leichte, unbeschwerte Sommerstimmung. Langsam ging ich um den Gartentisch herum. Zitternde Finger wischten Tränen von unrasierten Wangen. Ein Mann heulte nicht, dachte ich und es klang wie etwas, das meine Mutter gesagt hatte. Ein Mann zeigt seine Gefühle nicht.

Ist Jonas Mann oder Frau? Er weiß es selbst nicht so genau.

Und was war mit Tim?

Warum war er auf meiner Beerdigung gewesen? Was wusste er, was ich nicht wusste? Oder wusste er es auch nicht so genau?

Auf einmal beschlich mich ein ganz seltsames Gefühl.

Tim, das Mobbing und die Fotos. Hatte er jetzt erst Gefühle für mich entwickelt? Für einen Teil seiner Vergangenheit, so wie man als Rentner plötzlich jedes Jahr auf das Klassentreffen geht, weil einem klar wird, dass das stärkste Bindeglied zur eigenen Vergangenheit die ehemaligen Klassenkameraden sind?

Oder war da noch etwas Anderes?

Tim saß noch eine Weile auf der Terrasse und blätterte durch die Fotos. Ab und zu entfuhr ihm ein leises Fuck. Dann packte er die Fotos bis auf eines in den Karton zurück, ging ins Haus zurück und stellte den Karton in das Regal. Das einzelne Foto legte er ins Regal.

Ist Jonas Mann oder Frau? Er weiß es selbst nicht so genau.

Mit zwei routinierten Bewegungen schloss er die Terrassentür und ging zum Ausgang. Sein Schlüsselbund klimperte.

Lukas fiel mir ein. Auf der Auffahrt röhrte der Motor. Ich hatte Zeit. Und vielleicht fand ich bei Tim eine Spur von Philipp.

Vorerst quälte mich ein viel dringenderes Bedürfnis.

Ich fraß mich durch den Kühlschrank. Ausgehungert machte ich mich über Eiscreme, kalte Bratwürstchen, Kartoffelsalat, Joghurts und Orangensaft her. Auch einen Apfel fand ich. Danach beobachtete ich im Garten unter einem Kirschbaum, wie die Nahrung in meinem Bauch unsichtbar wurde.

 

 

4

Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich das nächste Mal die Augen öffnete, stand die Sonne bereits hinter den Tannen. Eine Schiebetür. Kinderlachen. Ein kleiner Junge rannte über den Rasen, kickte einen Ball.

Ich stützte mich auf die Ellenbogen und sah ihm zu. Tim erschien in der Terrassentür. »In fünf Minuten geht's zum Zähneputzen und ins Bett.«

Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen. Ich musste wirklich sehr lange geschlafen haben. Der Junge kickte den Ball mehrfach von links nach rechts und von rechts nach links über den Rasen und kam mir einmal auch verdächtig nahe. Die Sonne sank rasch. Die Spielsachen verschwanden. Tim legte sich mit einem Handy in den Liegestuhl. Über den Rasen drangen Gesprächsfetzen. Ein lauer Wind kitzelte mich.

Tim sah verdammt gut aus. Ich sah ihn jetzt mit anderen Augen, so viele Jahre später. Er löste nicht den gleichen Drang aus, ihn zu küssen, wie ich ihn bei Philipp verspürt hatte und später bei Julian, weil er wie Philipp gewesen war. Aber ich fand ihn verdammt attraktiv. So wie die Typen im Internet. Auch wenn ich im immer noch lieber auf den Mund geschlagen statt geküsst hätte.

Ich stand auf und ging ins Haus. Wo war die Gattin? Erzog er seinen Sohn alleine? Nein, das konnte ich mir bei diesem Haus und vor allem bei den vielen Fotos von ihr nicht vorstellen. Eine kleine Treppe gegenüber der Eingangstür führte in die erste Etage.

Eine Treppe, die man jemanden hinunterwerfen konnte. Über die man nach einem Schlag ins Gesicht flüchten musste. Mein Herz schlug wieder schneller. Aufgeregt nahm ich die Stufen und landete in einem kleinen Flur.

Von dort gingen drei Türen ab. Hinter der einen erkannte ich das Schlafzimmer. Ich sah in den Kleiderschrank. Kleider auf Bügeln, elegante Businesszweiteiler für Frauen, hochhackige Schuhe.

Er lebte nicht alleine, aber vielleicht mit einer starken Geschäftsfrau.

Ich stöberte noch etwas durch das Haus, schließlich hörte ich das Kind lachen, hörte Kinderfüße und erwachsene Schritte auf der Treppe, Rauschen von Wasser, Zähneputzen, quengeln.

Ich sah in Schubladen und Schränke, in das Bad und fand nichts Interessantes.

Als ich in das Kinderzimmer spähte, saß Tim auf der Kante eines Kinderbetts saß, mit einem Bilderbuch in der Hand.

Lukas saß im Bett und lauschte der Geschichte mit aufgerissenen Augen. Ich sah meinen ehemaligen Mitschüler und fragte mich, ob er sich verändert hatte oder ich mich. Ob er bereute, was er mir damals angetan hatte, und er deshalb auf dem Friedhof gewesen war, oder ob er sich nicht einmal daran erinnerte und es einen anderen Grund gab.

Ich ging schließlich wieder nach unten und bediente mich noch einmal am Kühlschrank, um mich dann ins Wohnzimmer zu setzen. Wer weiß, wann Tim die Tür schloss.

Der frühe Abend brachte keine Kühlung. Warme Luft flatterte durch die offene Tür herein. Die Aufregung wuchs. Meine Faust in seinem Gesicht. So wie in den Träumen. Ich konnte ihn zu Tode erschrecken, als Geist in seinen Schlaf platzen, ihn heimsuchen, auf ewig ängstigen.

Dunkelheit brach herein. Durch das Mückennetz in der Tür zur Terrasse wehte laue Sommerluft. Grillen zirpten, der Wind rauschte in den Bäumen im Garten.

Tim kam herunter, schloss die Schiebetür zur Terrasse, das Mobilteil des Telefons in der Hand. Er machte das Licht im Wohnzimmer an und begann, die offene, amerikanische Küche aufzuräumen.

Ich starrte ihm fasziniert auf den Hintern unter der Hose. Ein Hausmann. Ein Weichei? Oder emanzipiert?

Ist Jonas Mann oder Frau? Er weiß es selbst nicht so genau.

Irgendwann war die Küche so sauber und das Wohnzimmer so aufgeräumt, dass man hier Fotos für einen IKEA-Katalog hätte machen können.

Tim seufzte und ich ging davon aus, dass er sich jetzt vor den Fernseher legen würde, aber nachdem er das Licht über der Spüle ausgemacht hatte, ging er zum Bücherregal und griff nach dem Foto, das es nicht mehr zurück in den Karton geschafft hatte. Es war das Foto von mir für die Abizeitung.

Das letzte Licht erlosch. Die erste Treppenstufe knarrte.

Ich huschte hinterher. Was hast du vor? Schlagen? Schubsen? Wie sehr willst du ihm wehtun?

Das Bild in einer Hand, nahm Tim langsam Stufe für Stufe. Er fasste das Geländer fester, taumelte, fing sich wieder und ging die Treppe hinauf. Er schaltete das Licht im Flur aus. Ich überholte ihn in der ersten Etage. Rückwärts ging ich ins Schlafzimmer, er kam hinterher. Noch immer wirkte er unsicher. Nicht so männlich, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Hart. Erbarmungslos. Gemein. Warum war er heute Mittag auf dem Friedhof gewesen?

Er verschloss die Tür. Ich versank fast in einem dichten, cremefarbenen Teppichboden.

Meine Zehen krallten sich in die Schlaufen. Vorsichtig setzte ich mich gegenüber vom Bett auf den Boden, den Rücken an einen breiten Kleiderschrank mit Spiegeltüren aus dem Möbeldiscounter. Vor dem Fenster klebte ein schwarzes Fliegengitter. Es war heiß im Zimmer. Eine kleine Lampe spendete Licht.

Das große Doppelbett dominierte den Raum. Kleiderschrank und eine Wäschekommode an der Wand, daneben ein stummer Diener. Tim schloss die Tür, drehte den Schlüssel im Schloss, zog die Tagesdecke vom Bett und legte sie ans Fußende auf den Boden.

Ich konnte ihm nicht wehtun. Er war verletzlich. War ein Mann mit einem Kind. Familienvater. Er hatte sich geändert. So wie ich mich hätte ändern sollen, damit ich nicht wie mein Vater wurde. Doch im Gegensatz zu ihm hatte ich nicht aufgehört, mit dem Schwanz zu denken. Tim müsste mir dafür noch einmal eins in die Fresse hauen. Nicht ich ihm. Er war nicht Schuld daran, dass ich zu dem Menschen geworden war, der sich nicht mehr im Spiegel in die Augen sehen konnte.

Nichts würde sich ändern, wenn ich ihm jetzt Schmerzen zufügte. Manche Dinge konnte man nicht nachholen, niemals.

Tim nackt zu sehen, hatte nie zu meinen Fantasien gehört. Philipp nackt, das war es. Philipp in der Dusche, im Bett, in meinen Armen. Das war ein Bild, das ich in meine Netzhaut einbrennen konnte, auch wenn Philipp vielleicht etwas zugenommen hatte. Als Mönch. Zehn Jahre später, mit Ende zwanzig, würde Philipp aber immer noch der Mensch sein, der mir die Augen geöffnet hatte, der dafür gesorgt hatte, dass ich mein wahres Ich gefunden hatte. Ohne Philipp, so wusste ich, hätte ich Gabriel niemals getroffen und ohne ihn wäre mein Studium nicht halb so geil gewesen. Ohne Philipp wäre ich vielleicht verrückt geworden.

Tim hingegen hatte ich niemals attraktiv gefunden. Doch dieser Moment in seinem Zimmer änderte alles.

Er knöpfte das Hemd auf. Knopf für Knopf. Seine muskulöse Brust wurde sichtbar. Mein Herz trommelte, vor Aufregung zitterten meine Knie. Er trieb Sport. Mehr als nur einmal die Woche.

Das Hemd landete auf dem stummen Diener. Dann knöpfte er
seine Hose auf, streifte sie zusammen mit den Shorts herunter. Mein Gott, war das ein Hammer. Beinahe hätte ich laut aufgestöhnt.

Tim griff zum Handy, das neben dem Bett auf dem Nachttisch lag, ließ sich aufs Bett fallen und wählte eine Nummer.

Ich ging, während er telefonierte, so nah wie möglich an meinen ehemaligen Mitschüler heran. Sah jeden Muskel seines Köpers, sog den schwachen Körpergeruch ein, beobachtete, wie sich während des Gesprächs sein großer, prächtiger Schwanz aufrichteten, wie seine Finger zwischen die Schenkel wanderte und sich um das feste Fleisch legten. Der Sixpack, die muskulösen Beine, die rasierten Achseln, das kantige Kinn. Konnte er meinen Atem spüren? Mein ersticktes Keuchen? Das Klatschen meiner Hand an meinem Schwanz?

Die Angerufene meldete sich sofort. Tim lehnte sich mit dem Rücken gegen das Kopfende des Bettes und winkelte die Beine an. Sein strammer Hintern presste sich in das weiße Laken. Die Schenkel fielen nach links und rechts zur Seite.

Ich wünschte mir, ihm einen blasen zu können. Wünschte mir, sein Ding tief in den Hals zu schieben und bis zum Abspritzen zu lutschen. Wie er wohl schmeckte? Ob er es mochte? Wie oft hatten er und seine Frau miteinander Sex? Was mochte sie? Ein mitgehörtes Telefonat, und ich wusste alles.

Tim lachte ins Handy: »Bist du schon in deinem Hotelzimmer? ... Im Bett? ... War anstrengend? Ja, der schläft schon tief und fest. Ich sitze noch auf der Terrasse und arbeite. Alles klar, dann ruh dich gut aus. Wir sehen uns morgen Abend. Ja, ich lieb dich auch.«

Das Telefon landete achtlos auf dem Nachttisch.

»So, mein Lieber, und jetzt zu uns«, sagte er beinahe erleichtert, stand vom Bett auf, ging leichtfüßig zum Wäscheschrank und zog die mittlere Schublade heraus. Was er als erstes aus der Schublade holte, war 25 Zentimeter lang, fleischfarben und leicht gebogen. Am Ende befand sich ein schwarzer Drehknopf.

Das hatte ich nicht erwartet. Ein Dildo. Verfickt nochmal, dachte ich und plötzlich war nichts mehr wie es war. Hätte er seinen Laptop geholt und Pornos angesehen – ich wäre nicht im Geringsten überrascht gewesen. Aber den Dildo seiner Frau? Das war er doch, oder nicht? Wusste sie, dass er ihn benutzte? Denn genau das hatte er doch vor, oder nicht?

Mit einer unerwarteten Beiläufigkeit warf Tim den Dildo auf das Bett.

Sein halb aufgerichteter Penis wippte, als er das Bad betrat. Sein Po war eine Augenweide. Er machte eine Schublade unter dem Waschbecken auf, kramte darin herum und zog eine kleine, weiße Tube mit blauer Aufschrift hervor. Sie landete neben dem Spielzeug auf der Matratze. Als er sich mit einem Handtuch in der Hand umdrehte, wusste ich, was mich erwartete. Die Trauer in Tims Augen war einem Ausdruck gewichen, den ich von mir nur zu gut kannte: Lust. Mein Herz hüpfte vor Erwartung.

Tim, mein heterosexueller Machoklassenkamerad, der mich vor Jahren in der Schule vorgeführt hatte, stand auf Dildospielchen?

Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Er breitete das Handtuch auf dem Laken aus, legte sich schnell aufs Bett und griff wieder nach seinem Schwanz. Ein perfektes Ding, lang und dick, und ich konnte mir in diesem Moment viele Dinge vorstellen, die ich damit machen konnte. Woran dachte er, als sich seine Hände auf und ab bewegten? An seine Frau? An wen?

Ich hockte am Fußende des Bettes und sah zu, wie seine kräftige Hand seine perfekte Erektion massierte. Er seufzte, stöhnte, keuchte.

Sein Blick ging hinüber zum Spiegel am Kleiderschrank. Ich war sicher, dass er seinen perfekten Körper betrachtete, wie ein Narzisst es machte, ein Mensch, der immer nur an sich dachte, dem das Leiden der anderen egal war. Sein Blick traf mich und ging doch durch mich hindurch. Und was er dann sagte, versetzte mir einen solchen Schock, dass ich fast gestorben wäre.

»Jonas«, sagte er. »Was machst du denn hier?«

 

 

5

Die Antwort auf meine Probleme war so klar gewesen. Doch ich hatte sie nicht erkannt.

Ist Jonas Mann oder Frau, hatte Tim geschrieben. Er weiß es selbst nicht so genau. Tim war vermutlich der einzige Junge gewesen, mit dem ich alle meine versauten Träume hätte wahrmachen können. Aber ich hatte es nicht erkannt. Und er hatte nicht den Mut gehabt, es mir zu sagen.

Beinahe wollte ich antworten. Beinahe hätte ich etwas gesagt. Ihm gesagt, dass ich durch einen Unfall unsichtbar geworden sei und sich mein Leben so radikal geändert habe, dass ich nicht wüsste, wo mir der Kopf stünde. Beziehungsweise der Schwanz, um genau zu sein. Aber ich konnte mir eine Antwort gerade noch verkneifen.

Denn er sah mich nicht. Er hielt mich für tot.

»Oh, Mann, wenn du wüsstest. Ich wollte dir nie wehtun, ich wollte doch nur, dass du mich… «, flehte Tim beinahe verzweifelt. Er drehte den Kopf zur Seite. Und da sah ich es wieder: das Foto für die Abizeitung. Mit mir. Selbstbewusst lächelnd. Unbemerkt hatte er es hervorgeholt. Einen Augenblick lang war ich entsetzt. Einen Augenblick lang war ich traurig. Verpasste Gelegenheit. Und einen Augenblick lang bemitleidete ich mich. Bedauerte, dass ich ihn nicht angesprochen hatte. Was hätte sich alles aus einem klärenden Gespräch ergeben können? Ein Ringkampf. Erst mit viel Gewalt. Und dann wäre aus der Umklammerung, die mir die Luft abgedrückt hätte, eine Umarmung geworden und aus einem harten Schlag ein harter, fester Griff.

Hätte. Wäre. Könnte. Konjunktiv 2 in seiner reinsten Form.

Nie wieder würde ich diese verpasste Gelegenheit nachholen können.

Nie wieder.

Ist Jonas Mann oder Frau? Er weiß es selbst nicht so genau.

Es war keine Frotzelei über mich gewesen. Es war eine Aussage, die eher zu ihm gepasst hatte. Er war scharf auf mich gewesen, vielleicht verliebt, hatte es nicht verstanden, und statt sich seine Lust und Liebe einzugestehen, hatte er mich geschlagen, als sei ich Schuld an seinen Komplexen gewesen. Ob es an seinem Vater gelegen hatte? An seinen Freunden? Und jetzt war er in einer Heterobeziehung und würde auf ewig etwas in seinem Leben vermissen.

Was ihm genau fehlte, bewies er mir einen Augenblick später.

Der Deckel war schnell von der Tube gedreht. Mit einem leichten Druck quoll eine glitzernde Portion Gel auf Tims Zeige- und Mittelfinger an der Tubenöffnung.

»Ich wusste immer, dass du darauf stehst«, sagte er lüstern. Ohne die Tube aus der Hand zu legen, rieb er das durchsichtige Gleitmittel auf seinen Artisteneingang. »Bedien dich.«.

Sein Mittelfinger überwand den Widerstand und glitt bis über das letzte Glied hinein. Tim verdrehte die Augen. Schließlich zog er den Finger wieder heraus, griff nach dem Dildo und rieb auch diesen mit dem Gleitgel ein.

Ich wichste mich beinahe besinnungslos. Mein Schulfreund, mein Schulfeind, meine verpasste Gelegenheit legte sich auf den Rücken, zog die Knie an. Ich erhob mich vom Boden und stellte mich so hinter Tim ans Fußende, dass ich ihn in den Arsch hätte ficken können. Dann führte er den Plastikschwanz an den Punkt, setzte die Spitze an und drückte zu.

»Mach schon, Jonas, los. Du darfst mich ficken, das wolltest du doch immer, oder nicht?«

Meinen Namen zu sagen, schien ihn unglaublich anzumachen. Mich irritierte es, weil ich jedes Mal Angst bekam, sichtbar geworden zu sein.

Die Spitze dehnte den engen Muskel. Sofort setzte Tim nach. Das Stöhnen meines ehemaligen Mitschülers wurde tief und guttural. Und ich sah nur noch Tim, war bei ihm, alles andere war vergessen.

»Oh Jonas, dein Schwanz ist genau richtig. Ich habe so oft davon geträumt, dass du mich fickst«, keuchte er. Er konnte den Blick nicht vom Foto auf dem Kopfkissen abwenden. Mit glitzernden Fingern drückte er den nächsten Zentimeter hinein. Allmählich überwand der rosafarbene Prügel den Widerstand überwand und verschwand in seinem Hintern.

»Warum hast du Arsch mich nicht ein einziges Mal angesprochen«, fluchte er, und seine Bewegungen wurde beinahe wütend, aggressiv. Ich wichste wie ein Berserker. Mit jedem Zentimeter wuchs die Erregung, bis nur noch der schwarze Ring zu sehen war. Mit zitternden Fingern drehte er den schwarzen Ring am Ende des Dildos. Das Brummen war ein Versprechen.

»Und jetzt fick mich, Jonas, fick meinen Arsch«, rief er und zog sich langsam den Dildo aus dem Hintern. Das Gerät dröhnte und brummte, vibrierte und summte. Und dann begann er, sich mit dem Dildo zu ficken, als habe er in den letzten Stunden an nichts Anderes gedacht. Sein Stöhnen wurde von Mal zu Mal tiefer und satter. Das Brummen schwoll an und ab. Langsam fickte er sich mit dem großen Schwanz und ich hörte das feuchte Schmatzen des Gels, so nah war ich bei ihm. Jede neue Penetration wurde von ihm mit einem röchelnden Stöhnen begleitet. Zuckend und quietschend stopfte er sich den Dildo immer hektischer in seinen Arsch, und ich ahmte die Bewegungen nach, nur wenige Zentimeter entfernt.

»Oh ja, Jonas, das fühlt sich so gut an. Mach weiter, ich komm gleich…«

Das war eine glatte Untertreibung. Er spannte die Muskeln an, hielt in der Bewegung inne, und presste die angehaltene Luft langsam heraus. Sein Sperma regnete auf seinen Bauch herab wie ein warmer Sommerregen. Zwei weitere Bewegungen, mehr Tropfen. Dabei zog er den Dildo langsam heraus. Es schien, als sei er länger geworden. Das rosafarbene Monster nahm kein Ende.

Auch ich spritzte so heftig ab, dass ich wahrscheinlich die Wand am Kopfende des Bettes traf. Wichste, hielt meine Hand still, spritzte ein zweites Mal, ein drittes Mal und sackte zu Boden.

Tim ließ seinen Hintern zurück auf die Matratze fallen. Keuchend streckte er die Beine aus und schnappte nach Luft. Noch immer brummte der Dildo. Schnaufend legte er ihn neben sich auf das Handtuch.

Noch während ich mit zitternden Knien auf der Tagesdecke zusammenbrach, löschte Tim mit einer Hand das Licht. Ohne an die Gefahr denken zu können, was passierte, wenn ich zu schnarchen begann, ließ ich mich vom Orgasmus betäubt in einen unruhigen Schlaf fallen.

 

6

Mitten in der Nacht wachte ich auf, weil ich jemanden hatte reden hören. Der Mond schien durch das offene Fenster. Auf der Straße gaben Laternen gelbes Licht. Eine warme Brise bauschte den Vorhang vor dem Fenster auf. Wann hatte sie einen Vorhang vorgezogen? Zuvor war doch dort nur ein Fliegengitter gewesen.

Wieder ein leises Murmeln. War da jemand im Zimmer? War Tims Frau zurück?

Ich erhob mich von meinem Lager am Fußende des Bettes und starrte in die Schatten. Im fahlen Licht lag mein ehemaliger Mitschüler auf dem Bauch. Er räkelte sich. Er schlief. Sein Gesicht lag im Schatten, dem Schrank zugewandt. Ein Bein angewinkelt. Im Mondlicht glitzerten noch Spuren der Gleitcreme. Und dann seufzte er wieder.

»Ach Jonas«, murmelte er, der Rest seiner Worte ging zwischen seinen Lippen verloren. Meine Augen brannten vor Müdigkeit. Doch mein Schwanz hatte sich wieder aufgerichtet. Jedenfalls fühlte er sich so an.

Der Dildo lag noch immer neben ihm auf dem Bett. Er sah im Mondlicht aus wie aus echtem Fleisch. Bei diesem Anblick zuckte mein Schwanz in der Hand. Mein Hirn war noch vom Schlaf gelähmt.

Er schlief. Und ich war wach.

Niemand würde es erfahren, niemand würde es sehen.

Ich hatte die einmalige Chance, eine verpasste Gelegenheit nachzuholen. Falls er aufwachte, würde ich unerkannt fliehen können und er würde denken, er habe geträumt.

Ich beugte mich über ihn und berührte ganz sanft seinen Po. Die Haut gab unter dem Druck meiner Hand nach.

Ich konnte nicht widerstehen. Mein Herz raste.

Er schlief. In den Pornos im Internet hatte ich auch Videos gesehen, die mit diesem Tabu spielten. Dem Tabu, dass Brüder ihre besten Freunde im Schlaf fickten oder Männer ihre Nachbarn.

Es waren Fake-Videos, nicht echt. Denn man konnte unmöglich weiterschlafen, während man gefickt wurden. Doch was hatte ich zu verlieren?

Mein Herz raste vor Aufregung. War es Nötigung? Nein, er hatte doch ein paar Stunden zuvor selbst diese Fantasie gehabt, hatte mich in seinen Traum hineingezogen. Was auch immer ich jetzt tat – es war, was er wollte.

Die Tube mit dem Gleitgel lag auf dem Nachttisch. Ich bediente mich reichlich, verteilte das Gel auf meinem Schwanz, und legte die Tube zurück.

Wieder beugte ich mich über ihn. Alles lag so offen vor mir. Die Spitze meines glitschigen linken Mittelfingers fand auch im Schatten den Punkt. Seine Atemzüge waren gleichmäßig und tief.

Ist Jonas Mann oder Frau?

Ich wusste es genau. Und Tim? Wusste er, was er war, oder kokettierte er nur mit dem Gedanken? Hätten wir es gemacht? Hätten wir keine Nacht ohne Arschficken verbracht? Wir hätten alles ausprobiert, als Teenager. Hätten keine Fantasie unerfüllt gelassen.

Wäre er nur nicht so verklemmt gewesen, so pervertiert durch eine Gesellschaft, in der man nicht schwul sein durfte, ohne dafür bestraft zu werden.

Ist Jonas Mann oder Frau? Es spielte doch gar keine Rolle.

Es wäre das Paradies gewesen, und er hatte es versaut.

Vorsichtig penetrierte ich die enge Öffnung zwischen den Pobacken. Glied für Glied glitt der Finger bis zum Anschlag in den engen Kanal. Das Innere seinen Pos war heiß und weich und elastisch. Mein steifer Schwanz zuckte in meiner rechten Hand.

»Ach, Jonas«, murmelte er wieder im Schlaf. Der Schock blieb aus. Noch immer waren seine Augen geschlossen. Er träumte. Und Menschen sagten im Traum unsinnige Dinge.

»Der Mond scheint auch bei Gewitter«, flüsterte ich und zog meinen Finger heraus. Das Gleitgel machte ihn sichtbar, so dass er im Mondschein glänzte.

Noch schlief er, aber wie lange? Vorsichtig schob ich seinen Oberschenkel vor, so dass sein rechtes Bein in einem 90°-Winkel zum Körper stand, wie ein Storch im Salat, nur auf der Seite liegend. Ich glitt vorsichtig auf das Bett, kniete mich links und rechts von seinem ausgestreckten Bein, stützte mich mit beiden Händen ab und setzte meinen Schwanz an seinen Hintereingang.

Das ist Wahnsinn, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Das ist falsch.

Falsch? Hatte er nicht in seiner Fantasie davon geträumt? Und war nicht er Schuld daran gewesen, dass meine Schulzeit zu einem Martyrium geworden war? Es war nicht falsch, es war nur konsequent.

Ich spürte, wie mein Schwanz zur Seite ausweichen wollte, gab ihm Halt, erhöhte den Druck und schob mich hinein. Langsam überwand die unsichtbare Eichel den Widerstand, bis mein Bauch die festen Pobacken berührte.

Ich richtete mich auf.

Mein unsichtbarer Körper schmiegte sich an Tims Hintern, und ich riskierte es, legte mich auf ihn, griff nach seiner Schulter.

Langsam zog ich mich aus seinem Arsch zurück und sah zum Spiegel am Kleiderschrank. Dort war die blass schimmernde Reflexion meines schlafenden Ex-Mitschülers zu sehen. Und ich fehlte.

Die Matratze wurde von meinen unsichtbaren Knien niedergedrückt, und sein Po dellte sich dort, wo mein Bauch sich an ihn presste.

Ich fickte einen schlafenden Mann. Das war verrückt und doch die einzige Möglichkeit, wie ich als Unsichtbarer Sex mit jemandem haben konnte.

Mein Körper war wie elektrisiert.

Plötzlich schmatzte Tim, stöhnte, ächzte. Ich hielt inne, über ihn gekauert, eine Hand an seiner rechten Schulter und meinen Schwanz in seinem Arsch.

»Du hast dich nicht ….«, murmelte er. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich rührte mich nicht. »…gewehrt, hast mich, hast, immer machen lassen …dabei…. Ich wollte nur, hattest Angst…«

Seine Stimme wurde schwächer, dann ging sein Atem wieder tiefer und regelmäßig. Ich nahm die Bewegungen wieder auf. Immer wieder spürte ich seinen festen Po an meinem Bauch.

So viele Jahre hatte ich daran gedacht, ihn zu schlagen, zu verprügeln hatte mir ausgemalt, wie es gewesen wäre, wenn ich ihn zur Rede gestellt oder mich gewehrt hätte. Und jetzt rächte ich mich auf eine ganz andere Art: Ich fickte ihn.

Ich geriet ins Schwitzen, genoss jeden Moment, jede Bewegung. Die viele Handarbeit der letzten Tage hatte sich ausgezahlt – meine Ausdauer war gestiegen.

Ich sah meinen durch das Gel sichtbar gewordenen Schwanz in ihm ein und ausfahren, fühlte seine warme Haut an meinen Fingern und roch an seinem Haar. Und dann kam ich. Ich spritzte meinen Saft tief in den engen Arsch meines ehemaligen Mitschülers. Zweimal, dreimal kam ich. Endlich.

Ich glitt aus seinem Hintern, rutschte von seinem Bett.

Tim seufzte. Im Traum? Stöhnte er im Schlaf, den Kopf ins Kissen gepresst?

Schlaf weiter, dachte ich, und Sekunden später hörte ich ihn wieder ruhig und tief atmen.

Nachholen – es ging doch. Man konnte Verpasstes nachholen und echte Erinnerungen schaffen, die den Platz von Träumen einnahmen. Auch wenn ich niemals gedacht hätte, dass meine Rache so aussehen würde.

Jetzt blieb eine große Leerstelle in meinem Leben.

Philipp.

Der Gedanke taumelte in meinem Hirn herum, als ich bei Sonnenaufgang aus Tims Schlafzimmer verschwand. Philipp war keine verpasste Chance gewesen. Philipp hatte mich nie gewollt. Aber das würde mich nicht davon abhalten, ihn zu ficken, endlich zu ficken.

Ich wusste jetzt schließlich, wie das ging. Und was einmal geklappt hatte, würde auch ein zweites Mal funktionieren, selbst wenn ich Philipp dafür mit Weihrauch betäuben musste.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.01.2017

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /