Der Strand war schier endlos. Ein paar Hundert Meter weiter rechts sah ich Menschenmassen im Wasser, auf Handtüchern und im Kreis stehen. Alte, Junge, Dicke und Dünne. Nackt. Manche wie Walrösser, manche mit glatter Haut.
Philipp.
Ich war nicht der gewesen, den er sich vorgestellt hatte. Ich war jemand anders gewesen. Viel zu spät hatte ich es verstanden. Wie es ihm jetzt wohl ging? Ob er an mich dachte?
Der junge Mann, mit dem ich mich vor einer halben Stunde im Restaurant wie selbstverständlich über meine Essgewohnheiten unterhalten hatte, setzte sich zu meinen Füßen in den Sand und lehnte sich nach hinten auf die Ellenbogen. Er wusste einiges über mich, ich wusste nur, dass er wartete. Jetzt wollte ich mehr über ihn erfahren. Frag. Interessier dich. Es fiel mir überraschend leicht.
»Wann kommen deine Freunde?«
»So wie ich sie einschätze, sind sie schon gekommen.«
»Schade.«
»Wir sind um Acht verabredet. Bis dahin können wir uns noch die Zeit vertreiben.«
»Und wie?«
Er schloss die Augen und reckte die Brust in die Sonne. Gleichzeitig legte er die Hand in den Schritt. »Worauf hättest du Lust?«
Ich schluckte trocken. »Meine Liste ist ziemlich lang.«
Er blinzelte zu mir herauf. »Ich sehe, dass bei dir noch etwas Anderes ziemlich lang ist.«
Ich sah an mir herab. Den Anblick hatte ich nicht ertragen. Wochenlang. Fast einen ganzen Sommer lang. Jetzt konnte ich mich wieder ansehen, ohne mich dabei schlecht zu fühlen.
»Gefällt dir, was du siehst?«
»Und dir?«
»Klar.«
Ich zögerte einen Augenblick, starrte zu ihm hinunter, der seine Hand langsam auf und ab bewegte. Kein Platz für Fantasie.
Ich war also am Ziel. Das Ende einer langen Reise zu mir selbst, die im Juni begonnen hatte.
1.
Ich hatte als freier Wissenschaftsjournalist in Berlin gearbeitet. Wildschutz durch Computer, Gesichtsscanner am Flughafen, Geothermiekraftwerk in Brandenburg – die Themen fanden sich im gleichen Maße leicht, wie sie schwer zu verkaufen waren. Meine Beiträge versuchte ich auf den Wissenschaftsseiten der Tageszeitungen unterzubringen, aber die Konkurrenz war groß, das Geld knapp, die Arbeit unbefriedigend.
Und im heißesten Frühling seit Beginn der Wetteraufzeichnungen (darüber musste man einfach eine Reportage schreiben, das dachten sich jedenfalls meine Konkurrenten) machte sich der Frust über meine berufliche Situation auch in meiner Beziehung zu meinem langjährigen Freund David bemerkbar.
Nur seinetwegen war ich nach Berlin gezogen, weil er einen unglaublich guten Job in einem Bundesministerium bekommen hatte. Er bezahlte unsere Wohnung, unseren Urlaub, unser Leben. Und ich hoffte auf den Aufstieg in einer Branche, die von Selbstausbeutung lebte.
Es war der Abend vor einer neuen Recherche, als er seinen Koffer packte und aus unserer stickigen Wohnung auszog. Der Schnitt, so überraschend er auch gezogen war, folgte einer schmerzvollen Konsequenz. David hatte sich nicht in einem Ausbruch von Wut und Enttäuschung für die Trennung entschieden: Dieser Schritt war wohlüberlegt. Kein Schreien, kein Flehen ging unserem Abschied voraus.
Mit einer nüchternen Analyse, wie ich sie von David erwartet hatte, bilanzierte er die letzten Monate und zog daraus den logischen Schluss. Ich hatte versagt, hatte mit dem Schwanz gedacht und nicht mit dem Kopf, hatte nur daran gedacht, mit anderen Männern ins Bett zu steigen und so zu werden wie mein Vater. Mit dem kleinen Unterschied, dass er den Frauen hinterhergerannt war, bis meine Mutter ihm den Laufpass gegeben hatte.
Als David ging, brach die Welt noch nicht zusammen. Das tat sie erst ein paar Stunden später in der Hitze der Nacht. Ich hatte gesoffen, in der Schwulenkneipe die Straße runter, in der jetzt nur noch Heteros die Exotik suchten, und jeder Flirt ertrank dabei in einem neuen Bierglas. Einem Typen, der nicht sofort gegangen war, nachdem ich begonnen hatte, ihm mein Leid zu klagen, hätte ich an Ort und Stelle einen geblasen, wenn ich nicht zu voll gewesen wäre.
Während ich von der mühsamen Jagd nach Themen berichtete, spürte ich die permanente Unsicherheit, wie so häufig, wenn ich mit einem mir unbekannten Menschen redete. Ich analysierte jedes von mir gesagte Wort, wollte mich noch im Redefluss korrigieren und verhaspelte mich dabei. Es war wie ein Radwechsel in voller Fahrt.
Der Typ hatte mir schließlich auf die Schulter geklopft und begonnen, von seiner Frau zu erzählen und dass er jetzt gehen müsse.
Lasst mich doch alle in Ruhe, hatte ich nur gedacht und nicht gesagt, denn niemand war am Ende da gewesen, um mit mir zu ficken. Also hatte ich den Rest der Nacht im Internet nach Pornos gesucht, bis mir die Hand und der Arsch wehtaten. Der Alkohol betäubte nur meinen Schwanz, nicht den Schmerz.
Hohl und leer legte ich mich in unser, in mein Bett, in das leere Bett.
Die Nacht zog schmierige Schlieren, die hektisch zitternd verblassten.
Ich war frei, nein, ich war verlassen. Ich konnte alles tun, was ich wollte, konnte endlich, konnte was? Ich war wie mein Vater, ich war unfähig zu einer Beziehung, ich war unfähig, mit etwas anderem als mit meinem Schwanz zu denken.
Schluchzend wälzte ich mich auf einem schweißnassen Laken, spürte eine nie gekannte Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Traurigkeit. Schlaflos starrte ich zum Mond, der durch das offene Fenster unseres Schlafzimmers schien. Warme Luft an meiner Haut. Mein Leben würde nie wieder so sein, wie es war.
Pläne hatten ihre Gültigkeit verloren. Abmachungen waren wertlos geworden. Ficken, mit allem ficken, was jetzt in meine Nähe kam - das konnte ich noch, doch was hatte das für einen Sinn?
Jetzt konnte ich, doch jetzt wollte ich nicht mehr. Ich ekelte mich vor mir selber, vor dem Mann, der nur Schwanz war und nicht Kopf.
Davids letzte Worte klangen wie die Warteschleife in einer Telefonanlage. »Ich habe versucht, dir zu helfen, aber du suhlst dich in deinem Selbstmitleid«, sagte er immer und immer wieder.
Selbstmitleid. Wenn es nur das wäre. Ich hasste mich.
Bald wich das Dunkel über der Stadt einem blassen Schimmer und einem hässlich heißen Morgen. Ich zog mich schwankend an, schlich die Treppe hinunter auf die Straße, kaufte mir einen Kaffee und setzte mich mit brennenden Augen in die S-Bahn. Mein Blick wollte ins Leere gehen und fing sich doch als blasse Reflexion in der Scheibe des Wagens.
Das Gesicht kam mir seltsam fremd vor.
2.
Ein paar Monate früher: Wissenschaftsjournalist.
Nachdem ich Dutzende von Bewerbungen geschrieben, verschickt und versucht hatte, irgendeine Festanstellung zu bekommen, wusste ich nur, was man mit einem Soziologiestudium alles nicht machen konnte. Auf Wissenschaftsjournalist wäre ich nie gekommen, bis mich ausgerechnet das Netzwerk von David auffing: Er kannte einen Redakteur im Ressort Wissen einer Berliner Tageszeitung. Die Redaktion beschäftigte immer wieder Freelancer. Jetzt sollte ich als freier Autor Themen vorschlagen.
Also setzte ich mich mit meinem PC in eine stickige Bürogemeinschaft von zwei jungen, dynamischen und ehrgeizigen Arschlöchern, einem Architekten und einem Kulturmanager, die so unerträglich produktiv waren, dass ich ihnen kaum bei der Arbeit zusehen konnte, und suchte nach Themen.
Manchmal ging ich ins Büro, obwohl ich weder einen Artikel zu schreiben, noch Lust hatte, nach neuen Themen zu recherchieren. Nur Davids Ahnung, dass ich zuhause versumpfen würde, ginge ich nicht jeden Morgen vor die Tür, trieb mich an.
Er sah die 50 Euro für den Arbeitsplatz als eine gute Investition in mein Selbstbewusstsein, bestellte mir Visitenkarten und gab immer wieder Tipps, wenn er von einer Geschichte gehört hatte, die seiner Meinung nach einen guten Artikel ergab. Erdmagnetfeldsimulatoren. Kryobiologie. Wildwechsel-überwachung per Webcam. What the fuck.
Erstaunlicherweise bekam ich nach einer Reihe von Themenvorschlägen die Aufgabe, über neue Methoden bei der Bekämpfung von Schuppenflechte zu schreiben, nach denen an der Charité geforscht wurde. In einer Sekunde hatte ich das Gefühl, voranzukommen, ein Ziel zu haben. Noch überraschender: Mein Artikel wurde gedruckt, zwar stark gekürzt und an mehreren Stellen umgeschrieben, aber David war begeistert, ich dagegen sah es nur als eine Verzögerung vor dem Fall, als das retardierende Moment.
Drei Tage später zertrümmerten drei abgelehnte Exposés, dumme Rechtschreibfehler und eine schludrige Recherche mein Selbstbewusstsein wie ein Vorschlaghammer einen Kieselstein.
Ich war kein Wissenschaftsjournalist, ich war nicht mal Autor, ich war gar nichts, nur ein elender Hochstapler. Ich sagte auch nicht, ich sei Wissenschaftsjournalist, sondern ich sagte, ich würde als Wissenschaftsjournalist arbeiten. Ein kleiner, aber wie ich fand, feiner Unterschied. Meine Texte waren oberflächlich und schlecht geschrieben, sonst hätte der Redakteur sie nicht eigenhändig verändert.
Manchmal stellte ich mir vor, wie ich etwas Großartiges tat, etwas Unfassbares greifen konnte. Mir kam es häufig so vor, als würde ich nur darauf warten, dass ich meine Bestimmung fand. Irgendwo musste es das Leben geben, das für mich gemacht war, zu dem ich passte. Irgendwo musste ich doch zeigen können, was in mir steckte. Irgendwo musste es einen Platz geben, an dem meine Narben kein Makel, sondern der Schlüssel waren.
Saß ich an meinem alten PC im Büro, hatte ich das Gefühl, als seien meine Hände mit Helium gefüllt. Zwei Minuten war das Maximum. Länger konnte ich mich nicht am Stück konzentrieren, konnte ich nicht über Kryobiologie nachdenken, weil nach zwei Minuten worldsex.com interessanter und jeder Klick geiler waren und jeder andere Gedanke als der an meine Arbeit mehr Befriedigung versprach.
Manchmal dachte ich, ich würde die Daten aus dem Internet nur herunterladen, weil ich es konnte. Aber das war nur eine lahme Ausrede. In diesen Tagen kam es mir vor, als säße ein anderer Mensch an meinem Arbeitsplatz, ein Mensch, der sich konzentrieren konnte. Manchmal sah ich ihn dort sitzen, während ich meine Nägel feilte, weil mal wieder mein Rechner abgestürzt war. Dort saß ein dicklicher Typ und machte meine Arbeit, während ich aus dem Fenster starrte, weil mir nichts einfiel. Er schrieb weiter, während ich in der Küche stand und Kaffee trank, weil mir zu warm war. Er suchte nach Themen, während ich auf Spiegel Online surfte, weil die Struktur des Textes laut Word plötzlich fehlerhaft war.
Ich war nicht wirklich da, ich war nicht in dieser Welt. Nur wenn ich unbeobachtet auf Pornoseiten surfte, um mich für einen einzigen klaren Gedanken zu belohnen, wenn die Kollegen meiner Bürogemeinschaft gingen und ich blieb, um meine Hose auszuziehen, fühlte ich die Wirklichkeit durch mein Hirn schwemmen. Nur dann konnte ich mich konzentrieren, nur dann war es, als würde ich aufwachen. Doch nach jeder Rückkehr in die Welt der mit Helium gefüllten Hände wurde mein Denken immer unschärfer, konnte ich nicht mehr klarsehen. Es war wie ein ständiger Schwindel. Ich schwebte über allem, konnte nicht mehr zuhören, nicht richtig auf eine Frage eingehen, weil ich mit den Gedanken ständig bei den Files war, die ich noch runterladen musste.
Wie krank muss man sein, wenn jedes Wort eine Assoziationskette auslöst, an deren Ende etwas steht, das mit Sex zu tun hat? Aus Arztpraxis wird Arztstuhl wird Doktorspielchen wird Latexhandschuh wird Faustfick. Aus Sommer wird Skater wird Shorts wird Beule wird Schwanz. Aus Autowerkstatt wird Hebebühne wird Schmiermittel wird Gleitmittel wird Analverkehr.
Ich war so dauergeil und erregt – ich konnte an nichts Anderes mehr denken als an Sex. Ich fühlte mich wieder wie ein Motor, der auf vollen Touren im Leerlauf dreht; fühlte mich, als hätte ich eine lose Schraube im Kopf. Ich wusste nicht, ob ich wach war oder träumte, fühlte mich müde und zugleich aufgekratzt, wollte mir ständig und überall einen runterholen. Auf dem Fahrrad, in der U-Bahn, in der Parkanlage, im Supermarkt, beim Telefonieren.
Wo geht man hin, wenn die Reize nicht mehr aufhören? Ich spürte, wie mein Denken ausfranste. Mein Hirn war zu einem unübersichtlichen Schrottplatz geworden, in dem die Gedanken keine Ordnung mehr hatten, alt und rostig und nutzlos waren. Spürte, wie meine Gedanken nicht mehr greifbar waren, wie ein Sandsturm, ein Schwarm Bienen, und wollte zugleich für mich alleine sein, meine Gedanken glätten wie Putz an der Wand.
Kam ich nach Hause, legte ich mich auf die Couch, drehte ABBA voll auf und versuchte, die Bilder aus dem Kopf zu bekommen. Ich hörte wieder und wieder das gleiche Lied, S.O.S. in Endlosschleife, manchmal zehnmal hintereinander. Ich konnte damit nicht aufhören. Die Musik hüllte mich wie eine warme Decke ein. Bilder einer an die Schläfe gehaltenen Pistole, mein Finger am Abzug. Ich spürte den Schlag der Kugel am Schädel.
Aussitzen, wie Helmut Kohl die wichtigen Themen, damals als Kanzler, aussitzen musste ich diese Phase, bis die Stimmen verschwanden, bis der schiefe Schuh wieder gerade gelaufen war, ich mich wieder konzentrieren, mit Begeisterung einer Sache widmen konnte.
Irgendwann musste der Knoten platzen, bis dahin musste ich das Monster unter Kontrolle haben, es nicht aus seinem Käfig lassen oder zumindest in der virtuellen Gefangenschaft halten.
Beruflich trat ich monatelang auf der Stelle. Kämpfte mit der Stagnation. Ein Artikel pro Monat, viele Anrufe und E-Mails an neue Redaktionen und so viel Mühe, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Zu meinem Glück hatte mich noch niemand entlarvt.
Der Crash im Straßengraben war vorprogrammiert.
Ich merkte es, wenn ich bei meinen Interviewpartnern saß und falsche Fragen stellte. Jedes meiner Worte war mühsam über meine Lippen gekommen und ich hatte gefürchtet, jeden Augenblick als der enttarnt zu werden, der ich war: ein Hochstapler, ein Usurpator, ein Nichtschwimmer beim Iron Man auf Hawaii. Immer wieder spürte ich, wie ich langsam nach hinten kippte, wie der Horizont nach unten abtauchte und erst der blaue Himmel meine ganze Sicht einnahm, bevor von oben der harte Boden in mein Blickfeld stieß und ich die Orientierung verlor, in die Tiefe trudelte und den Aufprall erwartete.
Wann merkten die Redakteure eigentlich, dass ich ein Hochstapler war? David war glücklich in seinem Job, scheffelte Kohle, kaufte sich einen Laptop und bekam Bestätigung. Mich hingegen brauchte niemand. Diese Unzufriedenheit machte sich endlich auch in unserer Beziehung bemerkbar. Nicht zugeschraubte Zahnpastatuben, zu hohe Telefonrechnungen, Socken auf dem Fußboden.
Manchmal schrie mich David an, weil ich mein Handy nicht angeschaltet hatte und er vergeblich versuchte, mir den Einkaufszettel für den Abend zu diktieren.
Ich schrie zurück, weil er mir immer das Gefühl gab, ein Idiot zu sein. Nein, er gab mir nicht das Gefühl, er entlarvte mich. Und dennoch starb meine Liebe nicht, sie änderte sich nur. Ich spürte immer häufiger, dass ich ihn umso mehr liebte, je weiter weg er war. War er auf Dienstreise, hatte ich Sehnsucht nach ihm, stellte mir vor, wie es sich anfühlen musste, einen geliebten Menschen neben mir im Bett zu haben und morgens neben diesem aufzuwachen.
Lag er neben mir, spürte ich seine unausgesprochenen Vorwürfe und wünschte mich weit weg.
Nachts träumte ich wieder davon, im Haus meiner Eltern Pornohefte zu finden; Pornos, die ich immer gesucht hatte, die sie vor mir verstecken wollten. Pornos waren in den Träumen der heilige Gral und alles, was ich zum Glück brauchte. Wenn ich aufgewacht war, mit einer Erektion in der Schlafanzughose, hatte ich mich hohl und krank gefühlt. David hatte mich am Ende erwischt. Mein Browserverlauf hatte mich verraten. Es war nur der berühmte Tropfen. Wir waren uns fremd geworden. Kriegsparteien in einem Stellungskampf der Gefühle. Wir waren Minensucher, und der andere war das Minenfeld. Jede falsche Bewegung löste eine Explosion aus und nahm sich mehr von unserer Liebe. Früher wollte ich mich ändern, weniger dem Schwanz als vielmehr den Kopf das Denken überlassen, und früher wollte David sich ändern, sensibler mit mir umgehen.
Doch um beim Bild zu bleiben: Seine Hände begannen immer mehr zu zittern, und mein Zünder reagierte immer sensibler auf Fehlgriffe. Ich reagierte explosiv, unbeherrscht, nichts konnte er richtigmachen, jede seiner Fragen war ein Vorwurf, jede Bemerkung ein Seitenhieb auf mein berufliches Versagen. Ich warf ihm Arroganz vor und Überlegenheitsgefühl, und war doch nur geprägt von Minderwertigkeitskomplexen und unzufrieden mit mir selbst.
Und dann, eines Tages, am Vorabend zu meiner Recherche, hatte David die Taschen gepackt. Ich könne die Wohnung übernehmen, hatte er gesagt, aber eine WG sei vermutlich die bessere Alternative. Eine billigere Alternative für jemanden ohne richtigen Job – das hatte er eigentlich gemeint. Aber er schien es als einen letzten Dienst an mir zu verstehen, eine nette Geste, es mir nicht zu sagen. Ich war auch so von alleine draufgekommen.
3.
Im Hahn-Meitner-Institut in Berlin-Wannsee wurde ich erwartet. Vom Pförtner bekam ich eine Plakette, an der die Strahlungsbelastung abzulesen war. Eine Physikerin namens Horkheimer begrüßte mich. In einem Fahrstuhl fuhren wir in das dritte Untergeschoss.
Es ging bei diesem Artikel um Forschungen an Bildern. Mittels einer speziellen radioaktiven Strahlung wollten Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit Kunsthistorikern herausfinden, wie viele Farbschichten sich unter einem Bild von Tizian wirklich verbargen. Ich konnte den Erläuterungen von Dr. Horkheimer nicht zuhören.
In Gedanken war ich ständig bei David. Der Kloß in meinem Hals schwand nicht. Wir gingen durch einige Türen und Gänge. Neonröhren an den Decken, grünes Linoleum auf dem Boden, weiße Wände. Schließlich gelangten wir zu einer schweren Stahlkammer. Das gelb-schwarze Zeichen für Radioaktivität darauf beeindruckte mich mehr als erwartet. Als sich die Tür hinter uns schloss, wirkte es wie das Finale in einem Film, wenn sich die letzten Menschen in einem Atomschutzbunker versteckten und die Atomraketen abgeschossen wurden.
Fünf oder sechs Wissenschaftler wirbelten um den Forschungsreaktor herum. Der Kontrollraum hatte bemerkenswert wenig Ähnlichkeit mit dem, was ich aus Filmen erkannte. Keine große Schalttafel, sondern viele herkömmliche Computer, Monitore, unbekannte Maschinen. Ich musste zugeben – ich war schlecht vorbereitet auf dieses Experiment. Außerdem war mir übel.
Ob die Menschen um mich herum bemerkten, dass ich noch immer besoffen war? Ich hatte keine Ahnung, was genau dort vor sich ging. Bei den Telefonaten mit Frau Dr. Horkheimer hatte ich die Pressemitteilung vorliegen, und ich verstand, was die Wissenschaftler dort machten. Aber vom Wie hatte ich keine Ahnung. Ich war Journalist, kein Physiker. Jetzt fehlten mir die Infos der Mitteilung, und außerdem fochten Bier und Tequila einen unfairen Kampf gegen mich.
Bald tauchte die Mitarbeiterin der Gemäldegalerie mit dem Bild auf. Neben ihr ein muskelbepackter Wachmann. Und schließlich gerieten die Wissenschaftler in Wallung. Drückten hier einen Knopf und gaben dort Befehle ein. Als Frau Dr. Horkheimer ankündigte, die Untersuchung würde um eine halbe Stunde verschoben, verlor ich den Kampf. Die Stahltür öffnete sich nur für mich, ich wankte in den Korridor dahinter. Dann fiel die schwere Pforte wieder ins Schloss. Die Toilette war ein erstaunlich schmuddeliger Raum. Penible Wissenschaftler waren wohl nur zu Hause und im Labor penibel, nicht jedoch in fremden Toiletten.
Das weiße Toilettenbecken nahm mir nur zu gerne meine Buße ab. Mit zitternden Händen umklammerte ich die Keramik und spürte, wie sich mein Magen wieder entkrampfte. Erschöpft hockte ich mich auf den Boden. Nach ein paar Minuten konnte ich mein Bild im Spiegel wieder klar fixieren, einen Schluck Wasser aus dem Hahn nehmen und mit festem Griff die Tür zum Korridor öffnen.
Die roten Lichter auf dem Weg zurück zur Kammer fand ich zunächst nur überraschend. Als dann jedoch die Sirenen zu dröhnen begannen, packte mich die Panik. Die letzte Kurve vor der Stahltür nahm ich schon mit zitternden Knien.
Mir brach der Schweiß aus. Was schiefgelaufen war, hat mich später nicht interessiert. Das Bild jedoch von der durchsichtigen Stahltür und den brennenden Menschen dahinter werde ich nie vergessen. Die Wissenschaftler, die Mitarbeiter, die Frau aus dem Museum, der Wachmann – sie alle rissen sich verzweifelt die lodernde Kleidung vom Körper. Ihre Haare brannten.
Und die Stahltür: Sie war durchsichtig, doch man konnte die Konturen weiter erkennen. Sie wirkte wie aus Glas, brach das Licht, verzerrte die Perspektive auf das Drama dahinter. Der Schock riss mir fast die Füße weg. Als dann mein Hemd und meine Hose zu qualmen begannen, konnte ich nur noch mein Leben retten. Ich riss mir die schmelzenden Schuhe von den Füßen, zog mir das bereits brennende Hemd über den Kopf, warf die Hose ab.
Die Menschen hinter der Stahltür waren zusammengebrochen, als ich das nächste Mal hinsah. Ich wollte fliehen und wusste nicht wohin. Meine Boxershorts wurden brennend heiß. Sie folgten als nächste.
Das Linoleum unter meinen Füßen wurde warm, wellte sich, löste sich auf. Ich rannte nackt den Korridor hinauf, als ich den Knall hörte. Etwas riss mich von den Füßen, ich prallte gegen eine Tür. Diese sprang auf, ich stürzte in den dunklen Raum dahinter und stieß mir den Kopf. Dann verlor ich das Bewusstsein.
4.
Zitternd wachte ich auf. Anfangs wusste ich nicht, wo ich war, hielt einen Feudel für mein Kopfkissen und ein altes Handtuch für meine Decke. Dann spürte ich den Besen in meinem Rücken. Es war noch immer dunkel in der Besenkammer. Notbeleuchtung im Korridor. Rotes Blinken.
Die Ruhe war brutal.
Ich rappelte mich auf. An meinen Füßen spürte ich den warmen Boden, im Gesicht den heißen Luftzug im Korridor, ich schmeckte den Rauch in der Luft und roch meinen eigenen Schweiß. Ich wagte kaum, den Blick zurück in den Korridor zu werfen. Doch es war weniger schlimm als befürchtet.
Dort, wo der Forschungsreaktor gewesen war, gähnte ein tiefes Loch, in dem ein kleines Feuer flackerte. Rohre, verbogen wie krumme Äste, ragten aus der Wand, Kabel griffen ausgefranst ins Leere. Keine verbrannten Reste von Menschen, kein Blut, keine Knochen.
Die Stahltür war verschwunden, meine Kleidung auf dem Boden zu Asche verbrannt und mit dem Linoleum verschmolzen. Meine Brieftasche ein schwarzer Klumpen. Als ich mich bückte und danach griff, fasste ich ins Leere.
Und dann bemerkte ich es. Der Schock überrollte mich wie ein Güterzug. Ich glaubte erst an eine optische Täuschung, blinzelte, wollte mir mit der Hand die Augen reiben und wurde noch panischer. Mein Herz raste wie eine Ratte in ihrem Käfig. Da war keine Hand, waren keine Finger. Ich konnte meine Hände nicht sehen, nicht meine Füße, nicht meine Beine.
Verblüfft fiel ich zurück auf meinen Hintern. Wieder blieb mir die Luft weg. Ich hob das, was ich als Hände spürte, vor meine Augen und sah durch sie hindurch. Ich führte sie näher an meine Augen und berührte plötzlich mein Gesicht. War ich tot? Ein Geist? Mein Herz klopfte, meine Knie zitterten, der Kater war verschwunden.
Ich musste mich berühren, meine Hände kneten, um mich zu vergewissern, dass sie noch da waren. Ich fasste meine Füße an, meine Knie, meine Oberschenkel, tastete nach meinem Penis und meinen Hoden, spürte erleichtert das Schamhaar, beruhigend den Bauch, meine Oberarme, mein Gesicht, meine Haare.
Langsam erhob ich mich und griff erneut nach meinem verkohlten Portmonee im Linoleum. Die Koordination einer unsichtbaren Hand stellte mein Hirn vor eine schwere Aufgabe. Zweimal, dreimal griff ich daneben. Dann schließlich konnte ich die Lücke im Bild ersetzen und den steinharten schwarzen Klumpen, in dem meine Kreditkarten, mein Ausweis, mein Leben steckten, ungläubig betasten.
Mir wurde schwindelig. Schmerzen nur im Kopf, ansonsten ging es mir gut. Und jetzt? Wo sollte ich hin? Was sollte ich machen? Hier war ein Reaktor explodiert. Das mussten doch Feuerwehr und Polizei, Katastrophenschutz und THW bemerkt haben? Vorsichtig lief ich barfuß den Gang hinauf.
Wie hatte das geschehen können?
Warum war ich nicht verbrannt wie die anderen?
Und wie konnte ein Atomreaktor Materie unsichtbar machen?
So viele banale Fragen von einem, der keine Ahnung hatte. Ich zog eine Tür auf, ging durch einen weiteren Gang und stand schließlich wieder vor dem Fahrstuhl. Er war außer Betrieb. Ich wollte nur raus aus diesem Labyrinth, geriet beinahe in Panik und fand schließlich die Tür zum Treppenhaus.
Als ich im Erdgeschoss anlangte, war noch immer niemand zu sehen oder zu hören. Der Empfang war geräumt. Doch draußen auf der Straße standen eine Menge Menschen etwa 100 Meter vor dem Gebäude des Instituts in der prallen Sonne. Ich sah sie durch die Glastüren der Lobby.
Fahrzeuge der Polizei, der Feuerwehr, des THW, Ambulanzen, Sanitäter, Männer in Weiß, Grün, Blau sowie eine Menge Schaulustige. Durch eine offene Tür wehte heiße Sommerluft herein. Umschmeichelte mich.
Da stand ich. Nackt. An einem Ort des größten anzunehmenden Unfalls. War am Leben und fühlte mich gut. Niemand konnte mich sehen.
Mein Herz pochte bis zum Hals.
Was würde passieren, wenn ich mich zu erkennen gab? Welche Experimente würde man mit mir machen? Wieder sah ich an mir herab und sah – nichts. Ich war unsichtbar. Ich war alleine. Ich hatte kein Geld, keinen Freund und keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.
Meine Welt war zusammengebrochen. Es gab nur noch die Welt um mich herum. War es Zufall? Schicksal? Fantasie oder der Tod? Was es war, wusste ich nicht. Es war, und das begriff ich: Es war. Ich traf meine Entscheidung im Bruchteil einer Sekunde.
Ich holte tief Luft und trat in mein neues Leben.
5.
Bevor die Feuerwehr in Schutzanzügen das Institut betrat, hatte ich mich durch die Tür ins Freie geschlichen. Die Hitze eines regelwidrig sommerlichen Junitages raubte mir beinahe den Atem. Wie lange war ich bewusstlos gewesen? Die Sonne fühlte sich nach Mittag an. Sirenen heulten, Motoren brummten, Funkgeräte schnarrten Durchsagen.
Die Sonne war immer noch gelb, die Bäume vor dem Institut grün, der Himmel blau und der kochende Asphalt auf der Straße schwarz. Nur ich war unsichtbar. Niemand bemerkte mich, niemand ahnte auch nur, dass ich über den Platz vor dem Institut zur Absperrung lief. Auf den Lippen der Ruf: »Hallo, hier bin ich, etwas Schreckliches ist passiert! Helft mir!«
Doch ich sagte ihn nicht, war sprachlos. Vor mir die Welt. Und in mir nichts als der Wunsch, mein altes Leben hinter mir zu lassen.
Meine nackten Füße gaben auf den warmen Granitplatten anfangs kleine, platschende Geräusche von sich, doch nach ein paar Schritten ging ich beinahe geräuschlos. Das Gefühl der Verlorenheit schwand mit jedem Zentimeter, den ich zurücklegte, und die Aufregung, die ich zuletzt in einem Kindheitstraum gespürte hatte, wuchs.
Es war wie in dem Traum, den ich oft als Teenager hatte. Darin flog ich nackt und wie ein Vogel mit ausgebreiteten Armen in einer warmen Sommernacht über die Dächer meiner Kleinstadt, spähte durch hell erleuchtete Fenster in fremde Zimmer und spürte die Lust daran, im Schutze der Dunkelheit eine Erektion zu bekommen.
Die Realität war jedoch nie so schön. Manchmal überkam mich die Lust, wenn ich in unserem Viertel Zeitungen austrug und von der Dunkelheit eingeholt wurde, und ich fummelte in einer dunklen Ecke einer kaum befahrenen Straße meinen harten Schwanz aus der Hose, um zu masturbieren.
Ich konnte mich auch daran erinnern, wie ich mit 13 zum letzten Mal mit meinen Eltern Skifahren war und die Lust auf der Skipiste zu groß wurde, um ihr zu widerstehen. Dann glitt ich von der Piste in den Fichtenwald, schnallte die Skier ab und setzte mich hinter einen Baum um zu wichsen. Aber ich kam nie an dieses Gefühl in meinem Traum heran, in dem ich die warme Luft überall an meinem nackten Körper spürte und ich meine Erektion stolz unter mir zur Schau trug.
Das Prickeln in der Lendengegend wurde überraschend stark. Doch nicht die Katastrophe geilte mich auf, sondern die Aussicht, einen Traum wahr machen zu können.
Ich war frei. David hatte mich verlassen, weil ich nur Schwanz und nicht Kopf war.
Na und?
Dann war ich eben nur Schwanz.
Ich stellte mich vor starrende Feuerwehrleute, nervöse Polizisten und schreiende Wissenschaftler. Keiner reagierte auf mich.
Ich stellte mich hüpfend vor einen wartenden Sanitäter. Er sah durch mich hindurch zur Tür des Instituts. Die Wärme an meinen Füßen erinnerte mich wieder daran, dass ich anwesend und am Leben war. Die Sonne schien es jedoch nur zu ahnen. Ich sah hinter mich: kein Schatten. Die Sonnenstrahlen jedoch brannten auf meiner Haut, wärmten mich. Nur das sichtbare Licht ging durch mich durch. So würde ich also noch einmal nahtlos braun werden in meinem Leben, und niemand konnte es sehen. Schade.
Die warme Luft umschmeichelte mich.
Ein paar Feuerwehrleute in Schutzanzügen gingen jetzt mit Messgeräten zum Eingang. Was auch immer nach der Explosion des Reaktors ausgetreten war – weit schien die Strahlung nicht gekommen zu sein, sonst hätte man das ganze Viertel geräumt.
Neben mir begannen zwei Feuerwehrleute eine Unterhaltung. Der Sanitäter sah durch mich hindurch.
Er hatte schöne Zähne, die immer wieder im Sonnenlicht aufblitzten. Je länger ich ihn anstarrte, umso größer wurde die Lust, ihn zu berühren, ihn zu küssen. Ich hatte David so gerne geküsst. Und in diesem Moment fehlte er mir plötzlich. Oder fehlte mir die Nähe? Mein Herz schlug schneller.
Ich überlegte, etwas zu sagen wie: He, ich bin unsichtbar.
Rasch verwarf ich den Gedanken wieder. Denn als ich so vor dem Sanitäter stand, mit dem Verlangen nach David und dem Wissen, dass alles vorbei war, dass es keine Möglichkeit gab, dort weiter zu machen, wo wir aufgehört hatten, wurde meine Lust auch zwischen meinen Beinen spürbar.
Nur Schwanz.
Der heiße Wind an meinem Körper, die warmen Steine unter den Füßen, das Wissen, vollkommen nackt unter Dutzenden von Menschen zu stehen und nicht gesehen zu werden, erregte mich plötzlich. Die Geilheit überfiel mich regelrecht. Sie ließ mein Herz schneller schlagen, beschleunigte meinen Atem und pumpte Blut in meine Lenden.
Und dann fiel alles, fielen die ganze Traurigkeit, die Angst und die Unsicherheit von mir ab. Ich war am Leben. Ich war unsichtbar.
Frei, ich war frei. Ich konnte all das machen, was ich schon immer machen wollte, ohne dabei erwischt zu werden. Konnte nur Schwanz sein, nur Geilheit, ohne dass mich jemand verurteilen würde.
Konnte mich wichsend auf den Alexanderplatz stellen, in den besten Hotelbetten schlafen, in die Zimmer anderer Leute gucken, mich in den besten Restaurants vollfressen, gratis ins Kino gehen, Typen in die Dusche folgen.
Ich hing am Gängelband der Gene? Ich war wie mein Vater? Natürlich war ich das. Und es war okay. Ich hatte immer Lust, ich war Voyeur und liebte es, nackte Körper anzusehen, ich wollte mir immer und überall einen runterholen und konnte keine Beziehung führen.
Als Unsichtbarer, so wurde mir jetzt bewusst, konnte ich alles und musste ich nichts.
Unsichtbar.
Langsam bekam das Wort für mich einen neuen Geschmack im Mund.
Ich trat einen Schritt zurück. Meine Erektion wuchs weiter. Ich konnte nicht anders als meine Hand daranlegen und mit ein paar schnellen Bewegungen zu kontern. Es war unglaublich. Ich stand vor so vielen Menschen und holte mir einen runter. Wirre Gedanken schossen mir in den Kopf. Ich wollte dem Sanitäter meinen Schwanz ins Gesicht pressen, in den Mund, zwischen die Lippen. Doch was dann? Mit Sicherheit würde er mir keinen blasen, so viel verstand ich. Er wartete nicht darauf, den Schwanz eines Unsichtbaren zu lutschen.
Mein Herz pochte aufgeregt.
Narrenfreiheit.
Vorsichtig lief ich an der Absperrung entlang, bis die Menschen dahinter weniger wurden. Schließlich endete das Plastikband an einem hohen Metallzaun. Dahinter stand niemand. Ich bückte mich und glitt unter dem Plastikband hindurch. Dann war ich frei.
Berlin war jetzt mein Spielplatz.
Nur bei welchem Spielgerät fing ich an? Erst einmal musste ich weg vom Institut. Weg aus dieser Gegend.
Das Institut lag am Ende einer exklusiven Wohnsiedlung. Deshalb hatten sich auch nur einige wenige Schaulustige eingefunden. Hinter einer zweiten Absperrung standen Männer mit Bierbäuchen, alte Frauen in hässlichen Kleidern, kleine Kinder und dann auch ein paar vom Wohlstand verwöhnte Teenager und Twens, mit knappen Tops und engen Hosen.
Ich überlegte, zurückzugehen und ein wenig am Rettungssanitäter zu fummeln, doch dann wurde mein Wunsch zu groß, so schnell wie möglich diese Gefahrenzone hinter mir zu lassen.
Die Hitze umschmeichelte mich wie ein warmes Tuch. Ich kam mir vor, als sei ich in der Sauna. Nackt und schamlos, mit dem kleinen Unterschied, dass ich mich auf offener Straße befand.
Winzige Steinchen bohrten sich in meine Fußsohlen, an manchen Stellen war der Asphalt so heiß, dass ich Angst hatte, mich zu verbrennen. Auf dem Weg zur S-Bahn kam ich an den ersten Wohnhäusern vorbei. Hohe Hecken vor großen Gärten, dahinter alte Villen und schicke Einfamilienhäuser mit teuren Autos auf der Auffahrt.
Ich hatte Durst. War neugierig. Und der Weg war mein Ziel.
Je länger ich unterwegs war, umso deutlicher wurde mir, dass ich mit diesem Schicksal den Hauptgewinn gezogen hatte. Niemand wusste, dass ich noch lebte. Meine Brieftasche auf dem Boden, meine Kleidung – all das waren deutliche Indizien, dass ich nicht mehr am Leben war, offiziell. Dabei war ich einfach nur unsichtbar und konnte alles machen, was ich wollte, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Ich konnte gratis im Zug fahren, in fremde Häuser sehen.
Mit jedem Schritt fielen mir neue Dinge ein.
Ich hatte alles verloren, meinen Freund, mein altes Leben, meinen Job, mein Aussehen. Ich war endlich frei.
Ich konnte ins Bundeskanzleramt, in die Zentralstellen der Macht, ich konnte in die Hotels eindringen und Prominente, Schauspieler, Musiker beobachten und sehen, wie die Stars aussahen, wenn sie die Tür hinter sich zumachten.
Was wirst du machen, wenn du weißt, dass du nicht mit der Konsequenz leben musst? Gilt der kategorische Imperativ?
Die Vielfalt der Möglichkeiten machte mich schwindelig. All die verschütteten Wünsche kamen in mir hoch. Doch was würde ich machen, wenn ich sie sah. Nur zusehen? Oder anfassen? Wie konnte ich anfassen, ohne entdeckt zu werden?
Ratlos blieb ich stehen. Es war Sommer, wir hatten bestimmt 33° Celsius – wenn von diesen Villen nicht mindestens jede zweite mit einem Pool ausgestattet war, würde ich meinen Namen in Chevy Chase ändern.
Ich betrat über die erste Auffahrt, die nicht mit einem Tor gesichert war, ein großzügiges Anwesen. Das Problem, vor das ich mich dann gestellt sah, war ein ganz banales: Auch als Unsichtbarer konnte ich nicht durch geschlossene Türen gehen. Und hinter das Haus, so stellte ich schnell fest, führte der Weg nur über einen spitzen Zaun.
Diese Mühe wollte ich mir nicht machen, also versuchte ich es beim nächsten Haus nebenan. Dort gelangte ich zwar hinter das Haus auf die Terrasse, doch niemand war zuhause und alle Türen waren verschlossen.
Es war nicht so einfach wie gedacht, anderer Leute Privatsphäre zu missachten.
Manchmal waren die Jalousien heruntergelassen, manchmal waren die Türen einfach nur verschlossen.
Unbefriedigt schlich ich über den Rasen. Am liebsten wäre ich in den See gesprungen. Von irgendwo erscholl Musik. Ich kletterte über den Zaun und landete im Garten eines Familienanwesens mit Spielsachen auf dem Rasen. Daran hatte ich kein Interesse.
Ich brauchte Penetration. Lust. Ich war doch nicht Unsichtbar, um Rentnern beim Feiern zuzusehen.
Der Lärm nahm zu, und nach einer weiteren überwundenen Grundstücksgrenze erreichte ich die Quelle. Im Garten einer großen Villa mit Pool fand eine Grillparty statt. Viele gut angezogene Menschen saßen mit Flaschen, Gläsern, Tellern auf teuer aussehenden Gartenmöbeln. Zwischendurch lief ein Hund.
Am Grill stand ein Mann, der wie der Herr des Hauses aussah. Lachen, Musik, Konversation. Viel zu viel für mich. Ein Englisch sprechender Depp trat mir beim Vorbeigehen auf den Fuß und merkte es nicht einmal, ein anderer Snob rannte mich beinahe um.
Eine Party ist kein guter Ort für einen Unsichtbaren.
Vor allem nicht ab dem Moment, an dem mich der Hund witterte und mich anbellte. Knurrend hockte er vor der Terrasse. Es sah zum Glück aus, als belle er den Grillmeister an.
Ich schlich um den Grill herum, das blöde Vieh folgte mir. Der Herr des Hauses fluchte, der Hund bockte. Unauffällig stupste ich eine Wurst von einem Teller, auf dem sich das Fleisch türmte. Der Hund rannte, kläffte, schnappte sich die Wurst, der Hausherr schimpfte noch lauter und trat nach dem Köter, der jaulend verschwand.
Blödes Vieh.
Unter dem großen Proteststurm einiger anwesender Tierfreunde, den beschwichtigenden Worten des Grillmeisters und einem anschließenden Prösterchen (auf alle aussterbenden Tierarten, die nicht gegessen werden können) schnappte ich mir ein Schnitzel und verkroch mich in den Schatten einer Buchenhecke.
Dort verschlang ich gierig das Schnitzel, vermied jeden Blick auf meinen Magen oder besser: auf den Ort, an dem er sich befinden musste, wischte mir die Finger an Blättern ab und streunte fürs Erste gesättigt weiter.
Ich pinkelte in den Pool des Nachbarhauses, streifte noch durch ein paar Gärten, rüttelte zunehmend frustriert an verschlossenen Türen und überlegte, wo ich ganz unauffällig noch einen wegstecken könnte, verwarf den Gedanken und ging, müde geworden, auf dem Grundstück eines verschlossenen Hauses ans Ufer.
Dort ragte ein Gartenpavillon auf das Wasser. Ein Chaos empfing mich. Liegen, Sessel, Kissen, Handtücher. Da hatte wohl die Putzfrau frei. Ein laues Lüftchen wehte über den See. Motorboote, Segler, Kinderlachen. Ich spürte, wie das Adrenalin aus meinem Körper wich und die Müdigkeit in mich kroch.
Unsichtbar.
War ich das vorher nicht auch schon gewesen? Wer vermisste mich denn? David? Der hatte mit mir abgeschlossen. Unsere Wohnung war gekündigt, und er würde froh sein, wenn er seine Sachen abholen konnte, ohne dabei auf mich zu stoßen.
Meine Mutter? Die rief nur alle Jubeljahre an. Mein kleiner Bruder? Wir hatten nicht mehr viel Kontakt, seit er in die USA gezogen war und dort bei einem großen IT-Unternehmen als Programmierer Karriere machte.
Mein Vater? Bis der in seiner südfranzösischen Kommune von diesem Unglück erfuhr, konnten Wochen vergehen. Ihm fiel selten auf, dass ich mich wochenlang nicht meldete.
Suchte man im Institut nach mir? Sollte ich zur Polizei? Sollte ich mich stellen und das Risiko eingehen, dass mit mir Experimente angestellt wurden? Was, wenn ich krank war, wenn mich die Strahlung langsam tötete?
Na und, dachte ich, dann ist es eben so. Bis dahin, so beschloss ich, würde ich das Beste aus dieser Situation machen. Was auch immer das hieß.
Nur ein kurzes Nickerchen, damit ich am Abend in irgendein Haus einbrechen und nackte Menschen beobachten konnte. Ich legte mich in eine Liege, in der ein weiches Polster verhinderte, dass mir der Bambus das Blut abschnürte.
Hässliche Streifen, so wusste ich, würde er ja nicht hinterlassen.
Ich legte mich zurück und schloss die Augen. Die Helligkeit blieb.
So ein Scheiß.
Ich sah mich um, nahm ein gebrauchtes Handtuch von einem der anderen Sessel und legte es mir über die Augen, damit es dunkel wurde.
Wie spät mochte es sein? Die Sonne war hinter dem Haus versunken. Nach acht? Von Ferne brandete das Lachen der Party herüber. Noch immer war es heiß. Ich schwitzte und bekam Lust darauf, in den See zu springen und mich abzukühlen.
Was, dachte ich noch, wenn ich aufwache und wieder sichtbar bin? Was, wenn dann die Besitzer des Pavillons auftauchten und mich so, nackt, vorfanden?
Nur ein kurzes Nickerchen, ein Schläfchen, als Unsichtbarer.
Würde ich ein Loch im Wasser hinterlassen?
Über diesen Gedanken schlief ich ein.
1.
Ich wachte erst früh am Morgen auf. Ich hatte tatsächlich in einem Rutsch durchgeschlafen. Dennoch fühlte ich mich erschöpft, ausgelaugt von zu vielen intensiven Träumen. Ich hatte geträumt, ich sei wieder in der alten Wohnung und wollte mit David reden, doch er hatte mich nicht beachtet.
Dann war ich zurück in der Schule, und Philipp war da, Phil im Garten seiner Eltern, und er war nackt, aber er trug die Kleidung eines Mönchs. Er sagte, ich passe nicht zu seinen Plänen.
Während des Studiums hatte ich mich ausgetobt und meine Träume wahrgemacht. Doch bei jedem Kuss hatte ich immer nur Einen im Sinn gehabt. Jahrelang war ich auf der Suche nach einem wie Philipp gewesen und hatte schließ David gefunden. David sah aus, wie mein Traummann hatte aussehen müssen. Wie Philipp. Doch er war es nicht gewesen, und auch seine Vorstellungen von Sex waren ganz anders gewesen als meine, als das, was ich von meinem Traummann erwartet hatte.
Ich hatte es dennoch akzeptiert, weil ich gedacht hatte, ich hätte mich bereits genug ausgetobt und Sex sei nicht so wichtig. Jeden Morgen neben einem Menschen aufzuwachen, der wie Philipp aussah – das hätte mir doch reichen müssen.
Welch ein Irrtum.
Mit jedem Jahr war die Sehnsucht nach fremder Haut gewachsen. Mit jedem Jahr hatte ich vergeblich versucht, nicht so oberflächlich und auf Sex ausgerichtet zu sein wie mein Vater.
Es war alles nur in meinem Kopf gewesen. Dachte ich.
Es war alles nur in meinem Schwanz.
Und jetzt war ich alleine.
Meine Augen brannten. Ich spürte, wie sich die Lider schlossen, aber der See verschwand nicht.
Wie spät es wohl sein mochte? Meine innere Uhr und der Sonnenstand, die Ruhe und die frische Luft ließen mich auf nicht einmal sieben Uhr tippen.
Die Nacht war warm geblieben. Trotz meiner Nacktheit hatte ich kaum gefroren und nur einmal zum Handtuch gegriffen, um meine unsichtbare Blöße zu bedecken.
Ich setzte mich auf. Eine Ente schwamm vorbei. Im Osten lugte die Sonne gerade über den Horizont. In einem kurzen Moment des Schrecks fürchtete ich, wieder sichtbar zu sein, sichtbar in einem Gartenpavillon einer Villa am Kleinen Wannsee.
Ich hätte es besser wissen müssen, schließlich konnte ich die Augen nicht schließen. Meine Hände waren unsichtbar, mein Bauch, meine Füße.
Ich konnte die Abdrücke sehen, die mein Körper auf dem Polster hinterließ, konnte sehen, wie sich der Schaumstoff ausdehnte, kaum, dass ich das Gewicht verlagerte.
Ich fühlte mich wohl. Der Reaktorunfall zeigte noch keine unwillkommenen Begleiterscheinungen. Meine Haare waren noch auf meinem Schädel, ich spürte keine Übelkeit, nur Appetit. Mühelos konnte ich mich von meinem Nachtlager erheben und zusehen, wie das Gras von meinen unsichtbaren Füßen niedergedrückt wurde.
Langsam stieg die Sonne höher an einen wolkenlosen Himmel. Heiß würde es wieder werden, und ich hatte noch keine Ahnung, dass ich als Unsichtbarer die längste und extremste Hitzewelle erleben würde, die je Mitteleuropa heimgesucht hatte.
Ich bekam Lust, mich zu erfrischen, wenn ich schon keine Dusche nehmen konnte, und stieg über eine kleine Leiter in den See. Fasziniert beobachtete ich, wie mein unsichtbarer Körper das Wasser verdrängte, als hätte Moses das Rote Meer geteilt.
Das Wasser nahm meine Konturen an wie ein in den See geworfenes Aquarium, so dass ich bis auf den Grund sehen konnte, dort wo ihn meine Füße berührten. Zu einer Glocke geformt legte ich meine Hände auf das Wasser und drückte sie hinunter. Eine Luftblase bewegte sich durch das Wasser hinab, wo sie sich in viele kleine Bläschen aufteilte.
Ich kam aus dem Staunen nicht heraus.
Die Sonne glitzerte bald auf dem Wasser und wurde von der Innenseite der Wasserwand reflektiert. Sie gingen durch mich hindurch und doch spürte ich wieder die Wärme.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich plantschte, Wasser schweben und Luftblasen steigen ließ, wurde mir die Gefahr, entdeckt zu werden, zu gegenwärtig, und ich stieg wieder aus dem See.
Kaum an Land jedoch, bekam ich einen Schreck. Das Wasser lief nicht einfach von mir ab, es blieb an der Körperbehaarung hängen. Mein Schamhaar wurde sichtbar, die Härchen an meinen Beinen, meinen Armen, und ich war mir sicher, dass auch die Haare auf meinem Kopf sichtbar geworden waren.
Ich griff nach einem Handtuch.
Nach dem Abtrocknen wurde ich wieder vollständig unsichtbar.
Ich beschloss, etwas gegen die Haare zu tun.
Das Haus am See blieb mir verschlossen, aber kaum war ich über einen Zaun geklettert und auf die Straße getreten, wusste ich, wie spät es war: Es war Zeit, ins Büro zu fahren.
Schräg gegenüber öffnete sich ein breites Tor, und ein BMW fuhr heraus. Noch bevor ich reagieren konnte, schloss sich das Tor wieder. Ich drehte mich. Irgendwo klappte eine Tür. Ich rannte weiter über den kühlen Asphalt. Nackt. Ein geiles Gefühl.
Ich bin frei, schoss es mir wieder durch den Kopf, ich kann tun und lassen, was ich will.
In dieser Minute, in der ich in einem noblen Wohnviertel nackt über die Straße lief, um unerkannt in ein fremdes Haus einzubrechen, ging ich ganz in diesem Gefühl auf.
Frei.
Kurz darauf hörte ich Stimmen aus der Richtung, in die ich lief, ein Motor wurde angelassen, und ich sah, wie sich ein elektrisches Tor zur Auffahrt öffnete. Die Villa war alt, oder auf alt gemacht, mit Säulen vor dem Eingang, dahinter eine gelbe Fassade mit Sprossenfenstern unter einem Giebeldach. In einer Garage standen zwei Nobelkarossen. In der Tür, sehr schick, eine Frau, Handtasche und Schlüssel in der Hand.
Der erste Mercedes rollte aus der Garage, ein elektrischer Fensterheber summte. Eine Männerstimme aus dem Inneren des Fahrzeugs.
»Ich hab den Brief vergessen, kannst du? Liegt auf dem Küchentisch.«
Die Frau in der Tür hob die Hand und verschwand im Haus. Wieder der Fensterheber, das Aufheulen des Motors, das Rasseln des Tores.
Ja, dachte ich, wie geil ist das denn?
Ich rannte die letzten Meter, huschte durch das offene Tor auf das Grundstück, rannte zur Eingangstür. Der Mercedes rollte auf die Straße. Im Haus war es kühl. Schritte auf den Fliesen. Schlüsselrasseln. Die Frau, Ende 40, im Businessanzug, kam mir entgegen, einen Brief in der Hand. Sie stellte sich noch einmal vor den Spiegel im Flur, wischte sich über die Nase, presste die rotgeschminkten Lippen aufeinander.
Ich wich zurück, presste mich an die Wand. Sie stand nur wenige Zentimeter entfernt, riss sich von ihrem eigenen Anblick los, verließ das Haus.
Die Tür knallte. Ein Schlüssel wurde gedreht. Das Fenster, dachte ich erschrocken, ich kann durch ein Fenster raus. Ganz bestimmt.
Sekunden später klappten Türen, heulte ein Motor auf. Rattern, Garagentor, Einfahrt. Aus.
Im Haus war es still. Es roch sauber. Nach Putzfrauenwerk.
Ich schlenderte durch den Flur in die Küche.
Ein fremdes Haus, endlich, aber mich trieb nicht die Suche nach Pornos, Schätzen, nackter Haut.
Ich hatte ganz andere Pläne.
Am Küchentisch jedoch blieb ich hängen. Die Schlagzeile der Morgenpost traf mich in den Magen wie ein Gammelfleisch-Döner.
»Der GAU - 7 Tote bei Reaktorunglück in Berlin «.
Mit einem Mal war sie wieder da. Die verdrängte Tatsache, dass ich, Jakob Wellmann, 29 Jahre alt, seit einem Unglück nicht nur unsichtbar, sondern jetzt, in der prallen Sonne eines frühen Berliner Morgens, feststellen musste, dass ich auch für tot erklärt worden war.
Ich blätterte die Zeitung auf und fand alle Infos vom Unfall im Institut am gestrigen Tag.
Über geringe Strahlung wurde berichtet, über tote Wissenschaftler, einen 34jährigen Journalisten, der bis auf seine Brieftasche restlos verbrannt war, bis zur andauernden Suche nach einer Ursache.
Tot. Ich war gestorben. Nicht nur für David – für den Rest der Welt ebenfalls. Endlich.
Mir schossen Tränen in die Augen und für einen Moment genoss ich das Gefühl der Trauer. Doch nach wenigen Sekunden schon reichte es mir. Mein Selbstmitleid war wie die geheuchelte Zärtlichkeit eines Fremden.
Schluss.
Neuanfang. Wieder einmal.
Zur Sicherheit klapperte ich alle Zimmer ab, um auszuschließen, dass sich irgendwelche verpennten Teenager vor der Schule drückten, doch ich traf auf keinen anderen Menschen.
Das Bad war weniger protzig als erwartet und hatte seine letzte Renovierung bestimmt vor zehn Jahren gesehen. Der Rasierschaum stand vor dem Spiegel, der Ladyshave hing in der Dusche an einem kleinen Haken.
Ich riss die Schubladen auf und fand schließlich einen Rasierapparat mit Langhaarschneider. Ich stellte mich vor den großen Spiegel, bewunderte den schwebenden Rasierapparat, den Stecker, der sich von selbst in die Steckdose schob und den Schalter, der sich von ganz alleine auf an bewegte.
Vorsichtig schor ich mir den Kopf. Anfangs befürchtete ich noch, der angestrengt brummende Langhaarschneider würde seine Arbeit verweigern, doch langsam kam ich voran.
Eine gefühlte Stunde später stopfte ich die unsichtbaren Haare mit meiner unsichtbaren Hand in einen Kosmetikmülleimer und fuhr mir über die Stoppeln auf meinem Schädel.
Weiter.
Ich rasierte mir die Beine mit dem Langhaarschneider und schließlich auch die Haare rund um meinen Schwanz. David hatte nie daran gedacht, sich unten herum zu rasieren. Es war ihm zu pornomäßig gewesen. Trends waren dazu da, hatte er gesagt, um sich ihnen zu widersetzen. Wie so viele Bedürfnisse hatte ich im Laufe unserer Beziehung auch diesen Wunsch abgehakt.
Aber es war nie zu spät.
Anschließend stellte ich mich unter die Dusche und griff zum Rasierschaum. Ich war gar nicht darauf vorbereitet, und so überraschte es mich, dass ich, je mehr Schaum ich auf meinen Beinen und meinem Schwanz verteilte, Stück für Stück wieder sichtbar wurde.
Bald sah ich aus wie der Marshmallow-Mann, in den ein Ladyshave breite Bahnen schnitt, durch die hindurch man die Duschkabine sah.
Keinen Zentimeter ließ ich aus. Kopf, Gesicht, Achseln, Bauch, Scham, Beine, Po und sogar die Arme rasierte ich. Zweimal wechselte ich zwischendurch die Klinge. Die Schaumdose leerte ich komplett.
Bald wusch ich mit Seife die letzten Schaumreste ab, fuhr mir mit der Hand über den Körper und schauderte, so fremd fühlte ich mich an.
Fremd und gut.
Jetzt war ich wirklich nicht mehr Jakob. Jetzt war ich niemand. Jeder. Unsichtbar.
Doch was machte ich jetzt mit meiner neugewonnenen Freiheit? Schlich ich mich tatsächlich in das Kanzleramt und sah mir an, wie ein Regierungschef so lebte? Irgendwie interessierte es
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2016
ISBN: 978-3-7438-0221-6
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