Cover

Reservierung

1.

 

Die Tür zu unserem Abteil öffnet sich für den ersten Schaffner, dem wir auf dieser Fahrt unsere Tickets zeigen. Niedersachsen ist am Ende, nächster Halt Amsterdam. Kaum ist die Tür wieder zu, grinst mich Maike an.

 »Ich glaub das ja immer noch nicht, dass wir tatsächlich unterwegs sind«, sagt sie aufgeregt. Sie sitzt so aufrecht in ihrem Sitz, als hätte sie ein Brett im Rücken. Ihre kurzen dunkelblonden Haare hat sie hinter die Ohren gestrichen. Wenn sie grinst, bekommt sie ganz schmale Augen und einen breiten Mund, die Lippen fest zusammengepresst. Ich denke dabei immer an Meg Ryan.

Unter ihrer dunkelgrünen Windjacke blitzt weiße Schrift auf einem grauen T-Shirt. who killed Laura lese ich. Links fehlt I know und rechts Palmer. Das Bekenntnis des Spielverderbers auf ihrem T-Shirt wird besonders bei den Wörtern who und Laura in die Breite gezogen. T-Shirt. Habe ich genug dabei? Ein wenig zu spät, darüber nachzudenken. Sieben T-Shirts für vier Wochen. Wenn ich jedes T-Shirt zwei Tage anziehe, muss ich erst in Madrid waschen. Bei Unterhosen und Socken passt die gleiche Rechnung. Eine Jeans, zwei Shorts, Badelaken, Händehandtuch, und voll ist der Rucksack.

Im Gang vor den Abteilen trampeln sich die zugestiegenen Fahrgäste beinahe über den Haufen. Nicht wenige tragen große Rücksäcke, Schlafsack oben, Zelt unten, Trinkflasche in der Seitentasche, Schuhe mit den Schnürsenkeln an den Laschen festgebunden.

 Vor dem halb heruntergezogen Fenster knattert der Wind. Unseren ersten Tag auf Achse habe ich mir anders vorgestellt, mit Sonne und blauem Himmel, Hitze und Alkohol. Sollten wir nicht ein paar Bier öffnen? Frank hatte versprochen, einen Sechserträger mitzubringen, für jeden ein Bier, um auf die große Fahrt anzustoßen. Doch es scheint, als habe uns der Regen auch die Lust auf Bier vermiest.

 »Wir haben es uns auch unheimlich leicht gemacht«, sagt Frank. »So können wir immer die Sechserzimmer in den Jugendherbergen mieten.«

In seiner Stimme liegt unangebrachte Ironie. Er ist schließlich im Dezember als letzter zu unserer Gruppe gestoßen und hat unsere Gruppe erst so groß gemacht. Aber zu fünft hätten wir es auch nicht leichter.

Frank dreht selber, raucht Kette, hält einen Mercedes schlicht für ein Fortbewegungsmittel und schwärmt von der sozialistischen Revolution. Sein Vater ist Abteilungsleiter bei einem der größten Arbeitgeber in Burghausen, einem Zulieferer für die Automobilindustrie. Frank hat stets einen blöden Spruch auf den Lippen und lässt seine Hemden immer offen, damit man seine behaarte Brust unter dem tief ausgeschnittenen T-Shirt besser sehen kann.

Manchmal glaube ich, er fährt am Wochenende nach Hamburg in die Hafenstraße und schmeißt zusammen mit Hausbesetzern Steine auf die Polizei. Er hat trotz seines proletenhaften Verhaltens immer etwas Elitäres, Distanziertes.

Er redet nicht viel und seinem Schweigen entnehme ich abgrundtiefe Verachtung für die pubertären Spielchen in unserem Jahrgang. Ich bewundere ihn manchmal für seine Coolness, auch Fabian redet immer mit viel Respekt von Frank, der als einziger in meinem Freundeskreis einen so dichten Bartwuchs hat, dass er sich jeden Tag rasieren müsste.

In diesem Punkt tut er mir ein bisschen leid, aber ich versuche mir diese Abneigung gegen Körperbehaarung nicht anmerken zu lassen. Nur einmal ist mir ein ‚haariger Affe’ herausgerutscht. Daraufhin habe ich mir von ihm anhören müssen, ich könne mich mit einem trockenen Brötchen rasieren.

Stört mich nicht.

Frank war nie ganz Teil unserer Clique, und es überrascht keinen, dass seine zahlreichen Freundinnen nicht auf unsere Schule gehen.

»Aber es gibt doch kaum Sechserzimmer«, sagt Katja mit großen Augen. Wieder einmal hat sie ihre mittellangen, dunkelbraunen Haare mit einer silbernen Spange gescheitelt. Braves Mädchen.

Sie hat die Ironie in Franks Stimme nicht erkannt, aber das ist nichts Neues. Ich halte sie insgeheim für eine naive, dumme Nuss, die sich in der katholischen Dorfjugend engagiert.

Vor einem Jahr wurde der Kontakt zwischen uns enger. Das lag an einem von meinem Biolehrer nur spöttisch Kuppelvirus genannten Phänomen.

Es infizierte kurz nach den Sommerferien unseren Jahrgang. Maike und Fabian kamen zusammen, Maikes beste Freundin Bettina und der Rüpel des Jahrganges wurden ein Paar. Und in der zweiten Clique meines Jahrgangs, bei den Strebern, fanden sich ebenfalls zweimal zwei Herzen, selbst ich wurde leider von diesem Virus angesteckt.

Katja wiederum fand in Gregor, einem Freund von Fabian und mir, ihre verlorene Hälfte. Ihr Traummann, unser Traumpärchen. Beide katholisch und aus Meggelde, einem Kaff vor den Toren unserer Kleinstadt. Meggelde – wer aus diesem Dorf kommt, kann nur einen Schuss haben. Klingt wie eine Krankheit. Entschuldigung, sagt der Arzt nach der Untersuchung, aber Sie haben Meggelde.

Jeden Morgen kamen sie mit dem Schulbus, jeden Nachmittag fuhren sie wieder zusammen zurück. In der Folge wurden die Partys, die regelmäßig im Haus von Fabians Eltern stattfinden, um einige Personen erweitert.

Maike brachte Bettina mit. Ihr Freund, der Rüpel, entpuppte sich nach dem Fall einiger Masken als handzahm. Er war mit dem langhaarigen Musiker unseres Jahrgangs befreundet. Der Musiker kannte Frank. Frank war schwer in Ordnung. Die Kontakte verschränkten, das Netz verdichtete sich.

Der Kuppelvirus grassierte ein Jahr, bis wir nacheinander immun wurden. Die ersten Anzeichen der Resistenz zeigte ich bereits nach einem Monat, anschließend brachen die Beziehungen Schritt für Schritt auseinander. Bettina und Rüpel – Geschichte. Streberherzen – gebrochen. Fabian und Maike sind die letzten Infizierten, denn kurz vor unserem Interrailurlaub trennten sich auch Gregor und Katja.

Wochenlang erlebten wir eine griechische Tragödie auf dem Schulhof. Tränen, Flehen, Flüstern, die Kann-ich-dich-mal-sprechen-Frage, die Partys, auf denen Gregor stundenlang mit Katja im Garten stand und sich anhörte, was er nicht wissen wollte. Hoffnung in Katjas Augen, Distanz in Gregors Blick, und die ersten blöden Witze über sie. Wir waren dennoch in dieser Konstellation losgefahren.

Gregor war schließlich unser Freund, ohne den wir nicht fahren wollten. Ohne Gregor, der sich zwei Wochen vor der Fahrt den linken Arm gebrochen hat und auf der Reise einen leichten, unkomplizierten Gips um den Unterarm trägt, blättert in einem Buch von T.C Boyle, von dem ich noch nie etwas gehört habe. Wir finden, dass er sich damit von seinem Vater abgrenzen will, dem Autoverkäufer, dem Proleten. Sein größtes Ziel ist ein Medizin- oder Jurastudium in Hannover mit dem Geld seines Vaters. Fabian betont gerne, dass Gregors Unterhose mehr kostet als mein gesamtes Outfit.

»Das war ein Scherz, Katja«, sagt Gregor, schlägt sich mit der freien Hand an die Stirn und zieht eine Grimasse.

 »Dafür gibt es Sechserabteile, vor allem in Schlafwagen. Ist doch super«, sagt Fabian. So kenne ich ihn. Loyal, nie auf Streit aus. Lange Jahre war Fabian mein einziger Verbündeter. Immer auf der Suche nach dem Mädchen, das ihm gefiel und dem er sich anvertrauen konnte. Genauso erfolglos wie ich, genauso wählerisch, genauso einsam.

Zusammen gehen wir jede Woche ins Kino oder gucken nächtelang Video. Anschließend reden wir nicht über die Filme, das brauchen wir nicht. Wir verstehen uns wortlos. Meine Mutter kam einmal sogar in mein Zimmer, um zu sehen, was wir so treiben. Nichts, natürlich, außer Video gucken. So ein Quatsch, als ob ich jemals mit Fabian irgendetwas treiben würde.

Ich mag Fabian wie einen Bruder.

Wir waren eines Abends bei Gregor auf einer Party und hatten die Nacht durchgemacht. Morgens saßen wir im Arbeitszimmer von Gregors Vater auf unseren Schlafsäcken und quatschten über Mädchen. Wir hatten beide Beulen in den Unterhosen. Nichts war passiert. Was wir so treiben. So ein Quatsch. Wir waren Leidensgenossen. Mehr nicht.

Bis zu dem Sommer vor einem Jahr, als er Maike fand. Sie wohnt bei ihm um die Ecke. Das ist sehr bequem. Manchmal glaube ich, diese Bequemlichkeit spielt eine größere Rolle als ihr Charakter, ihr Aussehen oder ihre Liebe. Aber das streitet Fabian ab. Nur einmal hat er mir nach einer dieser Fragen Neid vorgeworfen, weil er eine Freundin hat und ich nicht. Dabei gönne ich ihm sein Glück mit Maike wirklich.

Der Zug rattert über eine Weiche, schwankt, lärmt. Jemand reißt die Tür zum Abteil auf. Ein verpeilt aussehender Typ mit langen Haaren und Grungebart lässt seinen Blick über die sechs belegten Plätze gleiten. Wie zugedröhnt musst du sein, um nicht schon vom Gang aus zu sehen, dass hier kein Platz mehr ist. Wortlos schließt er die Tür wieder, zu schwungvoll, denn sie springt wieder auf. Im Gang raucht jemand. Fabian beschwert sich und zieht die Abteiltür zu.

Ich habe nicht gedacht, dass wir mal zusammen in den Urlaub fahren. Doch es ist die einzige Rettung in diesem Sommer. 31 Tage lang muss ich nicht die Stufen zu unserer kleinen Wohnung in der vierten Etage in der hässlichsten Wohnsiedlung von Burghausen nehmen, mich nicht in mein schmales Bett legen, meiner Mutter nicht  beim Heulen in der Küche zuhören.

Der letzte Urlaub mit meiner Mutter war ein Alptraum. Wir haben meine Großeltern besucht, letzten Sommer. Nur sie und ich, und zuhause wartete die Austauschschülerin von Maike, eine niedliche Französin, die mich so sehr fasziniert hatte, wie kein fremder Mensch zuvor, der ich auf einer Party in den ersten Ferientagen die Frage stellte, was Cul hieße, Teil des Titels eines Film von Roman Polanski, und Katja, die immer besser Französisch sprach und Francoise, die Austauschschülerin, kicherten verlegen.

Ich weiß, wie ich überrascht zurücklächelte. Ob ich keine Ahnung habe, was es bedeuten könne, und ich sagte, der Rest des Titels laute de Sac, Cul des Sac, und die beiden lachten, nicht verlegen sondern freundlich.

»Das heißt Sackgasse«, sagte Francoise. »Und Cul alleine heißt Hintern.«

Als ich rot wurde, lachten Katja und Francoise wieder. Meine Mutter machte mit diesem blöden Trip zu meinen Großeltern nach München alles kaputt. Als ich zurückkam, war Francoise wieder in ihrer Heimat und ich um eine Chance ärmer. Nie wieder fahre ich mit meiner Mutter in den Urlaub, ich werde sie nicht einmal anrufen, ich werde ihr einen Brief schreiben und sie bitten, mich in Ruhe zu lassen.

Der Zug rattert unruhig über eine Weiche. Vor dem Fenster huscht eine Landschaft vorbei, regennass, dunkelgrün, satt und von Zäunen begrenzt. Ab und zu ein rotes Haus. Kulissen, ohne Tiefe, abgetrennt von einer dünnen Scheibe aus Glas, durch die du alles sehen und nichts anfassen kannst. Dir bleibt, zu staunen und dich von dem, was du siehst, erregen zu lassen.

 »Was erwartet ihr von diesem Urlaub?«, fragt Maike grinsend. Ich will irgendetwas Kluges antworten, aber mir fällt so schnell nichts ein. Ein Ticket und ein Rahmenplan: Fünf Länder in vier Wochen. Was erwarte ich? Was? Anzukommen?

 »Ich erwarte, dass ihr euch benehmt«, sagt Frank ungerührt und holt ohne aufzusehen aus seiner Jackentasche einen Beutel Tabak. Gregor prustet vor Lachen. Ach, ich wäre gerne so cool wie Frank.

»Nee, jetzt mal ehrlich, was erwartet ihr?«

Fabian kratzt sich am Kopf. »Kannst du nicht einmal versuchen, weniger gezwungen tiefsinnig zu sein?«

»Du bist so blöd.« Maike wirft trotzig den Kopf nach hinten Sie hat ein paar Kilo zu viel auf den Rippen, was sich besonders bei ihren großen Titten bemerkbar macht, aber Fabian scheint das zu mögen, jedenfalls hat er sich noch nie abfällig über ihr Gewicht geäußert. Für mich wäre das nichts. .»Also, ich will, dass wir uns bis zum Schluss gut verstehen.«

Katja nestelt an ihrem Pullover. »Ich will neue Eindrücke gewinnen.«

»Ich erwarte, dass ihr mein Zelt nicht ruiniert…«

»…weil es deinem Nachbarn gehört, ich weiß«, sage ich. Das hat er mindestens drei Mal erzählt. Wer soll schon sein Zelt kaputt machen?

»Ich hab gehört, dass in italienischen Zügen das Gepäck aus dem Zug geworfen wird, nachdem es ausgeplündert wurde.«

 Gregor winkt ab. »Maike, du liest zu viel Mumpitz. Mach dir keine Sorgen.«

Frank wickelt Tabak ein, leckt das Papier der Länge nach an und rollt es zu einer perfekten Röhre. »Außerdem fahren wir überhaupt nicht nach Italien.«

 Wohin fahren wir? Haben wir überhaupt ein Ziel? Oder wollen wir nur unterwegs sein, ohne anzukommen. Wenn überhaupt jemand ein Ziel hat, bin ich das. Aber das muss ich ihnen nicht erzählen. Vielleicht weiß ich es auch selbst nicht.

 »Wollen wir eigentlich ins Disneyland?«, fragt Maike. Ich habe davon gelesen, es hat erst seit ein paar Wochen geöffnet. Die Feier war überall in den Medien. Kulturimperialismus, und das auch noch in Frankreich. Wieso eigentlich nicht Frankreich? In der Mitte Europas?

Katja ist nicht begeistert. Ich hätte nichts dagegen. Ein großer Spielplatz voll mit Micky-Maus-Figuren. Das hört sich doch aufregend an. Vielleicht auf dem Rückweg, beschließen wir.

Was erwartest du? Ich erwarte eine Antwort, erwarte, dass ich Frieden finde, einen Ausweg aus meiner Sackgasse. Ich erwarte Freiheit. Und ein wenig freue ich mich auf das Unbekannte.

Ich freue mich darauf, meinen Big Mac bald in Gulden, Francs, Peseta und Escudo zu bezahlen und meine Unterschrift auf Rechnungen in Französisch, Spanisch und Portugiesisch zu setzen. Hoffentlich kann ich mit meiner brandneuen EC-Karte problemlos Geld aus den Automaten in Amsterdam, Paris, Madrid und Lissabon ziehen.

 

2.

 

Die Bremsen quietschen erst wieder in Amsterdam, gerade als die Wolkendecke aufbricht und Sonnenstrahlen durchlässt. Keine Zeit zum Nachdenken. Mein Rucksack ist so leicht wie eine Feder. Auf dem Vorplatz des Bahnhofes mache ich den ersten Schritt in die große, weite Interrail-Welt.

Ich bin wacher als sonst, meine Augen gieren nach Licht. Nur in meinem Hinterkopf schwirrt plötzlich der Name eines Platzes herum wie eine hektische Stubenfliege an einer schmutzigen Fensterscheibe: Leidseplein.

Vor ein paar Jahren las ich auf dem Cover eines Pornos, dass sich auf dem Leidseplein die Schwulen treffen, um sich gegenseitig in den Arsch zu ficken. Leidseplein, der Ort für Schwule, käuflichen Sex, ausgelebte erotische Fantasien. Jetzt bin ich diesem Ort näher, als jemals gedacht. Auf dem Bahnhofsvorplatz in Amsterdam mache ich einen großen Schritt in eine neue, nie gedachte Fantasiewelt.

Der erste Geldautomat spuckt holländische Gulden aus. Ich hebe Geld für Katja ab, die ihre Urlaubskasse auf mein Konto eingezahlt hat. Ich hätte im Gegensatz zu ihr eine EC-Karte, zudem doch auch bestimmt nichts dagegen und keinen besseren Vorschlag. Dumme Nuss. Keine eigene EC-Karte.

Der Wind fegt unangenehm kühl über den Bahnhofsvorplatz, über den unablässig Straßenbahnen rumpeln. Ein Sommerurlaub fühlt sich anders an. Fabian schimpft auf seinen Schlafsack, der immer wieder von seinem Rucksack rutscht. Gregor fragt, wer ihm den Ghettoblaster abnehmen kann. Wenn wir nicht nur Phillip Boa und New Model Army hören würden, täte ich es. Geht aber nicht, weil ich keine Kassetten dabei habe.

Frank will direkt zum ersten Coffeeshop, Gregor auch, die anderen zur Jugendherberge. Frank und Gregor haben das Nachsehen. Die zweite Entscheidung: Einzelfahrten? Tageskarte? Gruppenticket?

Maike will ein Tagesticket für 10 Gulden kaufen, um nicht zu viel zu Fuß gehen zu müssen. Gregor hält die Distanzen zwischen Museum, Kanälen und Herberge für zu kurz, um mit der Straßenbahn zu fahren. Mir ist es egal, Fabian auch, Frank denkt an die Urlaubskasse, Katja sowieso. Gregor setzt sich durch. Einfache Fahrt.

Eine Straßenbahn trägt uns zur Jugendherberge am Vondelpark. Kein Familienzimmer verfügbar, wir müssen mit Etagenbetten im Schlafsaal vorlieb nehmen. Kiffen ist auch im Bistro nicht gestattet. Pizza hat für Frank und Gregor nur zweite Priorität.

»Erst ne Runde absoften«, sagt Gregor. Fahrig wischt er sich mit der Gipshand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er wirkt gehetzt.

»Und dann langsam um die Ecke ditschen«, ergänzt Frank. Er raucht gelassen eine Selbstgedrehte.

Links Kanal, rechts Fahrradweg, Touristen queren, die Stadt ist voller Autos mit Parkkrallen, Brücken, Kontorhäuser, Verkehrsschilder auf Holländisch. Fabian und Maike motzen sich an.

Sie sind seit fast einem Jahr zusammen, seine erste richtige Freundin für mehr als Händchenhalten, mehr als Rumknutschen, für den ersten Sex. Zu Beginn war ich mehr als eifersüchtig, denn Maike ist auf eine merkwürdige unregelmäßige Weise hübsch. Manchmal gefällt mir ihr breites, augenloses Grinsen, sehe ich ihre bemerkenswert großen Titten, die bei jedem Schritt auf und ab wippen. Doch wenn ich wichsend vor meinem Bett knie, denke ich nie an Maike.

Ihr leichtes Übergewicht, ihre spröde Art, ihre kurzgeschnittene, blondierten Haare und die vielen Leberflecke auf den Armen sind nicht Teil meines Traums. Ansonsten komme ich sehr gut mit Maike aus und rede ich gerne mit ihr.

Mich regt nur manchmal auf, dass sie nicht sofort versteht, wovon ich rede. Aber wer tut das schon. Vielleicht drücke ich mich auch immer zu undeutlich aus. Viel wahrscheinlicher ist jedoch, dass ich nichts zu sagen habe.

Fabians ständiges Problem ist, wie er mir unter der Hand gerne erzählt, Maike zu verstehen, doch besonders rätselhaft bleibt ihm, warum sich Maike im Herbst den Spaß an Twin Peaks verdorben und zu Beginn der Serie auf der Teletext-Seite von SAT.1 den Namen des Mörders nachgelesen hat.

Nicht selten hat sie Fabian im letzten Herbst aus der Reserve gelockt, indem sie ihm immer wieder androhte, den Namen des Mörders laut auszusprechen. Und jeden Freitagabend um Viertel nach Neun hoffte ich, sie würde es wenigstens erst tun, wenn sie alleine waren. Zur Beginn der zweiten Staffel verriet sie es ihm schließlich, und weil Fabian nicht alleine leiden wollte, trompetete er den Namen gleich im Anschluss aus. Es war ein verdammt mieser Herbst.

Neben mir zupft Katja Fäden aus ihrem Pulli. Zwischen jedem Faden ein Blick zu Gregor. Seinem Vater gehört eine Reihe von gut laufenden Autohäusern in der Provinz. Volkswagen ist für ihn keine Marke wie die anderen, es ist eine Lebenseinstellung. Ein Automobil für den bodenständigen Mann.

Er pilgert nach Wolfsburg und betet jeden Sonntag in der Dorfkirche. Doch sein heimlicher Götze ist der Mammon. Ich mag seinen Vater nicht, einen lauten, ziemlich übergewichtigen Mann mit einem zu großen Selbstbewusstsein, eine Mischung aus Helmut Kohl und Dieter Thomas Heck. Zum 18. Geburtstag hat er Gregor einen nagelneuen Golf III geschenkt. Für Gregor eine Selbstverständlichkeit. Seitdem kommt er nicht mehr mit dem Bus zur Schule. Nicht mehr mit Katja. Fabian und ich sehen da einen Zusammenhang.

Gregor und Frank sind immer zwei schnelle Schritte voraus. Schwarzer Afghane oder Roter Libanese oder doch lieber Gras - sie werden aufgeregter, je näher wir einem Coffeeshop kommen. Die Tür zum Paradies, zwei Kinder im Spielzeugladen, das Schlaraffenland.

Vierzig Gulden später sitzen wir in einem Touristenrestaurant. Das erste Mal gehen wir in einem Restaurant essen. Und nachdem wir die Rechnung gesehen haben vermutlich auch das letzte Mal. Für Interrailer viel zu teuer. Allein die Getränke kosten das Doppelte dessen, was wir zuhause dafür bezahlen.

Im Vondelpark vor der Herberge dreht Frank den ersten Joint meines Lebens. Dazu klebt er drei Blättchen aus seinem Zigarettenpapier zusammen, rollt aus einem Stück Pappe einen Filter und legt feingeschnittenen Tabak in die Rinne. Mit dem Feuerzeug erhitzt er das Haschisch.

Ein würziger Duft breitet sich aus. Niemand im Park nimmt Notiz von uns, obwohl wir wissen, dass öffentliches Kiffen nicht erlaubt ist. Schließlich leckt er die Klebefläche des Blättchens an und rollt den Joint zusammen, zwirbelt sogar die Spitze zwischen den Fingern. Ein Bild von einem Joint. Mein Herz klopft aufgeregt. Frank und Gregor erklären, wie es geht.

Rauch in die Mundhöhle saugen. Mund öffnen, dann erst einatmen. Ganz tief. Ich muss nicht husten. Stattdessen fliegen mir beinahe die Augen aus dem Schädel. Der Joint kreist. Maike nimmt einen Zug, Fabian, Gregor, Katja nicht, dann Frank und wieder ich. Aus dem Ghettoblaster dröhnt Phillip Boa, live im Exil on Valletta Street. Was immer das auch heißt. Das Gras in meiner Hand ändert plötzlich seine Struktur. Die Vögel in den Bäumen werden laut. Ich spüre ein Kitzeln in meinem Bauch. Frank grinst unter seiner Kapuze.

 »Na, Danny? Wirkt er schon?« Er betont jeden Buchstaben. Das ist ziemlich komisch. Das Kribbeln in meinem Bauch wird zu einem Kitzeln und bricht als Lachen hervor. Der graue Himmel zieht blaue Schlieren, das Gras wächst hörbar.

Ich kichere, schmunzle, gröle und spotte. Katjas hellbraunes Haar ist ganz glatt, ihre Beine unendlich lang, Franks trockene Haut raschelt, Maikes Titten wachsen unter ihrem bunten Pulli, Gregors Nase wird länger und länger und länger.

 »Ich merk nix«, sagt Fabian, bleibt ganz ernst, dabei hat er den besten Witz des Tages gemacht. Wieder und wieder purzele ich über die Wiese. Ich liebe Joints.

Vor dem Schlafengehen im riesigen Schlafsaal hockt sich Maike auf Fabian und massiert ihm den Rücken, kniet sich Katja auf mich und drückt zaghaft meine Schultern. Ihre Griffe sind durch ihre Kraftlosigkeit unangenehm. Auch war die Belastung durch den Rucksack zwar ungewohnt aber bei weitem nicht so schmerzhaft, als dass ich eine Massage bräuchte. Warum massiert sie einen Betrüger, einen Hochstapler?

Fünf Minuten später wechseln wir, und ich berühre Katjas Rücken. Zwischen uns nur ihr rosa T-Shirt. Meine Hände sind nicht viel mutiger. Mein Mund ist trocken. Mein Hirn klebrig. Der Geschmack von Milch liegt mir auf der Zunge. Es ist gar nichts mehr komisch. Außerdem habe ich Hunger.

Mit knurrendem Magen lese ich in Stephen Kings letztem Gefecht, bis das Licht ausgeht. Irgendwo schnarcht jemand im Schlafsaal, ein anderer furzt. Ich horche und lasse meine Hand in meine Unterhose gleiten. Dann stelle ich mir vor, wie ich aus der Herberge zum Schwulenstrich auf dem Leidseplein schleiche und von einem gesichtslosen Jungen angesprochen werde, wie ich dem jungen Typen den Schwanz lutsche und mich von ihm in den Arsch ficken lasse, bis ich ihm in seinen Mund spritze. Nass klebt die dünne Decke an meinem Bauch. Noch zwei Träume bis zum neuen Tag. Ich freue mich darauf.

 

3.

 

 Van Goch. Rembrandt. Heuhaufen. Goldhelm. Neben mir Katja, die immer dorthin sieht, wo Gregor nicht steht. Sie ist klein und traurig und viel zu still. Frank und Gregor denken an den nächsten Joint. Fabian und Maike zicken sich an. McDonalds und Joint, Flaschenbier und Joint, Wachsfigurenkabinett und Joint. Und mit jeder Minute denke ich häufiger an den Leidseplein.

Ich weiß nicht, warum Maike und Katja nie Teil meiner Fantasie sind. Selten habe ich überhaupt ein konkretes Gesicht vor Augen, sondern blanke, alle Öffnungen penetrierende Geschlechtsteile in Großaufnahme.

In den Tagträumen in der Schule frage ich mich manchmal, ob ich mit den Mädchen aus meinem Jahrgang schlafen würde. Es gibt ein Kriterium als Gradmesser für mein sexuelles Interesse an einem Mädchen: Würde ich sie zwischen den Beinen lecken? Im Deutschunterricht sehe ich die Gesichter, die Brüste unter Hemden, die Hintern, die Schenkel. Von Judith, Maria, Melanie, Anne, Petra und Maike. Doch keine ist so perfekt, so sehr nach meinen Vorstellungen, so sauber wie meine Fantasie, dass ich auch nur in meinen Tagträumen zwischen ihren Schenkeln in die Knie gehen würde.

Mit den Jungs ist es das Gleiche: Ich träume oft davon, Hand an Fabian zu legen, doch in Wirklichkeit würde ich mich nie trauen. Er steht auf Mädchen und würde mich vermutlich, so wie meine Mutter, für total pervers halten, dass ich nicht nur von Mädchen träume, sondern auch von Sex mit einem Jungen, einem Unbekannten, einem Jungen ohne Gesicht.

In einer Kneipe stocken Frank und Gregor ihren Vorrat an Schwarzem Afghanen auf. Sie lesen die in Plastik eingeschweißte Liste mit den angebotenen Drogen wie eine Speisekarte. Ich verschwinde auf die Toilette. Ein schummriges Loch. Bob Marley scheppert aus schlechten Lautsprechern.

An der Wand ein leerer Spender für Papiertücher, daneben ein Kondomautomat. Von drei Urinalen sind zwei mit aufgeschnittenen Müllbeuteln abgedeckt. Die Türen der beiden Toilettenkabinen haben die Kiffer der letzten Jahrzehnte mit obszönen Zeichnungen, Telefonnummern und blöden Sprüchen in allen Sprachen der Erde beschmiert. Es riecht nach Toilettenstein und kaltem Zigarettenrauch und ein bisschen nach Urin.

Rasch betrete ich die linke Kabine und schließe hinter mir ab. Meine Finger zittern, als ich den Gürtel öffne und die Hosen herunterlasse. Mit klopfendem Herzen lehne ich mich an die kalte Außenwand der Kabine und packe meinen steifen Schwanz. Der Stromschlag jagt hinauf in mein Hirn. Dann wichse ich mit langen, lustvollen Bewegungen.

Die Zeichnungen an der Trennwand variieren zwischen Abbildungen erigierter und gespreizter Geschlechtsteile, zeigen kopulierende Paare auf dem Niveau von schlechten Comics, darunter eine mit einem dicken Edding angefertigte Zeichnung einer Katze, die mit hocherhobenen Schwanz ihren After entblößt. In einer Ecke prangen völlig absurde Landschaftsszenen, die bestimmt nach der Einnahme bewusstseinserweiternder Drogen entstanden sind. 

 Plötzlich öffnet sich die Tür zu den Toiletten. Jemand tritt ein. Die Schritte werden lauter, verharren vor meiner Kabinentür. Ich atme ganz flach und knete lautlos meinen Harten. Jederzeit kann ich abspritzen. Die Vorstellung, dass beim Wichsen jemand neben mir steht, ist noch geiler. Wenige Sekunden nur steht die Person still, dann klappt die Tür der Kabine neben mir. Das Schloss wird gedreht. Eine Gürtelschnalle klingelt. Mein T-Shirt raschelt rhythmisch, ganz leise, meine Hand an meinem Schwanz erzeugt dieses feuchte, klatschende Geräusch, das nur beim Wichsen entsteht. Ich schließe die Augen.

 »Hey, you«, zischt es plötzlich aus der Kabine neben mir. Eine Männerstimme. Mein Herz bleibt vor Schreck beinahe stehen. Ich räuspere mich. Mein Blick geht nach oben. Die Wände zwischen den Kabinen sind bis zur Decke gezogen. Niemand kann mich sehen. Dennoch stoppe ich die Manipulationen an meinem Schwanz.

 »Yes?«, frage ich zurück. Ihm fehlt vermutlich Toilettenpapier. Zur Not kann er meines haben. Zwischen der Trennwand und den schmutzigen Fliesen ist genug Platz, um eine Rolle Papier von einer Kabine zur anderen zu wechseln.

 »Ich hab dich reingehen sehen«, sagt der Mann auf Englisch. Augenblicklich werde ich wieder nervös. Mein Schwanz erschlafft, meine Knie werden in einem Fluchtreflex weich. Was soll ich sagen? Soll ich überhaupt antworten? Er scheint kein Klopapier zu wollen.

 »Lust auf was Härteres?«

Die Katze ist aus dem Sack. Was will er mir verkaufen? Heroin, Kokain, LSD? Mein Schwanz hängt schlaff in meiner Hand. Blöde Sau. Hat mir den Höhepunkt verdorben.

 »Nein, Danke«, sage ich und bücke mich nach vorne, um meine Hose hochzuziehen. Mein Blick bleibt an der Zeichnung der Katze auf der Trennwand hängen. An den schwarzen Linien, den groben Strichen, dem erhobenen Schwanz. Ich erstarre.

Ihr entblößter After ist nicht gemalt - er ist ausgesägt. Ich sehe durch ein Loch von der Größe eines Fünfmarkstücks in die andere Kabine und erschrecke. Mich blickt ein Auge an, blinzelt und verschwindet. Kurz sehe ich vor der gegenüberliegenden Wand ein nacktes Bein, und plötzlich schiebt sich ein erigierter Penis durch das Loch.

 »Bedien dich«, sagt die Stimme. Mir ist von einer Sekunde auf die andere schwindelig, als habe ich einen Schlag gegen den Kopf bekommen. Ich weiche erschrocken zurück. Aus der weißen Wand ragt die Erektion wie ein rotbrauner Kleiderhaken. Die Eichel ist dick und rot und glänzt im schummrigen Licht. Der steife Schwanz wippt leicht auf und ab.

Unerwartet spüre ich den hohen Druck in meiner rechten Hand. Mein Schwanz ist so hart wie drei Minuten zuvor und schickt eindeutige Signale an meinen Hypothalamus. Lust überschwemmt meinen Körper. Mit der Hand an meinem Schwanz mache ich einen Schritt nach vorne. Meine Schuhe schleifen. Ich beuge mich nach vorne und gehe in die Knie. Meine Gelenke knacken.

Die Erektion mit der zurückgerollten Vorhaut pulst voller Erwartung vor meinen Augen, die Eichel geht schimmernd wie ein blank geputzter Schuh fast nahtlos in den harten Schaft über. Unter der bräunlichen Haut schwellen blaue Adern. »Fass ihn an«, sagt der Mann dumpf. Er muss meinen Atem gespürt haben. Anfassen? Ich? Einen fremden Schwanz?

»Los, mach schon.« Die Adern auf der Erektion erinnern mich an einen Witz, der am FKK-Strand spielt: Sie haben da eine Raupe auf dem Schwanz. – Nein, das ist eine Krampfader vom vielen Stehen.

Mit der rechten Hand massiere ich meine eigene, beinerne Erektion im steten Rhythmus.

Langsam, vor und zurück, reibt meine Hand über meinen Schaft, schiebt die Vorhaut leicht über die Eichel und wieder herunter. Wie fühlt sich fremde Haut an meinen Fingern an, und wie heißes Fleisch in meinem Mund, auf der Zunge, am Gaumen?

»Oder blas ihn, wenn du willst, aber mach irgendwas«, höre ich wieder den Mann. In seiner Stimme schwingt unverhohlene Lust, zitternd vor Erregung. Ich denke gar nicht daran. Ich bin schon so kurz vor den Höhepunkt. Die fremde Erektion sieht geil aus, die steife Stange, die prallen Eichel. Ich will einen Schwanz im Mund, aber ich trau mich nicht. Das geht nicht. Das ist pervers, wie meine Mutter sagen würde. Wie mein Vater. Pervers. Krank.

Plötzlich zieht sich der Mann hinter der Wand zurück. Das Loch gibt den Blick frei auf eine Faust, die den steifen Schwanz in der anderen Kabine packt und zwei, drei Mal massiert. Rasch bringe ich mein Auge dichter an die Öffnung.

Der Mann auf der anderen Seite kommt laut stöhnend in genau dieser Sekunde. Der erste Schuss bleibt an der Kante hängen, und ich zucke zurück. Die zweite Ladung zielt er durch das Loch. Sie trifft mich unter dem Auge.

Überrascht drehe ich den Kopf zur Seite und komme ebenfalls. Ich spritze quer über die schmutzigen Fliesen gegen die Toilettenschüssel. Meine Sinne schwinden. Benommen spüre ich kaum, wie mir warmes Sperma klebrig die Wange hinunterläuft.

Der Mann keucht, stöhnt und presst seinen Saft durch das Loch, das an dem weißen Kunststoff der Toilettenwand herunterläuft. Ich schließe die Augen. Mein Schwanz erschlafft, entgleitet meinem Griff. Mein Herz pumpt klebriges Blut durch meine Adern. Das metallische Klingeln einer Gürtelschnalle, ein Klicken des Kabinenschlosses, Schritte, die Toilettentür schlägt. Die Lähmung lässt nach, der Verstand setzt ein.

Erschrocken wische ich mir mit Toilettenpapier das fremde Sperma aus dem Gesicht. Ich ziehe die Hose hoch und verlasse die Kabine. Gerade als ich mir über dem schmuddeligen, serviettengroßen Waschbecken Wasser ins Gesicht sprühe, betritt Gregor die Toilette.

 »Geht es dir gut?«, fragt er mit einer Zigarette im Mundwinkel und stellt sich an das einzige der drei Urinale, das noch benutzbar ist.

 »Bestens«, sage ich. »Rauchen wir einen?«

 »Na klar«, murmelt er und fummelt umständlich mit seiner unverletzten rechten Hand seinen Penis aus der Hose. Dabei hält er die linke Hand in Schulterhöhe, als habe er Angst, sich auf den Gips zu pissen. »Erst ne Runde absoften und dann langsam um die Ecke ditschen.«

 

4.

 

 

Auf dem Weg durch die Stadt, an der Seite meiner Freunde, im McDonald’s, beim Kiffen im Park lähmt und erregt mich zugleich die Fantasie von einer gut aussehenden Holländerin, die mich anspricht, mich in eine dunkle Ecke zieht und mir den Schwanz aus der Hose holt, um ihn mir zu blasen.

In der Jugendherberge suche ich die Waschräume auf. Mit steht mein Schwanz seit über einer Stunde. Was war auf dem Kneipenklo passiert, was war mit dem Sperma, das aus der heißen Stange schoss.

Frank stellt sich beim Zähneputzen neben mich. Er riecht nach Zigarette und summt ein Lied von Phillip Boa. Ich habe Hunger. Wie wäre es, die Zahnbürste zu essen? Platzmangel im Schritt erinnert mich an das dringende Bedürfnis. Ich drücke Frank meine Kulturtasche in die Hand.

»Ich muss noch aufs Klo. Legst du mir das aufs Bett?«

»Klar.«

»Aber nicht aufessen«, sage ich. Frank kichert.

Ich nehme die erste Kabine, schließe die Tür und greife sofort in meine Hose. Wichsend beuge ich mich über die Toilettenschüssel, bereit für die Erleichterung, als ich leises Flüstern aus einer der anderen Kabinen höre.

Sekundenlanges Rascheln. Jemand flüstert, eine andere Stimme antwortet flüsternd. Ich kann nichts verstehen. Etwas pocht gegen die Kabinenwand. Keuchen, tiefes Brummen, das Klatschen von Haut auf Haut.

 »Gefällt es dir?«, flüstert eine geschlechtslose Stimme.

 »Ja, mach weiter«, zischt ein Typ.

Ein rhythmisches Schlagen beginnt, ein Rhythmus der Geilheit, dazu leises Keuchen, unterdrücktes Stöhnen. Meine Freundin ist auf einmal bei mir, sie und der Schwanz im Klo des Coffeeshops, die glatte Eichel, das harte Fleisch. Der harte Schwanz vor meinen Augen.

Hättest zugreifen sollen, warum hast du es nicht gemacht, warum hast du ihn nicht in die Hand genommen und gewichst. Lust auf das fremde Gleiche. Nicht verboten, das Tabu nur im Kopf.

Wie damals, damals, kurz vor meinem 15. Geburtstag, als mich meine Mutter im Sommer nach dem Auszug meines Vaters auf eine Freizeit schickte. Mein Zimmergenosse Stefan ließ sich in den Mädchenduschen beim Spannen erwischen ließ und nervte durch ständige Renitenz.

Albern mit Stefan war ein Abenteuer. Eines Abends reichte er mir die Kopfhörer seines Walkmans. Die Tonspur eines Pornofilms sprengte beinahe meine Hose. In der vierten Woche lag Hitze über unserem Ferienlager. Wir waren die letzten auf dem Weg zum See. Der Flur wie ausgestorben, in der Etage Totenstille. Ich in Badehose, Stefan aufgeregt. Keine Spur mehr von Renitenz.

Ob ich noch kurz Zeit hätte. Ob ich das T-Shirt auf dem Stuhl hängen, die Shorts noch einmal ausziehen könne. Auf dem Bett, die Badehose sehr schmal, glitten seine Finger an den Innenseiten meiner Schenkel, am Saum meiner Badehose entlang auf meinen Bauch, drehten eine Runde und zitterten an der anderen Seite wieder hinab. Berührung statt blöder Witze.

 Gefiel dir diese Nähe, Daniel? Nähe. Bei dieser Berührung hätte ich zurückzucken müssen. Nähe war nicht mein Ding. Weglaufen kam mir in den Sinn. Zurückzucken. Stefan, im Ferienlager, und ich auf dem Bett nur in Badehose. Nicht weglaufen, nicht zurückzucken.

Ich spüre bei geschlossenen Augen den Druck auf der Zunge, die Eichel ist heiß und trocken. Der Schwanz gleitet in meinen Hals, voll und schwer und geil. Stefans zuckender und gegen meinen Gaumen spritzender Schwanz.

Wie geil wäre es gewesen, diesen Schwanz zu lutschen, zu lecken. Das Pärchen in der Nebenkabine fickt immer polternder. Die Stöße werden schneller, das Pochen zu einem Stakkato. Wimmern wird zu einem Stöhnen. Klatschen von Haut auf Haut, nasse Finger quietschen. Meine Zunge gleitet an der Unterseite des langen Schwanzes herab. Meine Lippen schließen sich um Stefans Rohr.

Ich sauge an der Eichel, schiebe mir das pulsierende Stück tiefer in den Mund. Die Eichel am Gaumen, die Lippen fest um den Schaft geschlossen. Du Idiot. Warum hast du die Gelegenheit verpasst? Warum hast du nicht wenigstens zugegriffen? Langsam ziehe ich den Schwanz aus meinem Mund, bis ich die Kerbe der Eichel an den Lippen spüre.

Schon reicht es mir. Wir kommen zusammen. Der Typ und ich. Kein Wunder. Ob sie auch kommt? Synchron zum Höhepunkt in der Nachbarkabine spritze ich meinen Saft in die Toilettenschüssel. Noch vor dem Paar in der anderen Toilette verlasse ich meine Kabine und gehe befriedigt ins Bett.

Ein paar Minuten später kommen Fabian und Gregor in den Schlafsaal. Wir lachen noch ein wenig zu viert, um elf Uhr wird das Licht gelöscht.

Trainspotting

 

Der Wagen schlingert und reißt dich aus meinem Lesefluss. Kopf gedreht und hinausgesehen. Du fixierst nicht, was nah, zu nah, zu schnell vorbei ist und kaum in Erinnerung bleibt.

Nur in der Ferne finden deine Augen Ruhe, ohne dass dir schwindelig wird. Nur Distanz schafft Überblick. Du starrst aus dem Fenster über grüne Wiesen und findest keine Windmühlen. Die gibt es nur im Film. Scheiß Realität.

 

1.

 

Zwei Stunden von Amsterdam nach Brüssel. Im Zug spielen wir Skat, das heißt: Florian, Christian und Oliver spielen, weil ich zu schlecht bin. Britta und Nina unterhalten sich über die Schule, über Lehrer.

In Brüssel haben wir nur eine Nacht gebucht. Ausreichend, um das Atomium, Manneken Piss und das Rathaus anzusehen. Von mehr haben wir keinen blassen Schimmer. Keiner hat an einen Reiseführer gedacht. Wir wollten uns die Informationen vor Ort holen und stoßen auf das Offensichtliche. Kein Geheimtipp, kein Sonderweg. Wir laufen in den Fußspuren Millionen anderer Touristen.

Die Jugendherberge, die ziemlich weit außerhalb liegt, hält nicht wie vorgesehen ein Familienzimmer für uns bereit. Wir müssen uns nach Geschlechtern aufteilen.

Mit uns sind noch ein paar Engländer abgestiegen, die mit viel Alkohol bewaffnet in den Fluren herumlaufen, als habe jemand eine Pille gegen den Kater erfunden. Britta und Nina tuscheln, verschwinden im Zimmer und tauchen kurz darauf wieder auf. Warum müssen Frauen immer tuscheln und ständig auf die Toilette?

Während wir auf Britta warten, zieht sich Nina ihr enges T-Shirt glatt, bis jeder Engländer auf dem Flur die Nähte ihres BHs erkennen kann. Über dem Bund ihrer Jeans wöben sich Speckröllchen. An ihrer Stelle würde ich weite Sachen anziehen.

»So eine scheiß Jugendherberge«, entfährt es mir. Nina sieht mich überrascht an.

»Die ist doch toll. Und billig.«

»Man kann sich alles schönreden.«

»Warum bist du eigentlich so negativ? Sieh es doch mal positiv.«

Ich lache. Ich kann nicht anders. Ich erinnere mich nur an das Negative, an das, was mir peinlich ist. Das verfolgt mich immerzu. Als ich im Unterricht das Falsche gesagt habe, als ich nicht zu fragen wagte, ob ich auf Toilette gehen dürfe, als ich in der Silvesternacht verprügelt wurde. Ich stell mir dann vor, was ich anders machen würde. So wie Verena und. Was noch? Frau Döring, meine Nachbarin. Und die Sache im Ferienlager. Und Anja.

 Hätte ich doch.

»Ich bin nicht negativ. Ich bin nur Realist«, sage ich. »Das Leben ist nun mal Scheiße. Und wenn du Scheiße rosa anmalst, bleibt es immer noch Scheiße.«

Schließlich kommt Britta aus der Toilette. Dumme Nuss. Warum braucht die so lange? Brüssel wirkt auf mich wie eine einzige Spekulationsruine. Unfertig, grau, trist und ungemütlich. Meine Jeansjacke müht sich vergebens, mich warm zu halten.

 »Hier hoffen alle, dass die EU irgendwann Gebäude kauft. Deshalb investiert hier niemand mehr. Die warten alle die Preissteigerungen ab«, sagt Oliver.

»Ich denke, das heißt EG?«, fragt Christian.

»In den Maastrichter Verträgen vom 1. Februar ist beschlossen worden, die europäischen Gemeinschaften unter dem Verbund der EU zusammen zu fassen.«

»Ab jetzt?«, fragt Florian. Oliver starrt hinaus auf rostbraune Klinkerbauten, in denen bestimmt niemand mehr wohnt, so verfallen, schmutzig und unwohnlich wirken sie.

 »Nein, ab 1. Januar 1993.«

 »Und wieso redest du dann jetzt schon von der EU?«, fragt Nina.

 »Weil er ein Klugscheißer ist«, sagt Christian und grinst dabei.

 »Weil ich von der Zukunft rede. Ich sagte: Die EU kauft irgendwann die Gebäude«, rechtfertigt sich Oliver. Ich interessiere mich mehr für das Atomium, das am Ende der Haltestelle Heyzel steht. Heyzel? Ist das nicht der Name eines Stadions? Oliver weiß die Antwort. Nina weiß nicht, wofür das Atomium steht, Oliver weiß es. Sie weiß auch nicht, wann es gebaut wurde. Er schon.

 »So was muss man sich auch nicht merken«, sagt Christian.

 »Man muss sich gar nichts merken«, sagt Florian und dreht sich einen Joint.

Schon gar nicht, wer das Manneken Piss geschaffen hat und warum es in verschiedenen Kostümen auftritt. Wir aalen uns in unserer Unwissenheit und finden nichts Schlimmes dabei. Brüssel sehen und vergessen, einmal kurz da und schon wieder weg. Warum auch nicht, wenn Florian die Taschen voller Gras hat.

Florian sagt: »Los, ne Runde absoften...«, und wir machen das in einem Park in der Nähe der Jugendherberge. Anschließend ditschen wir um die Ecke. Wer zum Teufel ist Henry Frick? Warum hat man nach ihm einen Park benannt?

»Egal«, sagt Oliver und ich mag ihn dafür, dass er einmal etwas nicht weiß oder wenigstens nicht so tut, als wüsste er es. »Ich bin ohnehin dafür, wir sollten den Park in Joint-Garten umbenennen.«

»In die Bobel-Anlage«, schlägt Florian vor.

»In den Barz-Park«, sage ich. Nina saugt umständlich an der Tüte und Britta lehnt wieder einmal höflich ab. So kommen wir doch nicht weiter. Vor allem sie nicht.

Und bei Sonnenuntergang setzt dann der Höhenflug ein. Wir kichern uns an, sitzen auf einer Parkbank, spüren uns, sagen nichts und verstehen alles. Atemlose Oberfläche.

Aus Florians Ghettoblaster dröhnt wieder einmal Fury in the Slaughterhouse. Ich gucke durch das Plastikfester auf die rotierenden Spulen. Pure Live steht drauf und das Lied, das wir immer wieder hören, beginnt mit einem Mann, der eine Fliege fängt. Oliver erklärt wieder einmal die Songtexte. Drogenschmuggel, sagt er, und DEA. Schon okay. Sein Englisch ist einfach besser, weil er ein Austauschjahr in den USA gemacht hat. Christian hat es nicht gesagt, aber ich glaube, er beneidet ihn auch darum.

Wir sind ein Herz und eine Seele, wenn wir nicht viel reden. Vielleicht hat sich in den letzten Monaten unser Verhältnis etwas gespannt. Das liegt sicher daran, dass er mit Nina zusammen ist.

Als ich ihn einmal fragte, wie es so sei, mit Nina im Bett, blieb er wie immer wortkarg. Kino ist daher unsere natürliche Verbindung, unser Klebstoff, die gemeinsame Welt. Dann tauchen wir ab in die Realität von Bruce Willis und Batman, von Steve Martin und Indiana Jones. Nichts ist erregender als ein Besuch im Kino. Wir gehen mindestens einmal pro Woche in die neuesten Filme.

Statt Poster von Popstars hängen in meinem Zimmer Filmplakate von Predator, Lethal Weapon, Zurück in die Zukunft, Platoon. Im Regal sind die Cinema-Hefte aufgereiht, die Filmlexika und Bücher über die besten Filme aller Zeiten, in meinem Bettkasten stapeln sich Videos. Ganz sicher macht mich Hollywood glücklicher als Holzenheim.

Florian, den Nina nur Koffer nennt, Koffer von Trelkowski, bekommt einen Dreitagebart. Wieder verschwindet Britta in der Jugendherberge.

 »Sie hat ihre Tage«, flüstert mir Christian ins Ohr. Als ob ich so eine Information brauche. Dieses Wissen belastet nur. Kurz darauf ist Britta wieder da. Ich verdränge den Gedanken an blutige Binden, Tampons, Slipeinlagen, Körperflüssigkeiten. Nichts ist unerotischer. Der Verkehrslärm verebbt hinter den Bäumen. Der Joint kreist unverdächtig. Ich bin so frei, so cool. In Brüssel, mit Christian und Florian und Nina und Britta und Oliver. Wir sechs zusammen auf Tour, ohne Eltern und Kontrolle.

Wenn mich jemand fragen würde, wo mein Zuhause ist, würde ich immer wieder sagen: Dort, wo meine Freunde sind. Meine Mutter hat mir eine solche Aussage schon einmal übelgenommen, als eine Frau vom Jugendamt bei uns war. Ich war kein guter Sohn, war undankbar gewesen.

Der Joint ist aufgeraucht. Florian sieht aus, als wolle er die Zigarette auf dem Holz der Parkbank ausdrücken.

»Nicht, davon geht doch die Bank kaputt«, sage ich. Man macht das nicht. Wir sind doch keine schlechten Menschen. Wir sind doch gute Söhne, oder nicht?

Oliver spottet. »Soll er sie sich auf der Hand ausdrücken?«

Wäre das ein gutes Zeichen? Dass man ein guter Mensch ist?

»Ich mach es«, sage ich, schnappe mir die Zigarette und drücke sie auf dem Handrücken aus. Es ist ein kurzer Stich, wie mit einer Nadel, viel weniger schmerzhaft, als ich gedacht habe. Asche bleibt auf der Haut kleben, die sich sofort rot verfärbt.

»Was soll das denn?«, ruft Christian und reißt meine Hand mit dem ausgedrückten Joint zurück.

»Hey, ist doch gar nichts passiert.«

Die Haut löst sich, vermutlich bekomme ich eine Blase. Na und? Der Schmerz ist nichts im Vergleich zu dem in meinen Fantasien. Manchmal träume ich davon, zu fallen, in der Dunkelheit. In der Luft schweben rasiermesserscharfe Metallscheiben, und anfangs falle ich knapp an ihnen vorbei. Doch immer näher rücke ich beim Fallen an die Messer, die mir Stück für Stück etwas vom Körper schneiden.

Erst Haut, dann meine Zehen und schließlich meine Arme. Doch ich spüre keinen Schmerz. Ich falle und blute nicht einmal. Die Messer schneiden mich immer weiter in Stücke, doch das Bild hört nie auf. Es ist wie eine Endlosschleife, ich falle und werde zerschnitten, doch ich sterbe nicht.

»Bist du bekloppt? Warum hast du das denn gemacht?«

Ich zucke mit den Schultern. Keine Ahnung. Ich hatte Lust dazu. Wollte sehen, wie weh es tut, wenn man ein guter Mensch sein will. »Meine Haut heilt wieder, eine Bank nicht.«

»Das ist doch Quatsch«, sagt Oliver.

Die anderen gucken mich an. Ihr findet auch, dass ich kein guter Sohn bin, oder? Fragt mich doch nach dem Grund dafür. Versucht, ihn herauszufinden. Vielleicht verstehe ich es dann auch.

 

2.

 

Der Himmel ist klar, Schäfchenwolken leuchten rot im Sonnenuntergang. Ich lache uns zurück in die Herberge, wo die Engländer grölend durch den Flur torkeln. Mein Handrücken brennt. Die Blase ist da. Egal. Jetzt weiß ich, wie es sich anfühlt.

 Auf dem Rückweg vom Waschraum kommen mir Christian und Nina entgegen. Hand in Hand. Mit Handtüchern über der Schulter. Ninas Titten mit Brustwarzen wie kleine Murmeln hüpfen unter ihrem engen T-Shirt über den Speckröllchen über den breiten Hüften.

Ich habe ein paar Jahre zuvor auf dem Rückweg von einer Party ein einziges Mal mit Nina geknutscht, da war ich 16 und sie 14, doch ergeben hat sich daraus nichts. Es war zwischen uns, als hätte der Kuss nie stattgefunden. Nina grinst wie Meg Ryan, und mit den kurzen, blonden Haaren sieht sie auch beinahe aus wie sie, nur fünf Kilo schwerer.

Und wie Meg Ryan kann sie nicht lüstern grinsen, das geht nicht, kein Mädchen, das ich kenne, ist dazu in der Lage. In meiner Klasse ist Sex oder Erotik geschweige denn Pornografie kein Thema. Kein Junge liest Pornos, keiner beichtet, wie häufig er sich einen runterholt oder wie es ist, Sex zu haben.

Nur die große, überschlanke Melanie stellt im Biounterricht viel zu offensive Fragen, fragt nach der analen Phase bei Kleinkindern und schreibt zum Abschied einer Mitschülerin Gedichte wie: »Losgelöst vom Klassenboden knetet Koffer seine Hoden« oder »Sehr versaut ist auch Ralf Bloch, sagt’s zwar nicht und ist es doch.« Aber Melanie ist mir zu aufdringlich, zu fordernd, zu groß und zu rothaarig.

Die Haare zu glatt, die Sommersprossen zu dicht, die Brüste zu klein, die Hemden zu weit. Außerdem weiß sie gar nicht, wie versaut ich bin, zu versaut für sie. Was ich weiß, wird sie niemals erfahren. Mehr als einmal habe ich sie erfolgreich abgewimmelt, als sie nach der Schule zu mir kommen wollte, um zu lernen oder Video zu gucken.

»Viel Spaß«, sage ich, die beiden kichern nur. Diesmal geht’s nicht ins Klo. Ich brauche Sex mit mir an der frischen Luft. Das letzte Licht schwindet. Ich warte ein Auto ab und überquere die breite Straße. Der Bobel-Park liegt jetzt dunkel und still.

Nur eine Laterne auf der Straße wirft gelbes Licht. Nach ein paar Schritten scheint nur noch der Mond über mir. Eichen, Weiden und Erlen in schwarzblauen Schatten. Unter meinen Schuhen knirscht der Kies.

Mit einem großen Schritt steige ich über ein Rosenbeet und lasse mich von der Dunkelheit zwischen hohen Büschen verschlucken. Ein paar Schritte weiter sehe ich kaum noch die Hand vor Augen. Ich passiere eng stehende Eichen, taumele vor erregter Spannung. In meiner Hose pocht die Lust hart und verlangend.

Nur allmählich reißt das fahle Mondlicht Konturen und Silhouetten aus der Nacht. Vor mir öffnet sich eine kleine Wiese, auf drei Seiten von hohen Hecken begrenzt, hinter mir von der Reihe Eichen.

Ich gehe nach links, hocke mich halb in eine der lichten Hecken auf den harten Boden, mache meine Hose auf und streife sie bis zu den Knien herunter. Vorsichtig hole ich mir einen runter. Im Rücken Schatten, vor mir der kleine, dunkelgrüne Streifen Rasen.

Ich stecke mir den Mittelfinger der linken Hand in den Mund. Bis über das erste Glied schiebe ich ihn in den engen Kanal und bewege ihn. Die Lust hat mehrere Potenzen. Mir wird schwarz vor Augen. Mein Körper zittert, juckt, zieht sich zusammen. Tu dir was Gutes, Ralf, wenn es sonst niemand macht. Tu dir was Gutes. Du weißt allein, wie gut das tut.

Deine Belohnung und dein Schlafmittel, dein Schlüssel, der dir das Tor zur Fantasie aufschließt. Ohne Wichsen keine Träume, und ohne Träume keine Erlösung.

In der Ferne gellt Lachen, Gesprächsfetzen wehen mit milder Luft heran. Schritte knirschen auf dem nahen Parkweg. Ich wichse langsamer, leiser, atme flach. Zwei verschiedene Stimmen, eine männlich, die andere weiblich. Sie lachen nicht, sie streiten wie zwei Katzen. Quengelnd. Es klingt vertraut. Sekunden später erkenne ich Oliver und Britta.

Plötzlich ist das Knirschen ganz dicht bei mir, Rascheln, Stimmen. Ich drücke mich tiefer in die Hecke und hoffe, dass in diesem Park keine Hunde erlaubt sind. Die beiden stampfen an den Eichen vorbei. Britta versucht, seine Hand zu nehmen. Ich versinke fast im Gebüsch.

Ein Ast federt zurück und gibt mir zusätzlich Tarnung. Oliver schiebt Britta weg. Sie bleiben nur drei Meter entfernt auf der anderen Seite des Rasens stehen. Er mit dem breiten Kreuz zu mir, sie die gegenüberliegende Hecke im Rücken.

»Erklär es mir, bitte.«

»Wir haben schon so oft darüber gesprochen. Ich will nicht mehr.«

»Aber ich verstehe es einfach nicht«, sagt sie und greift wieder nach ihm. Oliver weicht erneut zurück. »Oliver, bitte.« Jetzt heult sie.

»Wir sind jetzt den ganzen Weg gelaufen, nur damit wir uns hier wieder im Kreis drehen?«, sagt er und hebt die Faust, aus der sein Zeigefinger wie ein dünner Stift ragt. Britta schlägt die Hände vors Gesicht. Unter Brittas T-Shirt wippen etwas. Ich wusste gar nicht, dass sie große Brüste hat.

Die Bewegungen meiner rechten Hand werden flüssiger, ich schiebe meinen Finger bis zum nächsten Knöchel tiefer.

»Was soll ich denn machen?«, heult Britta unvermittelt laut auf, nimmt die Hände vom Gesicht und ballt sie als Fäuste an der Körpermitte.

»Nichts«, sagt Oliver und dreht sich. Jetzt stehen sie beide seitlich zu mir. Britta hat wirklich große Brüste. Ist mir noch nie aufgefallen. Und einen runden Po. Seine Worte kommen zerquetscht zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen über die speichelfeuchten Lippen. Ich verstehe ihn kaum. Sie macht einen Schritt nach vorn, versucht, Oliver zu küssen.

 »Lass es, Britta, ehrlich«, murmelt er. Die Zweige in seinem Rücken biegen sich, der erste bricht knackend. Wieder geht sie einen Schritt näher, Sehnsucht auf dem Gesicht. Oliver dreht bei einem erneuten Kussversuch den Kopf zur Seite.

»Schlaf mit mir«, fleht sie und drückt ihn weiter in das Gebüsch. Plötzlich verliert Oliver das Gleichgewicht und kippt nach hinten. Er verschwindet im Dunkelgrün der Buchenhecke. Einem überraschten Aufschrei folgt ein verärgerter Ruf.

»Oliver!«, kreischt Britta, als sei Oliver über eine Klippe gefallen. Sie hat nicht losgelassen und stürzt hinterher. Die beiden landen zur Hälfte im Busch und zur anderen Hälfte auf dem taufeuchten Rasen. Ihr T-Shirt rutscht hoch und entblößt ihren nackten Rücken.

Nie hätte ich gedacht, dass es dazu kommen könnte.

Und plötzlich höre ich das feuchte Knutschen von Küssen, Stöhnen, Seufzen, und die beiden rollen sich aus dem Gebüsch heraus auf den Rasen. Britta liegt jetzt unten und ich sehe ihre Hände an Olivers Hose, wie sie ihm den Gürtel aufmacht. Ich höre die Schnalle klimpern und den Reißverschluss knarren. Dann schiebt sie ihm die Hose herunter.

Sein weißer Hintern leuchtet im Schein des fahlen Mondes. Oliver hebt seinen Gipsarm in die Luft, als wolle er sie schlagen, aber ich glaube, dass er nur nicht weiß, wohin damit.

»Lass«, flüstert er noch, doch da hat sie sich schon umgedreht und mit einer katzengleichen Bewegung vor ihm auf den Rasen gekniet. »Ich dachte, du hast deine Tage?«

Sie greift nach hinten und zieht sich ebenfalls die Hose herunter. Und plötzlich ragt ihr nackter Po in die Höhe.

»Sind vorbei«, höre ich sie noch murmeln. Erregung flutet durch mein Hirn wie ein Tsunami. Ich sehe nur die gespreizten Pobacken und fange an zu sabbern. Das ist wie ein Reflex. Ein letztes Mal versucht er sich an Widerstand, doch Britta drückt ihren Körper nach hinten, um ihn wieder einzufangen. Sie macht ein Hohlkreuz, auf allen Vieren, den Kopf ganz nach unten.

»Mann, Britta«, faucht Oliver. Ihr Stöhnen versickert gurgelnd zwischen Laub, Moos und Erde. Britta zappelt, dreht den Kopf, bettelt um einen Kuss. Oliver ignoriert sie.

 »Liebst du mich?«, keucht sie unter seinen Stößen. »Du liebst mich, doch, oder?«

Ihre Worte verebben in einem lustvollen Jammern. Seine Stöße werden schneller, tiefer, härter. Ich habe keine Sekunde lang aufgehört zu erigieren. Mein Schwanz ist hart wie ein Stück Holz. Mit dem Finger noch immer in meinem Hintern und meiner Faust an meinem Steifen ahme ich Olivers Bewegungen nach, stelle mir vor, ich sei es, der hinter Britta kniet, der doofen Britta, der dummen Nuss, die mit Oliver macht, was ich niemals dürfte, selbst wenn ich wollte, so wie alle anderen Mädchen mich nie rangelassen haben. Mein Herz schlägt zäh und schwer, mein Kopf dröhnt, die Lust macht mich atemlos.

Der Finger in meinem Po wird vom kräftigen Muskel umschlossen, stimuliert das Innere des engen Kanals. Ich schiebe ihn bis zum Anschlag hinein, ziehe ihn wieder heraus, ficke meinen Arsch mit dem Finger, bewege ihn und spüre reinste, pure Lust, während vor meinen Augen zwei meiner Mitschüler ficken, meine Freunde, die ich zuvor nicht einmal nackt gesehen habe.

Ficken = Lust. Ganz egal, wer da fickt.

Die Frequenz des Klatschens von Haut auf Haut nimmt zu. Er fickt sie von hinten, das Gesicht verzerrt wie ein Tier, grunzt und ächzt, hält sich dabei an ihren Hüften fest. Seine Pobacken spannen sich, entspannen sich, spannen sich. Brittas vordere Hälfte rutscht unter seinen Stößen immer tiefer in das Gebüsch. Als Oliver kommt, legt er den Kopf in den Nacken, macht zwei, drei letzte Stöße und lässt sich rücksichtslos nach vorne auf sie fallen. Sie bricht unter seinem Gewicht zusammen.

Mein Saft spritzt weit, meine Sinne schwinden. Ich bin nur noch Schwanz, nur Lust, ergebe mich ganz der Flut und kippe nach hinten. Sterne ergießen sich über den dunklen Himmel, der Mond schwimmt darin wie ein verlorenes Markstück.

Orgasmus = Glück, die Rechnung geht wieder auf.

Momente später höre ich, wie er von ihr herunter kriecht, sich die Hose hochzieht, den Gürtel schließt und seine Kleidung ordnet. Ich rappele mich auf. Britta liegt noch immer keuchend in der Hecke.

 Scham überschwemmt mich, so wie zuvor die Lust. Ich habe meinen Freunden beim Sex zugeguckt. Wie ein Spanner. Ich bin pervers, oder nicht? Weil ich selber keinen Sex habe, muss ich anderen zugucken. Wie bei einem Porno.

»Komm«, sagt er. Seine Stimme ist nicht mehr so sicher. Sie dreht sich auf die Seite. Dunkle Flecken auf ihrer Stirn, Blätter auf den Wangen. Äste streifen ihr Gesicht. Ihr Slip hängt an einem Knöchel.

»Du bist in mir gekommen, oder?«

»Du nimmst doch die Pille, oder nicht?«

»Nicht mehr.«

Sie schlüpft in den Slip und in ihre Hose. Tolle Beine.

»Du verarschst mich, oder?«

Britta sieht zu ihm herauf wie ein Dackel.

»Wenn ich schwanger wäre, würdest du mich heiraten, oder?«

»Warum machst du das?«, fragt er. »Warum kannst du nicht einfach akzeptieren, dass Schluss ist?«

 Sie steht auf, zieht sich die Hose hoch und geht auf ihn zu, hebt die Hand. Er weicht zurück. Eine merkwürdige Mischung aus Trauer und Triumph spielt um ihre Mundwinkel. Ihre Finger nähern sich ihrem Gesicht.

 »Weil ich dich liebe«, sagt sie leise. Ihre Augen sind voller Angst. dann berührt sie ihn. Er zuckt zusammen.

 »Es geht nicht gut mit uns beiden, das weißt du, oder?«, sagt er. Sie schüttelt den Kopf. Dann wirft sie sich an ihn, presst ihn wie eine Puppe in ihre Arme. Sie verschwindet beinahe hinter seinem breiten Rücken, nur ihr Kopf ragt über seine Schulter, ihre Augen traurig und voller Hoffnung. In meine Richtung. Und dann treffen sich unsere Blicke.

Ihre Augen wach und groß. Ihr Mund geöffnet in sprachloser Überraschung. Ich erschrecke. Tief presse ich mich in den Schatten der Hecke. Blätter rascheln. Zuletzt sehe ich, wie sie in einer hilflosen, bittenden Geste einen Finger auf den Mund legt.

Leise verlasse ich meine Deckung, haste verwirrt durch den Park zurück zur Straße, überquerte sie, renne atemlos durch den gelben Nebel der Straßenlaternen. Der beleuchtete Eingang der Jugendherberge wirkt wie ein Leuchtturm am Horizont.

Fühlst du etwas, kannst du Brittas Sehnsucht nachvollziehen? Nein, du kannst es nicht, du weißt nur, dass du es können müsstest. Sie liebt ihn und er will sie nicht. Sie liebt ihn so sehr, dass sie mit ihm schläft und du, du findest es nur geil, holst dir beim Anblick einen runter. Wie in einem Porno.

Aber das allein verwirrt mich nicht. Ich habe nicht nur auf ihren runden Hintern, die langen Beine, die großen Titten gesehen, ich habe auf Olivers Schwanz gestarrt und mir vorgestellt, ich wäre an Brittas Stelle und es sei Olivers Schwanz, der mich penetriert.

Warum kannst du dir keine Liebe vorstellen, aber dafür Sex mit Jungs? Warum kannst du deine Freunde nur als Lustobjekt sehen? Bist du normal? Bist du krank? Was würde deine Mutter sagen? Und dein Vater?

Orgasmus = Glück.

 

3.

 

Christian und Florian liegen in unserem Zimmer auf den Betten und lesen.

»Wo hast du gesteckt?«, fragt mein Kumpel.

Du hast zugesehen. Und dir einen runtergeholt, weil es dir gefallen hat. Aber du hast nichts verstanden.

»Spazieren.«

»Zeig mal deine Hand.«

Ich zeige ihm die Blase. Seine Fürsorge könnte einem die Tränen in die Augen treiben. Könnte. Als ich später die Augen schließe, sehe ich Britta, den Finger auf den Lippen, ihren Po und verstehe nicht, warum sie das gemacht hat.

Ich sehe Olivers hartes Ding und frage mich, ob Christians Schwanz auch so aussieht. Lange liege ich wach in dieser Nacht. Dann dringen plötzlich vermummte Gestalten in unser Zimmer, packen mich, legen mir Fesseln um die Handgelenke und schleppen mich in den Flur.

Ich versuche zu schreien, doch ich bekomme keinen Ton heraus. Die Angst lähmt mich wie eine Giftspritze. Die Gestalten tragen mich die Treppe hinunter. Meinen Mund verschließt ein breites Stück Klebeband.

 »Du hast deinen Rucksack vergessen«, sagt mein Vater und reicht mir einen Turnbeutel. Danke, Papa, dass du dir die Mühe gemacht hast.

 Die Straße vor der Herberge ist leer, die Luft lauwarm, das gelbe Licht der Laternen weich. Als mich die Gestalten fallen lassen, stürze ich weich in duftenden Rasen. Meine Angst ist verschwunden. Hände auf mir. Meinen Schrei verhindert eine Hand auf meinen Lippen. Weich und warm. Kichern und Lachen, und auf einmal ziehen mich viele Hände aus. Ich wehre mich vergeblich.

Erst gleiten meine Shorts über die Knie, anschließend mein Hemd. Es ist zu dunkel, um hinter die Masken zu blicken. Schließlich bin ich nackt, aus meiner Angst ist Erregung geworden. Ich fühle mich frei. Die Hände sind überall. Der Park ist eine Wiese im Hochsommer, die Luft schmiegt sich an meinen Körper.

Die Gestalten lassen ihre Masken fallen. Dahinter strahlen die Gesichter von Britta und Chris. Als sie mir zwischen die Beine greifen, ist mir unwohl. Was zwischen meinen Beinen liegt, gehört mir alleine. Ich will es nicht teilen wir uns den Eintritt ins Atomium? Nur zu zweit können wir hinein.

 »Die EU«, sagt Oliver, »hat es so vorgeschrieben. Wegen Brüssel, der Verfall, hat die Spekulationsruinen in der Zugbehaart? Oder Leberflecken?«

  Ich bin auf einem ABBA-Konzert, endlich wieder ABBA. Oder nicht? Freiheit über Wolken schaukelt wie ein Zug. Ach.

Kopfbahnhof

300 Kilometer weiter und immer noch dieselben. Planlos. In jeder Stadt, die du auf deiner Reise erreichst, bist du fremd und niemals heimisch. Kein Eindringling, bestenfalls Besucher, der sich ansieht, was Einheimische als Alltag bezeichnen. Warum gehst du in eine andere Stadt, in der die Häuser einfach nur anders stehen?

Warum machst du Fotos von Gebäuden und Türmen Mauerresten und Brücken, die zu Hause nicht einmal einen Blick wert wären? In Holzenheim gibt es ein Textilmuseum. In den vergangenen zehn Jahren hast du keinen Fuß dort hineingesetzt. Wärst du dort zu Besuch – du hättest es dir am ersten Tag angesehen.

 

1.

 

Im Gare du Nord beäuge ich von meinem Platz auf meinem Rucksack misstrauisch jeden, der mir zu nahekommt. Viele Araber, Obdachlose, Gauner, unsympathisch wirkende und hektische Menschen laufen von und zu den Gleisen. Wer aussieht, als habe er ein Ziel, ist mir egal.

Ich misstraue jedem, der zu viel Zeit hat. Florian dreht sich eine Zigarette, Britta erzählt ihm von Paris, Christian und ich schweigen uns an und fühlen uns wohl dabei.

Die Haut über der Brandwunde auf meinem Handrücken ist zu einer großen Blase geworden und hat sich mit Flüssigkeit gefüllt. Faszinierend. Das ist alles, was von Brüssel bleibt. Eine Brandwunde. Ab und zu sehe ich Britta an und frage mich, warum sie sich vor ihn gekniet hat, und ich finde den Gedanken an ihren Hintern geil, aber ich verstehe es noch immer nicht. Nur die Erinnerung an ihren nackten Hintern und Olivers harten Schwanz sorgen für Herzklopfen.

Nein, nur die Erinnerung an Brittas Po erregt mich. Oliver ist doch ein Idiot. Britta hat kein Wort gesagt, vielleicht hat sie mich auch gar nicht erkannt. Ob ich sie ansprechen sollte? Und sie fragen, warum sie das gemacht hat? Macht man so etwas aus Liebe? Und ich dachte immer, man schläft nur miteinander, weil es geil ist.

Nina und Oliver kümmern sich inzwischen in der Touristeninfo um eine Unterkunft, was sich als schwierig erweist. Die Jugendherberge ist belegt, die Stadt platzt aus allen Nähten. Sie finden zwei Zimmer für jeweils zwei Nächte in zwei nahe gelegenen Absteigen im Montmartre.

Diesmal kaufen wir ein Carnet. Die Metro riecht nach Gummi, nach Bremsbelägen, nach zu wenig Zeit. Die Metrostation Saint Georges protzt mit dem typischen Pariser Jugendstil und liegt am Rande des Vergnügungsviertels Montmartre. Am Ende der Straße strahlt die Sacré Cœur in der Sonne. Mein Rucksack wiegt fast nichts. Im Foyer des Hotel du Moulin, das mich durch Marmor beeindruckt, gibt uns ein mürrischer Araber die Schlüssel.

Die Zimmer sind dunkel und muffig. Schwere purpurne Vorhänge vor den Fenstern, strukturierte Tapeten. So muss ein Hotel in Paris sein. Wir starten aufgeregt zur Sacré Cœur, kauften Baguette und ein rotes Netz voller kleiner runder Käse mit roter Wachsschicht im ersten französischen Supermarkt meines Lebens, entdeckten die Seine und den Eiffelturm.

Das sonore Piepen der U-Bahn, bevor sich die Türen schließen, wird zur Musik. Nach der ersten Fahrt mit der RER singt Britta eine Melodie und behauptete, es sei ein Kinderlied. Statt eines Refrains singt sie nur RER und betont die Buchstaben auf sehr französische Art. Die dumme Nuss ist wirklich leicht meschugge.

Am Abend holen wir uns Bier im Zehnerpack und setzten uns ins Zimmer. Billiger als jede Kneipe. New Model Army bollern durch das kleine Zimmer, für Britta müsste Paris nach Akkordeon klingen, nach Jacques Brel oder Edith Piaf. Aber die hat ja auch keine Ahnung. New Model Army und Phillip Boa. Phillip Boa und New Model Army. Der Soundtrack unserer Tour. Ein Anker und Wiegenlied. Es riecht nach muffiger, ungewaschener Kleidung, Bier, Füßen und dem Staub unter dem Bett.

 »Warum seid ihr eigentlich nicht mehr zusammen?«, fragt Nina. Christian verdrehte die Augen. So sensibel, Christian?

»Es stimmte einfach nicht mehr«, sagt Oliver. »Ich will mich ja auch so früh noch nicht festlegen.«

»Dabei passt ihr so gut zusammen«, grinst Nina.

»Können wir das Thema lassen?« Britta rümpft die Nase. Sie zieht gedankenverloren die rote Wachsschale von ihrem Käse. Ich bitte Florian um ein neues Bier. Ich mag das Kronenbourg. Davon bekomme ich im Gegensatz zu Warsteiner, Beck's und all den anderen norddeutschen Bieren keine Kopfschmerzen. Außerdem sind die kleinen Flaschen schneller leer als ihr Inhalt schal werden kann.

»Wenn sie darüber reden will, dann lass sie. Du kannst ihr doch nicht den Mund verbieten«, sagt Oliver ruhig.

»Aber ihr redet hier über mich«, blafft Britta zurück.

»Nein, sie hat mich gefragt, was ich denke, und ich habe ihr das gesagt.«

Als Britta den Kopf hebt, schimmern ihre Augen feucht. Ihre linke Hand ballt sich um die rote Wachsschale zur Faust. In die Stille hinein drehe ich den Kronkorken von der Flasche. Langsam kribbelt mein Hirn. Ich, in Paris, betrunken, in einem Hotelzimmer. Voll genial.

Oliver erwidert Brittas Blick, und ich nehme einen Schluck. Herrlich – so viel Liebe, Leid und Leidenschaft auf 12 Quadratmetern, und ich habe keine Ahnung davon.

»Wie gut, dass ich diese Probleme nicht habe«, sage ich. Jetzt muss eine Antwort von Nina folgen. Der Hinweis darauf, dass ich doch alle haben könne, wenn ich nur wolle.

»Sonst beschwerst du dich immer«, sagt Christian. Moment, das ist nicht vereinbart. Natürlich beschwere ich mich, aber aus gutem Grund, weil die, die ich will, mich nicht wollen. Claudia und das Mädchen aus der Tanzstunde und all die anderen, die mich nicht haben wollten. Meine Gedanken werden plötzlich schwer.

Ich möchte heulen, von meinen Plänen Absicht erzählen. Warum fragt mich niemand, wie es mir geht? Warum interessiert es keinen? Warum drehe ich das Gespräch auf mich? Doch nur, weil ich will, dass sich die Welt um mich dreht und man mich fragt, wie es mir geht.

Lieber reden wir über etwas Anderes. Über Olivers Arroganz und Brittas Naivität. Britta, die schmollend und mit traurigen Augen neben Oliver sitzt und Käse isst. Im Halbdunkel legt sie ihre Hand auf Oliver Oberschenkel. Er lässt es mit sich geschehen. Was für ein Pascha. Warum kann sie ihn nicht loslassen, wenn er sie doch nicht will?

 »Florian, erzähl uns doch mal was über deine Freundin«, sage ich und gebe damit zu, dass ich sie noch nie gesehen habe. Keine Ahnung, wer sie ist.

Wieso eigentlich ist seine Freundin Privatsache? Und woher kennt er sie? Ich habe immer gehofft, Florian würde so etwas mit uns teilen, so, wie ich ihm erzählt hätte, in wen ich verknallt bin, wenn es denn jemanden gäbe. Ich mag Florian und doch ist er mir in manchen Momenten fremd wie der Verkäufer im Supermarkt, den man täglich sieht und über den man kaum etwas weiß.

 »Was soll ich da sagen? Sie heißt Susanne und geht auf die Scholl.«

 »Kennen wir die?«, fragt Nina. Sie grinst wieder. Ob sie froh über das neue Thema ist? Britta flüstert Oliver etwas ins Ohr. Ihre Hand ist sehr weit oben auf seinem Bein. Ich lasse meine Finger leicht über die Brandblase auf meinem Handrücken streichen. Ich würde sie gerne aufkratzen.

 Wir kennen sie nicht, und das findet Nina langweilig. Britta und Oliver nutzen den Moment der Stille, um sich vom quietschenden Bett zu erheben. In der Hand hält Britta den Zimmerschlüssel. Ich traue meinen Augen nicht, dann knallt die Tür ins Schloss.

»So, und was machen wir?«, frage ich Florian.

»Wir trinken erst mal ein Bier«, sagt er. Nina grinst.

»Warum bist du nicht mit Britta zusammen?«

»Was weiß ich?« Warum sollte ich. Britta ist ein dürres, naives Dummchen. Ihre Nase zu groß, ihre Fragen zu doof. Es muss alles stimmen. Jeder Makel ist ein Ausschlusskriterium. Immer geht es um das Optimum. Keine Kompromisse. Strebst du nach Perfektion, um Zweifel auszuschließen?

Ich war schon einmal verliebt. In Claudia, die mich nicht wollte. Ihr jedoch war ich nicht cool oder nicht gutaussehend genug. Gibst du jetzt weiter, was du erfahren hast? Und welche Rolle spielt die Scheidung deiner Eltern? »Viel zu kompliziert«, sage ich und meine die Gefühle. Kein Gedanke kann klarer sein als der an das Alleinsein.

»Und außerdem ist er nicht katholisch«, sagt Christian.

»Richtig«, sagt Florian. »Jetzt geht eigentlich nur noch der Papst.«

»Ich bin ja nicht mal religiös.«

»Besser so. Lieber Atheist als Katholik.«

»Kann der Papst heiraten?«

»Ach Mensch, Nina«, blafft Christian. Großer Fehler. Sie äfft ihn nach, er haut verbal zurück, und Florian grinst zu mir herüber. Herrlich.

»Erzähl doch mal von Verena«, sagt Nina. »Warum hast du mit ihr Schluss gemacht?« Verena. Blödes Thema.

»Also?«, fragt Nina noch einmal. »Warum hast du Schluss gemacht?«

»Sie sah ihm nicht gut genug aus«, spottet Christian. Weiß er nicht, wie hoch die Messlatte liegt? Sie liegt so unerreichbar hoch, dass nur die Damen in meinem Bettkasten sie überspringen können.

»Weil sie nicht das ist, was ich will«, sage ich. Mein Zwerchfell zittert.

»So eine blöde Ausrede. Sie ist dir nicht hübsch genug.« Wieso ist Christian deswegen sauer auf mich? An Verena kann es nicht liegen, die ist ihm egal. Was ist es dann? Weil ich ihm weiter vorjammere, wie schwer ich es mit den Frauen habe? Weil wir nicht mehr gemeinsam einsam sind?

 »Nein, ja, auch, aber sie hat mich viel zu sehr eingeschränkt. Ich war ja bis zum Stadtfest im Herbst ganz zufrieden alleine, aber der Kuppelvirus war ausgebrochen, und ...«

Erzähl nichts davon, dass dir Wichsen nicht mehr gereicht hat, erzähl nichts von der nie zuvor gefühlten Zerrissenheit, die plötzlich fast körperlich wehtat, erwähne nicht den Bahnübergang hinter der Schule, auf dem du eines nachts alleine standst.

Sie verstehen es sowieso nicht.

Diese Sehnsucht nach Nähe und das Unvermögen, einen Teil von mir aufzugeben und in einer Beziehung Kompromisse einzugehen, die zu zwei Polen auf der Kompassnadel meiner Seele geworden sind, die immer um mich rotiert und nie zur Ruhe kommt.

»Auf Jörgs Geburtstag hab ich total besoffen das erstbeste Mädchen umarmt, das mir nach dem Kotzen in den Weg kam. Und das war Verena. Mehr nicht. Als wir uns das erste Mal geküsst haben, weil sie mich am nächsten Tag nach der Schule unbedingt sprechen wollte, hat es sich falsch angefühlt. Verena hat mich umklammert, rief mich an, wollte mit mir ins Kino, zum Minigolf, knutschen.«

Erzähl nicht, dass du nur Ja gesagt hast, weil du nicht Nein sagen konntest, weil du von der Situation überfordert warst und das Spiel einfach mitgespielt hast.

Auf dem Sofa ihrer Eltern, nachts nach der Party, war sie die erste, der ich meine Hand unter das T-Shirt steckte und einen Finger in die Möse geschoben habe. Sag Möse, und Nina wird dich angewidert ansehen. Ich spüre die Feuchtigkeit in meinen Handflächen. Verenas Gesicht blitzt auf. Christian ist ganz aufgeregt, fast wütend.

»Aber wolltest du das nicht immer?«

»Es hat sich nicht richtig angefühlt. Jeder Kuss war gelebter Abstand. Die Gefühle im Fernsehen waren realer, auch wenn es nicht meine waren. Fluchtreflex statt Zuneigung. Mir war unsere Beziehung bereits nach dem ersten Treffen zu viel. Als auf Sat.1 Spiel mir das Lied vom Tod lief, den ich unbedingt sehen wollte, tat ich das alleine. Rumgeknutsche bei Sergio Leone ist doch Blasphemie.

Sie hat mich danach angerufen, das war total daneben. Sie wollte nicht auflegen, und ich wollte nichts sagen. In der Schule war mir ihre Anwesenheit auf dem Pausenhof peinlich, in ihrem Zimmer ihre Vorliebe für Jazzmusik. Ein paar Tage später hab ich Nina betrunken vor McDonald‘s getroffen, im Regen, und sie hat mir erzählt, Verena würde mich lieben.«

 »Du bist so doof«, wirft Christian seiner Freundin vor. »Ich hab dir gesagt, dass ein Mann das nicht hören will.«

 »Ach, ich bin schuld, dass Ralf Schluss gemacht hat?«

Jetzt kabbeln sie wieder. Ich höre das gerne. Aber selbst erleben?

 »Die Beziehung zu Verena hat plötzlich wie ein Stapel Schulbücher auf mir gelastet. Liebe? Nein. Zuneigung und Interesse, die hinter dem Wunsch nach Perfektion jedoch sehr weit zurückblieben. Ich hab sie ja noch nicht einmal als meine Freundin bezeichnet. Kurz danach holte sie mich von McDonald’s ab, das hat mir gar nicht gepasst. Ich war doch mit Christian verabredet.

Ich nahm sie mit nach Hause. Sie sah mir zu, wie ich mir im Stehen Brote schmierte. Sie hat den Fischmac als genial bezeichnet. Genial. So ein Wort hat sie vorher nie benutzt. Das klang so anbiedernd und falsch. Vor der Haustür hab ich sie stehen lassen.

Eine Woche später fing sie mich nach dem Kunstunterricht ab. Ich wusste genau, was sie wollte. Ich war echt erleichtert, als sie sagte, wir sollten die Beziehung besser abbrechen, wenn ich nicht mit Frauen umgehen könne. Ich widersprach ihr nicht, nickte nur. Sie hatte ja Recht.«

Eine kurze Pause. Vor dem Hotel keifen sich zwei Frauen an. Ich kann die Sprache nicht verstehen.

»Das finde ich ganz schön heftig«, sagt Nina. Ihre Augen lasten auf mir, dem Teflon-Mann. Erwartet sie, dass es mir Leid tut? Nichts bleibt an mir haften. Gar nichts.

»Dass ich ihr nicht widersprochen habe?«

»Dass du so kalt bist.«

Kalt? Wieso kalt? Verena passte eben nicht zu mir.

»Er ist doch nur ehrlich«, wirft Florian ein, bevor ich antworten kann. Ehrlich. Eigentlich bin ich nur unsicher. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll in solchen Situationen, und dann sage ich, wenn überhaupt, immer nur das, was mir als erstes in den Sinn kommt. Dabei wünsche ich mir, ich könnte immer das Richtige tun.

Ich habe stets und überall das Gefühl, meine Rolle nicht ausfüllen zu können, fühle mich immer zu klein für die Fußstapfen, in die ich treten soll. Obwohl meine Eltern aus Bayern nach Niedersachsen gezogen waren, meine Oma in Bayern lebt, meine ganze Familie, spreche ich nicht ein Wort Bayrisch. Ich kann mit den Worten nichts anfangen. Oachkatzlschwoaf – ein Wort wie aus einer anderen Welt.

»Du sprichst kein Bayrisch?«, fragte mich einmal ein Bekannter meiner Großeltern, als wir wieder einmal im tiefsten Oberbayern zu Besuch waren.

»Nein«, sagte ich und wurde rot. So rot wie man nur werden kann, wenn einem die eigene Unzulänglichkeit so direkt unter die Nase gerieben wird.

Ich will aus diesem Leben ausbrechen, so wie mein Vater es getan hat, ich will neu anfangen. Es muss doch eine richtige Seite geben, eine Seite, auf der ich mich richtig verhalte, in der mir die Unsicherheit genommen wird. Eine Seite, auf der ich alles richtigmache.

Nina und Christian streiten. War ich so in Gedanken versunken, dass ich gar nicht mitbekommen habe, worum es geht? Nach einer Stunde werden die beiden des Streitens müde, hat Florian genug vergebens versucht, zu schlichten, und wir beschließen, Britta und Oliver zu trennen.

Was sie dort gemacht hatten, alleine, in der Dunkelheit, sagt Britta nicht. Aber Florian kann sich die Nachfrage nicht verkneifen, kurz nach Mitternacht, von seinem Bett aus.

 »Habt ihr gepoppt?«

 »Ich sag dazu nichts.«

 »Hast du sie gefingert?«

 »Nein«, sagt Oliver in der Dunkelheit. Wie auch, sie hat doch ihre Tage. Zumindest ist er ehrlich. »Und jetzt lass mich in Ruhe.«

Ich bewundere Florian dafür, dass er so frei reden kann.

»Hat sie dir einen geblasen?«

»Sie hat mir nur einen runtergeholt, okay?«

Mein Zwerchfell tanzt. Nur einen runtergeholt. So ein Arschloch. Britta holt ihm einen runter, obwohl er nichts von ihr will, und er tut so, als sei das nicht die geilste Sache der Welt. Er erwähnt es so beiläufig wie jemand, der im Lotto gewinnt und behauptet, er habe eigentlich schon genug Geld, aber ja, die Million nähme er gerne. Wichser. Ich finde seinen Arm mit dem langsam vergilbenden Verband auf einmal unfassbar arrogant. Wieso kommt er mit dem Gipsarm auf Interrailtour, wenn er nichts selber tragen kann? Der Gips wird zu einem Ausdruck seiner Überheblichkeit, statt zu einem Zeichen seiner Verwundbarkeit.

»Hast du sie drum gebeten?«, frage ich zurück.

»Nein. Sie wollte es. Freiwillig.«

»Die Britta, du, die hat es faustdick hinter den Ohren«, sagt Florian noch, bevor die Matratze quietscht und das Gespräch in der dunklen Porösität der Nacht versickert.

Ich greife in meine Hose und massiere, was nach Olivers Schilderung längst hart geworden ist. Heimlich, während die andern schon schlafen, hole ich mir einen runter. Sonst denke ich an die Bücher, die ich im Schlafzimmer meiner Eltern gefunden hatte. Das Delta der Venus von Anais Nin, und Vierhändig, eine Sammlung mit erotischen Geschichten im Hardcover, eine Ausgabe von Josephine Mutzenbachers Memoiren, drei Bände Emmanuelle sowie die Geschichte einer Frau Namens Xaviera Hollander als Taschenbücher.

Zwei Paperbacks aus der rororo-Reihe über eine junge Frau aus Schweden, die bei einem Facharzt den Orgasmus lernte. Das Liebesdorf mit amourösen Abenteuern in einem kleinen französischen Dorf. Jungs mit Mädchen, Jungs mit Jungs, Mädchen mit Mädchen und die Erwachsenen untereinander. Daran denke ich, und an die Schlüsselloch-Hefte aus dem Altpapiercontainer. Es gibt so viele Bilder, die ich vor mein geistiges Auge projiziere, so wenige Geheimnisse. Ich kenne alles.

Doch jetzt denke ich auch an Brittas Hand an Olivers Schwanz und wie sie ihm einen runtergeholt hat. Ob er in ihrer Hand gekommen ist? Und wie das wohl ausgesehen hat? Hat es Flecken hinterlassen? Ich kann es mir richtig gut vorstellen.

Ich brauche nicht lange, dann schieße ich meine Ladung in meine Handfläche. Ist morgen ohnehin alles getrocknet, denke ich und wische die Finger am Laken ab. Niemand hat mich bemerkt.

Beflügelt von sehr viel Kronenbourg erlebe ich Seltsames. Erst stehe ich in einem kleinen Zimmer, von dem ich weiß, dass es grüne Türen hat und eigentlich ein Bahnhof ist.

Eine Stimme sagt etwas von Badeanstalt und Taschendiebstahl. Aber der Zug ist längst in Koblenz. Wir haben den Scheißzug verpasst. Und jetzt? Unser Zimmer schwimmt auf einer Woge Licht, und Brittas Hand gleitet langsam Olivers seine Hose. Er lehnt sich zurück.

Unsere Wohnung. Wir sind bei uns zuhause, aber es ist ein Haus, das alte Haus. Wir sind wieder da. Unsere Rucksäcke stehen in den Ecken. Oliver und Britta höre ich reden. Sie reden über ihre gescheiterte Beziehung, über sein Versprechen sie zu heiraten und all die anderen Sachen, die sie schon tausendmal durchgekaut haben.

Bald turnen die beiden auf meinem alten Bett herum, auf dem ich früher geschlafen habe, als wir noch eine Familie waren, im Haus, weil wir die Zimmer getauscht haben und Christian und Nina nebenan liegen.

Florian und ich haben Tickets nach Hause, Oliver hat eine Hand in Brittas Hose. Wieso ist Phillip Boa auf einmal in den Französischen Charts? Der hatte doch im Februar seine größten Erfolge. Merkwürdig. Brittas Hand an Oliver. Ihr Becken zuckt unter seiner Hand, der Wind entblößt ihre festen Brüste. Ihre Stimmen sind kaum zu verstehen im Quietschen der Metro.

Wo willst du hin?, höre ich jemanden fragen, und ich habe Sehnsucht nach Chris, aber der ist bei Nina. So allein. Hat er gerufen? Und ich bin so allein mit meiner Mutter habe ich die falsche Entscheidung getroffen. Immer wieder beugt sie sich vor und sieht mich strafend an. Weil ich gesagt habe, hier seien meine Freunde. Florian ist da, um mir zu helfen, doch Nina stellt sich immer wieder vor ihn. Die Frau vom Jugendamt beugt sich vor und fragt, aber ich verstehe sie nicht. Meine Mutter heult und mein Vater ist weit weg und ich kann nicht mehr, ich kann nicht, aber das Jugendamt will wissen, wohin ich will.

Ein lautes Grunzen weckt mich. Ich wache auf und zucke hoch. Allein in meinem Bett. Mein Atem ist flach, mein Kopf dröhnt. Draußen vor dem Fenster rauscht der Verkehr.

Jugendamt. Mein Gott, wie lange ist das her? Die Frau vom Jugendamt. Wieso habe ich davon geträumt?

Gott. Ich träume wirklich viel zu viel.

 

2.

 

Das Centre Pompidou ist Ausdruck der Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Ich versuche vergeblich, den Sinn daran zu entdecken, durch Räume mit Bildern zu schleichen, die jemand anders gemalt hat. Warum soll ich mir ansehen, was andere geschaffen haben? Ich kann nicht einmal eine Figur aus Eicheln und Streichhölzern bauen - warum soll es mich begeistern, dass andere etwas geschaffen haben und im Museum hängt? Oliver ist der Meinung, dass man diese Bilder gesehen haben muss. Dann wird das wohl so sein.

 »Das gehört zur Allgemeinbildung«, sagt er mit einem Seitenblick auf Nina. Die reagiert prompt.

 »Nur, weil man sich nicht für diesen Kram interessiert, ist man doch nicht ungebildet«, blafft sie so empört, dass ich Tränen erwarte, die aber nicht kommen. Zum Glück bin ich nicht mit ihr zusammen. Ich wüsste nicht, wie ich sie wieder beruhigen sollte.

 »Du bist so arrogant«, sagt Christian. Oliver zuckt mit den Schultern und grinst ein wenig verlegen. Auf dem Weg auf das Dach des Centres fotografiert Christian seine schmollende Freundin. Britta ist ohnehin beleidigt, weil Oliver nicht ihre Hand halten will. Sie singt wieder das Lied von der RER. Jetzt dreht sie völlig durch. Herrlich. 

Nina mag Paris nicht und will an den Strand. Paris ist ihr zu windig und zu dreckig und zu laut. Mir ist Paris noch viel zu vertraut. Gegen Mittag zu McDonald’s. Wieso haben die Franzosen zwei verschiedene Preise für ihre Produkte? Wenn man die Burger im Restaurant isst, sind sie teurer. Natürlich setzen wir uns vor dem Laden auf die Straße und essen dort. Jeder Franc zählt.

Oliver erklärt uns in der Zwischenzeit mit vollem Mund den Grund. Warum die Franzosen jedoch eine niedrigere Mehrwertsteuer zahlen, wenn sie das Essen außer Haus servieren, weiß er auch nicht. Die spinnen, die Franzosen. Christian meint, er habe das Gleiche sagen wollen. Glaub ich ihm.

 Auf dem Père Lachaise gehen wir natürlich zum Grab von Jim Morrison, für Oliver und Florian ein Idol. Der Name weckt bei mir nur die Assoziationen Top Gun, Top Secret und Willow, was an Val Kilmer liegen muss. Ich kenne die Doors erst seit dem Film von Oliver Stone.

»Oliver Stoned«, korrigiert mich Florian, der sich an jeder Straßenecke eine neue Zigarette dreht und einen Platz zum Barzen sucht. Ich fühle mich ganz fehl am Platz. Es muss anders sein, eine bedeutende, wichtige Situation an einem ganz wichtigen Ort. Es fühlt sich so hohl an, falsch und unecht an. Wir sollten hier etwas erleben, wovon ich später einmal erzählen kann. Aber es kann ja nicht immer Berlin sein.

In der 9. Klasse waren wir auf Klassenfahrt in Berlin. Es war im Herbst nach dem Sommer, in dem die Ungarn ihren Stacheldraht einrollten und Ostdeutsche zu Tausenden in den Westen flohen. Am 9. November reisten wir noch mit Tagesvisum nach Ost-Berlin ein, inklusive Zwangsumtausch, Passkontrolle und grimmigen Grenzern. Gaben unser Geld aus für trockene Brötchen im Konsum und schlechtes Essen im Grill am Alexanderplatz.

Die Stadt wirkte merkwürdig leer. Und dann fuhren wir zurück zur Jugendherberge nach Tegel. Wir hatten uns schon darauf eingestellt, bis zum Löschen des Lichts Schwimmen zu spielen. So wie im Pergamonmuseum oder im Bundestag. Doch kurz nach acht Uhr abends kam unser Klassenlehrer Herr Schmidt in unser Zimmer. Sein Gesicht war ernst.

 »Wir haben soeben erfahren, dass die Ausreise für Bürger der DDR in die Bundesrepublik und West-Berlin auch ohne Vorliegen von Voraussetzungen möglich ist«, sagt er. Ausreise ohne Voraussetzung? Nicht nur ich starrte ihn ratlos an. Was wollte er uns denn damit sagen? Warum war er so ernst? War das was Schlimmes? Und dann begriff ich, dass seine Ernsthaftigkeit in Wahrheit der Versuch war, die Fassung zu bewahren.

 »Und was soll das heißen?«, fragte Christian.

 »Die Mauer ist gefallen«, sagte Herr Schmidt. »Die Grenzen sind offen.«

 Wir fuhren im Bus durch die glitzernde Stadt und wurden am Zoo rausgelassen. Einem großen Platz schafften wir es noch. Die Straßen waren voller Menschen, mit Sektflaschen in den Händen. Sie riefen, lachten und grölten, sangen die Nationalhymne und so ein Tag, so wunderschön wie heute. Menschen, die Jeansjacken mit weißem Fellkragen trugen und merkwürdig aufgeplusterte Lederjacken, Deutschlandflaggen in den Händen.

Fremde Hände zogen uns freundlich auf die Mauer, wo wir den ostdeutschen Grenzern zusahen, die nicht wussten, was sie tun sollten. Im grellen Scheinwerferlicht trank ich Sekt aus eiskalten Flaschen, die mir fremde Freunde hinhielten. Beschwipst und glücklich trafen wir unsere Mitschüler am Zoo wieder und tauschten uns aus. Am nächsten Tag fuhren wir zum Grenzübergang Bornholmer Straße. Ich klopfte dort auf die Dächer vorbeifahrender Trabbis, jubelte den DDR-Bürgern zu, die ihre ersten Schritte in den Westen taten, trank Sekt und wusste, dass ich für immer Teil eines denkwürdigen Momentes sein würde.

Kann der Besuch des Grabes eines Mannes, der starb, als wir noch nicht einmal auf der Welt waren, dagegen überhaupt eine Bedeutung haben? Was will Oliver damit zum Ausdruck bringen? Verehrung? Wir machen einen Strich auf die Liste, und doch ist es so, als hätten wir uns bei dem Versuch, bei etwas wirklich Bedeutendem dabei zu sein, am Grab von Jim Morrison verlaufen.

 Britta erzählt uns auf dem Weg zur Seine von ihrem Erlebnis auf dem Weltjugendtag in Polen im vorigen Jahr, von der Rede Johannes Paul II und dem intensiven Erlebnis der Gemeinschaft. Die Provokation kommt mir ziemlich leicht über die Lippen.

 »Ah, der Papst. Der senile alte Sack soll doch den Löffel abgeben.«

 »Und dann? Dann kommt ein neuer Papst.«

Oliver sagt zur Abwechslung gar nichts, im schlechtesten Moment überhaupt. Er lässt mich mit dieser ziemlich pauschalen Aussage alleine, ein dahingesagter Satz, der Britta nur aus der Reserve locken sollte. Ich sehe zu Christian hinüber. Der zuckt mit den Schultern, als wolle er sagen: Da hast du dich zu weit aus dem Fenster gelehnt, jetzt genieß den Flug alleine.

 Mir fällt nichts mehr dazu ein. Gott sei Dank bin ich Atheist. Auch nur so ein geklauter Satz von Luis Bunuel. Nicht einen einzigen seiner Filme habe ich gesehen, selbst das Zitat kann ich ihm nur zuordnen, weil ich es auf einem T-Shirt gelesen habe. Vielleicht ist es gar nicht von ihm oder nicht vollständig oder bedeutet etwas ganz Anderes. Wenn ich etwas vermeintlich Intelligentes sage, wiederhole ich nur das, was andere gesagt haben. Denke ich überhaupt eigene Gedanken?

Eigentlich bin ich der hohlste Mensch der Welt. Ich weiß nichts, meinen Gedanken fehlt die Tiefe. Ich habe von keiner Sache wirklich Ahnung, selbst mein Filmwissen ist nur Kulisse, oberflächlich und unwichtig. Ich kenne nur die Antworten, aber nicht, was sie bedeuten. Ohne zu verstehen plappere ich nach, was andere geschrieben haben. Bin ich Künstler? Habe ich ein Buch geschrieben, einen Film gedreht oder ein Lied komponiert?

Nichts, was ich jemals gemacht habe, hat irgendeinen Wert. Und ihr wisst es, ihr wisst genau, wie schlecht ich bin. Kein Wunder, dass kein Mädchen lange mit mir zusammen sein will. Verena hat genau gewusst, warum sie nach der Kunststunde auf mich zukam.

Meine Finger finden beinahe ohne meine Kontrolle die Blase. Ich quetsche den kleinen, fast transparenten Hügel auf meinem Handrücken, drücke ihn wie einen Klingelknopf. Was mag wohl passieren, wenn ich die Blase aufkratze? Ist darunter schon neue Haut gewachsen? 

Unser Abendessen besteht aus einem Döner und versalzenen Pommes. Christian wäre lieber wieder zu McDonald’s gegangen. Wir kaufen uns noch zwei Zehnerpacks Bier in den kleinen Flaschen, bei denen man die Kronkorken mit der Hand abdrehen kann, und gehen zurück ins Hotel. Chaos empfängt uns.

Unsere Zimmer wurden in unserer Abwesenheit anscheinend nicht einmal von den Putzfrauen angesehen. Reinigung ist wohl im Preis nicht inklusive. Wenigstens raucht Florian hier nicht. Aus dem Ghettoblaster dröhnt New Model Army. Schnell bin ich betrunken, und der Rausch kribbelt in meinem Kopf. Worüber wollen wir reden? Über Jim Morrison. Über den Louvre. Über uns.

Nina fängt mit dem Spielchen an: »Wie seht ihr mich?«, fragt sie.

Ich könnte Meg Ryan sagen, aber ich sage nichts. Ich könnte die Speckröllchen erwähnen, doch ich schweige.

»Hör doch auf«, sagt Christian, und Nina sagt, was ich fürchte, was ich hören will, was so unglaublich schwierig zu beantworten ist.

 »Und wie seht ihr Ralf?«

Mich? Wer bin ich? Einer der hohlsten Menschen der Welt. Wie oft soll ich das noch denken?

»Ich kann nichts, ich bin nichts. Kein Wunder, wenn mich niemand mag.«

Nina reagiert, wie ich es mir gewünscht habe. »Dich mögen mehr als Boris Becker, also, im Verhältnis zu denen, die dich kennen.«

Wie kommt sie denn auf Boris Becker? Außerdem ist das Quatsch.

 »Nein, wer soll mich mögen«, frage ich. Ich habe keine Freundin, und mein bester Freund hat kein Verständnis dafür. Er verachtet mich.

»Verena hat dich gemocht.«

»Ach«, blaffe ich. So ein Quatsch. Aus Mitleid hat sie mich angesprochen. Deshalb ist es ihr auch so leichtgefallen, sich von mir zu trennen. Sie hat ja nicht einmal widersprochen. Sie hat doch gesagt, ich sei nicht fähig, mit Frauen umzugehen.

»Du bist doch auch ein Idiot«, blafft Christian. »Ständig jammerst du, du hättest keine Freundin, und dann machst du Schluss und jammerst wieder.«

Wieso versteht er mich nicht? Auf einmal weiß er nicht, wie ich mich fühle, dabei haben wir uns doch sonst immer verstanden. Verena ist nicht perfekt, sie ist zu dick, zu harmlos, zu tief, zu blond. Christian müsste das doch wissen.

»Sie hätte gerne mit dir geschlafen. Sie hat dich wirklich gerngehabt.«

»Hat sie dir das nicht erzählt? Wir haben. Einmal. In der Nacht, bevor ich Schluss gemacht habe. Da hat sie bei mir übernachtet, weil es so geregnet hat.«

 »An den Abend kann ich mich erinnern. Sie hat total empört bei mir angerufen und mir erzählt, wie du sie rausgeschmissen hast. Die war total fertig.«

»Und du glaubst, das hätte ich gemacht?«

»Warum sollte sie mir das erzählen?«

»Weil ihr das peinlich gewesen wäre?«

»Nein, ihr nicht.«

Kein Sex mit Verena? Dafür ist die Erinnerung zu klar. Ich habe mit ihr gefickt, ganz sicher. An dem Abend, bevor sie mit mir Schluss machte. Ich sehe noch die Szene genau vor mir. Warum hat sie Nina das nicht erzählt? Damit sie nicht für ein Senfglas gehalten wird, in das jeder sein Würstchen steckt? Oder weil es ihr peinlich ist, mit einem Idioten wie mir zu schlafen? Vermutlich ist es das. Sie steht nicht mehr dazu, und es ist okay. Mitleid. Sie hat aus Mitleid mit mir geschlafen.

Stell dir vor, dass du aus diesem Urlaub nicht zurückkommst, dass du die Gruppe verlässt und dich nie wieder meldest. Verlassen. Klingt perfekt. Ich kann mir das gut vorstellen.

Ich greife nach meinem Buch. Stephen Kings letztes Gefecht. Wer kämpft da gegen wen? Der Mülleimermann wird mit dem Revolver gefickt. Vom Kid. Glaubst du die Heißescheiße? Gefickt. Ficken.

Ralf, ist schonschonschon. Hschh.

Gelächter auf dem Flur. Nur in Shorts und T-Shirt trete ich auf den Flur. Dort treffe Britta. Ihre langen Haare hat sie zu einem Zopf zusammengebunden. Sie trägt enge Jeans und ein weißes T-Shirt. Und ist im Begriff, ihr Zimmer zu betreten, das genau neben unserem liegt und ein Fenster zum Louvre hat.

 »Hallo«, sage ich erstaunt. Sie ist wunderschön. Erstaunlich, dass sie alleine war. Wo ist ihr Freund? Oliver? Oder ist sie mit Christian zusammen? Ich wusste, dass sie irgendetwas mit dem Bau des Eiffelturms zu tun hatte und geschäftlich in der Stadt war.

 »Kommst du aus Deutschland?«

 »Aus Kuala Lumpur. Liegt neben Frankfurt«.

 »Aus Hannover«, erwidere ich. »Ich würde dich gerne auf ein Bier in mein Zimmer einladen, doch die anderen spielen gerade Monopoly.«

Wir setzen uns auf ihr Bett und quatschen über Paris, grüne Bohnen und bald liegt ihre Hand auf meinem Bein. Ich stelle die Bierflasche zu Boden. Während wir uns küssen, kriecht ihre Hand in meine Hose.

»RER«, keuche ich. Ihr blondes Haar kitzelt mich herrlich, wenn ihr Kopf immer auf und nieder tanzt, bis ich ihr meinen Saft in den Mund spritze und aufwache. Atemlos, verschwitzt und mit einer mächtigen Erektion. Ein Traum. Ein geiler Traum. Die anderen schlafen. Beim Wichsen schlafe ich ein, noch bevor ich komme.

Christian grinst mich an, und ich schlage ihm immer wieder meine Faust ins Gesicht, doch er grinst nur. Ich kann nichts machen, er grinst nur, egal wie hart ich zuschlage. Nina, und mein Vertrauter, doch er grinst nur. Verzweiflung perlt in mir wie Sekt in einer geschüttelten Flasche.

»Wie ist der Sex mit Nina?«, frage ich, aber Christian sagt nichts. Er grinst nur.

Bei Morgengrauen bin ich wieder wach. Atemlos, verschwitzt. Ein Traum. Ein geiler Traum. Die anderen schlafen. Ein Gefühl von Sehnsucht lähmt meinen Körper. In meinen Händen spüre ich einen unsichtbaren Körper, an meine Wange schmiegt sich noch ein weiches Gesicht. Und noch während ich versuche, den aufblitzenden Traumbildern einen Sinn zu geben, verblassen sie vollends.

 

3.

 

Wir wechseln am Morgen wie vorgesehen das Hotel, das nur eine Querstraße entfernt liegt. Auch hier ist der Service nicht besser. Unsere Zimmer liegen nicht einmal auf der gleichen Etage. Statt eines richtigen dritten Bettes bleibt mir nur eine Couch am Fenster. Kein Problem. Ich schlafe auch auf dem Boden. Rucksäcke ins Zimmer und ab in die Katakomben.

Wir betreten ausgelatschte Pfade. Kein Schritt, der nicht schon einmal von anderen gemacht wurde, kein Blick auf ein nie gesehenes Objekt. Nur wir sind neu, unberührt und unbekannt. Sonst nichts.

 Der Sommer hat uns wieder. Paris riecht jetzt nicht mehr nach Abgasen, sondern nach dem Gummi der Metro, nach Bäckereien, die wir auf dem Weg passierten. Kann man Totenschädel fotografieren, ohne sich schlecht dabei zu fühlen und vor allem, ohne sich dabei erwischen zu lassen? Wir können. Christian und ich vor einem Haufen Schädel, stumpf stierend, im gleichen T-Shirt, mit der gleichen Sonnenbrille im Hemdkragen und dem gleichen schwarzen Bananenbeutel vor dem Bauch.

Im Dunkeln ist gut munkeln, müssen sich Britta und Oliver denken. Hinter jeder Ecke könnten sie stehen, sich anfassen, knutschen, fummeln. Irgendwann sehe ich sie, in einer dunklen Sackgasse, Oliver in Designershorts mit Polohemd, seine Hände unter ihrem ausgefransten T-Shirt, in ihrer engen, knielangen Hose, die nur ein Gummiband auf den Hüften hält, sehe Britta erschrecken und Oliver sie festhalten, mit beiden Händen in ihrer Hose und unter dem Hemd, im schummrigen Licht der Lampe über dem Notausgang, vor einer makabren Kulisse aus Totenschädeln. Bei der nächsten Gelegenheit sind sie verschwunden.

Ratlos stehen wir eine Weile in der Mittagshitze auf der Straße. Dumme Nuss, warum kommt sie nicht? Fahren wir eben nach Versailles ohne die beiden, die sich vielleicht schon schwitzend in den Betten wälzen. Doch dann treffen wir Oliver und Britta in der RER-Station wieder. In ihrem Schoß liegt sein Kopf. Ihre Finger spielten mit seinem Haar. Sie scheint glücklich,

Die Harmonie dauert nur eine Bahnfahrt. Im gleißenden Sonnenlicht eines frühen Pariser Nachmittags streckt sich unsere Gruppe unter Platanen über zweihundert Meter Straße.

Christian und Nina voran, ausnahmsweise Hand in Hand, ohne Streit und ohne scharfe Worte. Ein paar Meter hinter Oliver zieht Britta ihren Pullover über das Gesicht.

 »Weshalb heult sie?«, frage ich.

 »Er hat einem Mädchen nachgeguckt«, sagt Florian und raucht wieder zu tief. 

 »Der spielt doch nur mit ihr«, flüstere ich, weil ich das Gefühl habe, Anteilnahme zeigen zu müssen. Dabei empfinde ich gar nichts bei dem Gedanken an Britta. Warum kapiert sie nicht, was hinter Olivers Verhalten steckte?

Vor uns taucht Versailles auf. Vor uns und Tausenden anderen Touristen. Sie wanken wie die Zombies in meinen Träumen aus am Straßenrand geparkten Bussen, laufen tumb über die riesigen Parkplätze, wie ferngesteuert, hoch erhobenen Wanderstäben mit bunten Wimpeln folgend. Japaner, Amerikaner, Europäer und wir.

 »Natürlich tut er das.«

 »Er ist aber auch ein Arsch.«

Florian wirft seine Zigarette in den Rinnstein. Über dem Schloss wölbt sich ein azurblauer Himmel. Die untoten Touristen ächzen und stöhnen sich dem Eingang entgegen.

»Sie macht es ihm aber auch zu leicht.« 

»Na, ich bin gespannt, wie es weitergeht.«

»Lenk sie doch ab.«

»Bin ich katholisch? Außerdem passen wir gar nicht zusammen.«

Woher nimmt Florian nur diese Idee? Was für eine Vorstellung: Britta und ich ein Paar. So ein Quatsch.

Was von Versailles bleibt: Der Spiegelsaal und der Versuch, sich die Krönung Wilhelms I. zum Kaiser vorzustellen. Das Datum 18. Januar 1871. Marie Antoinette und die Revolution. Die Gärten. Die Kanäle. Prunk. Oliver findet den Protz verachtenswert, Florian stößt ins gleiche Horn. Unsere Revoluzzer auf der Suche nach einer Welt ohne Kapital kaufen nach dem Besuch im Supermarkt um die Ecke ihren Zehnerträger Bier, und ich freue mich erneut, dass ich vom Kronenbourg keine Kopfschmerzen bekomme.

»Natürlich gewinnen wir«, sagt Florian und legt so viel Begeisterung für unsere Nationalmannschaft an den Tag, dass ich an seiner anarchistischen Einstellung zweifele.

 »Die Dänen sind zu gut«, sage ich, dabei habe ich keine Ahnung. Was geht mich Fußball an? Ich will nach Südfrankreich, zu meinem Vater und diesen ganzen unnützen Ballast hinter mir lassen. Kein Fußball, keine Reizüberflutung, kein Nachdenken.

 »Die sollen angeblich nur Big Mac essen und Cola trinken.«

Christian runzelt die Stirn. Anschließend reden wir noch ein paar Stunden über das Finale in zwei Tagen, bis wir müde genug sind, um schlafen zu gehen. Ich schließe das Klo ab, als ich an der Reihe bin, und wichse im Stehen vor dem Waschbecken. Dabei sehe ich mir im Spiegel zu, bewundere meinen steifen Schwanz in meiner Hand und stelle mir vor, wie ich mir selbst einen blase, wie ich mir meinen Schwanz tief in den Mund schiebe und komme.

Vor der Klotür höre ich Florian und Christian und ich frage mich, ob sie wissen, was ich hier mache. Ahnen sie, dass ich mir hier einen von der Palme wedele und mir vorstelle, von Figuren aus meinen Pornos gefickt zu werden oder sie zu ficken? Ahnen sie, dass ich ständig überlege, wo ich mir als nächstes einen runterholen kann?

Wenn sie jetzt hereinkämen und mich beim Wichsen überraschten, würden sie empört sein? Würden sie mitmachen? Niemals würden sie mitmachen, denn niemand außer mir denkt ständig nur ans Wichsen. Niemand sonst ist so besessen von Pornos. Nicht Christian und nicht Florian.

Ich mache die Augen zu und denke an Britta, an ihren Hintern in der Luft und wie sie vor Oliver gekniet hat, stelle mir vor, ich wäre es, und komme. Das Ergebnis trifft auf Keramik, auf den Ausguss, läuft zäh zusammen und gerinnt.

Erschöpft halte ich mich am Waschbecken fest, genieße den Rausch. Wie geil, wie schön, wie gut. Besser als 15 Punkte in der Matheklausur, besser als Händchenhalten mit Verena, besser als Brittas Lächeln.

Mühsam beseitige ich die Spuren aus dem Waschbecken. Peinlich, würde Christian beim Zähneputzen die Reste davon finden. Die beiden sind bereits in den Betten, haben die Decken bis zum Kinn hochgezogen.

Ich gleite auf die Matratze. Komm, süßer Schlaf. Ist das nicht der Titel eines Films? Draußen vor dem Hotel knattert ein Moped über das Pflaster. Der Korridor ist lang.

Für eine Sekunde will ich hinunter ins andere Zimmer gehen, doch dann läuft sie mir über den Weg. Wieder Maike. Und wieder in unserem Hotel. Welch Zufall.

Das liegt daran, wie ich jetzt erfahre, dass Maike in Wahrheit Florians Freundin ist und ihm nachreist. Ihre langen Haare fallen über ihre wunderbaren Schultern, etwas blitzt durch die blonden Strähnen.

»Und jetzt will ich dich ficken«, sage ich. Ihre Antwort ist ein dumpfes Rauschen. Wieso verstehe ich sie nicht? Und wo ist Florian?

Sie zieht die Beine so weit an, dass ihre Knie die Brüste berühren. Wir sind im Park in Brüssel, weil der genau vor der Tür liegt. Das blonde Mädchen dreht sich auf den Bauch, zieht die Beine an und kniet sich vor mich, egal, ob ich will, weil ich nichts zu sagen habe.

»Mach, schneller«, stöhnt sie. Ich greife nach vorne und knete die Hügel, auf denen die Sacré Coeur steht wie ein gleißend heller Stern, und ich weiß, dass dort viele andere Interrailer übernachten.

Meine Hände sind in Gips. Wieso kann ich sie nicht mehr festhalten? Und wer trägt mein Gepäck?

»Rauschelmauschel!«, sage ich. Das Zimmer ist eine grüne Wiese.

»Horst?«, frage ich.

»Warte, noch nicht. Erst musst du mich heiraten«, stöhnt Maike. Ich ignoriere ihre Anweisung. Tropfen auf nackter Haut. Sie dreht sich auf den Rücken, kuschelt sich an mich und dann wache ich auf.

 

4.

 

 Sekundenlang bin ich unsicher, ob sich neben mir nicht noch der nackte Körper des Mädchens aus Frankfurt befindet. In meinem Hals ein leichtes Kratzen. Zuletzt noch eine Erkältung.

Welch ein Hohn, denn der Tag ist endlich sonnig, der Himmel blau. Noch ein Tag Paris, noch mehr Eiffelturm, Triumphbogen, Champs Elysées, Louvre und Baguette mit kleinem Käse, dessen rote Wachsschicht unter den Nägeln hängen bleibt.

Gegen Abend der nächste Zehnerträger Bier, diesmal setzen wir uns auf die Stufen unterhalb der Sacré Cœur und genießen die Harmonie. Kein Streit, kein Ärger. Oliver und Britta verstehen sich und wir hoffen doch alle, da bin ich mir sicher, insgeheim, dass sie sich doch noch finden. Oliver und Britta – ein perfektes Paar.

Bei einem fliegenden Händler kaufe ich eine Sonnenbrille um auszusehen wie einer der Blues Brothers, was mir doch eh nicht gelingt. Aber immerhin habe ich den Preis von 50 Francs auf 30 Francs, zehn Mark, heruntergehandelt und bin stolz auf mich. Der Stolz ist von kurzer Dauer. Die gleiche Sonnenbrille sehe es auf einem Ramschmarkt für 10 Francs. Ich ärgere mich über diesen Kauf. Ich bin zu langsam, zu doof, zu leicht um den Finger zu wickeln. Ich kann gar nichts.

 »So ein Scheiß.«

 »Na, jetzt bist du schlauer. Beim nächsten Mal ...«

Ich kneife mit meinen abgerissenen Fingernägeln ein Loch in die Blase auf dem Handrücken. Klare Flüssigkeit läuft heraus, die Blase fällt in sich zusammen. Drei Tage hatte die Haut Zeit, nachzuwachsen. Das muss doch reichen. Das muss. Ich verstecke die Hand hinter dem Rücken und wische sie unauffällig an der Hose ab.

Auf dem Rückweg kaufen wir uns wieder einen Zehnerträger Kronenbourg. Florian öffnet das erste Bier, Oliver dreht den ersten Joint, ich mache den ersten Kalauer. Draußen vor dem Fenster liegt uns Paris zu Füßen. Eine Stadt, die uns reif gemacht hat für den Strand, auch wenn Oliver das nicht so gerne hört.

 »Ich kann den Gips nicht abmachen«, sagt er. »Und dann schwitze ich darunter.«

 Ich zucke mit den Schultern.

 »Es ist ja nur für ein paar Tage. Und dann geht es weiter nach Madrid. Das wirst du schon aushalten.«

 Es dauert keine zehn Minuten, bevor es an der Tür klopft. Britta und Nina stürzen herein, angewidert, durcheinanderredend.

 »So große« ruft Nina und hält Daumen und Mittelfinger zehn Zentimeter auseinander. »Total eklig.«

 »Auf den Zahnbürsten«, kreischt Britta und schüttelt sich.

Wir finden sie auch auf den Handtüchern, in der Dusche und hinter der Kloschüssel. Die Kakerlaken sind überall. Wir holen die Sachen der Mädchen nach oben, schieben die Betten zusammen. Britta kuschelt sich an Oliver.

Ich schiebe die schlaffe Haut über der geplatzten Haut mit dem Zeigefinger hin und her. Ob sie wieder verwächst? Oder muss ich sie abziehen, damit die neue Haut darunter Luft bekommt? Hätte ich die Blase nicht aufkratzen sollen? Christian haut mir auf die Finger.

»Hast du das jetzt doch aufgekratzt?«

Warum macht er das? Warum tut er so, als würde ihm etwas daran liegen?

»Lass mich doch«, fauche ich. Christian hebt verteidigend die Hände.

»Ich will doch nur helfen.«

»Und was hast du davon?«

Seine Reaktion ist authentisch. Gut gespielt. »Was?«

 »Wer anderen hilft, will sich doch bloß besser fühlen.«

»Was ist das denn für ein Quatsch?«

»Auch Mutter Theresa ist nicht so selbstlos. Die macht das, weil sie sich dabei besser fühlt.«

»Meinst du, dass alles, was uns gefällt, eigentlich nicht gut ist?«

»Es ist asozial.«

»Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass nur derjenige selbstlos ist, der Gutes für andere tut und sich dabei schlecht fühlt.« Oliver hebt spöttisch die Augenbrauen.

»Richtig«, sage ich. »Wenn du Geld spendest und es dir nicht weh tut, weil du genug Geld hast, ist das keine selbstlose Tat.«

»Aber sie ist gut.«

 »Kann es Gutes im Schlechten geben?«

 »Ja, kann es«, sagt Oliver. »Die Motivation des Menschen ist doch völlig Wurst. Wichtig ist doch nur, dass man Gutes tut, nicht aus welchem Grund.«

 »Ich will doch gar nicht sagen, dass es schlecht ist, wenn man etwas tut, bei dem man sich gut fühlt. Es ist nur nicht mehr selbstlos. Es gibt kein selbstloses Verhalten.«

 »Na und?«, fragt Christian. »Ihr macht euch Gedanken, das gibt’s gar nicht.« So typisch.

 »Es gibt eben jemand, der ist ein wenig tiefsinniger«, mault Nina provozierend.

 »Das sagt die Richtige.«

 Der Zoff geht wieder los und ich fühle mich plötzlich leer. Die Zwiebel ist gehäutet. Aber ich habe keine Ahnung, warum ich das gemacht habe. Beim Häuten der Zwiebel muss man weinen, ich jedoch werde nur müde.

Zähne putzen, schlafen gehen, Licht aus. 

Schnell werden meine Hände schwer, rasch schlafe ich ein. Mein Vater steht vor mir und Christian flüstert mir etwas ins Ohr.

Wie kann es sein, dass er mit uns auf Tour gegangen ist und wäre es nicht besser, wir kehrten alle um, nach Hause, und dann sagt Nina noch etwas zu mir. Sie flüstert. Flüstert. Das Flüstern weckt mich. Es klingt nach Verschwörung, nach Geheimnissen. Draußen dämmert Paris dem Tag entgegen, der Verkehr tuckert vor dem undichten Fenster.

 Warum weißt du nicht, dass du träumst, wenn du träumst? Im Traum erscheint alles ganz logisch. Du kannst dich mit Steinen unterhalten und es erscheint die normalste Sache der Welt. Erst nach dem Aufwachen wird dir die Absurdität deines Traumes bewusst. Jetzt weiß ich, dass ich geträumt habe. Die Bilder der vergangenen Nacht sind so absurd, dass sie ein Traum sein müssen. Mein Vater ist nicht mit uns auf Tour.

Ich erinnere mich an Bruchstücke meines Traumes, an Gefühle, und weiß jetzt, dass ich nicht träume. Dazu sind die Gefühle zu real. Ich spüre ein Kratzen im Hals. Zitternd ziehe ich die dünne Decke bis zum Kinn und drehe mich. Jede einzelne Feder in diesem Sofa hat sich im Laufe der Nacht mindestens einmal in meinen Rücken gebohrt. Kein Traum kann diese Rückenschmerzen so echt nachbilden.

Neben mir auf dem Bett liegen Oliver und Britta. Sie haben das Laken über ihre Köpfe gezogen. Hände und Arme drücken sich gegen das Flies, geben ihm immer neue Ausbuchtungen und Höhen. Von dort kommt das Flüstern. In der Mitte dieses weißen Kokons bewegt sich der Stoff, beult sich, entspannt sich wieder, beult sich. Feuchtes Schmatzen, wieder Flüstern. Christian und Nina im zweiten Bett schlafen, auch Florian rührt sich nicht auf seiner Isomatte.

Wieder Schmatzen, die Stelle in der Körpermitte des Kokons beult sich immer schneller. Oliver flüstert, Britta flüstert zurück, Schmatzen, schließlich seufzt Oliver. Die rhythmischen Bewegungen stoppen. Ich höre, wie etwas von innen gegen das Laken prallt. Wieder Schmatzen, das Laken beult sich einmal, erneut trifft etwas von innen den Stoff, ein dunkler, nasser Fleck bildet sich, wird größer, eine letzte Bewegung.

Fasziniert blicke ich auf den feuchten Fleck und sehe erst spät, dass sich ein dunkler Schopf oben unter dem Laken hervorgeschoben hat. Britta sieht zu mir herüber. Erschrocken schließe ich sofort die Augen, lasse mich los und erwecke den Eindruck, als schliefe ich. Erst als die Tür zum Bad knallt, merke ich, dass ich tatsächlich noch einmal eingeschlafen bin.

Einer nach dem anderen rappelt sich auf, geht unter die Dusche. Beim Anziehen gibt es in der Gruppe plötzlich neue Rollen. Nina zieht sich im Bad um, Britta stellt sich ans Fenster. Ihre Pyjamahose gleitet zu Boden. Ein dunkler Streifen im Dreieck blitzt auf. Ihr Oberteil bedeckt gerade den Nabel. Viel zu viel Britta. Britta nervt, Britta ist eine dumme Nuss, kein geiles Model. Mit leicht auseinander gestellten Beinen steigt sie aus der Pyjamahose, greift zum Höschen neben sich. Ungeniert. Ohne Scham.

Ich schlüpfe in mein T-Shirt, als sich Britta den Slip anzieht. Ein letzter Blick. Das T-Shirt nimmt mir die Sicht. Eine Sekunde später zieht sie sich das Pyjamaoberteil über den Kopf. Keine Spur von Verlegenheit. Sie lächelt, ich lächele zurück, viel mehr Verlegenheit in meinem Blick als in ihrem.

Ein Blick auf die Uhr. Frühstück ist im Preis nicht inbegriffen. Wir wollen uns auf dem Weg ein Croissant holen. Die Zeit wird knapp. Um aus dem Zeltlager wieder ein Hotelzimmer zu machen, brauchen wir zu lange. Wir rennen, mit klappernden Rucksäcken, keuchend, fluchend, zur Metro.

Ich schimpfte auf Nina, die viel zu langsam ist. Christian motzt mich an, warum ich alles auf sie schiebe, Britta weint, weil sie den Stress nicht aushält, Florian bleibt ruhig. Ich pule den schlaffen Rest der Blase vom Handrücken, die Haut darunter ist blutig-rot mit gelblichen Stellen. Mir wird schlecht.

Die ganze Eile hilft nichts, wir verpassen wir den Zug nach La Rochelle um fünf Minuten. Erst schmollend und schließlich versöhnlich suchen wir uns ein neues Ziel auf der Karte. Die Temperatur ist durch die Klimaanlage weit unter 20° geregelt, so dass ich fröstele. Wie wäre es mit Sonne?

Von Arcachon habe ich noch nie gehört. Aber laut Reiseführer gibt es dort eine der größten Wanderdünen Europas. Zeit, das Zelt aufzubauen. Zeit für den Strand. Zeit für Tagträume auf der Zugtoilette.

Brüste, gesichtslos, Hintern, gespreizte Schenkel, die Frauen aus meinen Heften im Bettkasten, die geilen Szenen aus den Pornofilmen. Wenn jetzt jemand reinkommt, die Frau aus der Sitzreihe vor uns, das Mädchen neben mir, Nina. Das Waschbecken in der Zugtoilette nimmt alles auf.

Erleichtert setze ich mich wieder. Riechen meine Hände nach Lust? Unauffällig schnüffele ich. Oliver blättert in einem Reiseführer. Der Überdruck, der bei der Einfahrt in einen Zug entsteht, schmerzt in den Ohren. TGV - das ist eine ganz neue Erfahrung. Ein Hochgeschwindigkeitszug. Fantastisch.

 

 

Fahrscheinkontrolle

 

Als Interrailer interessieren dich nicht die teuren Touristenziele. Die Promenade, das Kulturhaus, das Casino. Du interessierst dich dafür, wo du dein Zelt aufbauen, billig einkaufen und Postkartenfotos machen kannst. Nur ansehen, da sein und wieder weg. Du bist eigentlich kein richtiger Tourist. Du bist wie ein Geist, kaum materialisiert. Du hinterlässt kein Geld, keine Spuren, nur den Geruch ungewaschener Socken und Schweiß. Dich sehen nur die Geister aus deiner eigenen Interrail-Welt. Für die anderen bist du unsichtbar.

 

1.

 

Wir steigen in Bordeaux vom TGV auf die Regionalbahn um und erreichen kurz darauf Arcachon. Meine Schritte sind trotz ihrer Last leicht. Ich trage meinen Rucksack gerne, atme frische Luft und Freiheit. Sonne auf graublauem Meer, weiße Gischt. Nur kurz halten wir uns im eigentlichen Zentrum von Arcachon auf, erledigen ein paar Einkäufe und essen ein Eis an der Promenade.

Ich esse die Waffel bis zum Schluss. Meine Mutter ermahnte mich früher immer, ich solle die Spitze der Eistüte nicht essen, die hätten die Eisverkäuferinnen mit ihren schmutzigen Händen angefasst.

Aus Prinzip esse ich jetzt alles auf. Ich bin nicht mehr zuhause, ich bin unterwegs. Was für ein merkwürdiger Gedanke, was für eine minimale Form des Protests. Anschließend setzen uns in den Bus die Küste hinauf zur Dune de Pyla.

Im Bus grinst Nina unsicher. Paris war keine gute Etappe für uns zwei. Ich habe das Gefühl, mich bei ihr entschuldigen zu müssen, doch ich weiß nicht wie. Also lasse ich es lieber sein.

 Nach einer knappen Stunde finden wir endlich einen Campingplatz, der noch zwei Plätze für unsere Zelte hat. Unter rauschenden Kiefern, auf sandigem Boden, zwischen anderen Interrailern und Billigtouristen jammert Nina über den schweren Rucksack, legt Britta bereits wieder ihren Ich-bin-genervt-Blick auf. Christian und ich ahnen, dass Oliver und Florian zu lautstark ihre Begeisterung für ein hübsches Mädchen äußern, das mit einem knappen Bikini bekleidet vor ihrem Zelt in der Sonne liegt.

Britta ist lächerlich in ihrer Eifersucht. Wie ein Kind, das nicht akzeptieren will, dass der Schneemann am Ende des Winters schmilzt.  Er spielt mit ihr. Und sie ist nur zu gerne sein Spielzeug.

 Vorerst jedoch kehrt wieder Ruhe ein. Britta und Oliver wechseln kein Wort miteinander, als wir die Zelte in einer abgelegenen Ecke des Campingplatzes aufstellen. Das Areal geht hier schon in die Ausläufer der großen Wanderdüne über, dementsprechend sandig ist der Boden. Doch da das Meer jetzt nur wenige Meter entfernt ist, nehmen wir bis auf Christian gerne in Kauf, dass die Heringe andauernd herausrutschten. Aber mit einem lauwarmen Bier kommt auch er darüber hinweg.

Der Wind weht kühl von Westen. Dass uns etwas sehr Wichtiges fehlt, fällt uns bei der Planung des Abendessens auf. Ravioli im Shop des Campingplatzes. Kein Dosenöffner. Unter einer Kiefer am Grillplatz öffnen wir die Dose mit dem Taschenmesser.

 »Wer hat den Gaskocher?«, frage ich. Und niemand weiß die Antwort. Auf einem Holzfeuer werden die Ravioli lauwarm. Asche auf Tomatensoße. Das Baguette ist alt, der Käse zu wenig, das Bier zu teuer. Kein schöner Abend. Die Luft wird schnell kalt.

Später am Abend gehen wir in den Fernsehraum der Campingplatzkneipe, um Fußball zu gucken. Die Mädchen wollen lieber reden und hocken schlecht gelaunt auf den weißen Plastikstühlen.

Wir erleben, wie im Finale der Europameisterschaft die Deutschen von den Dänen eins auf die Mütze bekommen. Es ist mir egal. So egal wie der Gewinn der Weltmeisterschaft vor zwei Jahren. Soll ich Begeisterung dafür zeigen, wie sich 22 Millionäre eine Lederkugel zuschieben? Was geht mich ihr Gewinn eines Spiels an? Habe ich etwas dazu beigetragen? Hat es für mich eine Bedeutung?

 Ich konnte damals nicht nachvollziehen, warum nach dem Spiel überall in Hupkonzerte veranstaltet wurden, und ich kann es heute nicht. Ich fühle mich so ausgebrannt, so teilnahmslos und gleichgültig.

Mir ist auch egal, ob wir einen Gaskocher hätten mitnehmen müssen, die Heringe aus dem Boden rutschen oder sich Nina und Christian streiten. Was geht mich das an? Was kann ich ändern? Löst es mein Problem? In der Halbzeitpause verschwinden Britta und Nina, wütend, enttäuscht, einsam.

Wieso sind wir nicht zu viert gefahren? Wieso mussten wir sechs sein? Angst vor zu viel Nähe? Davor, dass wir uns nichts mehr zu sagen haben? Ich werde den Gedanken nicht ganz los, dass es meine Idee gewesen war. Oder die von Britta.

 

2.

 

Nach dem Spiel sitzen wir vor unseren Zelten. Chris und Nina versöhnen sich. Flo baut uns einen Joint, den wir jetzt kreisen lassen. Sogar Britta nimmt einen Zug, doch ich glaube, dass sie nur Oliver etwas beweisen wollte. Zu sechst zu fahren ist schon okay.

Nina fragt mich nach meiner Wunde an der Hand. Die wässrige, blutige Schicht ist angetrocknet, eigentlich brauche ich ein Pflaster. Andererseits ist es mir auch egal. Ein kreisrundes Loch auf meinem Handrücken. Es brennt leicht und die Haut spannt, wenn ich eine Faust mache. Aber dann mache ich eben keine Faust.

Ich weiß nicht, warum Oliver auf einmal von einer entfernten Bekannten redet, die am Borderline-Syndrom krankt, aber ich denke, er spielt auf Britta an. Oliver sagt, die Person habe ein Problem mit Nähe und Distanz, würde zwischen übertriebener Zuneigung und Ablehnung schwanken. Natürlich meint er Britta. Borderline. Ein Name für eine dumme Nuss.

»Du meinst Klammern, obwohl die Beziehung schon zu Ende ist?«

Oliver zuckt mit den Schultern. »Das auch. Das ist die irrationale Vergötterung einer Person.«

Britta reißt die Augen auf wie ein erschrockenes Reh im Scheinwerferlicht. »Du hast versprochen, mich zu heiraten.«

 »So was sagt man halt als Mann«, sagt Christian.

 »Wann hat er es denn gesagt?«, fragt Florian.

 »Spielt das eine Rolle?«, fragt Nina. Ich zuckte mit den Schultern. Oliver grinst, unsicher zum ersten Mal, und zugleich arrogant. So jedenfalls kam es bei Britta an.

 »Als wir miteinander geschlafen haben.«

 »Da sagt man eben solche Sachen«, sagt Christian. Ob er sich da nicht ins Fettnäpfchen setzt? Er braucht Hilfe.

 »Ich kenn das. Als ich mit Verena zusammen war, habe ich ihr auch gesagt, ich würde sie lieben.«

»Ach, und das stimmte nicht?«

»Ich hab sie gemocht, mehr nicht. Aber in diesem Moment hatte ich das Gefühl, sie würde erwarten, dass ich ein wenig mehr sage als nur das.«

Wind rüttelt sekundenlang ungestört am Zelt. In der Ferne ganz sicher Lachen. Vielleicht auch das Rauschen des Meeres.

 Britta sieht das natürlich anders.

»Aber du hast es mir doch versprochen«, ruft sie und springt auf. Ihre Stimme bricht sich in den ersten Tränen. Oliver holt Luft. Mir ist nach Lachen zumute. Borderline. Wie geil ist das denn?

 »Britta«, sagt Nina mit quengelnder Stimme, erreicht ihre Freundin damit jedoch nicht mehr. Sie steigt über mich hinweg. Unter dem Stoff ihrer Hose zeichnet sich ein schmaler Slip ab. Der Reißverschluss des Zeltes knarrt. Hoffentlich bleiben die Mücken draußen.

»Ach Britta«, sagt Florian matt. In seinen Augen blitzt es. »Wer heiratet denn heute noch?«

Ich lache in meinen Schoß. Draußen vor dem Zelt knirscht Sand. Das Schluchzen geht im Heulen des Windes beinahe unter und entfernt sich ebenso rasch wie die Schritte. Wind fährt zwischen die Zeltbahnen. Die Taschenlampe im Dachfirst schwankt.

 »Toll«, sagt Nina. »Und jetzt? Immer muss ich hinter ihr herlaufen.«

 »Du bist eben auch `ne Frau«, sagt Christian. In seiner Stimme liegt unverhohlener Sarkasmus. Oder ist es Unsicherheit? »Du verstehst sie halt am besten.«

 »Was gibt es denn da nicht zu verstehen?«

Zum Beispiel die Tatsache, wie jemand so naiv sein kann? So schwer von Begriff? So irrational? Wie kann man mit einem Jungen unter der Bedingung schlafen, dass dem Sex die Heirat folgt? In welchem Jahrhundert lebt dieses Mädchen denn?

»Los, Ralf«, sagt Nina unvermittelt. »Geh du doch.«

 Das sitzt. »Nee«, entfährt es mir erschrocken. Eine Sekunde lang will ich mich in meinem Schlafsack verkriechen. Dieses Problem geht mich nichts an. Der Impuls ist stark, doch ich bin nicht mehr zehn Jahre alt. Das zieht nicht.

 »Wieso ich?«, frage ich stattdessen. Bestimmt hockt sie ein paar Meter entfernt heulend in den Dünen und kommt zurück ins Zelt, sobald die ersten Tropfen fallen. »Die kommt doch eh gleich wieder.«

Ich kann mich doch überhaupt nicht in Britta hineinversetzen. Viel zu tief das fremde Gefühl, viel zu ernsthaft. Und wo bin ich überhaupt in dieser Sache? Kann mir die Beschäftigung mit Britta bei der Lösung meiner Probleme helfen? Bestimmt nicht. Dennoch besteht Nina darauf. Christian auch, und Oliver und Florian ebenfalls.

Wenn ich ihr folge, ihr nachgehe und mich um sie kümmere, was dann? Was soll ich ihr sagen? Muss ich das überhaupt? Ist doch so klar. Er liebt sie nicht. Schluss. Aus. Dumme Nuss. Ächzend erhebe ich mich, theatralisch, unsicher. Ob es schon regnet?

 Die Nacht ist total. Nur von den Duschen im Kiefernwald dringen ein paar Lichter auf die Düne. Nach ein paar Metern schon verschluckt die Dunkelheit jedes Sandkorn. Der Wind rüttelt an meinen Shorts, am T-Shirt, zerzaust meine Haare. Das Meer rauscht in der Ferne. Ich folge den Spuren im Sand und bin mit wenigen Schritten schon in den Sandwällen. Mir peitschen die ersten Tropfen ins Gesicht. Der Sturm hat zugenommen. Am Horizont reißen Blitze die Wolken in Scherenschnitte. Sekunden später rollt Donner.

Die Düne steigt noch leicht an und fällt dann steil ab bis zum Meer. Sand quietscht zwischen meinen nackten Zehen. Er ist bereits kalt und feucht. So ein Quatsch. Abgesehen davon, dass ich sie gar nicht finden werde in der Dunkelheit, hält sie es bestimmt nicht lange hier aus. Viel zu kalt. Viel zu stürmisch.

 Spät erkenne ich den Schatten auf dem hellen Sand und stolpere beinahe über die am Boden hockende Person. Britta hat die Hände auf die angezogenen Knie gelegt und den Kopf darin vergraben. Ihr Köper zuckt. Als der Wind urplötzlich dreht, weht mir Schluchzen entgegen. In der Dunkelheit sind ihre langen Haare schwarz statt braun.

 »Britta«, sage ich und hocke mich neben sie in den Sand. Wieder Blitz, noch schneller der Donner.

 »Hau ab.« Die Hälfte der Schärfe bleibt zwischen ihren Händen kleben.

 »Ich bin es doch, der Ralf.« Sehr clever. Besser sind Witze. Genau die sind jetzt nötig. »Ich bin’s doch nur, euer Otto«, füge ich hinzu. Ob sie das versteht? Kennt die ganzen Otto-Witze der Siebzigerjahre überhaupt jemand außer mir? Niemand versteht mich. Ich bin nur der Kasper, der Clown, der alle zum Lachen bringt. Aber niemand will wissen, wie es in mir aussieht. Alle oberflächlich, außer mir.

Obwohl dichte Regenwolken den Mond verdecken und uns kein Licht vom Campingplatz erreicht, ist es nicht mehr stockdunkel. In immer rascherer Folge blitzt es über dem Meer. Der Sturm peitscht den grauen Ozean unter uns schaumig. In der Ferne blinkt das Licht eines Leuchtturmes, rechts von der Düne schimmern die Lichter von Arcachon.

Meine Hände fühlen sich an, als hingen an ihr mindestens fünfzehn Finger, steif wie Essstäbchen und unfähig, sich auf den Rücken eines weinenden Mädchens zu legen. Immer mehr Tropfen peitschen mir ins Gesicht. Meine Füße sind kalt.

 Noch immer vergräbt Britta ihr Gesicht in den Händen. Vorsichtig strecke ich die Hand aus. Vielleicht will sie tatsächlich in Ruhe gelassen werden? Der Fluchtreflex wird groß. Wo bin ich in dieser Sache? Ich? Ich will mich umbringen, weil die Welt scheiße ist. Nicht Britta. Ich will die Schule abbrechen und in die Kommune meines Vaters ziehen. Nicht Britta. Ich habe wirklich existenzielle Probleme. Britta hingegen ist einfach nur naiv. Dumme Nuss. Aber jetzt bin ich hier, und ich kann ohne eine gute Ausrede nicht zurück ins Zelt. Acht Finger legen sich auf ihren Rücken. Ihr T-Shirt ist feuchtwarm.

 Britta hebt den Kopf. Ihr Gesicht ist ein grauer Fleck in der Dunkelheit. Ein trauriger, grauer Fleck, von Tränen ausgewaschen. Ich nehme meine Hand zurück, erschrocken und unsicher. Sehr nahe zuckt ein Blitz, Donner rollt unmittelbar darauf. Dann kommt der Regen. In dicken, schweren Tropfen entlädt sich das Unwetter. Es prasselt, rauscht, peitscht auf uns herab. Von einer Sekunde auf die andere ist mein T-Shirt nass. Auch Britta klebt das rosa Hemd am Körper.

Sie trägt nichts darunter. Die Brustwarzen bohren sich durch den nassen Stoff. Mein Herz schlägt auf einmal viel zu schnell für diese dumme Nuss. Meine Hände wissen nicht, wo sie bleiben sollen. Über uns donnert und blitzt es. Nasser Sand klebt an meinen Füßen. Meine Schulfreundin im Regen. Liebeskummer am Strand. Von mir keine Regung.

Es fühlt sich falsch an, künstlich, wie in einem fernen Traum.

Der Regen schwemmt uns zurück zu den Zelten. Wir werden beide erwartet. Nina spricht von Sorgen, Florian macht ein paar spitze Bemerkungen über unsere schmutzigen Sachen und ein angebliches entspanntes Lächeln auf Brittas Gesicht. Bald darauf legen wir uns schlafen, und während der Sturm über dem Campingplatz tobt, spüre ich die Nähe meiner Freunde. Florian riecht nach Rauch und Oliver kratzt sich schläfrig unter dem Gips. Der Gips, den er beim Ficken vor ein paar Tagen in die Luft gehalten hat wie eine Keule. Ich würde ihm gern sagen, dass ich seinen Schwanz gesehen habe. Und wie er Britta gefickt hat. Vielleicht würde er sagen: Willst du ihn mal anfassen?

Oh Gott, wenn mich meine Mutter hören würde. Wie mein Vater. Plötzlich schäme ich mich für diesen Gedanken und taste nach der Wunde auf meiner Hand. Der Schmerz ist fein. Viel zu schwach, um mich wach zu halten. In dieser Nacht gehen wir schwimmen im Meer, ohne dabei auf die Strömung achten zu müssen. Wir tauchen zwischen den Klippen, die man von oben nicht sieht, und fragen uns, was man bei einem Haiangriff macht. Gegen Abend, als das Gewitter kommt, berühre ich Britta im Regen, gleiten meine Hände unter das T-Shirt berühren ihre spitzen Brüste. Doch ich fühle nichts. Chris sagt, das sei doch, was ich wolle, ohne seine Lippen zu bewegen. Ich weiß, dass sein Schwanz so groß ist wie der von Oliver, nein, sein Hintern ist knackiger, und sein Sixpack und statt im Regen zu den Zelten zu gehen, wälzen wir uns im nassen Sand, lutschen an unseren Lippen, streicheln und verschlingen uns beinahe und Christians Schwanz ist viel härter als meiner. Die Regentropfen prasseln auf uns herab. In der Ferne singt ein Kinderchor das Lied vom Bruder Jakob.

»Geh ihr nach«, sagt Nina. »Sei lieb zu ihr.«

»Ich kann nicht.«

»Warum nicht?«

Sie hat die Beine im Wasser. Der Zug fährt bestimmt ohne mich zum Eiffelturm. Der Schlafsack war viel zu teuer, die Sonnenbrille und der Schlafsack, den ich mich bei einem Straßenhändler gekauft habe.

»Ich hab nicht einmal einen Dosenöffner.«

Und noch während wir mauscheln, fliege ich mit ausgebreiteten Armen in das Tal hinab, das so grün ist und so tief, dass ich Angst bekomme, wir verpassen den Zug. Es ist so logisch. So logisch.

»Aaah, jaaah«, keucht Britta. »Schieb deinen Hering in den sandigen Boden.«

 Meine Stöße werden schneller und ihr Stöhnen lauter. Klatschen, mit dem sich unsere Hüften treffen, ihre Hinterbacken wackeln bei jedem Stoß. Dabei ist Maike auch Nina, oder nicht? Oder Britta?

Die Brandung donnert. Ich berühre weiche, warme Haut, so sanft und rein und glatt, dass es mich beinahe um den Verstand bringt, als ich aufwache, schwitzend und atemlos, und neben mir auf der einen Seite liegt Florian, der regungslos und hässlich schnarcht. Auf der anderen Seite die tiefen Atemzüge von Oliver.

Regen, ich hab vom Regen geträumt, weil es vorhin geregnet hat, und von Britta, weil ich ihr nachgelaufen bin. Alles in meinem Traum hat einen Sinn ergeben, er ist so nachvollziehbar. Die Haie, der Sex mit Britta. Und dann war da noch Chris. Mein Herz klopft. Peinlich. Mein bester Freund. In der Ferne rollt ein letzter Donner, der Regen lässt nach. Ich lege mich wieder hin und schlafe ein.

 

3.

 

Am nächsten Tag steht die Sonne an einem stahlblauen Himmel und es ist schon morgens heiß. Das Frühstück besteht aus Baguette aus dem Shop des Campingplatzes und schlechtem Joghurt mit künstlichem Bananengeschmack.

Mir ist mein Traum von letzter Nacht noch immer peinlich, von Christians Schwanz und der Lust, die ich gespürt habe, in der Nacht. Der Gedanke ist diffus. Träume faszinieren mich. Manchmal schreibe ich mir meine Träume auf, weil ich versuche, die Logik dahinter zu erkennen. Mich fasziniert dieses Chaos im Kopf.

Im Traum stimmen Zeit und Raum selten überein. Von einer Szene zur nächsten ist es meist nur ein Blinzeln. Eben noch am Pinkelbecken und in der nächsten Szene am Strand. Personen mit fremden Gesichtern sprechen vertraute Sätze. Christian sieht aus wie Florian und ist doch Christian, das wird im Traum zur Gewissheit.

Töne verschwimmen, Bilder verwischten, ein Chaos von zeitlichen Abläufen und emotionalen Verbindungen. Ich kann fliegen, kämpfe gegen Zombies, küsse die Traumfrau und stehe nackt in der Schule. Im Traum weiß ich Dinge, statt sie zu erfahren, im Traum verarbeite ich reale Ereignisse und stelle sie um.

Der Traum hat seine eigene Logik. Im Traum passierten Dinge, die sonst nicht passierten, unkoordiniert und oftmals gegen die Naturgesetze.

Und selbst wenn es in einer Sekunde so absolut realistisch wirkt, dass die Grenzen zwischen Traum und Realität zu verwischen drohten, so wird im Moment des Aufwachens klar, dass man nur geträumt hat, dass es keinen vierten Teil von Krieg der Sterne gibt oder eine ABBA-Reunion-Tour.

Oliver und Florian beschließen, den Campingplatz zu erkunden und verschwinden, kurz bevor Britta, Christian und Nina, über den richtigen Sonnenschutzfaktor streitend, mich zu einer Mulde in den Dünen begleiten. Ein blondes Mädchen in Bikini und ein durchtrainierter Typ in Badehose kommen uns entgegen. Das ist ja wie bei Baywatch. Er hat Haare auf der Brust. Wie Frank.

Nur eine Armlänge weit gehen sie an mir vorbei, ihre Brüste wippen unter dunkelblauem Stoff und in seiner Badehose ist die Beule nicht zu übersehen. Wo kommen sie her? Wo gehen sie hin? Den letzten Blick über meine Schulter fangen ihre festen Hintern auf. Christian entgeht der Anblick, darauf achtet Nina mit einem festen Griff um seinen Oberarm. Sein Seufzen ist nur für Männerohren hörbar.

»Die haben die ganze Nacht gesungen.«

»Wir hatten Angst«, erwidert Britta.

Christian verzieht den Mund. »Kinderlieder.«

»Es hat geholfen. Wir sind schnell eingeschlafen.«

Er zeigt mit einer übertriebenen Geste auf sich. »Ich nicht.«

Ich breite mein Handtuch im Sand aus und lege mich darauf. Chris holt sein Buch aus der Tasche, Nina meckert, er solle sich lieber um sie kümmern, Christian legt das Buch zur Seite und fragt, was er denn machen sollte, und Nina fordert mehr Ideen. Wie immer.

 Britta setzt sich einen Meter von mir entfernt auf ihr Handtuch, holt eine Flasche Sonnenmilch aus ihrem Stoffbeutel und cremt sich die Arme ein, rollt schließlich die Träger ihres bunten Badeanzuges von den Schultern. Macht sie wirklich? Ist sie? Kann denn? Der Stoff rollt sich tiefer, über dunkle Brustwarzen. Gibt es solche perfekten Brüste nicht nur im Film? Auf Fotos? In der Fantasie? Reizüberflutung. Ich muss wegsehen. Das passt nicht zusammen. Britta und diese Freizügigkeit. Das Bild ist schief, unerträglich, wie Fingernägel auf einer Schiefertafel.

 »Britta, so offen?«, fragt Nina, und in ihrer Stimme rollt leichte Verlegenheit.

 »Ja, wieso nicht?«, fragt das katholische Kleinstadtmädchen zurück. Sie schiebt den Stoff bis zu den Hüften herunter und dreht sich um. Ihre perfekten Titten pressen sich in das Handtuch. Ob der haselnussbraune Traum ebenso aussieht unter dem dunkelblauen Bikini? In einem Flashback steht plötzlich wieder ein Bild des Traumes von letzter Nacht vor meinen Augen. Der Regen, und das Gefühl von Angst vor den Haien. Blitzartig ist es da und schon wieder weg, wie eine Wolke, die von einem starken Wind getrieben an der Sonne vorbeizieht.

Ich lege mich auf den Bauch und greife nach meinem Buch. Christian und Nina kabbeln sich noch eine Weile, schließen Frieden und liegen bald knutschend im Sand.

Ich ertappe mich dabei, wie ich nach einer Beule in Christians Badeshorts suche. Gott, ich bin so verkorkst, so versaut, so verdammt. Ich muss wegsehen. Auf die Zeilen in meinem Buch. Auf die Bleiwüste.

Die Lektüre leidet stark unter einem Tagtraum vom Baywatch-Pärchen. Unter dem Traum von ihren Brüsten, ihrem perfekten Po, den glatten, schlanken Beinen und seinen Bauchmuskeln, der Beule in seiner Hose. Die Zeilen verschwimmen vor meinen Augen. Nach ein paar Minuten nur fallen mir die Augen zu. Ich begrabe das Buch im Sand, lege den Kopf auf das Handtuch und döse ein. Als ich aufwache, benommen und durstig, ist Britta verschwunden, ihr Handtuch leer. Chris und Nina legen neben mir. Ist da was in Christians Shorts? Ich nehme mein Buch, schüttele den Sand aus den Seiten und versuche, Stephen Kings Version der Apokalypse zu folgen, doch meine Gedanken schweifen immer wieder ab zu einem wirren Bilderreigen von steifen Penissen und der Penetration gesichtsloser Menschen und ich kann nicht widerstehen.

 Buch, Beine, Seite, Schamhügel, Zeilensprung, Titten. In meinem Hirn juckt die Lust. Sie ist alles, was zählt. Sie hämmert zwischen meinen Beinen im Pulsschlag. Der Wunsch nach Erlösung wird immer stärker. Ich schiele zur Seite. Zu viel Reize. Ich muss für Erleichterung sorgen Sofort. Sonst kann ich nicht mal mehr meinen Namen sagen.

»Ich geh was trinken«, sage ich. Chris und Nina hören mich vermutlich gar nicht. Wie ein Verdurstender in der Wüste schleife ich mich die Düne hoch, bis die Zelte in Sichtweite sind. Lähmende Nachmittagshitze liegt über dem Platz. Ich tauche in meinem Zelt ab. Die Luft ist stickig und riecht nach feuchter Wäsche. Leise will ich den Reißverschluss hinter mir zuziehen, als ich aus Richtung des zweiten Zeltes Stimmen höre.

Wer ist das? Und viel wichtiger: Haben sie mich gehört? Das kann nur peinlich werden. Ich nackt im Zelt auf dem Rücken liegend und Christian kommt herein. Mit offenem Mund lausche ich.

Wer ist das? Britta mit Oliver? Ich robbe wieder hinaus in die Sonne, rutsche quietschend auf Knien durch den Sand zum Zelt von Christian, Nina und Britta.

 Tiefes Brummen und leise, kurze Schreie werden übertönt vom Klatschen aufeinanderprallender Körper. Sind es Bäuche, die gegeneinander reiben?

Ich blicke mich um. Die nächsten Zelte stehen hinter den Bäumen, davor hält sich niemand auf. Irgendwo lacht eine Frau hysterisch. Musik aus billigen Kassettenrecordern, betrunkenes Grölen und Hämmern. Hinter mir unser Zelt, davor offene Fläche, rechts der Weg in den Wald zu den anderen Campern, links die Düne hoch. Zu gefährlich.

Noch leiser als zuvor gleite ich zurück in unser Zelt. Wieder der dumpfe, heiße Geruch. Die Geräusche werden nur unmerklich leiser. Klingt das jetzt nach Klatschen von Hüften auf ein Hinterteil? Kniet Britta? Nein, zu verklemmt. Britta kniet nicht, die kennt nur die Missionarsstellung.

Ich greife in die Hose und genieße das süße Kitzeln.

Auf einmal Schritte im Sand. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Rasch ziehe ich die Hose hoch, lege mich auf die Seite, verdrehe den Kopf und spähe vorsichtig durch eine kleine Lücke im Reißverschluss. Doch nicht Britta ist gekommen, sondern Chris. Er steht wie angewurzelt zwischen den Zelten in der Sonne.

 Ich höre ihn leise etwas sagen, aber ich verstehe es nicht. Er tritt erschrocken einen Schritt zurück. Für einen Augenblick ist nur das Stöhnen von Oliver und Britta zu hören.

Was, wenn er ins Zelt kommt? Mein Freund Chris, mein bester Freund. Ich will meine Manipulation fortsetzen. Will das Jucken auskosten, den Blitz beim Orgasmus, die Mattigkeit danach. Ich kann nicht anders. Sofort greife ich wieder zu. Doch statt meine Augen zu schließen und mich ganz der Fantasie hinzugeben, starre ich weiter durch die Lücke zwischen Reißverschluss und Zeltbahn hinaus zu Chris.

Er dreht den Kopf, starrt über den Sandwall zum Campingplatz. Er versteckt ein überraschtes Lächeln hinter seiner Hand und sieht hinüber zum Zelt, aus dem das Stöhnen tönt. Ist ihm das denn nicht peinlich? Also ist er doch jemand, einer wie ich, bitte, sei einer wie ich und greif in deine Shorts. Nein, mach das nicht, doch, nein, ich weiß nicht.

Meine Hand berührt leise, rhythmisch meinen Bauch. Ob er es hören kann? Unsere beiden Freunde im Zelt machen eine kurze Pause, und sofort geht es weiter, ertönt wieder das Klatschen.

Ich denke an Théo und die Figuren aus meinem Buch und an die haselnussbraune Schönheit, an die Beule in Christians Hose. Nein, so ein Quatsch. Ich presse die Augen zusammen und genieße meine Hand. Wenn er jetzt hereinkäme und mich erwischen würde…

Verdammt. Als ich zum Zelt hinaus starre, durch die kleine Öffnung im Reißverschluss, steht Chris immer noch da, mit einer dicken Beule in seinen Shorts. Was für eine Beule, wie Olivers Schwanz. Britta und Oliver treiben es härter als zuvor. Ich kann es förmlich sehen.

Nein, Théo vögelt die rothaarige Nina, nein, nicht Nina, wie hieß sie im Buch? Ich kann mich nicht konzentrieren, kann an nichts Anderes mehr denken als an die Geräusche von nebenan. Keuchend starre ich durch die Lücke hinaus zu Chris.

Verzweifelt versuche ich, mir das Mädchen aus den Dünen vorzustellen, und schließlich, kurz vor dem Höhepunkt, kniet sich das Mädchen in den Dünen hin, streckt mir ihren Hintern entgegen, die Knie leicht auseinandergestellt. Doch sie trägt Shorts und sieht aus wie mein bester Freund.

Nur noch ein paar Sekunden. Das Jucken ist köstlich, einzigartig, herrlich. Britta presst Worte zu einem lustvollen Flüstern zusammen. Flüstert sie, wie sehr sie Oliver liebt, und dass er noch ein wenig so weitermachen soll? Oder kann sie auch anders, keucht sie obszöne Worte zwischen den Zähnen hervor?

Mein Sperma landet im hohen Bogen auf meinem Schlafsack. Stimmen werden laut. Jemand kommt von hinten aus dem Wald. Chris schreckt auf. Dann sehe ich nur noch Schlieren. Weiße Ströme laufen kochend über meine Hand.

Rasch wische ich es mit meinem Schlafsack auf und hoffe, dass mein Sperma geruchlos in der Hitze trocknet. Dann genieße ich die Mattigkeit. Als ich wieder aus dem Zelt krieche, ist Christian verschwunden. In der Ferne rauscht die Brandung. Die Zikaden scharren mit den Beinen. Benommen kehre ich zurück zu unserem Lagerplatz.

Christian liegt neben Nina auf seinem Handtuch, als sei nichts geschehen. Doch warum liegt Britta auch dort, die blanken Brüste in den Himmel gereckt. Müsste sie nicht im Zelt liegen und sich das Sperma von den Brüsten wischen?

»Wach auf«, sagt sie, ohne die Lippen zu bewegen. Ich lächele stumm und greife nach meinem Buch. Mein Kopf ist klarer, der Druck ist vorerst weg. Aber wenn sie hier liegt, wer hat dann im Zelt gefickt?

»Der hat anscheinend feucht geträumt«, brummt Florian. Ja, Florian.

Doch warum muss ich immer an Chris denken? An seinen dunkelbraun gebrannten Hintern. Schwarzbraun ist die Haselhoff. Hasselhoff. Baywatch, Hügel, unter rotem Badeanzug. Zug nach Madrid.

Kalt. Ich schrecke hoch.

Florian steht in der Sonne, lacht, zieht die Hand mit der Wasserflasche zurück. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter. Das Wasser hinterlässt Flecken auf meinem Handtuch. Besser Wasser als Sperma.

»Ihr seid ja fies«, ruft Britta.

Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich nach meiner Rückkehr noch einmal geschlafen habe. Nachdem ich gehört habe, wie im Zelt jemand gefickt hat. Wer war das jetzt? Oliver und? Oh, mein Gott, ich habe Oliver und Florian beim Ficken belauscht. Es kann niemand anderes gewesen sein. Chris stand vor dem Zelt und Britta lag noch da, als ich zurückkam.

Christian und Nina lachen, Oliver grinst hämisch. Er steht nicht nur auf Mädchen, er steht auf beide. Wie kann man nur so einen Erfolg bei Frauen haben. Und dann hat er auch noch einen so perfekten Schwanz.

So ein Arsch.

 

4.

 

Den Rest des Tages verbringen wir in der Sonne. Nina versucht, ihrem blassen Teint etwas Farbe zu geben, doch sie wird nicht braun. Christian und Florian beklagen sich über das warme Bier, dass auch in einer Plastiktüte im Wasser nicht kalt werden will. Nur Oliver scheut den Sand, weil er Angst hat, er dringe in seinen Gips ein. Zudem ist er gegen Sonne allergisch und außerdem mault er, wir seien langweilig, Strand könne man überall haben, die Kultur der Großstädte sei viel interessanter.

Also hockt er im Zelt, versucht uns beim Lesen eines Buches klar zu machen, dass ihn das nicht befriedigt und will wissen, wann wir die Zelte abbauen und nach Madrid fahren. Anders gesagt geht er uns tierisch auf die Nerven.

Gegen Abend hocken wir uns in die Düne. Das Bier ist noch immer warm. Florian hat wieder einen Joint parat.

»Willst du immer noch nach den Ferien von der Schule abgehen?«, fragt Nina unvermittelt, und ich spüre ebenso plötzlich diese Dankbarkeit. Sie zeigt Interesse an mir. Niemand sonst zeigt dieses Interesse. Ich bin jedem anderen egal.

 »Klar«, sage ich. Der Gedanke, von der Schule abzugehen ist doch mehr als ein Kokettieren mit der Möglichkeit. Die Kommune meines Vaters ist doch eine tolle Alternative, oder nicht? Ich habe nur die Schnauze voll von der Schule. Wenn ich doch nur den Grund dafür wüsste. Christian sieht es eher pragmatisch.

 »Mich kotzt die Schule doch auch an.«

 »Dann geh doch auch ab.«

 »Um dann was zu machen? Lavendel pflücken in Südfrankreich?«

Der Sand ist noch warm und rinnt durch meine Finger. Was willst du machen? Man müsste ihn zählen. Sandkörner zählen ist wie ein Alptraum. Wohin willst du? Ich weiß es nicht.

»Warum nicht? Ja, Lavendel pflücken, alleine sein und diesen ganzen zwischenmenschlichen Kram vergessen können.«

»Das ist doch totaler Quatsch«, sagt Oliver. Na toll. Hat er eine Antwort? Weiß er was, was ich nicht weiß?

Jetzt merke ich wieder, dass ich mir selbst im Weg stehe, unfähig zu erkennen, was mein Problem ist, sofern es überhaupt eins gibt. Ich schwimme in dieser Welt und weiß nicht, was ich hier soll. Meine eigene Unzulänglichkeit ist mir unendlich peinlich.

»Was soll ich denn sonst machen? Professioneller Filmegucker werden? Ich kann doch nichts. Ich kann gar nichts.« Und das Dumme ist, dass ich es ernst meine und zugleich hoffe, mir würde jemand widersprechen.

Die Wunde auf meinem Handrücken ist angetrocknet. Der erste Schorf bildet sich. Ich pule meine Finger blutig, reiße mir die Haut in Fetzen. Irgendwann müssen die Finger doch perfekt sein, rein und ohne Fussel, ohne Makel. Ich träume manchmal davon, wie ich meine Finger in eine Maschine stecke und nach einem schmerzhaften Moment wieder herausziehe, und dann sind die Nägel glatt und schön und ohne Fussel.

»Warum studierst du nichts?«

»Was soll ich denn studieren?«

»Das musst du doch wissen, du musst doch eine Ahnung davon haben, was du kannst.«

»Ich weiß es nicht, okay? Ich weiß nicht, was ich kann, wer ich bin und wo ich hingehöre. Ich kann doch nix, ich kann doch nur Filmegucken, ich bin doch total unkreativ.«

Ich möchte erzählen, wie verzweifelt ich bin und finde keinen klaren Gedanken. Chris gibt keine Ruhe. Warum hält er nicht zu mir?

»Na und? Ich kann auch nichts, aber ich rede nicht so einen Müll wie du.«

Meine Verzweiflung steigt. Ich soll mich um Britta kümmern, das kann ich nicht und will es auch nicht. Ich weiß nicht, was ich will. Ich will nach Südfrankreich, ich will einfach nur weg. Südfrankreich – das klingt von weitem so gut wie die entfernte Brandung. Doch ich weiß, dass es bei Nähe betrachtet auch nur Wasser ist.

»Es ist nicht die Schule. Ich weiß nicht, was es ist. Ich find mich einfach nur Scheiße.« Dabei denke nicht immer nur darüber nach, wie wenig wert ich bin. Aber ich kann es nicht auf den Punkt bringen. Ich will doch nur provozieren und eine Reaktion erhalten. Redet es mir aus, oder ich weiß, dass es stimmt und ich wirklich nichts wert bin, nichts kann, nichts weiß. Wo ist mein Platz in dieser Welt? Nicht einmal heulen kann ich. Mein Gott, bin ich alleine.

»Das stimmt doch gar nicht«, sagt Nina. Christian schaut verächtlich auf sein Bier. Vor uns versinkt die Sonne langsam im Meer. Es könnte romantisch sein. Chris fehlt mir so. Obwohl er neben mir im Sand sitzt, vermisse ich seine mitfühlenden Worte, seine Unterstützung. Wir waren doch wie Brüder.

»Ralf will doch nur auf sich aufmerksam machen«, sagt er. Das tut weh. Nur weil er nicht alleine ist. Der hat doch überhaupt keine Ahnung, wie es in mir aussieht. Das ist Oberflächenkratzen wie Pausenlächeln und die Klausurergebnisfrage.

»Arschloch«, entfährt es mir. Von ihm habe ich mir mehr Solidarität erwartet. Soll ich ihn daran erinnern, wie wir uns jammernd in den Armen gelegen und Friends will be Friends gesungen haben?

»Selber Arsch. Dann geh doch ab.«

»Mach ich auch, Pisser.«

Florian mischt sich ein. »He Jungs, locker bleiben.«

Nina sucht meinen Blick, Christian lehnt sich zurück, bis sich die Zeltbahne beult. Friends will be Friends am Arsch. Jeder ist sich selbst der Nächste. Das Bedürfnis, von den Dreiecksleuchten der Diesellok zu reden, die vor ein paar Monaten auf mich zugerast kam, wird stärker. Diesellok rast heran, Aufprall, Schluss. Keine Verwirrung mehr. Doch ich kann nichts, nicht einmal mich umbringen. Selbstmitleid kann so verletzen.

 Ich sage kein Wort, Britta hingegen zeigt ihr Gespür für unfreiwillige Situationskomik.

»Mir ist das zu hoch«, sagt sie und legt wieder eine Hand auf Olivers Bein. Dumme Nuss. Ich starre vor mich hin und weiß nicht weiter. Ich will Aufmerksamkeit und ich will Antworten. Ich will, dass man mir nachläuft, wenn ich schmollend und ohne Ahnung, was mir fehlt, aus dem Zimmer renne. Dabei fällt mir kein Problem ein, vor dem ich weglaufen müsste. Dieses diffuse Gefühl, dass etwas in meinem Leben nicht stimmt und nicht zu wissen, was es ist, macht mich wahnsinnig.

Christian bekommt einen verbalen Nackenschlag von Nina, ich bleibe allein auf meinem Handtuch sitzen, Florian bietet mir noch ein Bier an und am Ende spielt das alles doch keine Rolle.

Ihr kotzt mich alle an, will ich sagen und ich kann es nicht. Ich kann gar nichts sagen. Ich kann nicht einmal ficken sagen, ich kann nicht sagen, dass ich mir jetzt und hier einen runterholen will, weil mich das glücklich machen würde. Die Wolken, orange im Sonnenuntergang, sehen aus wie ein Fluss in einem Tal. Nina weiß, wovon ich redete.

 »Du spinnst«, sagt Christian nur. Wer von beiden ist mir näher? Keiner. Niemand. Ich bin allein. Mich kann ohnehin niemand verstehen. Und es macht auch nichts, dass mich niemand versteht. Selbstmitleid packt mich in Watte. Ich starre hinaus auf das Meer. Wie sähe es aus, wenn ich Anlauf nähme und spränge? Mit ausgebreiteten Armen, wie ein Fallschirmspringer, hinunter in das Tal, bis ich durch die harte Oberfläche des Flusses schlüge?

Als Britta schon wieder Oliver hinterherläuft, stupst mich Nina mit dem Ellenbogen an. »Warum kümmerst du dich nicht um Britta? Mit Oliver wird sie doch nie glücklich.«

»Sie ist doch gar nicht mein Typ«, sage ich und werde rot. Das passt überhaupt nicht. Perfekte Titten hin oder her – sie ist mir viel zu real, viel zu komplex. Mit ihr kann ich überhaupt nicht umgehen.

Als wir schlafen gehen, liege ich plötzlich am Rand des Zeltes, nicht in der Mitte. Flo und Oliver flüstern. Der Wind rauscht ums Zelt. Irgendetwas drückt im Rücken. Ich muss an den Traum von vor ein paar Tagen denken. Die Frau vom Jugendamt. Man träumt von Dingen, die einen beschäftigen, aber nicht von Menschen, die einem nahestehen.

Der Gaskocher macht die Pizza. Waff. Schirrmann.

Der Wind streicht um das Zelt und die Zikaden zirpen, aber das Rauschen ist ein Rascheln. Etwas berührt mich am Bein. Wieso flüstern die beiden? Nein, sie flüstern gar nicht mehr. Ein feuchtes Klatschen. In der Dunkelheit sehe ich neben mir, in Hüfthöhe, sich zwei Hände auf und ab bewegen, zwei Fäuste, die zwei harten Lanzen umklammert halten, höre Seufzen und Stöhnen und das Rascheln von Schlafsäcken. Flo und Oliver. Neben mir. Scheiße, ist das geil. Ich habe es gewusst, habe sie doch gehört, vorhin, im Zelt, wusste, dass sie miteinander.

Wieder flüstern sie. Es schmatzt leise, feucht, geil, nass, und in meinem Schlafsack wird es eng. Und jetzt sehe ich, dass sie sich nicht nur einen runterholen, nebeneinander. Flo und Chris haben ihre Arme verschränkt. Sie holen sich gegenseitig einen runter. Sie wichsen. Einer den anderen. Scheiße, ist das geil, Ich muss zugreifen, muss auch wichsen, heimlich, damit sie mich nicht hören.

Und wenn schon. Vielleicht lassen sie mich mitmachen, vielleicht darf ich Olivers tollen, großen Schwanz auch anfassen, darf die heiße Stange in der Hand spüren und fühlen, wie sich die Vorhaut vor und zurück bewegt, wie sein Schamhaar meine Haut berührt.

Plötzlich ächzen sie und stöhnen, und es klingt wie das Knarren von Bäumen und das Rauschen des Meeres, und als ihr Sperma auf den Stoff der Schlafsäcke tropft, nachdem es im hohen Bogen durch die Luft gesegelt ist, hört es sich an, als sei eine Handvoll Kiefernzapfen in den Sand gefallen.

Ich spritze auch ab, neben meinen Schulfreunden. Der kleine Tod ereilt mich. Mein Kopf sackt nach hinten. Mir wird schwarz vor Augen. Wieso ist Chris zwischen den Zelten. Gerade haben wir den Gaskocher verstaut, auf dem die Pizza nur langsam warm wurde. Britta ist das haselnussbraune Mädchen, das sich diesmal für mich auszieht. Aber sie hat die Brüste von Britta und den Schwanz von Oliver.

Schwitzend wache ich auf. Im Zelt ist es hell und eng und warm. Der Wind rauscht. Die Morgenlatte drückt.

Florian schnarcht leise. Oliver hält seinen Gipsarm mit der anderen Hand umklammert, als habe er Angst, er könne unkontrolliert um sich schlagen.

Die beiden haben sich in der Nacht tatsächlich gegenseitig mit der Hand… Sich haben nebeneinander, einer den anderen. Oh, Gott, ist das peinlich. Ich kann den Gedanken nicht wegschieben, kann es gar nicht glauben, aber jetzt verstehe ich es. Oliver und Britta – er hat deshalb Schluss gemacht, weil er eigentlich auf Jungs steht.

Auf ihren Schlafsäcken – sind da nicht die Spuren der letzten Nacht, die getrockneten Reste ihres Spermas? Ich kann noch hören, wie es auf den Stoff geklatscht war, kann ihre steifen Schwänze noch sehen, als unscharfe Silhouetten im Halbdunkel. Mein Herz schlägt ganz aufgeregt und ich spüre, wie ich einen Steifen bekomme.

Fuck, die beiden sind echt schwul. Und Florian hat vermutlich gar keine Freundin. Wie soll ich mich jetzt nur verhalten? Wenn meine Mutter das wüsste, hätte sie mich niemals mitfahren lassen.

Die Zeltplane leuchtet wie tausend Glühbirnen. Stimmen hallen durch den Fichtenwald. Dazwischen das metallische Singen von Erdnägeln und Heringen. Die Melodie des Aufbruchs. Langsam weicht die Angst einer Vorfreude.

Es geht weiter.

Unser neues Ziel liegt im Süden.

Nachtzug

 

 

 Wie viel Zeit geht durch die Bewegung verloren? Oder ist die Bewegung das Ziel? Du verbringst fast ein Drittel der Reise damit, aus deinem Fenster auf Orte zu starren, an denen du niemals sein wirst.

Nichts ist auf Reisen so grausam wie der Stillstand. Während du auf deinen Zug wartest, sitzt du an Orten, an denen du nie sein wolltest. In schmutzigen Bahnhofshallen, deren Boden mit Zigarettenkippen bedeckt ist, auf klebrigen Schalensitzen aus gelben Plastik.

So viele Stunden Leerlauf, die du dennoch nicht zählst, weil die Zeit so langsam vergeht, dass auch nach dem Warten noch viel vom Tag übrigbleibt.

 

1.

 

Noch bevor wir die ersten Heringe ziehen, geraten Britta und Oliver in Streit. Heulend zieht sie ab, rennt zwischen den Zelten hindurch und verschwindet im Kiefernwald.

»Die kommt schon zurück«, sagte Oliver gelassen.

Nicole zögert. »Weiß sie, wann der Bus zum Bahnhof fährt?«

»Die hat doch nicht mal ne Uhr. Vielleicht geht jemand hinterher?«

Niemand rührt sich. Chris sieht auf seine Schuhe, Flo starrt in die Sonne und Oliver hebt spöttisch die Augenbrauen. Wir sind eine super Gruppe.

»Ich geh sie suchen«, sage ich zähneknirschend. Zum zweiten Mal muss ich ihr hinterherlaufen. Wieder liegt es an mir. Dabei will ich höchstens zusehen, wie sich die beiden streiten, aber nicht eingreifen, geschweige denn moderieren.

»Wann fährt der Bus?«

»In einer Dreiviertelstunde«, sagt Oliver. Sein Grinsen kann nicht einmal eine Faust zerbrechen. Ich sage, ich käme spätestens zur Haltestelle, kurz vor der Abfahrt, und mir solle niemand entgegenkommen, falls Britta dort bereits warte.

 Im Kiefernwald schwitzt die Nachmittagssonne. Bei den Toiletten ist sie nicht, am Empfangsgebäude werden die Abreisenden ausgecheckt. Zwei junge Typen, eine Familie, vier Jungs, keine Britta. Im Shop - keine Britta. Bei den Toiletten - keine Britta.

Die Zeit versickert zwischen den Kiefernnadeln, in denen meine Turnschuhe im Laufschritt scharren. Im dunklen, nach Harz riechenden Hain - keine Britta. Ich laufe quer durch den Wald, dabei läuft mir der Schweiß die Achseln hinab.

Soll sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst, die dumme Nuss. Weiß sie denn nicht, dass wir einen Fahrplan haben? Schnauze voll. Wütend nehme ich einen schmalen Weg parallel zur Düne, der vom Campingplatz hinunterführt.

Ich renne, bis meine Bronchien brennen, weil ich zurück will zu Chris, weil ich unser Zelt zusammenbauen muss. Und plötzlich sehe ich sie vor mir auf dem Waldweg, den Kopf gesenkt.

Wut keimt auf. Ärger.

»Was machst du? Wir warten auf dich. Komm jetzt mit«, fauche ich. Britta dreht sich um und ich erkenne, dass sie wieder den Tränen nahe ist. Wie zuhause. Immer am Heulen. Frauen können nicht anders. Bei meinem nächsten Fluch brechen die Dämme, und Britta heult verzweifelt.

»Ich will nicht zurück«, sagt sie und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. »Können wir nicht ein paar Minuten reden?«

Ich seufze. Wir setzen uns zwischen die Bäume auf den sandigen Boden.

»Was war denn wieder?«, will ich wissen.

»Ich weiß nicht, er ist so gemein.«

»Ich weiß nicht, warum du ihn nicht einfach abschreiben kannst.«

Britta seufzt und lässt sich nach hinten fallen. Ich bleibe sitzen. Die harten Grashalme pieken. Eine Ameise krabbelt über meinen Turnschuh. Ziemlich rot und groß. Ich schnippe sie mit dem Zeigefinger eine Ameisenmeile weit weg.

»Und wie gefällt dir der Urlaub?«

Sie schweigt viel zu lang. »Ich hab es mir anders vorgestellt«, sagt sie schließlich.

»Mit Oliver?«

Sie nickt. Diesmal finde ich eine Ameise auf der Tennissocke. Ich schnippe sie über den bisherigen Rekord hinaus in die Botanik.

»Du musst vielleicht akzeptieren, dass es vorbei ist«, sage ich. Zu meinen Füßen verläuft anscheinend eine Ameisenstraße. Große, feuerrote Herdentiere stampfen in Reih’ und Glied über den sandigen Boden. Britta kratzt sich am Bein.

»Es kann nicht vorbei sein«, antwortet sie, da sehe ich sie auf ihrem Bauch, auf ihren Beinen, ihren Armen. Den ersten Biss spüre ich an meinem Hintern.

»Ameisen«, rufe ich, bereits auf den Füßen. Britta hebt den Kopf, blinzelt in die Sonne, sieht an sich herunter, springt kreischend auf. Ich klopfe die ersten Ameisen von mir ab, fluche, springe im Kreis, schlage die Insekten von mir herunter.

Britta kommt zu spät auf die Beine, schüttelt sich vor Abscheu, fährt mit den Händen über ihre Hose, kreischt. »Die sind überall. In meinem Oberteil.«

»Zieh es aus«, rufe ich lachend. Was auch immer die Ameisen dazu gebracht hat, sich in ihrem Top einzunisten, es sind keine voyeuristischen Absichten. Britta zerrt ihr Oberteil über den Kopf. Kein BH, natürlich nicht. Ihre Brüste wippen.

Darauf Dutzende ziemlich großer Punkte, die sich hektisch über Wölbungen und Rundungen, über Höfe und Nippel bewegten. Angewidert klatschen ihre Hände auf ihren Körper.

»Die sind auch in meiner Hose«, kreischt sie, und während ich noch versuche, ihr die Ameisen vom Rücken zu schlagen, zieht sie bereits ihre Hosen herunter.

Plötzlich steht sie nackt vor mir, mitten im Wald, tanzt auf einem Bein, dreht sich im Kreis, kreischt und weint und lacht, und meine Hände sind überall auf ihrem Körper.  Meine Finger gleiten durch dunkles Schamhaar ebenso wie über dunkle Brustwarzen, streifen hektisch schwarze, krabbelnde Insekten von gewölbten Pobacken und verweilen viel zu lang auf einem glatten, weichen, warmen Bein.

Und dann sind die Ameisen verschwunden, und Britta steht nackt vor mir, das braune Haar noch immer durch eine Spange gescheitelt, geordnet. Ein krasser Gegensatz zum restlichen Chaos.

Ob es hier einen Platzwart gibt, der nackte Interrailer verhaften? Links irgendwo die Straße, rechts die Bäume, dahinter die Düne. Wir sind allein.

Britta, mit gesenktem Kopf, hebt ihre rechte Brust an, wischt mit der flachen Hand prüfend die Wölbung entlang, tut dasselbe mit der linken Brust, wühlt dann im schwarzen Schamhaar, zieht ihre Finger durch die Pospalte und klopft sich ein letztes Mal die Innenseiten ihrer Schenkel ab. Ich schüttele derweil ihr Top aus.

 »Erst die Hose«, sagt sie. Den Slip aus rosa Baumwolle überlasse ich ihrem prüfenden Blick. In der langen Hose finde ich noch zweiundzwanzig Ameisen, die zwischen Daumen und Mittelfinger verenden. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie Britta ins Höschen steigt, wie der Gummibund über ihre Schenkel gleitet, wie der Stoff die beiden festen Halbmonde bedeckt.

»Das war knapp«, sage ich. »Die hätten dich beinahe gefressen.«

»So groß war die aber nicht.«

»Ich hab auch von Größe nichts gesagt.«

»Vielen Dank, Ralf«, sagt sie, streicht mir über den Arm.

Nach einer letzten schweigsamen Runde machen wir uns auf den Rückweg. Kein Wort über die unerhörte Intimität. Nur ein Witz über Ameisen, die einen Elefanten angreifen und erwürgen wollen.

Als wir bei den anderen ankommen, sind Zelte und Schlafsäcke schon gepackt. Wo wir gesteckt hätten und was da zwischen uns laufe, will Nina wissen. Nichts sei passiert, sage ich, nur die Sache mit den Ameisen.

Das Bild von ihrem Hintern, denke ich, werde ich nie wieder los.

 

2.

 

 Wir verlassen Arcachon mit der Regionalbahn und fahren zurück nach Bordeaux. Immerhin sind wir diesmal pünktlich, was vor allem an unserem Zeitpuffer liegt, den wir trotz der Sache mit den Ameisen gewonnen haben. Zu viel Zeit. Morgens los, um einen Nachtzug zu bekommen. Welch Verschwendung.

Das soll uns die Möglichkeit für einen Besuch von Bordeaux geben, doch Bordeaux reißt mich nicht vom Hocker. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir nicht hier sind, um Bordeaux zu sehen, sondern um weiter zu fahren. Bordeaux ist keine Station, Bordeaux ist ein Zustand. Warum haben die in Bordeaux am Bahnhof keine Schließfächer? Oliver regt sich darüber auf, zu Recht, wie ich finde. Ab und zu sehe ich Oliver an und frage mich, ob er und Flo ein Paar sind und Händchen halten, doch sie lassen sich nicht anmerken, was sie in der letzten Nacht miteinander getrieben haben.

Unser Frühstück holen wir uns aus einem Supermarktregal. Bananenjoghurt aus der Plastikflasche. So etwas kenne ich aus Deutschland nicht. Ich nehme mir vor, in jedem Land, das wir bereisen, in jeder Stadt, in die wir einfallen, Bananenjoghurt aus der Plastikflasche zu kaufen und dazu eine Rangliste zu erstellen. Punkte gibt es für den Preis, für den Geschmack nahe an der Originalbanane und für die Trinkfähigkeit. Ich werde zu einem Spezialisten für Trinkjoghurts mit Bananengeschmack aus der Plastikflasche. Dazu ein Stück Käse und Baguette – perfektes Interrailer-Frühstück.

Nina, Christian und ich bleiben als erstes bei unseren Rucksäcken in der Wartehalle des Bahnhofes, während Oliver, Florian und Britta für ein paar Stunden durch die Stadt laufen.

Ob Chris ahnt, dass er mich gestern beinahe beim Wichsen im Zelt erwischt hätte? Und dass Florian und Oliver nicht einmal damit aufhören konnten, als sie neben mir lagen? Ich würde ihnen so gerne erzählen, dass Florian und Oliver schwul sind, aber irgendwie kann ich es nicht. Ich kann nicht sagen: Die beiden haben sich heute Nacht gegenseitig einen runtergeholt.

Auch wenn es stimmt: Niemand außer mir würde so reden.

Mein Handrücken juckt. Ich kratze um die Wunde herum. Der rote Kreis ist verschorft. Ich habe Lust zu sehen, was darunter ist. Dafür kratzt Nina plötzlich unerwartet an der Oberfläche. Was sie schon wieder reitet. Übertrieben tiefsinnige Gespräche, die mich nerven, weil sie. Weil ich. Ach, ich weiß es nicht.

Nina wechselt das Thema. Mehr als ihre Fragen an sich irritiert mich jedoch die Richtung, die das Gespräch einschlägt.

»Du und Britta, warum eigentlich nicht?«, fragt Nina. Die Worte machen mir Angst. Ich zucke mit den Schultern. Ich kann das nicht. Weil. Sie wohnt so weit weg und ich müsste immer mit dem Fahrrad zu ihr und außerdem heult sie dauernd und sie hat braunes Haar und ist sonst auch so gar nicht mein Typ. Reicht das? Wenn ich das nur sagen könnte.

»Er ist doof«, sagt Christian. Arsch, ich bin doof, weil er. Weil er doch. Ich weiß es nicht. Er hat seine Traumfrau gefunden, ich will keine Kompromisse eingehen. Ich will es einfach und ich will Perfektion. Ich will. Christian setzt nach. »So wird das nie mit einer Freundin.«

Christian meint eine Freundin aus Fleisch und Blut. Es ist nur nicht so einfach. Ich hasse es, wenn man mir sagt, ich müsse mich um jemanden kümmern. Entscheide dich für jemanden. Es ist der Traum von vorletzter Nacht, der mich so erschreckt hat.

Entscheide dich für eine Seite. Ich will es nicht, weil ich nicht weiß, wie ich das machen soll, weil sich meine Arme und Beine in Holzstöcke verwandeln und mein Kopf leer ist und ich nur noch daran denke, mich zu verstecken.

»Ihr habt doch überhaupt keine Ahnung«, sage ich und sehe Christian etwas verschämt an. Ihm habe ich nie von diesem Tag mit der Frau vom Jugendamt erzählt. Aber er hat mich ja auch nie gefragt. Ihn interessiert es nicht. 

Die Sonne steht hoch über dem Bahnhof. Es ist so warm. Ich denke an die Ereignisse von letzter Nacht, der immer wieder wie ein Geisterbild vor mein geistiges Auge rutschen. Florian und Oliver haben sich für eine Seite entschieden. So wie du. Aber ich muss damit leben. Müssen sie das auch?

So wie ich vor vier Jahren? Ich hasse es, mich entscheiden zu müssen. Vielleicht träume ich jetzt deshalb wieder davon. Weil ich. Weil. Ich weiß es nicht. Ich versuche, das Gefühl der Zerrissenheit noch einmal in mir hervorzurufen, die Aussage des Traums, die Überforderung mit der Situation damals, doch ich kann es nicht. Ich muss immer an Oliver und Flo denken und wie sich gegenseitig einen runtergeholt haben.

Ich würde Chris und Nina gerne von diesem Tag damals erzählen, vielleicht verstehen sie mich dann besser. Vielleicht wüssten sie dann, wie wenig ich das kann. Mich für etwas entscheiden. Ich will das nicht, weil jede Entscheidung für eine Sache auch die Entscheidung gegen eine andere Sache ist. Eine Entscheidung, die man bereuen kann.

Am frühen Nachmittag kommen Britta, Oliver und Florian zurück. Britta kann ihre Augen nicht von Oliver lassen und Florian raucht Kette. Ich finde, auf seinem Gesicht liegt ein ironisches Lächeln.

 Christian, Nina und ich gehen los. Der Bahnhof ist zu weit vom Stadtzentrum, wir haben keinen Stadtplan, keinen Plan, keine Ahnung. Nina will nicht so weit laufen, weil sie Angst hat, wir würden nicht zurückfinden. Ich motze sie an.

»Dann geh doch zurück«, schnauze ich.

»Was ist eigentlich los mit dir?«, fragt Chris unvermittelt.

»Nichts«, sage ich. »Aber müssen wir uns immer nach ihr richten?«

Christians Gesicht ist ausdruckslos. Nina bleibt stehen.

»Dann geht doch ohne mich«, sagt sie. Quatsch, denke ich.

»Ohne mich seid ihr doch besser dran«, rufe ich und renne los. Die Stadt kotzt mich an. Ich will zurück auf den Campingplatz, ich will in die Dusche und wichsen. Ich habe Lust, Stand by me zu gucken, den Film über echte Freundschaft, so wie sie sein soll. Wenn ich ihn ansehe, werde ich immer so nostalgisch und fange an zu heulen.

Warum spüre ich nichts mehr?

Ich kaue an den Nägeln. Die blutverkrusteten Fingerspitzen fangen meinen Blick. Das ist nicht sehr effektiv. Für wenig Schmerz gibt es viel Blut.

»Wir sehen uns am Bahnhof«, sage ich und verschwinde, lasse die neiden alleine. Ich weiß, wohin ich gehen muss. Ich renne und hoffe, Chris würde mir folgen, doch je schneller ich durch die engen Gassen laufe, umso unwahrscheinlicher wird es.

Sucht mich, findet mich, folgt mir, wenn euch wirklich an mir liegt.

Irgendwann bin ich alleine unter Franzosen.

Ich schiele hinter mich. Niemand ist mir gefolgt, nicht Chris und nicht Nina.

Ich finde einen Straßenkiosk, der Pornos verkauft, aber das ist nicht, was ich suche. Rossmann, Rossmann, gibt es hier nicht auch so etwas?

Ich haste durch die Straßen, lande auf einem großen Platz. Vor mir ragt eine große Kirche auf, Touristen schieben sich in Massen hinein, Postkartenverkäufer halten vor den Eingängen ihre Ware hoch.

Scheiße, jetzt bin ich doch noch dort gelandet.

Eine Querstraße weiter stürze ich in einen nach Seife und Staub riechenden Laden, in dem in Plastikfolie eingeschweißte Sixpacks Volvic verkauft werden, gleich neben Toilettenpapier und einzeln verpackten Pain au Chocolats, Mottenkugeln und Baguettes. Auf der Fläche zweier Telefonzellen ist hier das Sortiment eines ganzen heimischen Supermarktes vorhanden. Duschgel neben Dosensuppen, darüber Reisekoffer, nebenan ein Kühlschrank mit 1664-Bier und Rotwein.

Zahnbürsten.

Der Mann hinter der Kasse nickt freundlich.

Gewürze.

Ich fische meinen Brustbeutel heraus. Wie viele Francs hab ich noch? Muss ich zum Geldautomaten?

Rasierschaum.

Ich finde einen blauen 50-Francs-Schein unter meinem Reisepass und greife erleichtert zu einem kleinen weißen Päckchen im Regal.

Du Arsch. Was hast du getan? Wieso willst du mehr von deinem besten Freund als nette Worte? Was würde deine Mutter sagen?

Der arabisch aussehende Mann hinter dem Schalter reicht mir lächelnd das Wechselgeld über den Tresen und stopft das weiße Päckchen in eine dünne orange Tüte. Und in diesem Moment, mit der Aussicht darauf, einen klaren Gedanken fassen zu können, wenn ich das Päckchen öffne, geht es mir besser. Eine halbe Stunde später bin ich am Bahnhof. Meine Laune ist gehoben. Ich spiele mit dem kleinen Päckchen in meiner Hosentasche.

»Wo warst du?«

»Bummeln«, sage ich vergnügt. Meine Freunde sehen mich seltsam an. Na und?

Skat. Wir spielen Skat und warten auf den Nachtzug. Bier und Skat. Baguette und Skat. Verlorene Zeit. Jede Sekunde verschwendet, und nichts ist unerträglicher, als auf die Abfahrt eines Zuges zu warten. Du bist noch nicht weg, aber auch nicht mehr da. Dein Ziel rückt nicht näher. Stillstand. Atempause? Wir brauchen keinen Stopp. Wir sind nicht gerannt.

 

2.

 

 Wir bekommen ein 6er-Sitzabteil. In Irun sollen wir in einen Schlafwagen wechseln. Ich höre zum ersten Mal davon, dass die Spanier eine andere Spurweite haben. Natürlich weiß Oliver davon. Arroganter Sack. Ich schlafe irgendwann im Sitzen ein. Ist es okay, an Britta im Wald zu denken? An ihre Brüste und Schenkel? An die Ameise in ihrem privaten Ort? An die enge Öffnung und ihr Schamhaar an meiner Hand? Und ist es okay, dabei eine Erektion zu bekommen? Weil Britta doch. Sie ist.

 Unsanft weckt mich Oliver. Sein Ellenbogen ist spitz und hart.

 »Die spanische Grenze. Pass beim Aussteigen auf. Da hat einer in den Gang gekotzt.«

Wahrscheinlich einer der Engländer. Alle Fahrgäste steigen aus. Mit Gepäck und fragenden Gesichtern. Die Nacht ist lau, großes Gähnen überall. Die Engländer lallen mit Bierflaschen in den Händen. Wir reihen uns ein, bereit, die Ausweise zu zeigen.

Wir sollen 100 Mark zahlen? Weil Spanien eine Möglichkeit braucht, um Expo und Olympische Spiele zu finanzieren? Dafür bekommen wir eine tolle Plastikmütze, auf der VIA’92 steht. Foto. Wir grinsen sauer. Wir sind glücklich bin zum Erbrechen. Britta heult. Ich hasse die Spanier.

Kurz nach zehn schließlich wird der Nachtzug bereitgestellt. Wir bekommen einen Schlafwagen mit jeweils drei Betten auf jeder Seite. Wir sprechen nicht viel. Zähne putzen. Gute Nacht, dann ab unter die Decken. Die Betten sind Liegen. Durch das Geschaukel, das gleich nach Beginn der Fahrt einsetzt, ist kaum an Schlaf zu denken. Das langsame Rattern der Schienen, das Schwanken des Zuges.

Du bist in Spanien. Spanien. Mord im Orient-Express. Kino ist echter. Jeder Film hat mehr Atmosphäre.

Nicht das Fahrgeräusch stört, sondern das ständige Schwanken des Zuges. Links, rechts, vor und zurück. Wir schwimmen geradezu auf den Gleisen, bis niemand mehr weiß, in welche Richtung wir überhaupt fahren.

Bist du wach oder schläfst du? Im Nachtzug unterwegs sein bedeutet, zwischen Tag und Nacht zu reisen, zwischen Start und Ziel, auf einer Zwischenebene. Noch nicht angekommen, und doch schon weg. Kurze Schlafphasen, kurze Träume, Blitzlichter der verschwommenen Realität.

Überall klappert und quietscht und wackelt es. Immer, wenn ich denke, gerade eingeschlafen zu sein, stoße ich mit dem Kopf an. Ab und zu knallt es, wenn ein Zug aus der Gegenrichtung passiert. Der Luftdruck ist zu spüren.

Diese Liege ist nur unbequem, das Kissen zu klein, das Abteil zu kurz. Ich starre zur Decke. Wie lange noch bis nach Madrid? Wie viel Schlaf kann ich noch bekommen? Ich wünsche mich nach Hause in mein Bett und weil ich nicht schlafen kann, tue ich das, was ich immer mache, wenn ich besoffen nach Hause komme und Karussell fahre: Ich hole heiße Bilder vor meine Augen und wichse.

Ich stelle mir vor, wie ich in weit geöffnete Mösen eindringe, in enge Hintereingänge, wie Pobacken gegen meinen Bauch klatschen und ich auf herausgestreckte Zungen spritze.

Auf der Seite liegend, mit dem Gesicht zur Wand, wichse ich, bis mein Saft in das weiße Laken spritzt. Ich bin bereit. Komm, süße Lähmung, mach meinen Körper bereit für die Traumwelt. Ich will zu Morpheus, will Erholung, will nicht mehr schaukeln und schwanken und mit dem Kopf gegen die Stirnwand des Bettes schlagen. Ich will.

Anfangs nehme ich den Ellenbogen nicht richtig wahr. Er bohrt sich in meine Seite, und ich denke nur, dass in dieser Höhe, auf meiner Liege niemand seinen Ellenbogen in meine Rippen drücken kann.

 »Die spanische Grenze. Jetzt geht's in unseren Schlafwagen«, höre ich Oliver sagen. Als ich die Augen öffne, sitze ich in einem normalen Abteil. Und da merke ich, dass ich geträumt haben muss. Wir sind noch nicht über die Grenze.

 »Alles klar bei dir?«, fragt Nina. Ich nicke müde. Die Erinnerung an die Grenze schwebt wie eine graue Wolke in meinem Hirn. Natürlich, ein Traum. 100 Mark dafür zahlen, dass wir die Grenze passieren. Wie absurd, doch im Traum hatte es einen Sinn ergeben. Weil. Im Traum. Ich weiß es nicht mehr.

 »Hast du schon mal einen Traum gehabt, der so echt war, dass du nicht wusstest, dass du träumst?«, frage ich und nehme meinen Rucksack aus dem Gepäcknetz.

 »Sind Träume das nicht immer?«, fragt Nina.

Es ist fantastisch, dass Träume immer eine innere Logik haben. Wenn man in ihnen steckt, ist alles so sinnvoll, ist die Welt, selbst wenn man fliegen kann, kommt es einem nicht unlogisch vor. Oder man denkt einfach nur nicht darüber nach.

Das 6er-Abteil im Schlafwagen ist für uns alleine reserviert. Zwischen den Liegen nur ein knapper Meter Platz. Nicht genug um zu knien, aber um sich vorzubeugen, über eine Person, die darauf liegt. Ich weiß nicht, warum ich gerade daran denken muss, aber der Gedanke erregt mich. Florian dreht einen Joint.

»Du willst jetzt noch rauchen?«

»Willst du bei dem Geschaukel schlafen?«, fragt er zurück. Will ich. Ich brauche meinen Schlaf. Ohne Schlaf bin ich unzufrieden. Dennoch ziehe ich an der Tüte und fliege wieder.

Bald fragen wir, was uns durch den Kopf geht. Wir sind entspannt, nett zueinander. Kein Streit trennt uns, kein Hass in der Gruppe. Vor unserem Fenster zieht die Nacht helle Streifen aus elektrischem Licht. Wir hocken mit angezogenen Beinen auf den unteren Liegen und reichen den Joint weiter. Selbst Britta raucht mit.

 »Welches Mädchen findest du aus unserer Klasse am besten?«, fragt Nina. Ob sie erwartet, selbst genannt zu werden?

 »Sandra«, sagt Florian. Das Mädchen mit den längsten Beinen und den faszinierendsten Augen. Alle finden Sandra am geilsten. Sandra lässt niemanden kalt. Das allerdings beruht nicht auf Gegenseitigkeit. Ich habe mit ihr bislang kein einziges Wort gewechselt. Sandra gehört nicht einmal im Ansatz zu uns. Sie hat ihren Kreis ganz weit außerhalb der Schule. Sie kommt zu keiner Party, steht in der Pause bei niemandem und redet nur mit uns, wenn es sich nicht vermeiden lässt.

 »Und du?«, fragt mich Nina. Mein Herz klopft. Keins, kein Mädchen kann es mit meiner Fantasie aufnehmen.

»Klar, auch Sandra«, sage ich, um meine Ruhe zu haben. Am geilsten sind aber die Personen aus meinen Heften, die Frauen mit den gespreizten Beinen und Fantasienamen darüber und die Männer mit den perfekt geformten Penissen, die ich so gerne lutschen würde.

Gott, wenn die nur wüssten…

Nina ist sich anscheinend nicht sicher, ob sie diese Antwort gelten lassen will. Ich sehe zu Boden. Niemand weiß von meinen Heften und außer mir sieht sich auch niemand Pornos an. Ich weiß es.

 »Mit wem, außer Christian, hast du aus unserem Jahrgang schon geknutscht?«, fragt Florian zurück. Mein Hals wird eng. Die Antwort kenne ich.

»Mit Ralf«, sagt Nina kichernd. Ich grinse verlegen. Christian vergräbt das Gesicht hinter seinen Händen. Ein blödes Thema, auch wenn es für Christian keine Rolle spielen sollte.

Florian horcht auf. »Wann war das denn?«

»Auf einer Party«, erzählt sie und wir beide wissen, dass da außer zwei Minuten Knutschen nie was gewesen war. Ich hatte mich den nächsten Tag am Telefon verleugnen lassen und montags in der Schule tat ich, als kenne ich sie nicht. Damit war das Thema erledigt gewesen.

»Du hast sie nicht angerufen?«, fragt Oliver ungläubig, als hätte ich in der Kirche geraucht. Na und? Sie ist doch gar nicht mein Typ, will ich sagen, auch wenn ich ihren Hintern mag. Ach, was weiß ich.

»Trottel«, sagt er und Florian lehnt sich neben mir auf der Liege zurück. Für Oliver ist das Thema aber noch nicht zu Ende.

»Hast du mit Verena eigentlich geschlafen?«

»Nein, hat er nicht«, bölkt Christian, als wäre es ein Verbrechen. Will er, dass ich keinen Grund mehr habe, mich zu beschweren, dass ich keine Freundin abbekomme? Vielleicht hätte ich es ihm doch sagen sollen.

»Natürlich, hat sie mir erzählt. Und danach hat er Schluss gemacht.«

Nina weiß also mehr als er. Es geht sie eigentlich gar nichts an, aber ich erzähle, dass sie in der Nacht, in der ich sie bereits aus der Wohnung geworfen hatte, schließlich doch zurückkam. Das mit dem Ficken überlasse ich jedoch der Fantasie.

Der Wagen schlingert, und Britta auf der Liege gegenüber, neben Oliver, sieht mich überrascht an. Hat sie mir nicht zugetraut, dass ich mal mit einem Mädchen schlafe? Verena, ihre großen Titten und ihr runder Hintern. Jetzt im Rückblick finde ich sie ziemlich geil. Draußen rast ein Bahnhof vorbei. Er hat den Schalk im Nacken.

»Und jetzt reicht's«, sage ich. Florian kommt mir zu Hilfe.

»Wie oft befriedigst du dich selbst?«, fragt er. Jetzt wird Nina rot.

»Ihr seid doof«, sagt Britta. Ihre Mundwinkel hängen. »Muss das sein?«

»Was schlägst du vor?«

Britta ist anzusehen, dass sie keine Frage parat hat, die sie uns stellen will.

»Können wir das nicht einfach lassen und uns schlafen legen?«

»Du bist ja langweilig«, sagt Chris.

»Ist dir das peinlich?«, fragt Florian dazwischen.

Oliver kennt die Antwort. »Natürlich ist ihr das peinlich.«.

Britta schmollt. »Na und?«

»Unsere Britta ist verklemmt«, grinst Nina und hält sich an ihrer Flasche Kronenbourg fest. Der Zug rattert über eine Weiche. Spanien ist rau.

 »Das sagt die richtige«, blafft Chris und haut ihr den Ellenbogen in die Seite.

 »Wieso?« Nina tut überrascht und grinst doch verlegen ihr Meg-Ryan-Lächeln mit halb geschlossenen Augen.

 »Du bist total verklemmt, wenn es um so was geht.« 

 »Bin ich gar nicht.«

 Britta scheint wie Nina das Interesse an der Unterhaltung verloren zu haben und bohrt einen Finger durch ein Loch in ihrem Pullover.

 »Wenn wir über Sex reden bist du die erste, die das Thema wechselt«, sagt Chris um eine Spur zu aufgeregt. Ich grinse auf die linke Seite der Liege, Florian grinst breit zurück. Wir verstehen uns.

 »Ich möchte auch nicht über Sex reden«, sagt Britta. 

 »Ist doch in Ordnung, wenn ihr verklemmt seid. Die meisten Frauen sind halt so.« Oliver räuspert sich. »Und manche Männer.«

 »Gar nicht«, sagt Britta beleidigt. »Ich hab mich oben ohne an den Strand gelegt. Das ist doch nicht verklemmt.«

 »Und was stört dich dann an dem Thema?«, mische ich mich ein. Vielleicht finde ich dann heraus, warum es auch mir unangenehm ist, meine Privatheit zu teilen. Niemand kann so versaut wie ich sein. Wenn wir weiter darüber reden, werden es alle erfahren und mich dann noch mehr verachten, als sie jetzt schon tun.

 »Das ist doch nicht das Gleiche.«

 »Genau«, sagt Oliver. »Oben ohne am Strand ist was Anderes als über Sex zu reden. Da geht es nämlich los mit dem Verklemmtsein.«

 Britta seufzt. Habe ich jedoch erwartet, sie würde sich jetzt ihren Pullover über den Kopf ziehen und heulen, so sehe ich mich getäuscht.

 »Und worüber wollt ihr reden?«

 »Ich komme da gerne noch einmal auf meine Frage von vor drei Minuten zurück«, sagt Florian im Tonfall unseres Deutschlehrers. »Also. Wie oft befriedigst du dich selbst?«

»Zweimal am Tag«, sagt Chris wie aus der Pistole geschossen.

»Glaub ich nicht«, sagt Florian.

Nina beugt sich vor. »Was machst du?«

»Ich hol mir zweimal am Tag einen runter. Mindestens«, wiederholt er. Ich kann gar nicht glauben, dass wir darüber reden. Wenn sie mich fragen, muss ich lügen, muss ich verheimlichen, dass ich es mir vier, fünf, sechsmal am Tag mache, wenn ich kann, dass ich dabei Pornos gucke und mir den Dildo meiner Mutter in den Hintern schiebe. Sie werden alles erfahren.

Nina ist auf 180. »Genau, und möglichst noch gleich.«

Sie schubst ihren Freund weg, so dass er gegen Britta stößt, die sich weiter in ihre Ecke der Liege drückt.

Doch Chris ist mein Freund. »Nun hör aber auf, als würdest du es nicht auch machen.«

»Kann das vielleicht meine Sache sein?«

»So viel zum Thema verklemmt«, sagt Florian.

»Bin ich nicht, ich kann es euch beweisen«, sagt Nina.

Wir putzen unsere Zähne im Klo. Das Licht flackert. Ich bin müde. Jetzt was essen. Kiffen. Hat sie das wirklich gerade vorgeschlagen? Sollen wir uns auf unseren Liegen alle selbst befriedigen, während die anderen zuhören?

»Okay, wie du willst. Ich mach's mir jetzt«, sagt Nina, als wir uns in unseren Liegen ausgebreitet haben. Sie und Christian liegen ganz unten, in der Mitte liegen Oliver und Britta, Florian und ich nehmen die Liegen ganz oben. Mein T-Shirt ist durchgeschwitzt. Zum Schlafen reicht es. Immer wieder stößt mein Kopf gegen das Ende der Liege. Über mir wölbt sich der Plastikhimmel des Waggons. Zum Glück leidest du nicht unter Klaustrophobie.

»Ich glaub es erst, wenn ich es sehe«, höre ich Christian lachen. Ich starre über die Bettkante. Florian guckt ebenfalls hinunter. Nur das Notlicht über der Abteiltür leuchtet.

Im schaukelnden Zug gewöhnen sich meine Augen an die Dunkelheit, und ich erkenne unter mir die weißen Punkte in Ninas Gesicht, die verblassen und wieder leuchten, erkenne die Bewegung eines Arms unter der dünnen Decke.

»Zeig«, kichert Christian. Er langt über den Gang und zieht dort an der Decke, wo er die Hand seiner Freundin vermutet.

»Hey«, sagt Nina und ich höre etwas wie erregte Spannung in ihrer Stimme. »Erst müsst ihr mitmachen.«

Christian zieht seine Hand zurück. Ich spüre die Erregung. Florian neben mir atmet laut. Ich schiele zu ihm herüber. In der Dunkelheit kann ich seine rechte Hand nicht sehen. Kniet er etwa?

»Los, Britta, mach mit«, seufzt Nina und jetzt sehe ich wieder ihre Hand unter der Decke, sehe ihr rechtes Knie, nackt, im gelben Licht der Lampe, unter der dünnen Decke hervorragen. Britta unter mir starrt zu Oliver hinüber. Der guckt ernster als erwartet.

Britta erschreckt mich. »Guck weg.« 

Ich lege mich auf den Rücken und starre an die Decke. Der Zug schwankt.

»Ralf macht nicht mit«, meckert Florian. Jemand tritt gegen meine Liege. Ich starre ins Dunkel. Oliver zieht sein Bein zurück, ein nacktes Bein. Die Hand mit dem Gips liegt auf seiner Brust, die andere ist unter der Decke verschwunden. Warum machen sie das?

Nina stöhnt. »Mir kommt’s gleich«, flüstert sie. Das Rascheln wird lauter. Ich schiele zu Florian hinüber, zu Chris, der zu ihr hinüber starrt, sehe Augen im Dunkeln und die Bettdecke, sein Knie, eine Hand zwischen seinen Schenkeln, genau da, wo sich die Beine treffen, unter der Decke, in dem Dreieck, sehe sie auf und nieder tanzen, den dünnen Stoff beulen, schneller und schneller. Seufzen und Rascheln und keine Augen und am Ende ein langgestrecktes Seufzen.

Von Florian gegenüber kommt Brummen, Quietschen und als er meinen Blick auffängt, nickt er mir zu, erstaunt, als wolle er sagen: Es ist okay, mach mit.

Auch Oliver bewegt die Hand, ich höre Britta flüstern, höre mehr Rascheln, sehe Oliver, wie er die Augen zukneift und die Hand schneller und schneller bewegt, wie der dünne, weiße Stoff gegen seine Hand klopft, wie Oliver die Beine anzieht, sich streckt und er den Kopf in den Nacken legt. Und als ich unter mich gucke, sehe ich Britta auf dem Bauch liegen, die Beine angezogen, wie das Gesicht ins Kissen gedrückt, zitternd und mit einem leisen Piepsen sie den Kampf beendet.

»Und jetzt du, Ralf, na los, Feigling«, höre ich Chris von der unteren Liege sagen. Mein Herz klopft. Verrückt. Die Notbeleuchtung reißt die Erregung unter dem weißen Schlafsack und der Wolldecke aus der Dunkelheit. Auf der anderen Seite der Liege starrt Florian zu mir herüber.

 »Boah, ist das eine Beule«, sagt er. Nein, das ist so nicht abgemacht. Niemand sieht mir dabei zu. Niemand. Ich drehe mich sofort zur Seite und starre gegen die Wand. Dann greife ich in meine Unterhose.

Das Gefühl ist wie immer, und doch ist es anders, denn es sind andere anwesend. Ich habe mir ein einziges Mal einen runtergeholt, als jemand dabei war. Im Landschulheim. Oliver, Christian und zwei andere haben damals mit mir in einem Zimmer geschlafen.

Ich hatte mich zur Wand gedreht und mir im Dunkeln einen runtergeholt, voller Angst, mich würde das Rascheln der Decke verraten. Diesmal ist es anders, diesmal wissen alle im Raum davon.

»Ich hör gar nichts«, meckert Christian von unten. Florian kommt mir zu Hilfe.

»Er macht‘s«, höre ich ihn sagen. Thumette und Zézette und Théo und Jean-Paul aus meinem Lieblingsbuch, ihre Mösen und Titten, an die Situationen, in denen sie es miteinander machen, doch plötzlich haben die Figuren die Gesichter meiner Freunde und Théo hat so einen tollen Schwanz wie Oliver, Jean-Paul ist sein bester Freund und ziert sich, und Zézette hat es wie Nina faustdick hinter den Ohren, oder ist es Britta, hat kurze, blonde Haare, und ich denke an Florian, der neben mir liegt und sich zeitgleich mit mir einen runterholt wie Théo.

Ich will nicht, ich will allein sein, und habe keine Chance. Ich seufze und kann nicht verhindern, dass man es hört, über das Rütteln der Bahn hinweg, das Rattern der Räder auf den Schienen, dass man hört, wie ich in meine geöffnete Hand spritze, wie mein Sperma nass meine Handfläche hinabläuft und auf mein Laken tropft, wie meine Augen schwer werden und das Rütteln mich in den Schlaf wiegt.

Wiegt das Gepäck? Der Rucksack drückt und ich habe Hunger. Wie schmeckt wohl spanischer Trinkjoghurt?

Wir sollten rausfinden, wann übermorgen der Zug fährt, sagt jemand.

Lisboa, sage ich zu der Frau hinter dem Kartenschalter. »Nighttrain. Sleepingcar

Sie versteht mich nicht.

Oliver mischt sich ein und sagt Lisbon. Jetzt erst versteht sie. Wir reservieren Plätze. Ich finde die Spanier total bekloppt. Lisboa. Wer bei der Bahn arbeitet, sollte das doch verstehen.

Jugendherber hat Waschmasch. Masch. Madrid, und Picasso, und Guernica. Ist das ein Bild hinter Glas? Der Schmerz. Die Sehnsucht nach Gleichgewicht. Der Mann im Kiosk fragt nicht einmal nach meinem Ausweis. Das Pornoheft ist in Plastikfolie eingewickelt. Im Klo der Jugendherberge bin ich ungestört.

Oliver sagt etwas, das ich nicht. Versteh mich nicht. Falsch. Britta steht neben mir.

Heulend. Ah, die Liebe.

Sie will nicht. Und ich will nicht. Und wir beide sind unglücklich im Park. Nur. Ach.

Wach auf.

 

 

Personalwechsel

 

Auch eine fremde Stadt funktioniert wie eine Stadt, die du kennst. Du kommst an, suchst dir einen Platz zum Schlafen. Wenn du clever warst, hast du dir bereits von zuhause aus ein Bett in einer Jugendherberge reserviert. Sonst verbringst du den halben Tag mit der Suche.

Ankunft, Geld ziehen, Metro suchen, Zimmer beziehen, Essen kaufen, Stadt besichtigen. Ganz egal ob Madrid, Paris oder Amsterdam. Faszinierend, wie schnell du das Muster erlernst.

 

1.

 

Irgendwann wache ich auf. Ich spüre die Nässe auf dem Laken. Es ist ruhig im Abteil. Irgendwo schnarcht ganz leise jemand. Die Befriedigung ist durch meine Finger gelaufen wie Sandkörner. Ich fühle mich leer. Meine Freundin ist weg. Mein langjähriger Freund. Es riecht nach Socken, nach Schweiß, nach kaltem Rauch.

Ich habe keine Ahnung, wie schnell wir sind. Fährt der Zug oder steht er? Es könnte ein ruhiges Stück sein, mit neuen Gleisen, auf dem der Zug schnell fahren kann, ohne zu schwanken. Das Rattern hat aufgehört, das Schwanken. Nicht einmal die Klimaanlage zischt noch. Fahren wir noch oder hat der Zug angehalten? Oder hat er die Schienen verlassen und fliegt nach oben, zu den Sternen, in die Unendlichkeit?

Ich hänge mich über den Rand meiner Liege nach unten und schiebe den vergilbten Vorhang vor dem Fenster zur Seite. Der Zug schleicht durch hellgelb erleuchtete Vorortbahnhöfe, menschenleer, kulissenhaft, einsam. Der Himmel wird langsam grau, blau. Madrid rollt vor meine brennenden Augen. Wieder durch eine Scheibe. Mein Herz schlägt schwer.

Der Schlafwagen rattert über eine Weiche und schwankt. Das Rattern wirkt nicht mehr einschläfernd, sondern störend. Habe ich das nicht schon einmal erlebt? Die Einfahrt nach Madrid?

Ich erinnere mich an einen Traum, in dem ich schon einmal in Madrid gewesen bin. Aber ich könnte nicht beschreiben, was ich geträumt habe. Es ging um Wäsche, um Kochwäsche bei 30°.

Viel präsenter hingegen ist die Erinnerung an das Wichsen. Alleine? Zu sechst? Im Traum war es so logisch. Ich muss lachen, während meine Mitreisenden erwachen.

Wir haben gewichst. Oder nicht? Gleichzeitig? Ich weiß nicht mehr.

Scheiß Nachtzug. Ich bin so oft eingenickt, aber habe nie geschlafen. Im Traum hat man Gewissheit über Dinge, an die man sich nach dem Aufwachen nicht erinnern kann. Nur das Gefühl, etwas wirklich Wichtiges geträumt zu haben, das jetzt für immer verloren ist, bleibt hängen.

Wie bei Stephen King und den Tommyknockers, als am Ende alle wieder die Erfindungen vergessen haben, die die Welt hätten verändern können. Bleibt die Verzweiflung, dass man nicht im Moment des Aufwachens den letzten, wichtigen Gedanken aufgeschrieben hat.

Der Nachtzug spuckt uns aus. Florian muss sich mal rasieren. Sein Dreitagebart gibt ihm das Aussehen eines Penners. Britta himmelt wieder Oliver an, der sich für sie überhaupt nicht interessiert.

Der Weg zu unserer Jugendherberge, in der wir Betten reserviert haben, ist lang. Die Stadt riecht aufregend neu. Nach warmen Abgasen, süßlichem Müll und frischer Druckerschwärze, nach unbekanntem Backwerk.

Es ist noch ganz früh, sagt dieser Geruch, weil du mit dem Nachtzug gekommen bist. Mitsamt unserem Gepäck fahren wir per U-Bahn durch die ganze Stadt und marschieren noch eine halbe Stunde zu Fuß marschieren, bis wir am späten Morgen die Jugendherberge erreichen.

Britta geht weit voraus oder weit hinter mir, und wenn ich hinsehe, blickt sie offen und unschuldig, um mir eine weitere Stelle ihres Körpers zu zeigen, die mit Ameisenbissen übersät ist.

»Die haben mich sogar am Po gebissen«, sagt sie. »Und hier.« Sie hebt ihr Top an. Auf der Unterseite ihrer Brüste kleine rote Punkte und darüber ein Hauch der Brustwarze.

Entscheide dich für Hochzeit und Dorf, katholische Kirche und große Verantwortung. Soweit darf ich es nicht kommen lassen.

»Die hätten dich fast aufgefressen.«

Die ganze Zeit habe ich das Gefühl eines Déjà-vus, als hätte ich das in der letzten Nacht geträumt. Wir reden zum Glück nicht über die vergangene Nacht im Zug. Ist es nicht nur mir, sondern uns allen peinlich? Kein Blick verrät Verlegenheit.

Nur Florian nennt mich ab und zu einen Wichser und lacht dabei. Manchmal ist mir sein Humor etwas zu schräg.

Die Herberge selbst, so abgelegen sie auch liegt, ist eine Überraschung. Sauber, die Zimmer hell, und eine Waschmaschine ist auch vorhanden. Wir stellen die Temperatur auf 100°. 100°, und die Wäsche wird sauber. Meine Gedanken sind ausgefranst. Immer wieder muss ich an letzte Nacht denken, an Nina auf der unteren Liege, an ihre Hand im Schritt und an Britta auf dem Bauch.

Ich spüre noch das Rütteln des Zuges und spüre, wie mein Kopf gegen die Wand stößt. Pock. Pock. Pock. Im Takt der Schwellen. Scheiß Nachtzug. Ich bin total müde.

Im Picassomuseum ist Guernica viel größer als gedacht. Legion Condor ist mir neu, oder habe ich schon einmal davon gehört? An der Plaza Mayor wird Florian von einem Typen angesprochen und schnorrt ihn um 100 Peseten an. Wie viel Mark sind 100 Peseten? Ein Witz.

Habe ich das bereits geträumt? Den Typen. Das Museum? Kann ich von etwas träumen, das ich nie zuvor gesehen habe? Zumindest glaube ich, es sei der gleiche Typ. War in meinem Traum überhaupt ein Typ?

Mittagspause in einem Park. Nina wird wieder tiefsinnig.

»Willst du wirklich die Schule abbrechen?«

»Ich habe einen Plan.«

»Wohin willst du?«

»Sag ich euch noch.«

Christian winkt ab. »Spinner.«

Und dann geht es weiter durch Madrid, vorbei an Denkmälern, Galerien und historischen Plätzen, mit einem ausgiebigen Halt bei McDonald’s. Wir machen noch unsere Einkäufe und fahren gegen Abend zurück in die Herberge. Nach dem gemeinsamen Essen in unserem Männer-Viererzimmer verschwinden Nina und Christian diskret. Zum Poppen, wie ich vermute.

Das Klo wird wieder zu einer Option, als ich mir vorstelle, wie sich Nina vor Christian kniet. Oliver und Florian machten sich bereit, abzusoften und um die Ecke zu ditschen. Der Ghettoblaster spuckt New Model Army aus. Britta verlässt den Raum.

Ein flotter Dreier, will ich witzeln und verbeiße mir doch den Kommentar. Nur zwei Minuten später steht Britta wieder in der Tür. Kein flotter Dreier bleibt ebenfalls unausgesprochen.

»Ich kann nicht in mein Zimmer«, sagt sie und bleibt in der Mitte des Raumes stehen, unsicher. Ihre dunklen, mittellangen Haare sind an der Stirn mit einer Spange gescheitelt. »Christian und Nina...«

Die letzten Worte ersetzt ihr verlegenes Lächeln.

Poppen, Mädel, sprich es aus. Poppen, ficken, vögeln, nageln, haben Sex. Sekunden später haben Florian und Oliver ihre Utensilien zusammengesucht und nehmen uns mit. Keine Widerrede, absoften und um die Ecke ditschen. Britta ist nur zu froh über Olivers Hand an ihrer Schulter. Ob sie jemals aufhören wird, ihn zu lieben? Und warum sie es wohl nicht kann?

Wie das wohl ist, Liebe.

Wir gehen ein paar Schritte die Straße hinauf, bis wir in den großen Teil des Casa de Campo kommen. Die Sonne ist bereits untergegangen. In der Ferne hören wir das Rattern von Fahrgeschäften, fröhliches Kreischen und Jahrmarktmusik.

 Der Joint, den Oliver gedreht hat, ist leicht und aromatisch. Oliver reicht ihn nach den ersten zwei Zügen weiter an Florian. Der nimmt einen tiefen Zug und übergibt die Tüte an mich. Ich inhaliere genüsslich, biete Britta den Joint an.

Die zögert, sieht zu Oliver und nimmt einen tiefen Zug. Hustend gibt sie den Joint zurück an Oliver. Nächste Runde. Nach dem dritten Zug sprüht die Dämmerung plötzlich orange.

Oliver sagt etwas, lacht, motzt, ich höre Liebe und verstehe Eifersucht, spüre Enttäuschung und sehe Britta weinen.

»Hör doch auf«, ruft Florian, doch es ist bereits zu spät. Britta springt von der Bank auf und rennt über den schmalen Weg, ihr ersticktes Heulen wie eine zerrissene, weiße Flagge hinter sich herziehend.

Lass sie gehen, sie rückt dir zu nah. Auch Britta ist nicht perfekt. Zu naiv, zu groß, zu katholisch. Was kommt nach einer freundschaftlichen Umarmung? Würde Britta mich missverstehen und mehr von mir wollen? Mehr würde zwangsläufig auf tägliche Treffen hinauslaufen.

Bald umklammert sie mich so eng wie Verena. Schon sehe ich mich auf dem Rad auf dem Weg in ihr kleines Dorf. In ihrem christlichen Wahn von erster Liebe bis zum Tod, Hochzeit und Landleben wäre ein Kuss fatal. Darauf folgen Verlobung, Hochzeit und Kinder. Ein Kuss, und ich wäre verloren.

»Idiot«, werfe ich Oliver an den Kopf und renne hinterher.

»Die soll sich mal nicht so anstellen«, höre ich ihn noch sagen. Mir peitschen Äste ins Gesicht. Britta biegt nicht nach links ab, wo sie der Weg zurück zur Herberge führen würde, sondern nach rechts, weiter in den Park hinein.

Die Musik wird lauter. Ihr Vorsprung schrumpft rasch. Hinter der dritten Eberesche habe ich sie eingeholt. Am Ärmel halte ich sie fest, stoppe ich sie, ziehe sie zu mir heran. Britta fällt mir fast in die Arme, presst ihren Kopf in die Lücke zwischen Kinn und Schulter. Und dann heult sie laut und anhaltend.

Nur keinen Kuss.

Fest hält sie mich dabei umklammert, mit beiden Händen auf meinem Rücken. Ihre Brüste pressen sich an mich. Was ich sage, sollte beruhigen und wird doch nur zu belanglosem Flüstern. Heulsuse. Heulsuse, die ich gerne festhalte. Die Enge in meiner Hose löscht den Gedanken an Selbstlosigkeit aus.

 Das Schluchzen an meiner Schulter ebbt ab.

 »Geht’s wieder?«, frage ich. Sie nickt tränenblind.

 »Ich will noch nicht zurück.«

Der Vergnügungspark liegt viel weiter weg als es sich anhört. Der Wind steht günstig. Schreie hallen durch die Luft, das Rattern von Rädern auf Schienen, Musikfetzen. Britta schwankt. Sie sieht zu mir hoch.

 »Gehen wir ein Stück«, sage ich. Wie zufällig finden sich unsere Hände.

 »Und jetzt?«, fragt sie nach ein paar Metern. »Was soll ich denn jetzt machen?«

 »Was machen?«, frage ich zurück. Ich muss mir ein Lachen verkneifen. Hat sie das nicht gerade schon einmal gesagt? Britta ist so witzig.

 »Damit er zu mir zurückkommt«, sagt sie trotzig. Wieder schwankt sie. Hat sie nicht auch ordentlich am Joint gezogen?

 »Ich mach alles. Ich geh mit ihm zu McDonalds, ich habe sogar euren doofen Joint geraucht, und trotzdem behandelt er mich so.« Sie schmollt wie ein kleines Kind. In ihren Augen glitzern neue Tränen.

 »Vielleicht reicht das noch nicht?« Ich denke da an ihren runden Hintern und die Titten, die vom Strand, die meine Fantasien ergänzen.

 »Was denn noch? Ich habe sogar mit ihm geschlafen.«

Kann sie Gedanken lesen? Oder liegt diese Vermutung zu nahe. Ich bin so durchschaubar. Warum legen die, die Sex haben können, so wenig Wert darauf? Ich würde alles ausprobieren, den ganzen Tag lang, würde nicht mehr aus dem Bett kommen. Aber bei Britta hört es sich an, als gehe es darum, zwischen der Pest und der Cholera zu wählen.

 »War das ein so großes Opfer?«

 Sie zögert. Ihre Füße tanzen auf dem Asphalt des Parkweges, um das Schwanken ihres Oberkörpers auszugleichen.

 »Der blöde Oliver«, sagt sie und fängt auf einmal an zu kichern. Das kann ich verstehen, weil sie doch. Ja, der Oliver. Zu komisch, wie er.

 »Was ist mit dem blöden Oliver.« In meinem Bauch kitzelt es und bricht als Lachen hervor, rollt über meine Schultern und juckt auf dem Rücken.

 »Was soll mit ihm sein?« Britta verbirgt ihr Kichern hinter zehn Fingern. Dabei bemühen sich ihre Füße noch stärker um die Balance.

 »Du hast doch angefangen.« Ich muss zwischen meinen Lachanfällen tief Luft holen. Das ist so komisch, wie sie, und wie ich dann, und wie wir beide, weil Oliver. Kichern plätschert wie ein Rinnsal, wie ein Bach, wie ein Wasserfall. Zu komisch.

Tränen glänzen auf unseren Wangen, und als ich mich umsehe, ist der Park dunkel und die Laternen am Weg brennen, und um uns herum sind kaum noch andere Menschen. Britta zieht die Nase hoch, kichert noch einmal vor dem Versuch, ernst zu bleiben.

 »Also, der Oliver hat...« Wieder unterbricht sie ein Lachanfall. Ich kichere. Mein Kopf ist mit Helium gefüllt. Brittas Hand in meiner fühlt sich wie Zuckerwatte an.

 »Also, der Oliver hat einen ganz langen...«, sagt sie und lacht wieder schrill, und mein Schwanz wird auf einmal ganz hart.

 »Schhhh...«, sage ich mit dem Zeigefinger an meinen Lippen, über die hysterisches Kichern quillt. Das ist so komisch.

 »Schhhh...« Britta legt ebenfalls den Zeigefinger ihrer freien Hand auf die Lippen. Auch ihr sickert Kichern aus dem Mund. Wir krümmen uns, weil das Lachen die Muskeln im Bauch verkürzt. Und sie wieder, und dann ich, und dann wir beide.

Der Park dreht sich um uns, aus den Hecken sprudelt Kichern, über die Wiese huscht Gelächter, von den Bäumen plätschert Schmunzeln. In der Ferne wieder Schreie, das Rattern von Achterbahnen, Musik.

»Wie lang?« Wir taumeln über die Wiese. Brittas Brüste hüpfen unter ihrem grauen Strickpullover. Sie schwankt über den Rasen und setzt sich auf eine Parkbank, die mitten auf der Wiese steht.

»So lang«, sagt Britta. Ihre Hände gehen weit auseinander, weit, weit, weit.

»Das ist doch gar nix. Meiner ist sooo lang«, sage ich und nehme meine Hände noch viel, viel, viel weiter auseinander. Wieder schießt jemand eine Lachsalve ab. Das ist aber auch zu komisch, wie sie erst, und dann ich. Was ist es eigentlich? Was ist die Wiese doch grün und voller Stöckchen und leerer Getränkedosen.

 »Nein.« Britta reißt erschrocken die Augen auf, eine Hand vor dem Mund, der vor Erstaunen offensteht. Das ist vielleicht komisch. Ich habe doch total übertrieben. Außerdem weiß ich, was Oliver zu bieten hat.

 »Doch«, sage ich und kichere. Das Bedürfnis, ihn herauszuholen und ihr zu zeigen, wird plötzlich ziemlich groß. »Willst du mal sehen?«

 Ups, da ist es. Rausgerutscht. Konnte nicht widerstehen. Im selben Atemzug ist es mir total peinlich. Wieso habe ich das gesagt?

 »Ralf«, sagt Britta empört und löst ihre Hand von meiner.

 »Entschuldigung.« Mein Kichern fällt auf einmal ziemlich matt aus. Ein pelziger Geschmack breitet sich in meinem Mund aus. Ich habe Hunger. In der Dunkelheit leuchtet ihr Gesicht geisterhaft. Mit einem Schlag bin ich wieder nüchtern.

»Ich meine, es stört mich nicht, aber wieso sagst du so was?«

»Ich weiß es nicht«, sage ich. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Pornos, erotische Geschichten, Bilder von nackten Frauen und Männern, die Wölbungen in Shorts und der Spalt zwischen Pobacken.

»Ich kann einfach nicht widerstehen. Ich bin so konditioniert.«

»Aber bei dir hat es nicht viel mit Liebe zu tun, oder?«

»Und bei dir? In Brüssel?«

Britta legt die Hand vor die Augen. »Doch. Ich liebe ihn, und ich mach alles, damit er wieder zu mir zurückkommt.«

»Alles? Auch von hinten?«

»Ralf, müssen wir darüber reden?«

»Nee.« Zu weit, du bist zu weit gegangen. Kein Thema für ein katholisches Kleinstadtmädchen. Doch ich kann noch nicht aufhören. Wie das Lachen, das aus mir gesprudelt ist, wie der Vorschlag, ihn ihr zu zeigen.

»Weißt du was? Du verbindest dein erstes Mal jetzt immer mit Oliver. Aber der will dich nicht mehr. Es ist aus. Vielleicht hilft es dir, wenn du einfach mal einen Schritt weite gehst und deine Lust mal rauslässt, ohne an ihn zu denken.«

»Ralf, bitte.«

»Du hast so einen tollen Körper. Das ist doch Verschwendung, wenn du den an Oliver verschwendest. Als Jungfrau kannst du eh nicht mehr in die Ehe.«

Was erzähle ich hier eigentlich? Ich kann doch von ihr nicht reden, ich meine doch eigentlich den Körper der Haselnussbraunen. Nicht den Körper der doofen Britta. Ihre Verlegenheit wechselt zu Wut.

»Ich verschwende ihn doch gar nicht. Du warst noch nicht wirklich verliebt, oder?«

Ich will noch etwas erwidern, öffne den Mund und bleibe doch stumm. So viele Gelegenheiten, die ich nicht genutzt habe, weil ich nicht verliebt war. Die dicke Freundin von Alexander, die Brillenschlange aus dem Tanzkurs, und Verena nur ein einziges Mal, bevor ich sie wieder loswurde. Sie haben alle nicht in mein Raster gepasst. Weil ich nicht verliebt war. Oder?

»Nein«, sage ich, stecke die Hände in die Hosentaschen und sehe an Britta vorbei in einen dunklen Busch. Jetzt dahinter hocken und die Hose herunterlassen. Britta sieht mich stumm an. Ihr Gesicht ist blass.

»Und du würdest alles machen?«, hakte ich noch nach, obwohl ich keine Hoffnung habe, dass dieses Gespräch eine befriedigende Wendung nimmt, von der ich noch nichts ahne.

 »Ich glaub schon«, sagt sie. Ihre Augen sind auf einmal schmal, ihre Stimme sehr leise. »So wie gestern im Zug.«

Wie ein Blitz durchzuckt mich die Erkenntnis, dass das gemeinsame Wichsen kein Traum gewesen ist, sondern Realität.

»Das war aber noch harmlos, oder.«

»Findest du?«, flüstert sie. Inzwischen ist es stockdunkel im Park. Nur auf dem Weg schimmern die gelben Straßenlaternen. Britta atmet tief durch und seufzt.

»Geht es dir gut?«

»Ich weiß nicht«, nuschelt Britta. Ihr Blick ist trüb. »Ich bin plötzlich so müde.«

»Wollen wir zurück?«

»Noch nicht«, flüstert sie. Ihr Oberkörper schwankt von links nach rechts. Aus dem Schwanken wird ein Taumeln. Gerade noch rechtzeitig stütze ich sie.

Sanft gleitet sie zur Seite und rollt sich augenblicklich, den Kopf von mir abgewandt, wie eine Katze auf der Parkbank zusammen. Sie zieht die Beine an den Körper und legt den Kopf auf den ausgestreckten Arm.

»Einen kleinen Augenblick nur«, murmelt sie.

»Ist dir schlecht?«, frage ich und beuge mich über sie. Vorsichtig lege ich ihr eine Hand auf den Rücken. Ihr Nein ist kaum zu verstehen. Ihr Hintern zieht meine Blicke magisch an. Die dunkle Hose schneidet tief in die Furche zwischen den Halbmonden ihres Pos.

Der Pullover ist ein wenig hochgerutscht und enthüllt einen hellen Streifen Haut, kurz über dem Saum der elastischen Hose. Die Bilder von Arcachon flitzen durch mein Hirn. Sie seufzt, flüstert.

»Nur kurz… «

»Ganz ruhig«, flüstere ich zurück, nehme die Hand von ihrem Rücken und lege sie auf ihren Hintern. Kein Protest. Die verbotene Berührung bringt meiner Erektion noch ein paar zusätzliche Härtegrade. Meine andere Hand ist längst in meiner Hosentasche und knetet durch den dünnen Stoff hindurch meinen Steifen.

Jetzt wichsen, jetzt, sofort. Ob man uns vom Weg aus sehen kann? Hier in der Dunkelheit? Meine Hand gleitet höher. Mit den Fingerspitzen berühre ich nackte Haut. Ich sehe mich noch einmal um. Auf dem Weg läuft ein Pärchen, eng umschlungen, ohne uns zu beachten.

Mein Herz bleibt beinahe stehen. Sekunden vergehen. Keine Regung. Die Panik ebbt ab, lässt Geilheit zurück wie Muscheln im Watt. Vielleicht sieht man uns wirklich nicht. In der Dunkelheit erkenne ich Brittas geschlossene Augen. Britta, die mit dem Kopf auf dem Arm noch so liegt, wie sie hingesunken ist, ihre Knie dicht an den Oberkörper gezogen.

 Vielleicht sieht man uns wirklich nicht. Ich hole meinen Schwanz heraus.

Die Berührung mit Brittas nackter Haut über dem Hosenbund elektrisiert. Meine Fingerspitzen jubeln über diese ungewohnte Nähe, dann mein Daumen und schließlich die Handfläche. Die Haut ist seidenweich.

Vorsichtig schiebe ich meine Hand unter den Hosenbund auf die obere Pobacke. Meine Fingerspitzen erreichen die Unterseite ihres Pos, und noch bevor ich meine Hand stoppen kann, weil ich Angst davor habe, zu weit gegangen zu sein, spüre ich das erste Schamhaar.

»Britta, alles klar?«, flüstere ich. Keine Antwort. Ihr Atem geht gleichmäßig und tief.

Noch weiter, noch einen Zentimeter. Meine Fingerspitzen ertasten Hautfalte um Hautfalte, elastisch und fest. Mein Schwanz in meiner linken Hand platzt beinahe. Ein Zentimeter weiter nach hinten. Ein enger Muskel. Und wieder weicher Flaum über einem Spalt. Millimeter für Millimeter schiebt sich meine Fingerkuppe dazwischen.

Der enge Stoff behindert mich. Ich schiebe ihn weiter herunter, bis die obere Hälfte von Brittas Hintern freiliegt und ein großer Flecken gebräunte Haut sichtbar wird. Noch immer keine Reaktion. Ich nehme die andere Hand und schiebe sie, jetzt in einem besseren Winkel und ohne den Stoff als Bremse, tief in Brittas Hose.

Mein Mittelfinger gleitet zwischen die beiden Hälften ihres Hinterns, über das feste Loch ihres Afters.

Britta jammert ein bisschen, als sei ihr schlecht.

Mein Herz bleibt beinahe stehen.

Sekunden vergehen. Meine Finger ruhen an ihrem privatesten Ort. Keine Regung. Die Panik ebbt ab, lässt Geilheit zurück wie Muscheln im Watt.

»Ach, Oliver«, murmelt sie, bewegt sich, seufzt, die Augen noch immer geschlossen. Oliver. Sie liebt ihn. Liebe. Du weißt gar nicht, was das ist. Ich greife nach meinem Schwanz. Mein Finger drückt gegen die enge Öffnung. Mein Herz rast. Dieses geheimnisvolle Loch zu berühren, ihren Hintereingang, ist zu viel für mich.

Britta bewegt sich, seufzt, die Augen noch immer geschlossen. Mein Sperma jagt mit Überschall aus meinem Schwanz, in zwei, drei, vier Schüben, spritzt in die Dunkelheit. Das ist die Erlösung. Endlich. Und sie zählt doppelt.

Jeder Spritzer ist ein Geschenk, ist ein Streicheln der Seele, ein Schuss Adrenalin und Dopamin zugleich. So geil, so geil. Vorsichtig gleitet meine Hand aus Brittas Hose, bevor mich die postorgasmische Lähmung in einen Sekundenschlaf versetzt.

Geistesabwesend ziehe ich Britta die Hose wieder hoch. Mein Schwanz schrumpft nur langsam. Im selben Atemzug überrollte mich die Reue. Zum Glück sitze ich. Mit einer raschen Handbewegung ziehe ich ihr die Hose wieder hoch. Was habe ich gemacht? Wie viel hat sie davon mitbekommen?

 Mit zitternden Händen fahre ich über mein Gesicht. Warte, warte ein paar Minuten. Britta liegt ruhig und regungslos auf der Bank. Sie ist nicht aufgewacht, hat nichts gesagt, sondern nur gestöhnt. Ein gutes Zeichen.

Meine Nervosität hat sich bereits gelegt, als ich sie schließlich wecke. Benommen schleppe sie sich durch den Park, auf meine Schulter gestützt, sprachlos. Ich liefere sie bei Nina ab, die sich bereits Sorgen gemacht hat, und gehe wie benommen in unser Zimmer.

 »Wo hast du gesteckt?«, fragt Florian. Mit der rechten oder der linken Hand?, denke ich.

 »Ich habe Britta getröstet.«.

 Florian versucht sich an einem bewundernden Pfeifen, doch da er nicht pfeifen kann, rutscht ihm sein schlechter Atem nur keuchend über die Zunge. In Olivers Blick liegt mehr als nur Neugier. Kann er nicht ertragen, dass sich Britta von ihm löst? Eifersucht, obwohl er sie mit beiden Händen von sich stößt?

Ich werde den Teufel tun ihm zu sagen, wie klein die Schritte waren, mit denen Britta auf mich zugekommen ist. Zugekommen? Sie hat sich eher von mir entfernt.  

»Details bitte«, sagt Oliver. Ich zucke mit den Schultern.

»Wir haben nur geredet.«

Mit der Scham über das, was ich getan und jetzt als Reden bezeichnet hatte, beginnt mein Gesicht zu glühen.

»Wir werden sehen«, sagt Christian. Wann werden wir es sehen? Wenn wir nach El Escorial fahren? So, wie wir es geplant haben? Wird Britta sich an das erinnern, was ich gemacht habe, als sie sich mir anvertraut hat?

Im Bett lese ich wieder Stephen King. Darüber werden meine Augen schwer. Sekundenlang kämpfe ich gegen den Schlaf. Ich versuche, mich auf das Buch vor mir zu konzentrieren. Die Buchstaben wirken wie gestanzt.

Bilder und Gedanken huschen hektisch durch mein Hirn, mein Kopf sinkt nach vorn. Mein Hirn juckt träge wie gelähmt. Schlaf, diese kleinen Scheiben des Todes. Wieder reiße ich die Augen auf. Ich sehe mich um. Sechserzimmer. Christian. Oliver. Florian. Zwei Amerikaner.

Über uns wölbt sich ein blauer Himmel. El Escorial erscheint mir viel zu komplex, die Geschichte viel zu tiefgründig, das nötige Wissen zu umfangreich.

Palast, Bibliothek und Gruft. Christian und ich können uns nicht einigen, was an dem Gebäude so besonders ist. Die Ausrichtung nach Osten, der Sonneneinfall zur Sommersonnenwende? Dass in jeden Raum Sonnenlicht fällt?

Bei Indiana Jones ist es einfacher. Da fällt zur Mittagszeit im Kartenraum ein Lichtstrahl durch einen Diamanten und zeigt die Halle der Seelen. Das ist das Geheimnis.

Britta ist nicht dabei. Die Zeit versickert zwischen den Fugen der großen Steinquader, auf denen meine Turnschuhe im Laufschritt scharren. In der dunklen, nach Weihrauch riechenden Basilika. Wieder die breiten Stufen hinab, quer durch den Königshof, dabei läuft mir der Schweiß die Achseln hinab.

Hinter dem Ausgang führt ein Weg durch den Klostergarten den Hang hinunter zu den weitläufigen Prinzengärten zu Füßen des Klosters. Auch in der Ferne keine Britta.

Soll sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst, die dumme Nuss. Warum ist sie nicht mit uns durch die Anlage gelaufen? Schnauze voll. Ich nehme einen schmalen Weg hinunter zum Bahnhof. Welcher Zug? In welcher Richtung liegt Madrid? Ich suche nach einem Richtungsanzeiger, höre die Schreie zu spät, dann ein Pfiff, wo sind meine Freunde? Ich drehe mich hektisch und sehe plötzlich Christian in der Tür des rechten Zuges und Britta, die neben ihm steht und winkt.

 »Ich war schon hier, komm schnell«, ruft sie mir zu, in letzter Minute springe ich in den Zug. Später reicht mir ein Mann im Kiosk ein Heft mit nackten Menschen über den Tresen und ich spüre das kleine weiße Päckchen in meiner Tasche wie einen Schmeichelstein, der mich beruhigt. Der Schorf auf meinem Handrücken ist frisch, das Blut ist kaum getrocknet.

Trocken wie Druckerschwärze auf einer Zeitung. Im Buch. Mein Buch. Stephen King. Das letzte Gefecht.

Dann wache ich auf.

 

2.

 

Der Zug. El Escorial. An den Rest des Traumes kann ich mich erinnern. Ich finde es schade, dass man Träume manchmal so schnell vergisst, als habe man gar nicht geträumt. Es ist, als sei man für ein paar Stunden gestorben. Vergeudete Zeit.

Beim Tee im Frühstücksraum sehe immer wieder heimlich zu Britta hinüber, doch sie lächelt nur unverbindlich, plappert mit Nina über Madrid, das Wetter, die anderen Gäste in der schmuddeligen Dusche, das Frühstück und den Sonnenschein.

Nichts, keine Anzeichen, dass sie irgendetwas von dem mitbekommen hat, was ich letzte Nacht im Park mit ihr gemacht habe.

Schließlich nehmen wir die Regionalbahn nach El Escorial. El Escorial. Woher kenne ich das? Bilder von einem Schloss jagen mir durch das Hirn. Habe ich letzte Nacht davon geträumt? Von Britta?

Manchmal glaube ich, dass mir Träume etwas sagen wollen, dass sie ein Spiegel meiner Seele sind und nicht einfach nur elektrische Echos gespeicherter Informationen.

Wir in der Regionalbahn auf dem Weg nach El Escorial. Im Traum ist Britta nicht in den Palast mitgekommen, ich fand es schade. Oder? Ist das ein Wink meines Unterbewusstseins? So weit bin ich also schon, dass ich Angst davor habe, dass Britta nicht in meiner Nähe ist. Ohne sie fehlte etwas im Schloss.

Die Erinnerung an den Traum konzentriert sich auf dieses eine Gefühl. Ohne Britta fehlt etwas. Ich klammere mich an die Erkenntnis, dass der Stress zwischen Oliver und Britta unsere Gruppe zusammenkittet. Ohne die beiden wäre es ziemlich langweilig. Ohne Britta wäre es ein ereignisarmer Urlaub.

Wenn mein Traum mir etwas sagen will, dann das. Wie damals, als mir meine Alpträume eine deutliche Botschaft gesendet haben. Nachdem ich sie erhalten und verstanden hatte, waren die Alpträume verschwunden. Aber das letzte Nacht war kein Alptraum. Es war ein Durcheinander mit dem deutlichen Gefühl, dass etwas nicht stimmte.

Ich habe geträumt, dass ich mir neue Pornos gekauft habe. Aber in meinem Rucksack war nichts. Und die Wunde auf meiner Hand ist längst verheilt.

Am Nachmittag treffen wir uns wieder vor dem Eingang an der Straße, die hinunter zum Bahnhof führt. Nur Britta fehlt.

»Vielleicht ist sie noch in der Kirche«, sagt Nina.

»Vielleicht ist sie im Park«, sagt Florian.

»Vielleicht auf Klo«, sagt Chris. Oliver stöhnt genervt. Wir warten noch fünf Minuten, unruhig, wortlos, in denen sich unsere Ungeduld addiert. Schließlich drängt Oliver zum Aufbruch.

Nina zögert. »Und Britta?«. Niemand rührt sich. Christian sieht auf seine Schuhe, Florian starrt in die Sonne und Oliver hebt spöttisch die Augenbrauen. Wir sind eine super Gruppe.

»Ich geh sie suchen«, sage ich zähneknirschend. Zum zweiten Mal muss ich ihr hinterherlaufen. Wieder liegt es an mir. Dabei will ich höchstens zusehen, wie sich die beiden streiten, aber nicht eingreifen, geschweige denn moderieren.

»Wann fährt die Bahn?«

»In zwanzig Minuten«, sagt Oliver. Sein Grinsen kann nicht einmal eine Faust zerbrechen. Ich sage, ich käme zum Bahnhof, kurz vor der Abfahrt, und mir solle niemand entgegenkommen, falls Britta dort bereits warte.

 Im Königshof schwitzt die Nachmittagssonne. Meine Schritte hallen von den hellen, sandfarbenen Steinwänden wider. Ein paar Touristen schleichen herum, machen Fotos, unterhalten sich leise. Zwei alte Frauen, eine Familie, vier Jungs, keine Britta. Im Kartenshop - keine Britta. Bei den Toiletten - keine Britta.

Ich renne, bis meine Bronchien brennen, weil der Weg auf einmal viel länger ist als am Morgen. Atemlos über die Straße, Autos hupen, die Treppen im kühlen Gebäude hoch. Zwei Züge stehen am Bahnsteig, eine Durchsage hallt, Menschen hasten an mir vorbei.

Welcher Zug? In welcher Richtung liegt Madrid? Ich suche nach einem Richtungsanzeiger, höre die Schreie zu spät, dann ein Pfiff, wo sind meine Freunde? Ich drehe mich hektisch und sehe plötzlich Britta in der Tür des rechten Zuges und Christian, der neben ihr steht und noch winkt, bevor er aus dem Zug springt und mir entgegenläuft. Ich starte.

 »Sie war schon hier, komm schnell«, ruft er mir zu, dreht sich um, da schließen sich mit einem satten Knall die Türen zum Zug, und noch bevor wir Brittas erschrockenes Gesicht hinter der Glasscheibe und den feixenden Oliver daneben sehen, setzt sich der Zug in Bewegung. Christian bleibt neben mir stehen. Wut keimt auf. Ärger.

»Wo war sie?«, fauche ich. Christian sieht dem Zug wütend nach.

»Sie meint, sie habe gesagt, dass sie am Bahnhof warte.«

»Wem hat sie das gesagt?«

»Das wusste sie nicht mehr. Uns allen, dachte sie. Dumme Nuss.«

»Was machen wir jetzt?«

Die Lösung. Was ist die Lösung? Die Lösung ist einfach. Ich liebe es, wenn Chris pragmatisch ist.

»Wir setzen uns in den Park und nehmen den nächsten Zug.«

Die Prinzengärten beginnen gleich gegenüber vom Bahnhof. Wir wechseln die Straßenseite, treten durch ein hohes Tor und schlendern schließlich über den knirschenden Sand gepflegter Parkwege. Wie lange ist es her, dass wir mal Zeit zu zweit verbracht haben? Nur mein bester Kumpel und ich? Ein Jahr? Sonst war immer Nina dabei.

Wir verlassen den Weg, gehen querfeldein, lassen die Menschen hinter uns und setzen uns in die Sonne, zwischen hohe Ginsterbüsche auf eine trockene Wiese, die sanft den Hang hinabgleitet und vor einem kleinen Wäldchen ausläuft. In unserem Rücken thront der Königspalast. Ein paar Touristen lassen weit entfernt ihre Fotoapparate klicken. Der Boden ist sandig.

»Wie hat dir El Escorial gefallen?«, will Chris wissen.

»Toll.«

»Fand ich auch, aber einmal reicht.«

»Vielleicht kann ich mit meiner Schrankwand einziehen«, sage ich.

Chris lacht und lässt sich nach hinten fallen. »Beverly Hills Cop. Erster Teil.«

Er versteht mich. Bei Britta wäre der Spruch wie Perlen vor die Säue. Sie hätte nichts verstanden. Die harten Grashalme pieken. Eine Ameise krabbelt über meinen Turnschuh. Ziemlich rot und groß. Ich schnippe sie mit dem Zeigefinger eine Ameisenmeile weit weg.

»Ameisen«, rufe ich, bereits auf den Füßen. Chris hebt den Kopf, blinzelt in die Sonne, sieht an sich herunter, springt fluchend auf.

Er zerrt sich sein T-Shirt über den Kopf.

»Die sind auch in meiner Hose«, flucht er, und während ich noch versuche, ihm die Ameisen vom nackten Rücken zu schlagen, zieht er bereits seine Hosen herunter.

Plötzlich steht er nackt vor mir, mitten auf der Wiese, im prallen Sonnenlicht, tanzt auf einem Bein, dreht sich im Kreis, flucht und lacht, und meine Hände sind überall auf seinem Körper. 

Und dann sind die Ameisen verschwunden, und Chris steht nackt vor mir, wie in der Dusche, doch es ist so anders, so unbekannt. Sein langer Penis schwingt zwischen den Schenkeln. Ich kann nicht wegsehen.

Ob es hier Parkwächter gibt, die nackte Interrailer verhaften? Links die Büsche, unter uns das Ende der Wiese, dahinter Bäume. Niemand schenkt uns Beachtung.

Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie Chris die Boxershorts wieder hochzieht, wie der Gummibund über seine Schenkel gleitet, wie der Stoff die beiden festen Halbmonde bedeckt, wie ein schwarzer Punkt über den Rand der Shorts krabbelt.

»Halt, da ist noch eine«, rufe ich, werfe sein T-Shirt und seine Hose über meine Schulter, bücke mich und ziehe, ohne weiter darüber nachzudenken, mit dem Zeigefinger den Gummibund nach hinten.

»Wo?« Chris guckt über die Schulter, ihn stört es gar nicht, dass ich meine Hand an seiner Hose habe.

Die Ameise zuckt hektisch über die obere Hälfte ihrer linken Pobacke, verweigert sich meinem Griff, kriecht zu schnell nach unten. Schnell ziehe ich die Shorts weiter herab, und noch bevor sich meine Finger um das Insekt schließen können, um es zu zerquetschen, verschwindet die Ameise im dunklen Spalt von Christians Hintern.

»Hast du sie?«, ruft er und dreht ihren Kopf, und ich sage nein, noch nicht, und er sagt, ich solle sie töten.

»Hol sie dir, Cowboy.«

»Aber sie ist da an einer Stelle...«, rufe ich. Kann er nicht selbst? Mit seiner Hand?

»Mann, stell dich nicht so an!«, flucht er, und so ziehe ich ohne weiteres Zögern seine Pobacken auseinander. Plötzliche Nähe, unvermutet und intensiv, wie ein Stein, der aus dem Schutz der Dunkelheit geworfen die Stirn trifft. Noch nie hat diese so intime Stelle eines fremden Körpers so offen vor meinen Augen gelegen. Aus Vermutungen wird in Sekundenbruchteilen echtes Wissen, aus Fantasie erregende Realität.

Faltenlos, glatt, winzig und so geheimnisvoll liegt die erste Pforte vor mir, und darunter die feine Naht, die in einem haarigen Beutel ausläuft, der schwer und faltig, lang und viel schlanker ist als gedacht. In diesem Moment läuft die Ameise über die kleine, feste Öffnung in der Tiefe des Tals. Chris zuckt.

Ich greife mit der freien Hand zu, einmal, zweimal, stupse mit Fingern und Knöcheln gegen intimste Stellen, bevor ich das Insekt in dem Moment erwische, als es über den Damm hastet, mit einer Zangenbewegung von Daumen und Zeigefinger. Meine Finger pressen sich in die Spalte, legen sich der Länge nach hinein, über die feste Muffe, nur eine Sekunde und doch beinahe ewig.

Mein Daumen berührt die Hoden, ahnt den plötzlich halbsteifen Schwanz. Meine Erektion ist so hart, dass ich Angst um meine Hose bekomme. Und dann nehme ich meine Hand zurück, lasse die Pobacke los und zerquetsche die rote Ameise. Chris zieht seine Shorts hoch und dreht sich um. Ich zeige ihm den traurigen Rest des Insekts, das zuckend auf meinem Daumen verendet.

»Du hast dich aber auch angestellt«, sagt er halb schmunzelnd, halb verärgert. Ich reiche ihm das T-Shirt von meiner Schulter. Ein letzter prüfender Blick von ihm in den Stoff und von mir auf seine muskulöse Brust. Keine Chance für meine Körpertemperatur, unter den Siedepunkt zu sinken. Geht er eigentlich ins Fitnessstudio, oder macht er abends immer noch Liegestütz? Ist sein Schwanz wirklich halbsteif gewesen? Ich schäme mich sofort für diesen Gedanken.

Chris, der mich verlegen anlächelt, das T-Shirt überzieht, in die Hose steigt. Warum kann ich Chris nicht einfach nur wie einen Kumpel ansehen? Nur weil ich wie mein Vater bin? Oder weil ich einfach Sex brauche? Ich grinse zurück.

Niemand wartet auf dem Bahnhof. In der Jugendherberge hingegen werden wir mit offenen Armen empfangen. Wo wir gesteckt haben, will Nina wissen, und sie klingt, als sei sie eifersüchtig. Ein blödes Gefühl. Chris ist doch mein bester Freund gewesen, bevor sie gekommen ist.

Am Ende des Tages essen wir Käse und Baguette und trinken spanisches Bier in der Jugendherberge, bis wir gesprächig genug sind, um Intimitäten preis zu geben. Ich erzähle von den Ameisen, jedenfalls ein paar Details, aber nicht alle. Doch Florian will mehr wissen.

»Und wo waren die Ameisen?«

»Na, überall. Auch im Po.«

Nina winkt ab. »So genau wollen wir das gar nicht wissen.«

Florian kann es gar nicht glauben. »Im Po?«

»Eine«, sage ich. »Also davor, na, an der engsten Stelle.«

Auf seinem Hals zeigen sich rote, hektische Flecken. »Und du hast die für ihn weggemacht?«

»Reiner Freundschaftsdienst.«

Ein Freundschaftsdienst, der mir jetzt noch die Erektion schwellen lässt. Chris rutscht unruhig auf seinem Sessel. Florian saugt an der Zigarette. »Soso, der Po.«

Britta schiebt verlegen eine Locke hinter ihr rechtes Ohr. »Ach, Koffer, hör auf.«

Er lässt nicht locker. »Und, Nina, habt ihr es schon mal in den Po gemacht, du und Chris?«

Oh, mein Gott, jetzt auch das noch. Nina, offensichtlich froh, ihre nervös knetenden Hände mit etwas beschäftigen zu können, schlägt ihm auf die Schulter. »Oh, hör doch mal auf damit.«

Chris, in der rechten Hand ein Bier, schüttelt den Kopf. »Bist du nicht auch neugierig?«

»Nein«, sagt Nina. »Ich will das nicht. Das ist doch eklig, oder nicht? Ich stell mir das ganz unangenehm vor. Und tut das nicht weh?«

»Man muss viel Gleitgel nehmen, dann geht das«, erwidert Florian. Wieso weiß er darüber Bescheid? Na klar, weil Oliver natürlich viel aufgeschlossener ist, als alle Mädchen in unserer Klasse zusammen. Und weil er mit Oliver… Natürlich - jetzt verstehe ich erst. Oliver und Flo neben mir im Zelt. Wer weiß, was die noch alles getrieben haben.

»Ihr spinnt.« Britta steht auf, um auf Toilette zu gehen und Nina will nicht weiter darüber reden. »Da hat sie mal ausnahmsweise recht.«

Wir gehen schlafen. Ich muss an die Ameisen denken. Ameisen auf dem Fußboden im Frühstücksraum. Raum. Harold Lauder beim Rasenmähen. Rasen. Schaf. Fell. Wolf. Werwolf. Grauen. Morgengrauen.

 

 

3.

 

»Also, du und Britta?«, fragt Nina. Aber ich habe mich doch noch gar nicht entschieden. Du musst dich aber einfach entscheiden. So wie für ein Heft am Kiosk. Nimmst du das mit den beiden Männern oder das mit dem Gangbang? Hauptsache man sieht Ärsche.

Rucksäcke, Schließfächer, Prado. Ein Bild jagt das nächste. Und ich halte Ausschau nach Pornos und taste nach dem weißen Päckchen in meiner Hosentasche. Ich kann an nichts Anderes mehr denken als an einen steifen Schwanz und an Christian, meinen Kumpel, unter der Dusche. Wenn ich ihm doch sagen könnte, wie sehr ich es vermisse, mit ihm einer Meinung zu sein.

In der riesigen Wartehalle vor den Fahrkartenschaltern mit Tausenden anderer Reisenden, Rucksacktouristen, Rastlosen. Erschöpfung macht sich breit. Meine Augen brennen. Zu viel Stadt und zu wenig Zwischentöne. Nina will tiefsinnig wirken, dabei tun mir die Füße weh.

»Wann hattet ihr das erste Mal Sex?«, fragt sie und ich spüre, wie mir das Herz in die Hose sinkt. Frau Döring. Soll ich davon erzählen? Die Erinnerung ist schwammig. Frau Döring und Foreigner, ihr Gesicht ganz nah, wie sie sich meinen Kopfhörer aufsetzt. Ihr alkoholgeschwängerter Atem, Herzklopfen und feuchte Hände. Will es überhaupt jemand hören?

Von mir und meiner Nachbarin? Im Sommer, ich vor ihrer Tür, mit der Gratiszeitung in der Hand.

»Lass bitte den Unsinn«, sagt Britta. »Muss das denn jetzt sein? Wer will denn das hören?«

»Ich«, sagt Nina.

»Niemand«, sagt Oliver, doch die Erinnerung ist wieder da, und sie hat mich geil gemacht. Jetzt irgendwo ungestört sein. Ich laufe in das Bahnhofsklo. Vielleicht gibt es dort ja ein Loch in der Wand zur Nachbarkabine. Nein, das darf ich nicht, das ist verboten, das ist die Entscheidung für die falsche Seite.

Falsch ist es, einen Schwanz zu blasen, von der Wurzel bis zur Eichel. Richtig wäre es, Britta anzufassen. Nur das ist richtig. Aber ich will nicht, ich will Christian umklammern, von hinten ficken, mein Gesicht in seinem Nacken vergraben, will seinen Hintern an meinem Bauch spüren, während mein harter Schwanz ihn durchbohrt.

Und dieser Gedanke ist so schwer, so falsch, so schmerzhaft.

Warum hast du nicht in Amsterdam? Die Gelegenheit genutzt.

Warum nicht?

Ich verkrieche ich mich in einer schmuddeligen Kabine. Künstliche Beleuchtung flackert. Ich hole das weiße Päckchen aus der Tüte, reiße die Verpackung auf und schiebe eine der flachen Klingen heraus. Sie ist in Wachspapier eingeschlagen. Nachdem ich das Papier entfernt habe, glitzert und blinkt das Metall im Neonlicht. Glitzernd wie Gleitgel, das aus der Tube quillt.

Ich rolle den Ärmel meines Hemdes hoch und lege den linken Ellenbogen frei. Der Schmerz ist ebenso klar, kristallklar. An der Klinge klebt Blut.

Erleichtert krümme ich mich zusammen und genieße den kurzen Moment, in dem mein Kopf frei ist.

Du Arsch.

Wir spielen auf unseren Rucksäcken Skat, die Mädchen langweilen sich. Kein Miteinander. Die Wunde brennt wie ein flammender Busch und erinnert mich daran, dass ich nicht die falsche Entscheidung treffen darf.

Schlafwagen ist zu teuer, wir beschließen, im Sitzen zu schlafen. Im Achterabteil. Acht Plätze in einem Abteil kurz nach zehn Uhr abends im Nachtzug nach Lissabon. So etwas gibt es doch gar nicht.

Ein dickes spanisches Ehepaar. Der dicke Spanier schnarcht. Da helfen auch die Finger in den Ohren nichts. Vor der portugiesischen Grenze steigen sie aus. Die Tür geht zu. Ich ziehe den Vorhang wieder vor die Abteilscheibe. Das bedeutet wenigstens ein paar Stunden ungestörten Schlaf.

Die Tür wird unsanft aufgerissen, der Grenzer greift über die Tür und macht das Licht im Abteil an. Wir sind sofort hellwach, zeigen unsere Pässe, bedanken uns. Scheiß 8er-Abteile. Hoffentlich steigt niemand mehr zu.

Schlafen. Endlich schlafen. Brittas rosa Hemd ist verrutscht. Der Hauch ihrer linken Brustwarze. Reizüberflutung. Zu viel Terminator 2, zu perfekt, zu viele Informationen und keine Ahnung, wie ich damit umgehen soll.

Britta bemerkt meinen Blick, kichert verschämt und zieht das Hemd zurück. Dann mache ich das Licht aus. Das Schild über der Abteiltür zeigt einen flüchtenden Menschen, der aus dem Bahnhof rennt.

Wie über der Tür zu den Toiletten.

Sechserabteil

 

Interrail ist kein Luxusurlaub. Du hast bereits für ein Ticket 500 Mark ausgegeben. 500 Mark, die du dir in deinem Nebenjob bei McDonald’s verdient hast. Ein Monatsgehalt. Und dann sparst du, wo es geht. 30 Mark für ein Zimmer in einer Jugendherberge? 25 Mark für eine Liege? Oder lieber 3 Mark für die Reservierung eines Platzes im Nachtzug, der dich morgens am Ziel ausspuckt? Keine Frage. Nicht bequem und nicht dafür gemacht, ausgeschlafen anzukommen, sind Nachtzüge die Hotels der Rastlosen. Nicht stehen bleiben, nicht einmal nachts, nicht einmal im Schlaf. Immer weiter, immer schneller, immer auf Achse.

 

1.

 

Der Morgen kommt plötzlich. Als ich aufwache, sehe ich noch immer Brittas Brustwarze, Christians engen Hintereingang, die Rasierklinge auf meiner Haut, spüre den Schmerz und ich bin in Madrid in der Jugendherberge. Achterabteile. Muss grinsen. Werde langsam wach. So ein Quatsch. Wo in der Welt gibt es Achterabteile? In meinem Traum, nur dort, und da hat es einen Sinn ergeben.

»Also, du und Britta?«, fragt Christian auf dem Weg zur Dusche.

»Quatsch. Jetzt hör aber auf. Ich steh doch gar nicht auf sie.«

»Worauf denn dann?«

In der Dusche starre ich auf Christians Schwanz. Ich muss mich mit dem Gesicht zur Wand drehen, weil ich einen Steifen bekomme. Im Traum habe ich mich mit einer Rasierklinge verletzt. Warum habe ich das geträumt?

»Hast du noch Ameisen gefunden?«, frage ich Chris vor dem Prado. Meine Augen brennen. Mir schwirrt noch der Kopf vom Traum der letzten Nacht, einem Traum, in dem ich bereits im Nachtzug saß. In dem ich Brittas Nippel gesehen habe, als Flashback des Erlebnisses im Park.

Warum träume ich davon? Warum von einem Notausgang? Weil das der Ausweg ist aus einer unbequemen Situation, in der ich nicht weiß, welche Richtung ich einschlagen muss.

Ich hatte meine Finger an Christians intimsten Ort, und er lacht nur.

»Zweimal wurden wir von Ameisen angegriffen. Ralle ist der Ameisentöter.«

Ich muss jetzt eine zweideutige Anspielung machen, ihn auf seinen Schwanz ansprechen. Britta lächelt, bevor sie in ihren Ausschnitt greift und das Dekolleté bis knapp über die Brustwarze vergrößert.

»Hier, siehst du? Ist noch von vorgestern.« Ein kleiner roter Fleck prangt auf tief gebräunter Haut, die in einer sanften Rundung mit Perfektion protzt. Und Chris hebt sein T-Shirt und zeigt ebenfalls eine rote Stelle auf der breiten Brust.

Hört auf, denke ich. Das ist zu viel.

Wir stehen im Prado und gucken uns nach einem Frühstück, das aus Bananenjoghurt bestand, Bilder von Hieronymus Bosch an. Warum sind die nicht größer? Sie sehen aus wie einer der Alpträume, die ich als Kind oft hatte. Schreckliche Gesichter, bedrohliche Dunkelheit, Angst vor dem, was kam. Ich war sechs oder sieben gewesen, und die Alpträume waren immer aus einem bestimmten Grund gekommen, beinahe jede Nacht. Der Grund war mir peinlich gewesen, damals, und heute würde ich niemandem davon erzählen. Aber irgendwann konnte ich aus diesen Träumen aufwachen, bevor die Schatten kamen. Ob ich es immer noch kann?

Diesmal nutzen wir die Zeit bis zur Abfahrt, diesmal bleiben wir in den Straßen und den Parks und den Cafés und Museen der Stadt. Madrid ist eine geile Stadt. Ich weiß nicht, warum, aber sie ist toll, sie ist. Groß. Laut. Fremd. Aufregend.

Die Zeit verfliegt. Kurz nach zehn Uhr abends besteigen wir den Zug. Wir machen uns breit, die Füße auf dem Sitz des Nachbarn. Jetzt bin ich wirklich wach und mein Kopf ist wieder klar.

Die Tür wird unsanft aufgerissen, der Grenzer macht den Vorhang auf. Wir zeigen unsere Pässe, bedanken uns. Endlich ein paar Stunden ungestörte Privatheit. Ob es schon nach Mitternacht ist?

Wir machen uns zum Schlafen bereit, ziehen Überflüssiges aus, bis wir fast nackt sind. Brittas rosa Hemd ist verrutscht. Der Hauch ihrer linken Brustwarze. Britta bemerkt meinen Blick, lächelt und zieht das Hemd noch tiefer, um auf die roten Punkte zu zeigen.

»Das juckt ganz schön.« Diesmal ist ihre Brustwarze nicht Ahnung, sondern Wissen.

Florian beugt sich vor. »Kann ich das mal genauer sehen?«

Britta lacht verschämt und zieht ihr Hemd sittsam glatt. Florians Grinsen ist zu offensiv, sein Blick zu direkt.

»Das ist aber auch bequem hier«, sagt Oliver und streckt sich. Seine vor Sarkasmus triefenden Worte werden nie trocknen.

»Wir sitzen schon wieder in einem Nachtzug.« Ich stelle mir vor, wie der Zug wie eine von innen beleuchtete, löchrige Stahlschlange durch trockene Landschaft rast, über uns ein heller Mond am Himmel und unzählige funkelnde Sterne.

Nina grinst wieder wie Meg Ryan, in einer Mischung aus Verlegenheit und Unschuld, und ruft mir ins Bewusstsein, dass wir vielleicht mehr als die Grenze nach Portugal überschreiten werden. Bislang habe ich gedacht, ich sei mit meinen Fantasien alleine, pervers und viel zu weit. Jetzt sehe ich, dass zumindest Nina mir folgen kann.

»Das hast du ja gut bemerkt, Nina«, spottet Oliver.

»Na und?«, frage ich.

»Wisst ihr noch, was im letzten Nachtzug passiert ist?«

Das sitzt. Worte wie pures Adrenalin. Ich muss die Beine unter meinem Schlafsack leicht öffnen, um Platz zu schaffen.

»Ach, Nina«, ruft Britta empört. Doch diese Empörung ist nicht sehr überzeugend. Zu weit steht ihr T-Shirt offen, zu nackt ist ihr Bauchnabel.

»Und jetzt?«

Nina sieht zu Chris hinüber, also wolle sie sich vergewissern, das Richtige zu sagen.

»Los. Wir machen es uns jetzt alle selbst. Kommt.«

Britta runzelt die Stirn. »Jetzt hör doch mal auf mit dem Quatsch. Ich will das nicht hören.«

Florian lässt das nicht gelten und bewirft sie mit einem Kissen. Britta wirft das Kissen zurück, wütend.

»Was ist denn mit euch los?«, fragte sie aufgeregt. »Wieso seid ihr auf einmal so ...«

Nina scheint ihre Frage gar nicht zu hören: »Findet ihr das nicht aufregend? Im Zug? Vor anderen?«

Ich spüre die Aufregung bis in den Hals. Was jetzt? Meint sie das ernst? Jetzt muss ich etwas sagen, muss einschreiten, das verhindern. Oder nicht? Oder ist es noch geiler?

»Dann fang an, Nina«, sagt Chris und nimmt mir die Entscheidung ab. Längst hat die Lust die Regie übernommen.

»Nee, fang du an.«

»Es war doch deine Idee.«

»Okay«, sagt sie und schlägt den Schlafsack zurück. Sofort schiebt sie eine Hand unter den elastischen Bund ihrer Hose in ihr Höschen, falls sie eines trägt.

»Ich fass es nicht«, schimpfte Britta. »Ihr spinnt doch. Das ist etwas so Privates. Das könnt ihr doch nicht einfach so teilen.«

»Wir sind so eng zusammen«, sagt Nina. »Wie privat hättest du es denn noch.«

Britta hat ein weiteres Argument auf der Zunge, doch sie schluckt es herunter.

»Kommt, macht mit«, sagt sie und bewegt ihre Hand. Unter dem Stoff umschließt sie mit den Fingern den Schamhügel. Meine Erektion wächst. Ich werfe einen Blick zur Seite. Chris neben mir sieht nicht so unglücklich aus, wie ich erwartet hatte. Oliver hebt skeptisch die Augenbrauen und rollt dann den Schlafsack herunter. In seinen Shorts ist die Beule unübersehbar. Es raschelt im gesamten Abteil, als die Decken und Schlafsäcke fallen.

Mein alter Kumpel legt eine Hand auf die Beule, nur Britta wehrt sich noch. Nina grinst breit, die Hand in der Hose. »Los, Chris, mehr.«

Mein Herz klopft.

»Sicher?«

Sie nickt, und niemand protestiert. Nicht, lasst, es ist meine Privatsphäre, nur meine. Mein Schwanz gehört mir.

Christian macht den nächsten Schritt. Ich kann es nicht glauben, aber er greift in seine Hose und zieht die Shorts hinunter. Ein Zentimeter. Schamhaar wird sichtbar, dann Haut, fest, ich kann nicht hinsehen. Mein Herz rast. Nina mit der Hand im Schritt bekommt große Augen. Chris hält inne.

»Ganz sicher?«

Nina nickt eifrig und ihre Hand bewegt sich weiter. »Mach.«

Ein Zentimeter mehr. Der Gummibund rutscht tiefer, spannt sich, die Beule wird größer, ich rutsche unruhig auf meinem Sitz hin und her, die Hand im Schritt, in meinem Schritt, und spüre, wie meine Hände zu kribbeln beginnen.

Vor ein paar Stunden habe ich ihn halbsteif gesehen. Im Park. Eine Sekunde später zieht mein bester Kumpel die Shorts über seine Erektion. Der steife Schwanz schnellt in die Höhe. Stille. Der Zug schwankt. Niemand rührt sich. Florians Mund steht offen. Britta guckt in einer Mischung aus Faszination und Abscheu.

»Da staunt ihr, was?«, sagt Christian und packt sein Ding. Das also habe ich all die Jahre verpasst. Ich habe noch nie einen so perfekten Schwanz gesehen. So lang wie meiner, aber besser geformt. Die Eichel liegt frei und zeigt ein wenig nach oben. Er sieht mich an.

»Na los, Ralle, zeig.«

Widerstand. Wider. Zwecklos. Ich hebe den Hintern vom Sitz und ziehe die Shorts herunter.

»Der ist ja riesig«, sagt Nina mit großen Augen.

Das lässt Florian nicht auf sich sitzen. »Ach ja?«

Mit zwei Handgriffen ist auch er von der Hüfte abwärts nackt. Sein Schwengel schnellt hervor. Auch nicht schlecht, aber kleiner als meiner. Mein Gott, hat er viele Haare zwischen den Beinen. Affe. Seine Lunte zieht sich bis zum Bauchnabel.

Oliver zu meiner Linken zögert ebenfalls nicht mehr lange. Seiner ist lang und dünn und unheimlich steif. Und dann richten sich alle Augen auf Britta, die von einem zum anderen sieht.

»Britta macht eh nicht mit. Die ist viel zu prüde«, provoziert Oliver, und Britta lässt sich provozieren. Ich habe fast das Gefühl, als wolle sie es. Sie will vor allem Oliver, und um ihn zurückzugewinnen, macht sie alles.

»Bin ich nicht.«

»Natürlich bist du das.«

Gleich fängt sie an zu weinen, noch eine Provokation mehr. Ihr Blick wandert von einer Erektion zu anderen. Was würde sie machen? Sich den Schlafsack bis über beide Ohren ziehen und sich aus allem heraushalten? Zwei Atemzüge später hat sie sich entschieden.

»Aber nur, wenn du auch mitmachst.«

»Wonach sieht das hier aus?« Nina bewegt die Hand in ihrem Höschen und zuckt dabei zusammen.

 Britta schiebt sich die Hand in den Slip. Ihre Finger wölben den Stoff über ihrer Scham. Ihre Augen verengen sich zu schmalen Schlitzen. Mit der ganzen Hand, so kann ich es erkennen, reibt sie. Doch Nina reicht es noch nicht.

»So wie die anderen.«

»Nackt?«

Oliver wichst seinen Schwanz langsam und genüsslich. »Zu prüde«

Britta sieht ihn giftig an. »Eins.«

Sie greift in den Gummizug. »Zwei.«

Nina hebt den Po an. »Drei.«

Die beiden Mädchen ziehen ihre Slips herunter. Schamhaar. Echtes Schamhaar. Nicht auf dem Fernseher, nicht auf Papier, und hier rattert nicht der Videorecorder, sondern der Zug.

 Britta wirft ihren Slip auf den Boden zwischen die Schlafsäcke. »Zufrieden?«

Oliver lacht, lacht verlegen, bloßgestellt. Brittas Offenheit überrascht ihn doch. Schweigen. Peinlich? Wir haben unsere Hände an uns, stumm, sehen uns an, aneinander vorbei, in einem intimen, privaten Moment.

Wir schaukeln im Rhythmus des Zuges. Jeder berührt sich zwischen den Beinen, packt hartes, pulsierendes Fleisch mit festem Griff, schüttelt, massiert, steckt Finger in enge Öffnungen, reibt und streichelt.

Mein Blick macht die Runde, immer auf Höhe des Schoßes, der Hände. Wie geil es aussieht, wie neu. Nackte Jungs, nackte Mädchen. Besser als keine Wichsvorlage. Denk nicht an die Frau vom Jugendamt, denk nur an perfekte Brüste, Pobacken, gespreizte Schenkel, glatte Haut, dunkles Haar, steife Schwänz und glänzende Eicheln, an pralle Hoden und feuchtes Glitzern.

Chris ist der Typ in den Dünen, in meinen Heften, und auch Britta, Oliver, Florian und Nina werden zu den Figuren aus meinen Büchern, nehmen die Gestalt von Théo und Zézette an, aus dem Buch aus dem Schrank meiner Eltern.

Die fünf werden zu Pierre und Thumette, wie sie sich ein französischer Autor ausgedacht hat, und ich bin in meinem Bett, knie davor, lese und stelle mir nur vor, wie es wäre, dabei zu sein, bis zum Höhepunkt. Um danach mein Buch zuzuklappen und entspannt und glücklich die Nachwirkungen des Orgasmus zu genießen.

Ich kann meinen Blick nicht von meinem Kumpel Chris, meinem besten Freund abwenden, der mir nur ein paar Zentimeter entfernt gegenübersitzt. Seine Augen sind weit aufgerissen. Er hat die Beine ausgestreckt.

Mit langen Bewegungen wichst er seinen harten Schwanz, diesen perfekten Schwengel, knetet und massiert, spannt die Muskeln an und keucht.

»Wie oft macht ihr es euch?«, fragt er keuchend, als könne er das Schweigen nicht ertragen. Nina sieht von einem zum anderen, immer zwischen die Beine, schamlos, mit leicht geöffneten Lippen.

»Am Tag?«, fragt Oliver keuchend zurück. Er nimmt die linke Hand. Ist er überhaupt Linkshänder?

Mich reitet es. »Oder meinst du in der Stunde?«

Doch Chris will keine Antwort. Niemand will eine Antwort, wir wollen jetzt nur noch den Höhepunkt, während wir uns mit den Augen abtasten.

Wie lange kann man in einer Gruppe von sechs jungen Menschen den Orgasmus zurückhalten? Wie nah kann man sich beim Wichsen sein? Sechs Hände an jugendlichen Geschlechtsteilen, knetend, reibend, erforschend, während draußen Portugal einem neuen Tag entgegen schaukelt. Wie viel gemeinsame Lust ist möglich?

Britta zieht die Füße auf den mit grünem Stoff bezogenen Sitz, reibt sich mit zwei Fingern immer schneller die feuchte Möse. Die andere Hand hat sie unter ihrem T-Shirt, das mehr als nur einmal einen steifen Nippel blitzen lässt. 

Wir keuchen und schnaufen und Haut klatscht auf Haut. Was, wenn Nina plötzlich Christian anfasst oder Oliver nach Britta greift? Was dann? Sind wir nicht viel zu prüde? Ist das nicht nur eine Phantasie? Meine Fantasie, die mir nur alleine gehört?

Eine verschüttete Erinnerung kehrt zurück, mit allen Details. Du warst 15. Ist es wirklich schon fünf Jahre her? Fünf Jahre, seit du im Ferienlager mit Stefan mehr gemacht hast, als du dir hättest träumen lassen. Als du einen anderen Jungen angefasst hast.

Und dann komme ich. Ich hebe den Hintern vom Sitz, reiße mich noch einmal am Riemen und beende alles zähneknirschend. Lust rauschte durch meinen Köpf wie ein Nachtzug durch die portugiesische Extremadura. Das bringt Florian zum Abschuss. Britta zuckt neben Nina, Christian spritzt im hohen Bogen, Oliver kommt kurz darauf. Sein Sperma quillt aus dem kleinen Loch an der Spitze der Eichel wie zähflüssige Lava aus einem Vulkan. Nina fingert sich hechelnd zum Höhepunkt. Sie verdreht die Augen. Ihre Titten unter dem T-Shirt wippen auf und ab. Ich befinde mich in einer Welt der Lust, ohne falsche Scham, ohne Barrieren, und sie fühlt sich erstaunlich echt an.

Zuckende Unterkörper, hüpfende Brüste, spritzende Penisse, feuchte Finger und geöffnete Schenkel. Und dann hängen wir in den Sesseln, peinlich berührt, schweigend. Rasch in die Höschen schlüpfen, die Schlafsäcke über die Beine legen, das Kissen im Kopf zurechtrücken und kichern. Ab und zu gähnen. Wir löschen das Licht bis auf die Notbeleuchtung

»Ihr seid bekloppt«, höre ich Christian noch sagen und spüre seinen Fuß auf meinem Sitz. Ninas Hand ist unter dem Schlafsack verschwunden. Ich bin müde.

Ich bin.

Am Ende.

Am Ende ist jeder Bahnhof gleich schmutzig, selbst im Traum? Viele Menschen, Gedränge und Drogendealer. Kein Plan von Lissabon. Ich laufe durch die Stadt und fühle mich wie im falschen Film. Ich habe keine Ahnung, was ich hier soll. Lissabon ist eine alte Nachricht aus dem Fernsehen.

Ein brennendes Viertel, eine durch Feuer zerstörte Altstadt. Haschisch. Aus dem Joint tropft Öl, und Oliver wirft Britta vor, viel zu verklemmt zu sein.

Britta kifft, bis sie kotzt und ich mich neben sie hocken muss, um ihr den Kopf zu halten. Sie würgt.

Keine Schiffe im Hafen, die sich mit der Dünung sanft auf und ab bewegen, keine Schiffer, die mit ihren Fängen einlaufen, Tausende hungriger Möwen im Schlepptau, sich gierig auf alles stürzend, was über Bord geht. Keine Seefahrerromantik, nur Industrie, grau und hässlich.

Was Schönes ist woanders. Schön. Mauchelschnauf- Kopfkissen sind weich ist der Gedanke und das Haschisch. Es dreht sich alles ist zu müde.

Der Wagen schlingert. Schweißgebadet wache ich auf. Ich taste mich ab. Wo bin ich? Im Zug. In meinem Kopf schwirren die Bilder des Traumes.

Schläfst du und träumst du davon, aufzuwachen, oder bist du wach und denkst du zurück an den Traum von letzter Nacht? Ich kneife mich und spüre den Schmerz.

Ich habe von Lissabon geträumt und Erinnerungen der vergangenen Tage wie Bausteine neu kombiniert. Und jetzt hängen die Bilder vor meinen Augen. Was ist zuletzt passiert?

Meine Hand klebt und mein Schlafsack ist feucht.

Oh, fuck. Wir sind längst hinter der Grenze.

Draußen schleichen Industriegebiete im Morgengrauen vorbei. Sind das schon die Vororte von Lissabon? Ich gucke auf meine Uhr. Wir müssen aufstehen.

Trittbrettfahrer

Wenn du morgens, ungewaschen und müde, in einer fremden Stadt aufwachst, ist der einzige Trost der, unterwegs zu sein in einem Land, in dem dich niemand kennt. Interrailer kennen keine Eitelkeiten. Fettige Haare, Schlaffalten und schlechter Atem sind kein Ausschlusskriterium für einen souveränen Auftritt.

Mit dem Rucksack auf dem Rücken kannst du ohnehin keinen mehr beeindrucken. Der Beutel vor deinem Bauch, das verschwitzte T-Shirt, der Drei-Tage-Bart sind Zeichen deiner Unabhängigkeit. Dich interessiert nicht, wie die Menschen am Ziel dich sehen. Dich interessieren nur der nächste Strand, die Jugendherberge und McDonald’s.

 

1.

 

Schon beim Aussteigen auf Gleis 3 werden wir abgefangen. Ein schäbig aussehender, älterer Mann mit schlechten Zähnen bietet uns Haschisch in ganzen Platten an.

»Hashish, wanna buy hash. Cheap, cheap, good quality

Oliver und Florian gehen die Augen über, hingen am Haken. Pawlow hieß der Hund? Oder ist es der Hund von Pawlow? Scheiß Halbwissen. Die Aussicht auf billigen Stoff ist zu verlockend für die beiden.

Doch verzerrt nicht bereits die tägliche Dosis Dopamin jede Wahrnehmung? Sind wir nicht schon weit genug entfernt von unserem normalen Leben? Ist es Gewohnheit oder die Suche nach dem vertrauten Kick? Und bestimmt ist es auch der Reiz der Verbotenen. Ich freue mich auf den Joint am Abend.

 »It’s legal to own here in Portugal«, sagte der Mann mit vom portugiesischen Akzent so verhunztem Englisch, dass ich ihn kaum verstand, doch selbst dem coolen Florian ist nicht wohl dabei, auf einem belebten Bahnsteig zwischen Hunderten von Menschen Haschisch zu kaufen.

Ich kann mich derweil kaum auf die Bahnhofsarchitektur konzentrieren, nicht die Hinweisschilder zur Vorortbahn suchen oder nach einem Geldautomaten Ausschau halten. Meine Verwirrung ist zu groß.

Bilder der letzten Nacht hängen vor meinen Augen wie verwackelte, überbelichtete Schnappschüsse eines Wohnungseinbruchs. Man sieht die aufgerissenen Schubladen, verstreut auf dem Fußboden liegende Kleidungsstücke, die Schäden an der Wohnungstür. Eine zerbrochene Vase, ein umgestürzter Stuhl. In das ganz private Wohnzimmer ist jemand eingedrungen und hat den eigenen vier Wänden die Unschuld genommen.

Jetzt gleiche ich ab. Wie es war und wie es ist.

Momentaufnahme am Morgen danach. Der Tatort ist geräumt, die Scherben der Vase beseitigt, die Klamotten wieder in die Schubladen geräumt. Doch ist es so wie zuvor? Kann es das überhaupt sein? Es wird immer der Ort sein, in den jemand eingedrungen ist, an dem jemand die Unverletzlichkeit des Eigenheimes missachtet hat.

Wer macht vergessen, was war?

Oliver steht auf dem Bahnsteig neben Florian und verhandelt mit dem Dealer. Der Gips an Olivers rechter Hand ist nicht mehr Ausdruck der Hilflosigkeit oder Arroganz, sondern des Umstandes, dass er sich jetzt mit links einen runterholen muss.

Olivers verkniffenes Gesicht beim Verhandeln und beim Abspritzen - irgendwie gleich. Daneben, vor einer Tafel mit einer Werbung für ein Konzert in der Stadt, stehen Christian und Nina. Ninas Finger, die den Griff einer Plastiktüte voller angebrochener Lebensmittel umklammert halten, drängten sich vor Stunden noch zwischen ihre Beine.

Christian sieht konzentriert zu, wie im Moment des Höhepunkts zeigt er kaum eine Regung. Die Flecken auf seinem T-Shirt rühren nicht vom Fruchtjoghurt her.

 Britta wartet ratlos, weiß nicht wohin, sieht zu mir. Ihre blaue Hose lässt sich mit einem schnellen Handgriff herunterziehen. Ihre Unsicherheit, die Zurückhaltung, die weit geöffneten Augen, als sie sich mit ihren kleinen Fingern zum Orgasmus streichelt. Diese Augen werden sich immer genau so weiten wie beim Höhepunkt im Zug.

Die Momentaufnahme am Morgen danach, verglichen mit den Szenenfotos vom Vorabend.

Nie wieder wird es so sein wie zuvor. Ich würde jetzt immer hinter den Hosen die Dinger meiner Freunde sehen, auch in den unschuldigsten Situationen, so wie die Einbruchsspuren an der Tür, dort wo der Einbrecher den Kuhfuß angesetzt hatte. Freunde gleich Schwanz.

Olivers dünner, langer in seinen schwarz gefärbten Bundeswehrhosen. Christians perfekter, mit der nach oben gebogenen Spitze unter der abgeschnittenen Jeans. Florians kurzer, dicker unter den Basketballshorts.

Ich sehe unter den Hosen, den Jeans, dem dünnen Stoff die Haare von Ninas dunkler Scham, sehe die Schenkel von Britta, das feuchte Glitzern, ihr Hecheln.

Die überbelichteten Aufnahmen vom Tatort würden immer da sein, vor meinen Augen, und es würde nie wieder so sein wie zuvor. Wir haben ohne Scham voreinander unsere Geschlechtsteile entblößt und masturbiert. Oliver, Britta, Nina, Christian und Florian sind jetzt Wichsfreunde und werden es bleiben. Nachtzug hat jetzt die gleiche Bedeutung wie Wichsen. So wie nach meinem ersten Kondomkauf das Wort Plaisir, das auf die kleine Packung über das Foto mit der barbusigen Frau gedruckt war, später immer diese Assoziation weckte.

Und dann bewegen sie sich wieder. Momentaufnahme verwackelt. Der Film geht weiter.

Florian lehnt das Angebot des ersten portugiesischen Dealers ab. Doch es wird bestimmt nicht das letzte sein. Der Geldautomat spuckt Escudos aus. Wie ist der Kurs im Verhältnis zur Mark? Durch 30 teilen? Wo befindet sich der Bahnhof für die Vorortbahnen?

Florian und Oliver laufen noch einem weiteren Dealer in die Hände. Der Konsum sei straffrei, der Besitz von zehn Gramm auch. Er hält sein Feuerzeug unter eine große Platte Haschisch. Oliver und Florian geben ihr erstes Geld in Lissabon für Bobel aus.

»Jetzt eine Runde barzen«, schwärmt Oliver. Britta starrt verächtlich über den großen Platz vor einem kleinen Triumphbogen, der in der Morgensonne glänzt.

Die Jugendherberge Catalazete liegt ein paar Kilometer vom Zentrum entfernt in Oreios. Mit der Regionalbahn brauchen wir eine halbe Stunde. Oliver und Christian nicken nach dem ersten Kilometer ein. Die Nacht im Zug war zu kurz. Wieder sehe ich den beiden in den Schritt. Christian grinst mich an.

»Na, Long Dong Silver«, sagt er provokant. Ich höre neben Neid auch Bewunderung. Als käme es auf die Länge an. Ein blöder Gedanke kommt mir in den Sinn. Mein Herz wummert peinlich berührt. Wenn ich das nur sagen könnte. Jetzt, in dieser Situation. Aber das sagt man nicht.

Ich kann es nicht aussprechen, kann nicht zu Chris sagen: Du, dein Schwanz sieht viel besser aus, viel mehr wie in den Pornos. Warum nicht? Warum kannst du es nicht sagen? Nina starrt mich ebenfalls an, ihr Meg-Ryan-Grinsen treibt die Augen zu schmalen Schlitzen, auch darin viel Unsicherheit.

»Ich hätte nicht gedacht, dass wir das machen.«

Sag es. Sag: Dein Schwanz sieht viel besser aus als meiner.

»Ich auch nicht«, sage ich. Gelegenheit vorbei. Britta nestelt nervös an ihrem Rucksack, hinter dem sie beinahe verschwindet. Ihre Augen wischen fahrig von einem zum anderen. Auf der anderen Seite des Ganges sinkt Florians Kopf auf Olivers Schulter.

»Und jetzt?«

 Ninas T-Shirt spannt über ihren Titten und dem BH. Durch den Stoff bohren sich auch die Nippel. Ihre Nase bläht sich aufgeregt. Was jetzt? Überbelichtete Schnappschüsse eines Wohnungseinbruchs. Feuchte Finger, gespreizte Schenkel, spritzendes Sperma. Ich zucke mit den Schultern. Keine Ahnung. Mir zittern die Finger.

Mehr Nähe? Ist es das, was du willst?

Britta starrt stumm über ihren Rucksack. Die Wohnung ist kein unberührter Ort mehr. Einmal entweiht, für immer befleckt.

Was gibt es jetzt noch zu verbergen?

Sag es, sag es.

Einen Moment lang fühle ich mich, als würde ich fliegen. Plötzlich wird der Zug langsamer, die Bremsen quietschen. Auf der anderen Seite des Ganges wacht Flo auf, hebt müde die Augenbrauen und starrt zu uns herüber.

 

2.

 

Ein restauriertes Fort direkt an der Tejo-Mündung ist Oase für rastlose Interrailer aus allen Ländern der Welt. Neben uns checken drei Engländer aus, hinter uns stehen Holländerinnen, und im Foyer lümmeln sich Amerikaner oder Australier oder Israelis oder Schweden.

Ich kann sie nicht auseinanderhalten. Sehen alle gleich aus mit ihren blonden Haaren, großen Rücksäcken, Wanderstiefeln, braungebrannten Gesichtern.

Wir Jungs teilen uns ein 4er-Zimmer. Die Mädchen müssen zu zwei unbekannten Damen ins Zimmer. Das passt Britta gar nicht. Ist es wegen Oliver? Damit sie mit ihm in einem Zimmer sein kann? Nachdem wir das Gepäck abgestellt und uns frisch gemacht haben, brechen wir wieder auf. Zurück nach Lissabon. Der Himmel ist blau, die Möwen kreischen.

Mit der Electrico 28 rasen wir durch die Altstadt, doch ich habe statt für die Alfama nur Augen für Christian. So viele Jahre haben wir nebeneinander im Kino gesessen und ich habe nie geahnt, wie perfekt sein Schwanz ist. Geht Britta vor mir, starre ich auf ihren Hintern. Vom Kastell über der Stadt haben wir einen guten Blick auf eine Stadt, die mir nichts bedeutet. Die Sprache verstehe, die Geschichte kenne, die Kultur begreife ich nicht. Ich denke nicht an Kulturdenkmäler. Ich atme ein, ich atme aus, ich denke an Sex.

Am Abend, nach mehr Kultur, als ich aufnehmen kann, setzen wir uns ans Wasser. Der Sonnenuntergang ist viel zu romantisch, um ihn ernst zu nehmen.

Weit hinter der Jugendherberge versinkt der Ball zwischen den Häusern, und wir haben nur Spott übrig.

»Wenn sie wenigstens ins Meer tauchen würde«, sagt Christian.

»Jeden Tag das gleiche«, sage ich. Das Bier ist schal. Vier weitere portugiesische Biere kribbeln hinter meiner Stirn. Britta lächelt über unsere Köpfe hinweg. Ihre Wangen leuchten orange.

Florian fummelt nach seinem Tabak in der Lederjacke. »Ich bau jetzt einen, und dann können wir ein wenig um die Ecke ditschen.«

 »Und 'ne Runde absoften«, sagt Oliver. Er ist sehr cool. Nina verdreht die Augen. Ihre Hand zappelt unruhig unter Christians T-Shirt. Spielverderberin.

Ich würde ihn jetzt gerne anfassen. Brandung peitscht an die Felsen der Mole. Wir sitzen fast am Ende, dort wo tagsüber die Fischer hocken und mit blutigen Ködern nach Doraden angeln. Jetzt sind wir die einzigen Interrailer, Touristen, Kiffer.

Links von uns erstreckt sich halbmondförmig der schmutzige Strand, vor uns die breite Mündung des Tejo und rechts das offene Meer. Auf dem Strand ist bestimmt mehr los.

 Britta zieht nervös ihr enges Oberteil glatt. Ihre Tasche, die sie immer bei sich trägt, liegt zwischen ihren Beinen. Warum ist sie hier? Ihre Blicke suchen immer wieder Oliver. Jede seiner Bewegung löst eine sichtbare Reaktion bei ihr aus. Sie lacht ihn an und hofft auf eine Gegenreaktion.

Warum vergisst sie ihn nicht einfach? Es gibt so viele andere Typen, sogar in unserer Klasse. Unter meinen Armen trocknet der Schweiß. Das T-Shirt drückt sich kühl an meinen Rücken.

Florian krümelt Haschisch in die Zigarette, dreht sie zu einem Joint und zündet sie an. Nina steht in diesem Moment auf, zieht Christian mit sich.

»He, was ist denn?«

»Ich muss mit dir reden.«

»Wollt ihr nicht?«, fragt Florian mit dem Joint in der Hand. Die beiden verschwinden über den Damm.

»Von wegen reden«, sagt Oliver. Sturmfreie Bude, das trifft es wohl eher. Britta starrt den beiden enttäuscht hinterher. Dann bleibt ihr Blick auf dem Joint haften. Los, Britta, trau dich. Der Rausch ist schnell und zappelig. Ich kichere, Oliver lacht meckernd, Florian grinst schweigend.

Und Britta hustet, schwankt auf dem Stein, wedelt sich den Rauch aus der Nase, grinst und nimmt noch einen Zug. Die Mole kippt leicht nach hinten, die Sterne schälen sich quietschend aus dem dunkelblauen Abendhimmel.

Über der Jugendherberge schräg rechts von der Mole, auf der anderen Seite der kleinen felsigen Bucht, leuchtete der Himmel wie ein Batik-T-Shirt. Wie mein T-Shirt. Wieso habe ich so ein T-Shirt? 

 »Das ist total out«, sagt Florian nicht ohne Bewunderung. Er ist nur neidisch darauf, dass mir egal ist, ob etwas out ist oder nicht.

Britta setzt sich auf ihren Hintern, auf den Stein, auf einmal. Gibt den Joint weiter. Florian legt die Hände zusammen, als wolle er in der hohlen Hand pfeifen, klemmt die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger der einen Hand und saugt die Luft durch die Lücke zwischen Daumen und Zeigefinger.

Tabak brennt sich knisternd in das Rauschen des Meeres. Britta reißt die Augen weit auf. Braune Strähnen hängen ihr ins Gesicht. Sie brütet etwas aus.

Ich nehme Florian den Joint aus der Hand.

Einmal noch.

Das Kribbeln hinter der Stirn wird drei Meter groß und zieht Schlieren. Die Brandung wippt meinen Rücken hinauf. Oliver zupft den Joint aus meinen Fingern, die sich bewegen müssen.

 »Warum liebst du mich nicht?«, fragt Britta unvermittelt. Ich starre Oliver an, Oliver starrt zurück und bricht, den rauchenden Joint in der Hand, in prustendes Lachen aus.

Oh Britta.

Jetzt kann ich lachen, kichern, grölen. Dazwischen Britta, verblüfft.

 »Ich mein das ernst«, nuschelt sie und scheint zu glauben, es dadurch besser zu machen. Oliver lächelt gönnerhaft.

»Tja, Britta, vielleicht bist du auch einfach nicht offen genug.« In einer dramatischen Pause saugt er am Joint, atmet den Rauch tief ein, bis er vor seinen Lippen wabert, um ihn seiner Ex-Freundin ins Gesicht zu blasen. »Du bist zu verklemmt.«

»Bin ich nicht«, sagt sie, reißt ihm den Joint aus den Händen und setzt ihn an ihre Lippen. Sie kneift die Augen zusammen. Die Wangen wölben sich nach innen.

»Ich hab mich mit euch im Zug selbst befriedigt, und ich … «

»Du hast mir nie einen geblasen«, sagt Oliver unvermittelt. »Und du hast dich nicht lecken lassen.«

Britta hustet. Erschrocken? Überrascht? Empört? Bekifft? Ein herzliches Lachen bahnt sich den Weg durch meinen Hals über die Zunge aus meinem Mund. Perlend, prickelnd. So geil.

Britta, wie sie ihm einen bläst? Sich lecken lässt?

Niemals. Die doch nicht.

»Aber ich wusste doch gar nicht, dass dir das gefällt«, presst Britta hervor. Ihre Augen werden ganz klein. Sie unterdrückt ein Husten. Muss sie nicht heulen, bis ihr das Wasser über die Wangen läuft? »Ich kann doch deine Gedanken nicht lesen.«

Wie gut, dass sie dazu nicht fähig ist, denn in meinem Kopf ist der Teufel los. Wenn ihre Nase nicht wäre und das braune Haar. Ich bin gespannt, wohin die Reise geht. Oliver grinst wieder. Florian entwindet ihr den Joint. Bevor er einen nächsten Zug nimmt, rotzt er den geilsten Spruch des Abends raus.

»Meine Freundin hat es beim ersten Mal in den Arsch gewollt. Ganz ohne, dass ich was gesagt habe.«

Britta hält sich stumm vor Überraschung erschrocken eine Hand vor den Mund. Ihre braunen Haare flattern in der steten Brise, die vom Meer herüberweht. Die Spange kann sie nicht mehr halten. Es riecht nach Fisch, Seetang, Salzwasser und schwerem Motorenöl.

»Es geht ja nicht nur um diese eine Nacht. Es geht um Lust«, sagt Oliver. Den Arschfick lässt er im Raum stehen. »Du bist total lustfeindlich. Das ist die Religion. Die Katholiken sind so. Deshalb glauben die auch daran, dass so was wie Zölibat funktioniert.«

So ein blöder Sack. Gestern im Zug, das sah nicht lustfeindlich aus. Erkennt er das nicht? Meine Wut auf ihn wächst, und ich weiß nicht warum. Weshalb ergreife ich Partei für die dumme Nuss? Weil Britta blind verliebt ist, und deshalb die Sympathien auf ihrer Seite haben muss? Oder weil ich sie darum beneide, dass sie kompromisslos liebt?

Und vielleicht hasse ich Oliver auch dafür, dass er diese Liebe ausschlägt. Meine Gedanken drehen sich matt. Kein Kichern mehr. Kein buntes Kitzeln in meinem Kopf. Auf der Kaistraße donnert ein LKW durch Schlaglöcher. Immer mehr Lichter gehen an. Die Mole bekommt Umrisse wie ein Scherenschnitt.

»Und was soll ich jetzt machen?«

»Nichts. Du bist zu verklemmt. Und Schluss.«

»Bin ich nicht.«

»Bist du nicht?«

»Nein.« Britta trotzt zu Oliver hinüber. »Soll ich es dir beweisen?«

Mein Herz bleibt beinahe stehen. Diese dumme Nuss würde das sogar machen. Hier und jetzt. Ganz bestimmt. Britta hat schöne Hände. Wie im Film. Oliver grinst, doch sein Grinsen ist flackernd, unsicher.

»Du könntest mir hier einen runterholen.«

»Oliver, lass das«, sage ich und stehe auf. Ich muss in die Herberge, auf Klo, jetzt.

»Ich kann euch auch gleich allen einen runterholen.«

»Klar, warum nicht, noch besser.«

Britta sitzt noch immer, die Lippen zusammengepresst, vor uns auf den Felsen. Hinter ihren Fäusten geballter Trotz. »Es kann dir doch egal sein, wie Oliver seine Traumfrau haben will. Du musst doch nicht seine Erwartungen erfüllen«.

»Ich zwing sie zu nichts, sie kann machen, was sie will.« Oliver hebt die Hände. Dieser Gips um seine Hand, dieser blöde Gips, dieser arrogante Gips.

»Es ist mir aber nicht egal«, entgegnet Britta trotzig. Merkt sie, wie quengelnd ihre Stimme klingt? Wie sie einem schmollenden Kind ähnelt statt einer selbstbewussten Frau? Geh schon, fordere ich sie stumm auf, steh auf und geh zu Christian und Nina. Lass dich nicht provozieren.

Ich nehme meine leere Bierflasche und will über sie hinweg auf den nächsten Felsen steigen. Doch plötzlich ist ihre Hand an meinen Shorts. Links und rechts krallen sich ihre Finger in den Bund. Mit einem Ruck zieht sie die Shorts bis zu den Knien herunter. Mein Herz bleibt vor Schreck fast stehen. Wenn das jemand sieht?

»Britta, das ist doch Quatsch, das musst du nicht machen«, bettle ich beinahe und ziehe mit der freien Hand die Hose hastig wieder hinauf. Doch Brittas Hände hängen weiter im elastischen Bund. Sie blickt entschlossen zu mir hinauf, über die Beule in meiner Unterhose hinweg.

»Ich will aber«, sagt sie und zerrt wieder an der Hose. Das ist mir zu nah, zu viel. Diese dumme Nuss, warum macht sie das? Als ich ihr das halb im Scherz im Park in Madrid vorgeschlagen habe, hat sich mich noch für einen obszönen Spinner gehalten. Und hier? Nur weil es Oliver ist? Die dumme Nuss kann mich mal.

»Nicht, Britta, lass das«, versuche ich ein letztes Mal. Von oben kann ich in Brittas Ausschnitt sehen. Bohren sich etwa ihre Nippel durch den Stoff?

Mein Protest ist zu schwach, mein Herz klopft viel zu schnell, die Beule in meiner Unterhose viel zu groß. Mit einem letzten Zerren entreißt sie den Stoff meinem viel zu nachlässigen Griff. Florian grinst so breit wie Oliver, als Britta auch die Unterhose mit einer Selbstverständlichkeit in der Vertikalen bewegt. Aus der Beule wird im Handumdrehen eine Gerade, hart und pulsierend.

Wie früher, wenn ich mir beim Zeitungsaustragen im Schutz der Dunkelheit einen runtergeholt hatte, oder beim Joggen, oder noch vor ein paar Tagen im Zug, mit Flos und Christians geilen, perfekten Schwänzen vor Augen. Schaudernd spüre ich die Lust durch mein Hirn schwemmen.

»Britta, nicht ...«, sagte ich noch. Oliver lacht schäbig.

»Da haben sich ja zwei gefunden. Du bist also selbst total verklemmt.«

Ich glaube, ich hör nicht richtig. »Was?«

Sein Grinsen wird noch eine Spur überheblicher. »Du kannst doch noch nicht einmal sagen: Ich fände das geil, wenn mir jetzt jemand einen runterholt.«

Mein Herz schlägt auf einmal so schnell, dass mir der Hals eng wird. »Natürlich kann ich das sagen.«

Flo saugt am Joint, hält die Luft an und reicht ihn mir. Als er langsam ausatmet, höre ich etwas wie »Vielleicht hilft das.«

Ich atme den Rauch tief ein. Die Droge schießt mir ins Hirn. Meine Gedanken dehnen sich wie ein Kaugummi. Jetzt kann ich es sagen. Jetzt kann ich. Mit heruntergelassenen Hosen stehe ich vor meinen Freunden. Meine Erregung ist unübersehbar.

»Von mir aus kann sie mir gleich hier einen runterholen.«

Flo kichert und Oliver verschränkt die Arme vor der Brust.

»Ich glaube nicht, dass das alles ist, was du jetzt willst.«

Das Rauschen in meinen Ohren – ist das die Brandung oder mein Blut?

»Was meinst du?«, flüstere ich. Nicht alles? Woher weiß er, dass ich mehr will? Ahnt er, dass ich ihre Schwänze sehen will?

Die drei lachen plötzlich. Habe ich das etwa laut gesagt?

»Dann los«, sagt Oliver aufgeregt und zeigt auf Florian.

Der stellt sich auf die Zehenspitzen und starrt die Mole hinunter bis zur Straße. Zwanzig Meter Einsamkeit. Lichter funkeln schwach. Es ist schnell dunkel geworden und ich kann keine Bewegung um uns herum erkennen. Es ist wie im Theater. Die Bühne der Welt herum ist hell erleuchtet, und uns im Zuschauerraum sieht man nicht.

Noch während er sich wieder umdreht, hat er bereits seine Hände am Hosenbund. Mit einer kurzen Bewegung streift er die Hose herunter. Sein Penis hängt schlaff zu Boden. Kaum einen Meter entfernt, in Reichweite, wächst langsam eine Erektion. So nah war mir Florians Ding noch nicht einmal im Zug.

Vor uns sitzt Britta regungslos auf den Felsen. Eine Hand noch immer in den Stoff meiner Shorts verkrallt, die zwischen meinen Beinen liegen wie Strandgut. Ihre Blicke wandern von einem zum anderen. Die Brandung peitscht. Der kühle Abendwind presst mein T-Shirt an meinen Rücken.

Meine Erregung ragt unter dem Hemd hervor. Dieser verdammt perfekte Schwanz. Der ist ja so hart und gerade und perfekt wie der von Christian.

»Na los, greif zu«, sagt Flo und ich ahne, dass er nicht zu Britta spricht. Mein Mund wird trocken. Das kommt vom Kiffen, oder nicht? Meint er das Ernst?

»Ich seh’ schon, du packst das nicht«, sagt Oliver. Wen meint er?

Sie zieht die Nase hoch. In der Ferne rattert ein Vorortzug. Lachen hallt über das Meer zu uns herüber. Möwen kreischen. Ein Ruck geht durch ihren Körper und fünf Finger, flink, warm und weich, schließen sich um meine Stange.

Ein Blitzschlag direkt ins Hirn, wie ich ihn sonst nur vom Orgasmus kannte, ist ihre Berührung. Die Hand so weich, der Griff so fest, die Nähe so groß. Ein stilles Gebet von einem Atheisten an den Gott der Wollust.

»Gut so?«, fragt sie leise. Ihre Hand klatscht an meinen Bauch.

»Ja, hör auf, das reicht«, flüstere ich, obwohl ich es nicht so meine. Noch nicht aufhören. Mach weiter bis zum Ende. Das geht nicht. Das ist nicht korrekt.

»Oliver, sag ihr, sie soll aufhören.«

Flo hebt die Augenbrauen wie Tom Selleck als Magnum im Trailer zur TV-Serie. Sein Schwanz ist längst nicht mehr schlaff. Er meint mich. Ich darf auch zugreifen, so wie Oliver vor ein paar Tagen im Zelt neben mir. In Arcachon. Wie in meinem Traum.

Ich strecke die Hand aus und umfasse die harte Stange, berühre die weiche, sanfte Haut, spüre die Lust darunter pulsieren.

Der Kontakt ist da. Ich kann es kaum glauben. Was ich mir vor ein paar Tagen in Madrid nur im Traum vorstellen konnte, ist plötzlich Wirklichkeit. Florian schließt die Augen. Und mit zwei, drei schnellen Bewegungen bringe ich Leben in die Schwellkörper.

Wie geil, wie pervers. Britta hat ihre Hand um meinen Schwanz geschlossen und wichst ihn. Ich kann es kaum glauben. Sie massiert holt mir einen runter und ich zur gleichen Zeit meinem Kumpel Flo. Und es ist so anders, so gut, so überraschend neu. Selbst wichsen mit der ungewohnten linken Hand ist, wie mir in diesem Moment bewusst wird, auch nicht annähernd zu vergleichen mit dem Gefühl, das eine fremde Hand auslöst. Brittas Griff ist vorsichtiger, fremder.

Ich rolle mein T-Shirt mit der linken Hand hoch, mit der rechten massiere ich Florians Schwanz, als wäre es mein eigener. Ich habe es geübt, so viele Jahre alleine in meinem Zimmer. Jetzt mache ich es bei einem anderen Jungen und es ist geil.

Unter meinem Bauch bewegt Britta ihre Hand in der Horizontalen besser, als ich es jemals selbst gekonnt hätte. Der Rhythmus ist perfekt, die Stärke ihres Griffs genau richtig. Vorsichtig, so als hätte sie es im Bordell gelernt. Wie oft hat sie Oliver wohl einen runtergeholt, wenn sie zuhause bei ihm waren oder in ihrem Zimmer zwischen Teddybären und Postern aus der Bravo? Hat sie überhaupt Poster an den Wänden? Ich war ja nie bei ihr.

Florians Schwanz schmatzt in meiner Hand. Die Vorhaut rollt sich langsam vor und zurück. Wie im Zug, gestern, oder war es vorgestern? Wie in den Filmen. Doch diesmal mache ich es selbst.

Das nächste Stoßgebet. Aus Florians Richtung kommt ein leises Knurren. Er starrt mit offenem Mund, als wolle er es nicht glauben, auf meine Hand. Ich starre auf den harten Degen, auf die Eichel mit dem kleinen Loch darin, dem Loch, aus dem das Sperma schießen wird, wenn ich nicht aufhöre. Ob ich das kann? Wichsen, bis es ihm kommt, bis er abspritzt? Und ob och das sagen kann?

»Sag Bescheid, wenn du kommst«, sag ich. Wenn Chris nur hier wäre, wenn ich nur Chris einen runterholen könnte. Britta sieht zu ihrem Freund, ihrer großen Liebe, zu ihrem Oliver auf, mit großen Augen, hoffungsvoll.

Oliver starrt zu Britta herunter, macht sich ganz lang, geht auf Zehenspitzen und blickt nach links und rechts über die Felsen. Sein blondes Haar weht in der sanften Brise.

 Nichts, niemand, der uns stört. Oliver öffnet mit zitternden Fingern den Reißverschluss seiner Jeans und streift hektisch die gefärbten Bundeswehrhosen mitsamt der Unterhose herunter. Sein harter Schwanz wippt zitternd vor Brittas Gesicht. So geil. Drei Jungs, zwei Hände, was jetzt?

Ich sehe in Florians unrasiertes Gesicht. Spott ist nicht zu erkennen. Nur Geilheit. Mir egal, ob er schwul ist.

Britta lässt mich plötzlich los und greift bei packt Oliver zu und wichst ihn. Es ist geil, so geil, dass ich ihn am liebsten bitten würde, Brittas Hand zu ersetzen. Ihr Ex-Freund zittert vor Lust. Er löst ihre Finger von seinem Rohr.

»Nein, mach bei Ralf weiter.«

Wieder ihre Finger, weich und warm, der Griff genau richtig. Ich mache im gleichen Takt bei Florian weiter. Er genießt. Sein Schwanz ist warm und weich und hart zugleich.

»Du musst was Anderes für mich tun«, sagt Oliver, legt ihr eine Hand auf den Kopf und schiebt die Hüften vor. Sein Schwanz prallt gegen ihren Mund. Sie dreht den Kopf.

»Nicht«, sagt sie. Ihr Blick klebt flehend an mir. Wie in Brüssel. Ich erschrecke. Damit habe ich nicht gerechnet.

Oliver dreht ihren Kopf wieder nach vorne. »Mach schon.«

»Ich will das nicht.«.

»Genau das meine ich«, sagt Oliver spöttisch und nimmt die Hand von Brittas Kopf. »Das wird nichts mehr. Die ist durch ihre Kirche total versaut.«

Er bückt sich und zieht die Hose hoch. »Vergiss es.«

»Warte.«

Über das Rauschen der Wellen und das Schreien der Möwen hinweg höre ich Resignation und Angst zugleich in diesem Wort.

Florian und ich bewegen uns nicht, tauschen atemlos Blicke aus. Britta hält meinen steifen Schwanz fest umklammert, ohne ihn zu massieren. Und ich bin vor Aufregung ebenfalls ganz starr. Ich bewege nur die Finger, nicht die ganze Hand. Melke Florians Schwanz. So kurz vor dem Höhepunkt. Momentaufnahme der Lust mit Blitzlicht. Wie weiter?

»Wenn ich das mache? Was dann?«

»Free your mind«, grinst Oliver, »And your ass will follow

»Was soll das denn heißen«, frage ich.

»Wenn du deinen Geist öffnest, befreist auch du deinen Körper.«

Scheiß Christen. Noch immer zittere ich vor Erregung. Aber vielleicht meint er es ja auch ganz anders.

»Und was ist mit uns?«

»Das sehen wir danach«, sagt Oliver, und Britta öffnet den Mund.

Ich bin nicht darauf vorbereitet, ich bin nicht einverstanden, doch Britta ist erwachsen und niemand zwingt sie. Die paar Züge am Joint haben damit doch nichts zu tun.

So obszön habe ich es mir nicht vorgestellt. Britta, mit weit geöffnetem Mund und geschlossenen Augen. Tim, der seinen harten Schwanz langsam über ihre Zunge in den Mund schiebt. Vorsichtig schließt Britta die Lippen um das Fleisch. So wie ich es hätte machen sollen. In Amsterdam. Auf der Toilette.

Ich packte Florians Schwanz fester. Er wippt vor und zurück, den Körper gespannt. Mit der anderen Hand greife ich nach seinen Hoden. Der haarige Beutel schmiegt sich in meine Handfläche.

»Gut so?«, frage ich. Flo nickt.

»Du hast viel geübt, oder?«, keucht er. Britta bewegt ihre Hand nur noch sporadisch, weil sie abgelenkt ist. Aber wenn sie es schon tut, muss sie es richtig machen. Ich brauche bei diesem Anblick in dieser Situation nicht lange, um das Ende zu erreichen. Schmatzen, Keuchen, Stöhnen wird zu einer Sinfonie der Geilheit.

Wir treffen jeden Ton und Britta schwingt meisterhaft den Dirigentenstab. Dass es noch einen anderen Höhepunkt geben muss, ist Oliver vermutlich von Anfang an klargewesen. Britta hingegen nicht.

Inzwischen lutscht sie weniger an seinem Schwanz, vielmehr fickt er ihren Mund. Mit beiden Händen hält er ihren Kopf fest und bewegt die Hüften vor und zurück. Der lange, dünne Schwanz mit der dicken Eichel verschwindet bis zur Hälfte zwischen ihren Lippen.

Die Adern treten stark hervor. Zweimal würgt sie den Schwanz aus, wird rot im Gesicht, spuckt, beschwert sich.

»Nicht motzen, schlucken«, zischt Oliver. Florian kichert und stöhnt.

Unsere Hände arbeiten unermüdlich. Vorhaut vor, zurück, die Eichel bis zum Platzen gespannt. Macht sie die Pausen bewusst? Die Pausen vor dem Orgasmus, in denen mein Saft wieder zurück in die Hoden kriecht und die Geilheit steigt? Meine Knie zittern. Meine Knie zittern. Mir gegenüber starrt Florian auf meine Hand. Ungläubig.

»Gut so?«, frage ich.

»Ich spritz gleich ab«, murmelt er und ich frage mich, ob ich mich traue, den Schwanz in den Mund zu nehmen, so wie Britta. Plötzlich zieht Oliver seinen Penis aus Brittas Mund. Er glänzt, Speichel tropft herab. Britta schnappt nach Luft. Mit festem Griff tut er noch ein paar Streiche.

»Streck die Zunge heraus«, presst er hervor. Britta schüttelt den Kopf. Entschlossen. Sie bewegt ihre Hand. Nur noch ein paar Sekunden. So geil. Florians Schwanz zuckt. Nimm ihn in den Mund, höre ich mich schreien. Nein, tu das nicht, es ist schwul, bist du schwul, du bist pervers, höre ich eine andere Stimme rufen und ich weiß, dass es die Stimme der Frau aus unserem Wohnzimmer ist. Die Frau, die mich bat, mich zu entscheiden.

»Mach es.« Das Tempo der drei Hände ist atemberaubend, unser Stöhnen übertönt die Brandung.

»Ich komme auch«, knirscht Florian. Seine Knie zittern. Streck die Zunge raus.

»Ich will nicht, das ist mir zu viel«, fleht Britta. Sie macht eine Pause. Olivers Blick flackert vor Lust.

»Verklemmte Landpomeranze«, flucht er. Gleich komme ich, gleich. Lust auf Kosten meines Verstands. Sie bewegt ihre Hand an mir langsam, abgelenkt, ich schüttelte mich und zitterte und wichse Florians Schwanz weiter, weil ich will, dass er in meiner Hand kommt.

Plötzlich steht ihr Mund offen, die Zunge herausgestreckt, die Augen geschlossen. Der erste fette Tropfen trifft Britta auf der Oberlippe. Sie dreht erschrocken den Kopf zur Seite. Von dort kommt Florian quer über ihr Gesicht. Ich spüre, wie sein Sperma seinen Schwanz verlässt. Ein weiterer Spritzer aus Olivers Rohr landet in Brittas Haar.

Ich mache eine Pause, weil ich weiß, dass man sie braucht, die Pause, wenn man kommt.

»Aufmachen«, ruft Oliver. Britta dreht den Kopf wieder nach vorne, gehorsam. Seine letzte Ladung schießt Oliver genau in ihren geöffneten Mund. Das Würgen macht sie hässlich, die krausen Falten am Kinn, die vorgewölbten Lippen. Aber ihre Titten sind geil.

Florian spritzt noch einmal ab, diesmal gegen meinen Arm. Das Sperma klatsch an meine Haut, heiß und kalt und geil. Ich spüre meinen eigenen Höhepunkt ins Hirn branden. Von der Seite spritze ich gegen ihre Wange. Das Mädchen zuckt angewidert zurück, hält die Hand still, ich umschließe von oben ihre Finger und wichse mit ihrer Hand, ihrer sanften, warmen, weichen Hand mein Rohr.

Ein, zwei Mal spritze ich auf Brittas Gesicht. Jeden weißen Tropfen, der auf ihre geschlossenen Augen, die Nase, die Stirn klatscht, nimmt sie erschrocken wie einen Schlag ins Gesicht. Ihre Hand entzieht sich meinem Griff, gleitet unter meiner Hand von meinem Schwanz.

Mir ist schwindelig, meine Knie werden weich und ich hocke mich in die Felsen. Der noch lauwarme Stein berührt meinen Hintern. Mein Schwanz tropft ab, die Eichel glänzt. Wann habe ich Florians Schwanz losgelassen?

Wieder klingelt die Gürtelschnalle, als Oliver seine Hose hochzieht. Britta wischt sich unser Sperma aus dem Gesicht, angeekelt, benommen. Mit abgespreizten Armen, wie nach einer unfreiwilligen kalten Dusche, steht sie zwischen uns. Ich fische aus meiner Hose ein Taschentuch und reiche es ihr.

Britta spuckt aus. Nach schnellen, kräftigen Wischbewegungen über Stirn, Wange und Mund ist das Taschentuch nass. Sie fährt sich mit der Hand über den Mund und greift sich ins braune Haar. Jetzt ein Scherz, jetzt eine lustige Bemerkung, damit die Stimmung nicht kippt.

»Ist gut für die Haare«, sagt Florian lässig, lässt abtropfen und packt ein.

»Ihr seid so eklig«, erwidert sie so leise und ohne uns anzusehen, als spräche sie nur zu sich selbst. Als sie den Kopf hebt, grinst sie.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du das machst«, sagt Florian. Wen meint er? Mich? Oder Britta? In seiner Stimme ist keine Häme, sondern beinahe so etwas wie schüchterne Bewunderung. Seine Shorts hängen wieder schief auf seinen Hüften.

»Ich auch nicht«, sagt Britta tapfer. »Aber war jetzt nicht so schlimm.« Das Taschentuch fest umklammert sieht sie zu Oliver auf. Hoffnungsvoll, erwartungsvoll. In unser Schweigen brandet der Atlantik. Mein Blick gleitet an Britta vorbei aufs Meer. Meine Shorts sind längst wieder an ihrem Platz. Ich räuspere mich. Hab ich tatsächlich gerade meinem Kumpel Flo einen runtergeholt?

»So, ich brauch ein Bier«, sagt Oliver, als sei er aus einem Tagtraum erwacht. »Wer kommt mit?«

»Bin dabei«, sagt Florian erleichtert und beginnt, die Felsen hinaufzuklettern. Britta dreht sich zu Oliver, zu mir, ich hebe die Schultern und bleibe neben Britta sitzen. Sie seufzt und knetet das nasse Taschentuch.

Gemeinsam schweigen wir von den Felsen ins Meer. Der letzte rote Schimmer am Horizont wird schwächer und schwächer. Mein Magen knurrt.

»Das hätten wir nicht machen müssen. Oliver ist total bekloppt.«

»Du hast mich aber gelassen. Und dich hat er ja nicht gezwungen.«

»Du hättest doch gehen können.«

»Ich wollte es ja auch.«

»Oliver wollte es.«

»Das meine ich doch.«

»Und du? Was wolltest du?«

»Was soll ich denn nur machen, damit er mich wieder liebt?«

»Wie sehr liebst du ihn wirklich, dass du alles machen würdest?«

Jetzt schweigt sie wieder, sieht auf das Meer hinaus.

Auf ihrem Shirt trocknet unser Sperma. Ich spüre noch Florians Schwanz in meiner Hand. Diese Titten. Diese dumme Nuss. Diese Hände. Nicht verklemmt, aber einfach zu blöd.

»Halt mich«, sagt sie. Wie ein Eichhörnchen einen Baum umklammert sie mich. Ich lege ihr eine Hand auf den Rücken. Der nussige Geruch des Spermas steigt von ihr auf. Warum vergisst sie ihn nicht einfach? Es gibt so viele andere Typen, sogar in unserer Klasse.

Vor unseren Füßen rauscht der Atlantik. Langsam wird mir kalt. Mein Magen knurrt wieder.

 

3.

 

In dieser Nacht träume ich von einer unbekannten Gruppe Menschen. Meine Augen haften auf Brittas Beinen, auf jedem Schritt, mit dem sie über den Asphalt schwebt, auf Ninas unter dem T-Shirt wippende Brüste, auf der Beule in Florians Schritt. Sie sind so lange geil, wie ich nur nicht ihre Gesichter, das ganze Bild sehen muss.

Wir stehen am Meer und sehen nichts als Wasser. Der Blick geht ins Leere. Ich spüre nicht einmal den Sand unter den Füßen.

Ich atme ein, ich atme aus.

Der Himmel ist blau, die Möwen kreischen. Kein Plan von Lissabon. Ich laufe durch die Stadt und fühle mich wie im falschen Film. Ich habe keine Ahnung, was ich in dieser Stadt soll. Lissabon - das ist für mich eine alte Nachricht aus dem Fernsehen.

Ein brennendes Viertel, eine zerstörte Altstadt.

Nichts davon finde ich wieder. Vom Kastell über der Stadt haben wir einen guten Blick auf eine Stadt, die mir nichts bedeutet. Die Sprache verstehe, die Geschichte kenne, die Kultur begreife ich nicht. McDonald‘s ist vertrauter, der unterschiedliche Geschmack der Fanta interessanter als Stockfisch und Wein.

Die Männertoilette ist blockiert, dreckig, kaputt.

Ich schleiche mich aufs Frauenklo, auf die freie von zwei Kabinen, öffne meine Hose. Die Bilder des Wohnungseinbruchs, des Tatorts, der Entweihung vor Augen gebe ich dem Drang nach, als in der Kabine neben mir Flüstern ertönte.

Ich halte die Luft an und bewege meine Hand lautlos. Die Kabinen sind von der Decke bis zum Boden geschlossen, die Wände jedoch nicht besonders dick. Das Flüstern ist nicht portugiesisch, weder spanisch noch englisch, sondern deutsch. Britta und Oliver.

»Nicht«, flüstert Britta in der Nebenkabine. »Da ist jemand neben uns.« Klatschen von Haut auf Haut.

»Egal, die stört nicht. Komm, einmal nur.«

»Oliver, nicht, ich...« Den Rest des Satzes spült ein kehliges Gurgeln weg. Irgendetwas stößt gegen die Kabine der Toilette. Ich halte mir die Ohren zu.

»Dann eben nicht. Vergessen wir es. Ganz. Das ist mir zu blöd mit dir.« Kleidung raschelt. Eine Gürtelschnalle klingelt. Ich spritze auf die dreckige Klobrille. Jetzt klickt das Schloss der Kabine, die Tür öffnet sich. Schritte. Britta schluchzt.

Als ich die Kabine verlasse, komme ich an der offenen Tür vorbei. Britta sitzt auf dem Toilettendeckel, das Gesicht in die Hände vergraben, ihre Schultern zucken.

 Ich könnte Britta ansprechen, doch ich sehe zu, dass ich rauskomme, bevor sie mich erkennt. Kein Geld für gegrillte Dorade, keine Mehrheit für ein Museum. Der Traum. Ist es einer? Weißt du, dass du träumst?

Es wirkt so echt, wie sich Florian an den Kai setzt, um mit Schweden zu kiffen, und wie Britta über ihre Schmerzen im Arm klagt, weil der Rucksack zu schwer sei.

Was weiß sie schon, was Schmerzen sind. Schmerzen sind ein kalter Schnitt in den Unterarm, wo der lange Kapuzenpulli alles verdeckt.

Es macht Sinn, über unsere Gruppe zu sprechen, weil wir uns voneinander entfernen. Alles fühlt sich nach Krise an. Müssen wir uns trennen? Einkaufstüten aus Plastik, die ich nicht mal als Müllbeutel verwenden würde, voller Bier, Brot, Käse und Taschentücher, in den Händen von Britta und Oliver bei ihrer Rückkehr.

»Keine Entscheidung«, sagt Oliver. Das letzte Wort. Britta heult sich bei Nina aus. Und als ich mich im Traum in einer Jugendherberge in ein Bett lege, weiß ich, dass es nicht mein Zelt ist. Natürlich ist es kein Zelt. Aber es schaukelt und ruckelt wie ein Eisenbahnwaggon. In dem Moment, in dem ich im Traum die Augen schließe, wache ich auf.

Beim Frühstück starre ich Britta offensiv an, suche an ihrer rechten Hand nach feuchten Spuren, erwarte, in ihren Mundwinkeln weiße Tropfen zu sehen. Lissabon – das wird jetzt für mich die Stadt sein, in der Britta die Hemmungen verloren hat. Am Meer.

Du betrachtest einen Menschen mit anderen Augen, wenn du ihn in Verbindung mit Sex bringst. Britta ist jetzt nicht nur eine Mitschülerin mit Liebeskummer, Britta ist ein Mädchen mit zwei goldenen Händen.

»Na, was macht die Hand?«, fragt Florian. »Tennisarm?«

»Du bist blöd.« Britta senkt verlegen den Kopf.

Christian stellt ihr Tablett ab. »Hab ich was verpasst?«

Britta zischt, Florian lacht, Oliver schmiert sich wortlos, aber grinsend ein Brötchen und ich zucke mit den Schultern, damit Christian nicht denkt, ich verheimliche ihm was. Wenn Britta es nicht erzählt, finde ich es unfair, dieses doch recht intime Geheimnis auszuplaudern.

»Britta hat gestern bewiesen, dass sie doch nicht so verklemmt ist«, sagt Oliver, ohne aufzusehen.

Britta hebt den Kopf, und ich sehe Hoffnung in ihren Augen.

»Mehr Details, bitte.«

»Das kann sie dir selber sagen.«

Doch Britta sagt nichts.

Eine Fahrt mit der Straßenbahn fühlt sich wie eine Fahrt mit der Vorortbahn an. Enge Gassen weiten sich und das Meer ist blau. Was macht Lissabon aus? Ich weiß es nicht. Aber Britta geht neben Oliver und hält seine Hand. Und Oliver triumphiert.

Wir essen gegrillte Dorade in einem Restaurant am Meer, in der Nähe eines Turms. Heißt Belem wirklich Bethlehem auf Portugiesisch?

 Noch vor der Bestellung muss ich aufs Klo. Britta und Oliver sind seit ein paar Minuten verschwunden. Nina und Christian streiten sich über etwas, das er jemanden fragen will und Nina doof findet. Was auch immer. Florian dreht sich eine.

Auf dem Weg zurück in der Jugendherberge. Die Bahn rumpelt. Barzen, absoften und um die Ecke ditschen.

»Wir gehen einkaufen«, sagt Britta und zieht Oliver zur Tür. Er grinst. Ich frage ihn, ob er mir was aus dem Supermarkt mitbringen kann. Die Bahn rollt in Oreias ein und wir steigen aus. Britta und Oliver biegen nach rechts ab, um zum Supermarkt zu gehen. Florian schlägt den direkten Weg zur Mole ein.

»Ich dreh mir mal einen.«

Christian zieht Nina mit sich, geradeaus zur Jugendherberge. »Wir kommen nach.«

Später.

Oliver packt seine Einkaufstüte aus. Er hat an meinen Trinkjoghurt gedacht. Florian dreht sich eine. »Was war los?«

Christian kratzt sich im Schritt. »Hast du wieder einer fremden Frau hinterher gesehen?«

Oliver verstaut seine Einkäufe unter dem Etagenbett. »Viel besser, aber das erzähl ich euch draußen. Ich muss erst mal einen barzen.«

 Die Luft ist kaum kühler geworden. Der Fels an meinem Hintern ist noch warm. Florians Feuerzeug klickt. Umständlich nimmt Oliver einen Zug, stellt den Kopf schräg und bläst den Rauch in die schwache Brise, die nicht salzig schmeckt oder fischig, sondern einfach nur frisch. Dann reicht er den Joint weiter an Christian.

»Die war so unglaublich. Die wollte das, und jetzt heult sie«, sagt er und schüttelt verächtlich den Kopf.

 »Was? Wo?«

 »Auf dem Weg vom Supermarkt hierher. In einem Rohbau.«

In meinem Bauch kribbelt es plötzlich. »Und was habt ihr gemacht?«

Florian lässt sein Feuerzeug auf und zu schnappen. »Du hast dir wieder einen runterholen lassen.«

 Oliver sieht ihn ernst an. Seine Augenbrauen zucken ironisch. »Ich hab sie ein zweites Mal entjungfert.«

Von Florian und Christian kommt ein ungläubiger Ausruf des Staunens. Ich spüre, wie mich der Neid packt.

»Wir haben Gleitgel gekauft. Ohne wollte sie’s nicht. Ist doch ´n Sensibelchen. Vorher hat sie mir noch einen geblasen, so wie gestern. Und dann hat sie sich die Hose runtergezogen, hingekniet, die Beine breitgemacht, und ich kann loslegen. Erst war ihr Loch ein bisschen eng, aber mit ordentlich Gel ging das. Hab sie dabei gefingert. Zum Schluss ist sie richtig abgegangen. Von wegen Frauen stehen nicht darauf. War ziemlich geil.«

Ein Gefühl explodiert dunkel in meinem Kopf. Welches Gefühl? Neid? Eher Hass. Diese Selbstverständlichkeit. Mein Kopf vibriert, mein Zwerchfell zittert. Aber nicht wie sonst, wenn ich Angst hatte oder mir eine Situation unangenehm ist. Es ist ein forderndes, unzufriedenes Zittern, wie Lecken an einer Batterie, wenn der schwache Strom in die Zunge fährt. So ein Wichser.

»Bist du in ihrem Arsch gekommen?«, fragt Florian ungeniert. Christians Blick kreuzt sich mit meinem. Ob er über diese Schamlosigkeit das Gleiche denkt?

»Natürlich. Da brauchten wir auch kein Kondom. Sie nimmt ja die Pille nicht.«

»Die hat der Papst doch auch verboten«, sagt Florian gepresst und reicht, bevor er den Rauch ausatmet, den Joint zurück an Oliver. Als ob die Pille eine Rolle spielt. Es geht um das Zittern in meinem Zwerchfell, um die Tatsache, dass bei Oliver alles so selbstverständlich passiert, wonach ich mich vergeblich sehne, wenn ich alleine mit mir bin.

Träume ich nicht sogar inzwischen von Brittas Hintern? Stelle ich mir nicht vor, wie ich sie berühre? Wäre nur der Rest nicht. Brittas Heulerei, ihre Religion, ihre Anhänglichkeit, ihre Naivität. Das Kribbeln im Kopf lässt nach. Ihr Hintern. Nur der spielt eine Rolle.

Diesmal schüttelt Christian fassungslos den Kopf. »Ihr seid schon geil, Jungs.«

»Steht Nina nicht so auf anal?«

Ist da eine Spur von Spott in Olivers Stimme?

»Ich glaube nicht, dass Britta das freiwillig gemacht hat.«

»Sondern?«

»Aus Liebe. So wie gestern. Die hätte das doch sonst nie gemacht.«

Oliver winkt ab. »So ein Quatsch. Ich hab ihr gesagt, dass ich mich nicht entscheiden kann. Nicht jetzt. Nach dem Urlaub. Sie wollte das trotzdem.«

»Eben, weil sie noch immer in dich verknallt ist.«

»Na und?«

Christian erwartet Unterstützung von mir, doch ich zucke nur mit den Schultern. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Soll sie doch den Sex haben, von dem ich nur träume. Was ist so schlimm daran? Wen interessieren die Gründe, wenn nur das Gefühl zählt.

Britta auf allen Vieren, den Hintern in die Luft gestreckt.

Oliver kann all das haben, Christian könnte, wenn Nina wollte, Florian hat es bestimmt – nur ich nicht. Wissen sie nicht, wie weit sie mir voraus sind, wie sehr ich sie beneide, wie dringend ich all das haben will, was sie haben?

Christian zeigt seine Unzufriedenheit mit schmalen Lippen. Oliver wischt sich ganz cool und ohne sichtbare Gefühlsregung eine Locke aus dem Gesicht und zieht arrogant am Joint. Wir starren noch eine Weile auf die blinkenden Lichter am Horizont, wo die Sonne nur noch einen dünnen orangeroten Streifen hinterlassen hat. Die Brandung rauscht. Vom Meer weht ein öliger Geruch herüber.

Wir rauchen den Joint auf und gehen zurück in die Herberge. Beim Einschlafen denke ich an Brittas Hand, an Florians Schwanz, an den Moment, in dem er in meiner Hand kommt. Und immer wieder stelle ich mir vor, wie sich Chris vor mich kniet und ich seinen Schwanz blasen darf.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 23.08.2016

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