Vier Wochen Ferienlager - Yannick könnte glücklich sein. Zum ersten Mal ist er ohne Eltern im Urlaub. Der von den Mädchen umschwärmte Junge tut sich allerdings schwer mit dem anderen Geschlecht, vor allem mit der hübschen Julia. Daniel, ein gleichaltriger Junge, gibt ihm Nachhilfe in Sachen erstes Mal, doch er scheint mehr von Yannick zu wollen. Yannick ist verwirrt, bis ihn ein Gespräch auf die richtige Bahn bringt...
1.
»Ich schlaf oben«, sagte Daniel und schleuderte seinen Rucksack über die Absturzsicherung auf das Hochbett. Seine Jeans hingen auf Halbmast und gaben den Gummizug seiner Shorts frei. In Sekundenschnelle war auch die andere obere Matratze im Bett daneben belegt. Yannick seufzte und blieb in der Tür stehen. Er hätte es wissen müssen. Daniel hatte schon bei der Einteilung der Gruppen viel zu weit die Klappe aufgerissen, sich betont lässig den Betreuern gegenüber gegeben und Yannick, da war er sich ganz sicher, ziemlich geringschätzig angesehen, beinahe verächtlich.
Und deshalb meinte Yannick auch, diesen Blick in Daniels Augen zu sehen, als dieser sich auf das Hochbett schwang und von oben auf ihn herabsah. Grinste. Die rotblonde Haarlocke aus den Augen wischte und wieder grinste. Yannick fragte sich, ob Daniel unter seiner Haarfarbe litt, ob ihn seine Mitschüler verarschten und er deswegen so offensiv reagierte.
Angriff ist die beste Verteidigung.
»Wusstest du, dass in Hochhäusern die besten Wohnungen immer ganz oben sind?«
»Und wusstest du, dass ich weiß, dass die Penthäuser heißen?«
Yannick überlegte. Wenn er jetzt die untere Liege in einem der beiden anderen Betten belegte, sah es wie eine Flucht aus. Oder wie zu großer Respekt. Angst. Ablehnung.
Andererseits könnte er einfach so tun, als ob er über den Dingen stand.
»Na toll, ich teil mir das Zimmer mit zwei Klugscheißern«, stöhnte ein Junge mit einer dicken Brille auf einer ziemlich verpickelten Nase. Genau das hatte Yannick eigentlich von ihm gedacht. Der andere Junge, dem ebenfalls nur das untere Bett geblieben war, lachte laut auf. Yannick versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern, aber er wollte ihm nicht einfallen. Leon, wie sein bester Freund damals in der Schule, oder Tom, oder Ben.
Die Brillenschlange und der andere Junge schienen sich zu kennen, denn sie begannen sofort, Neuigkeiten auszutauschen und sich über die Mädchen zu unterhalten, die letztes Jahr auch da gewesen waren, und über die neuen in der Gruppe, über Frisuren und gewachsene Titten, über kurze T-Shirts und enge Hosen.
Yannick warf seine Tasche auf die Liege und setzte sich daneben. Zehn Minuten Pause, zehn Minuten, bis ihn die Betreuer des Ferienlagers wieder in Empfang nähmen. Yannick hatte keine Ahnung, was ihn hier erwartete, und ein Teil von ihm wollte es auch gar nicht wissen. Er vermisste seine Gitarre. Seine Mutter hatte ihn lange bedrängt, sie zuhause zu lassen, hatte behauptet, sein Spiel nähme manchmal schon autistische Züge an und er müsse sich doch auch einmal mit den anderen Jungen unterhalten, statt immer nur vor sich hin zu singen und sich Lieder auszudenken.
Yannick hatte sie mehr als einmal darauf hingewiesen, dass er komponierte, um dann, oh Wunder, diese Lieder mit seinen Freunden zu spielen und ob das nicht Kommunikation genug sei. Über den bissigen Kommentar seines Vaters, ob sie denn auch Mädchen in der Band hätten, war Yannick hinweggegangen.
Die Gitarre hatte er dennoch zuhause gelassen. Seiner Mutter zuliebe. Am Ende hatte er auch nicht wie ein Nerd erscheinen wollen, wenn er mit Gitarre im Schlepptau am Reisebus auftauchte, wie ein Wichtigtuer.
Yannick war zu alt, um mit seinen Eltern zu verreisen und zu jung, um alleine mit Freunden auf Interrailtour zu gehen. Also hatten ihn seine Eltern in ein Ferienlager auf einem umgebauten Gutshof im Süden Bayerns geschickt. In der Tenne fanden Spieleabende statt, in der alten Scheune gab es jeden Samstag Musik. Die vielleicht 150 Feriengäste waren in drei Gruppen aufgeteilt: die Sechs bis Zehnjährigen, die Elf- und Zwölfjährigen, die Alten. Für Yannick war es das erste Mal, zu den Ältesten zu gehören. Die vier Wochen Ferienlager waren sein erster Urlaub ohne Eltern. Ohne Eltern, aber dafür mit Mädchen.
Yannick hatte die Worte seines Vaters im Hinterkopf, der ihm vor der Abfahrt gesagt hatte, er würde vielleicht mit einer kleinen Freundin nach Hause kommen. Sein großer Bruder, der seit einem halben Jahr mit Corinna ging, hatte nur gelacht und gemeint, Yannick sei doch ein Spätzünder und die Mädchen würden ihn doch eh nicht wollen.
»Ich hab meine Musik«, hatte Yannick mehr als einmal gesagt, doch sein Bruder hatte nur fies gelacht und gemeint, immerhin habe seine Gitarre auch ein Loch.
Dem zeig ich es schon noch, dachte Yannick.
Yannick war mit seinen kurzen, dunkelblonden Haaren und dem spitzbübischen Lächeln, mit den Grübchen in den Wangen und seiner hochgewachsenen Statur immer schon der Schwarm aller Mädchen in seiner Klasse gewesen. Seine Rolle als Gitarrist in der Band, die er mit drei anderen Freunden gegründet hatte, verschaffte ihm weitere Vorteile. Die Mädchen schien selbst der Name nicht abzuschrecken. Zombies im Kaufhaus hatten sie die Band genannt und Yannick fand immer, dass der Name nicht zur Popmusik passte, die sie spielen wollten.
So wie sein Ansehen bei den Mädchen nicht zu dem passte, was er von ihnen erwartete.
Willst du mit mir gehen? Diesen Spruch hatte Yannick schon früh gehört und nie mit Ja beantwortet. Klar - er war mit Vanessa auf dem Jahrmarkt seiner kleinen Stadt Achterbahn gefahren und mit Louise händchenhaltend um den Stadtsee geschlendert. Aber gefunkt hatte es nie. Es war, als hätte er eine Katze gegen den Strich gestreichelt. Er hatte sich mit den Mädchen immer gut verstanden. Sie hatten ihn eingeweiht in ihren Liebeskummer, und Yannick hatte gerne zugehört. Selbst das Knutschen vor ein paar Monaten mit Janina auf der Geburtstagsfeier seines besten Freundes war folgenlos gewesen.
Es war ein Spaß gewesen. Mehr nicht.
Aber irgendwann, dachte Yannick, wird es Klick machen und ich werde sie finden, diese Eine. Vielleicht in diesem Urlaub.
Daniels Kopf schob sich von oben in Yannicks Blickfeld. »Bist du schon eingepennt?«
»Liegt vielleicht an deinen langweiligen Sprüchen«, sagte Yannick. Bevor Daniel etwas erwidern konnte, betrat der junge Betreuer der Gruppe das Zimmer. Yannick mochte Bengt, der seine langen Haare zu einem Zopf gebunden hatte und ruhig geblieben war, selbst als Daniel bei der Aufteilung der Gruppen durch andauernde, witzig gemeinte Zwischenfragen genervt hatte.
»Habt ihr schon die Betten aufgeteilt?«, fragte er.
»Und einige haben die Arschkarte dabei gezogen«, lachte Daniel. Sein Kopf verschwand. Yannick lächelte müde.
Das konnte ja heiter werden.
2.
Der Ellenbogen bohrte sich schmerzhaft tief in seine Seite.
Yannick spuckte seinen Saft zurück ins Glas.
»Mann, pass doch auf.«
Daniel beugte sich zu ihm hinüber. »Und? Hast du Juli schon gesehen?«
Ungerührt nickte Daniel in Richtung Nebentisch. Dort saß ein Mädchen mit langen dunklen Haaren. Sie lachte laut. Yannick hatte sie natürlich bereits bemerkt. Sie war das hübscheste Mädchen am Tisch, nein, sogar hübscher als alle, die er an diesem kurzen Tag bislang gesehen hatte.
Sie hatte ein schmales Gesicht mit einer Stupsnase, die sich krauste, wenn sie lustig gemeintes Missfallen zum Ausdruck brachte. Sie schien sich noch nicht zu schminken, aber gerade das gefiel Yannick besonders. Er mochte ihre Natürlichkeit, die sich auch in der Wahl ihrer Klamotten widerspiegelte: Sneaker, Jeans, Tank-Top. Kein Schmuck, keine Piercings, kein Chi-Chi.
Er hatte Juli während der Busfahrt gesehen und bei der Aufteilung der Gruppen, hatte ihr auf den Hintern gestarrt und festgestellt, dass sie zwar nicht mit großen Brüsten, oder, wie sein Bruder gesagt hätte, mit Titten glänzen konnte, aber das gefiel ihm sogar besser. Er mochte Mädchen nicht, die sich die BHs mit Taschentüchern ausstopften, als müssten sie mit Katy Perry konkurrieren.
Die anderen Mädchen hingen ihr an den Lippen, und als sich Yannick umsah, musste er feststellen, dass auch die Jungs aus seiner Gruppe die Augen nicht von ihr lassen konnten. Yannick ertappte sich bei dem Gedanken daran, was sein Vater von ihr hielt und was sein Bruder sagen würde, wenn er ein Foto von sich und diesem Mädchen nach Hause brächte.
Donnerwetter, würden sie sagen, hast du es endlich mal gepackt.
»Und? Die ist doch niedlich, oder? Ran, bevor ein anderer schneller ist«, flüsterte Daniel. Yannick schob ihn weg und biss in sein Brot.
Er hatte keine Ahnung, wie er Julis Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte, aber durch Starren, so viel wusste Yannick, würde er nur das Gegenteil erreichen. Doch auch mit Worten kam er nicht weiter. Juli erwies sich als ziemlich wortkarg. Sie reagierte passiv bis ablehnend, wenn ein Junge sie ansprach, und das kam nicht selten vor.
»In der ersten Woche entscheidet sich das«, sagte Daniel. »Das war letztes Jahr auch schon so.«
»Du bist ein Profi, oder?«, fragte Yannick und achtete darauf, genug Sarkasmus in seine Stimme zu legen. »Warum baggerst du sie nicht an?«
Daniel machte ein betont mitleidiges Gesicht. »Ich krieg schon, was ich will, keine Panik.«
Yannick schenkte sich Eistee nach und fragte sich, ob jeder die Freunde bekam, die er verdiente. Wenn dem so war, so fragte er sich weiter, musste er ganz schön tief in der Schuld des Schicksals stecken.
Am Abend, als sich die Gruppen durch die Waschräume gequält und die Betten gefunden hatten, erhielt Yannick eine weitere Kostprobe von Daniels Talent.
Bengt wollte ihnen vom Ausflug zu einer Sommerrodelbahn erzählen, den nur die Bewohner des Zimmers mitmachen durften, das bei der täglichen Punkteverteilung am Ende der Ferien den besten Schnitt machte. Punkte sammelte man durch Ordnung, Teamgeist, sorgfältigen Küchendienst, Abzug gab es für Ermahnungen während der Nachtruhe.
Daniel unterbrach ihn bereits nach dem ersten Wort. Als Bengt neu ansetzte, fiel er ihm ins Wort, um sich für die Unterbrechung zu entschuldigen. Hatte Bengt endlich seufzend seine Entschuldigung angenommen, unterbrach er ihn nach dem dritten Wort wieder, um ihm zu sagen, er würde ihn jetzt ausreden lassen.
Yannick konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Zugleich bewunderte er Bengt für die Ruhe, mit der dieser Daniels Provokation hinnahm.
Irgendwann wurde es selbst Marvin, dem Jungen mit der Brille, zu viel, und er bellte Daniel ungehalten an: »Jetzt halt doch mal die Klappe.«
Es entstand ein kurzer Moment der Irritation, und Daniel und Yannick, die nebeneinander auf Yannicks Bett saßen, tauschten fast automatisch verschwörerische Blicke aus.
Diesmal war es Yannick, der Daniel den Ellenbogen in die Seite stieß.
»Tja, so wenig zählt Höflichkeit noch bei der heutigen Jugend.«
Daniel grinste breit.
Später, als das Licht ausging, und der Mond durch das schmale Fenster auf die Betten schien und der Atem der anderen Jungs tief und regelmäßig ging, beugte sich Daniel zu Yannick herunter. Yannick konnte sehen, dass Daniel ein Handy in der Hand hielt. Tagsüber waren Telefone verboten. Wer sich damit während der Aktivitäten beim Telefonieren, Surfen oder Chatten erwischen ließ, war es bis zum Ende der Freizeit los. Yannick würde es nicht überraschen, wenn Daniel bereits am nächsten Tag ohne Handy leben musste.
»Kennst du den Witz dem mit dem Schlumpf?«, flüsterte Daniel. Seine Augen funkelten. Yannick schüttelte den Kopf.
»Steht ein kleiner Junge im Kaufhaus vor dem Regal mit den Schlümpfen. Die stehen so weit oben, dass er nicht rankommt. Er staunt ziemlich laut. Kommt ein Verkäufer, sieht den Jungen, sieht die Schlümpfe und sagt zum Jungen. Gefallen dir die Schlümpfe? Der Junge nickt und staunt weiter. Sagt der Verkäufer: Soll ich dir einen runterholen? Sagt der Junge: Aber nur, wenn ich dafür einen Schlumpf bekomme.«
Yannick lachte laut auf. Vom Bett an der Tür kam ein schläfriges Grunzen.
»Das sollte mir mal beim Küchendienst passieren«, flüsterte Yannick zurück. »Ich stehe vor dem Regal mit den Töpfen und Juli kommt vorbei.«
Daniel kicherte schnaubend. Yannick fand, es hörte sich an wie das Prusten einer Robbe.
»Ich geb dir drei Tage. Wenn du dann nicht an Juli dran bist, wird das nichts mehr.«
»Vertrau mir, ich brauche nicht mehr als zwei Tage.«
Das helle Leuchten des Handybildschirms erlosch. Daniels Kopf verschwand. »Gute Nacht, Mann.«
Eine Decke raschelte. Eine Erwiderung des Wunsches lag ihm auf der Zunge. Er hatte früher viele Nächte bei Freunden geschlafen, das letzte Mal jedoch war lange her gewesen. Damals, bei seinem besten Freund Leon. Es war uncool geworden. Und Yannick fragte sich jetzt, warum es das eigentlich war. Er hatte gerne bei Leon übernachtet und war mit ihm unter eine Decke gekrochen. Sie hatten sich Geschichten erzählt, damals, von Außerirdischen und Gespenstern. Wenn sie schließlich müde vom Erzählen gewesen waren oder Leons Mutter ins Zimmer gekommen war, um sie zur Ruhe zu mahnen, hatten sie laut gekichert und sich dann eine gute Nacht gewünscht. Die beiden, ein verschworenes Team. Irgendwann hatte es aufgehört, hatten sie nicht mehr beieinander übernachtet. Von der Mutter des besten Freundes ins Bett gebracht zu werden war etwas für Kinder.
Und Yannick war kein Kind mehr.
Niemand musste ihm das Bett machen. Niemand musste ihm die Zahnbürste hinlegen.
Der Wunsch, Daniel zu fragen, ob er zu ihm ins Bett kriechen durfte, flammte in Yannick auf, doch kaum hatte er den Gedanken gedacht, schämte er sich dafür.
Er war kein Kind mehr.
»Gute Nacht«, antwortete Yannick und drehte sich auf die Seite.
Schade, dachte er noch, bevor er einschlief.
3.
In der ersten Woche fanden sich tatsächlich die ersten einsamen Seelen. Während Yannick noch die Nähe von Juli suchte und dafür sogar in die Luft ging, um die Gelegenheit nicht zu verpassen, sie im Hochseilgarten zu sichern, liefen am Abend die ersten Pärchen über den Hof. Die zwei coolsten Typen aus der Gruppe der Ältesten mit zwei aufgemotzten Mädchen. Man hörte von Knutschen hinter der Scheune und bemerkte neidische Blicke.
Doch obwohl sich Yannick alle Mühe gab, kam es zu keinem ernsthaften Gespräch zwischen ihm und Juli. Sie lächelte nur, wenn sie ihn sah, und beendete jeden seiner Annäherungsversuche abrupt. Als er sie in einer Pause fragte, ob sie schon einmal geklettert sei, verdrehte sie nur die Augen. »Nein, meine Mutter war Gemse in den Alpen.«
Am Abend hatte er sie kein einziges Mal sichern können, das hatte Julis Freundin Laura übernommen, eine gertenschlanke Hamburgerin mit kurzen, schwarzen Haaren und, wie Daniel viel zu lautstark bemerkte, beeindruckend großen Titten.
Hätte er seine Gitarre dabei, war Yannick sicher, wäre Juli längst dahingeschmolzen.
Und auch die nächsten Tage waren seine Versuche nicht von Erfolg gekrönt. Im abendlichen Kino in der Scheune saß Juli weit weg, und beim Ausflug nach Herrenchiemsee war sie ihm im Garten und Spiegelsaal stets einen Schritt voraus. Stattdessen war ihm Marvin, die Brillenschlange aus seiner Gruppe, nicht von der Seite gewichen. Marvin fragte ihn ständig nach seiner Band, nach der Musik, erzählte von seinem Bruder, der auch Musik mache, beschwerte sich über das Handynutzungsverbot am Tag und davon, dass seine Eltern ihn ständig anrufen wollten.
Yannick hörte kaum hin und hielt Ausschau nach Juli und Daniel zugleich.
Langsam wuchs der Druck.
Daniel hingegen hielt die Betreuer, insbesondere Bengt, ständig auf Trab, ohne sein Augenmerk auf ein besonderes Mädchen zu legen. Nachts schlich er über die Korridore und Treppen zu den Mädchenzimmern oder er ließ sich in den Mädchenduschen beim Spannen erwischen. Einmal sperrte er sogar Marvin einer Abstellkammer ein – ganz aus Versehen, wie er betonte – und Yannick war der einzige Zeuge gewesen und hatte dicht gehalten, auch als Bengt ziemlich nachdrücklich gefragt hatte. Daniels anerkennender Blick hatte sehr gut getan. Yannick mochte ihn, genoss es sogar, in seiner Nähe zu sein. Daniel musste wissen, wie verzweifelt Yannick versuchte, Julis Aufmerksamkeit zu erregen, und dennoch lachte er ihn nicht aus.
Eines Abends, als sie in den Betten lagen und SMS nach Hause schickten oder ihren Status bei Facebook aktualisierten, beugte sich Daniel wieder einmal von oben herab.
»Und? Wie weit bist du? Schon ein Date klargemacht?«
Yannick lachte müde auf und legte sein Handy zur Seite. Seine Mutter hatte geschrieben, dass sie ihn ganz furchtbar vermissen würden, sich sein Vater beim Rasenmähen das Knie verstaucht habe und der Hund den Garten des Nachbarn verwüstet habe.
»Nein, vielleicht sollte ich sie einfach… ich meine.«
Die Sache abblasen, vergessen, zu den Akten legen. Yannick fand Juli niedlich, aber sie war ein bisschen wie die Mädchen aus seiner Klasse. Mit dem Unterschied, dass Juli ihn nicht anhimmelte.
Hätte er nur seine Gitarre mitgenommen.
Sein Vater hatte ihn mit sieben Jahren zum ersten Mal zur Gitarrenstunde geschickt. Ein Freund und Nachbar war Gitarrist in einer Coverband, die auf Volksfesten, Partys, Open-Air-Festivals und anderen Gelegenheiten auftrat. Erfolgreich, wie der Freund immer betonte. Sie spielten Song von Bands, von denen Yannick noch nie etwas gehört hatte.
The Police, Toto, Pink Floyd. Aber spielen konnte der Freund. Und Yannick lernte. Jede Woche hatte er vor der Tür des Nachbarn gestanden und in einem mit Instrumenten vollgestopften Kellerraum gelernt, die Saiten zu zupfen, zu streichen, zu schlagen und zum Schwingen zu bringen.
Es war, als habe ihm der Nachbar das Tor zu einer neuen Welt gezeigt, eine Welt, in der Yannick seine Gefühle in Tönen ausdrücken konnte, in Melodien und Harmonien. Auf immer und ewig würde er seinem Vater dafür dankbar sein. Von alleine wäre Yannick vielleicht nie auf die Idee gekommen, das Instrument in die Hand zu nehmen, und er hätte nie entdeckt, was in ihm steckte.
Daniel ließ sein Handy über die Bettkante baumeln. »Willst du mal was sehen? Ich hab einen Film von dir und Juli gemacht.«
Nichtsahnend griff Yannick danach, doch Daniel zog das Handy weg.
»Komm hoch, das ist nicht für alle Augen bestimmt.«
Erst in diesem Moment wurden die anderen Jungs in ihren Betten aufmerksam.
»Zeig her«, rief die Brillenschlange und beugte sich von seinem Bett hinüber. Ben regte sich ebenfalls, nur Yannick zögerte. Wäre es wie damals mit Leon? Nein, es würde nie wieder so werden. Yannick war älter geworden. Kein Kind mehr.
Daniel gab ihm einen erneuten Wink mit dem Kopf. Cool. Abgeklärt. Erwachsen.
Yannick legte sein Handy zur Seite. Noch bevor er die Sprossen der Leiter nach oben erklommen hatte, war Marvin schon zu Daniel ins Bett gesprungen. Der wiederum drehte sein Handy weg.
»Hab ich dich eingeladen?«
Marvin verzog das Gesicht. »Du bist ein Arsch, weißt du das?«
»Und ich bin stolz drauf.«
Daniels Lachen war hämisch. Yannick fragte sich, ob Daniel die anderen Jungs absichtlich vor den Kopf stieß, um cool zu wirken, oder ob er einfach so war, ganz ohne nachzudenken.
Er setzte sich neben ihn. Sie lehnten sich an die Wand. Und dann hob Daniel sein Handy hoch und löste die Tastensperre.
Das Video sprang Yannick beinahe ins Gesicht.
Drei Personen, nackt, bei eindeutigen Tätigkeiten, die Yannick bislang nur in der Theorie kennengerlernt hatte, bewegten sich über den Bildschirm. Yannick spürte, wie er rot wurde.
Daniel sah ihn von der Seite an.
»Was ist das?«, fragte Marvin. »Was guckt ihr euch an?«
»Sportwagen«, sagte Yannick, der sein pochendes Herz im Hals spürte. Er war natürlich schon beim Surfen im Internet, wenn er das Tablet seines Vaters benutzt hatte, um Worte nachzuschlagen, über diese Art von Videos gestolpert. Dabei hatte er nur bei Wikipedia nachlesen wollen, wann der Schah von Persien gestürzt worden war oder wie viele Einwohner Spanien hatte.
Sein Vater war der Ansicht, dass man das Internet nutzen konnte, um zu verblöden oder um schlauer zu werden. Es kam dabei nicht nur auf den Nutzer selbst an, sondern auch auf die Art, wie man es nutzte.
Ob er dabei auch an YouPorn gedacht hatte?
»Guck dir das Fahrgestell an«, sagte Daniel und zeigte auf die hübsche Blonde, die auf allen Vieren kniete, vor und hinter sich ein Mann. »Tolle Hupen, oder?«
Yannick schluckte und hatte das Gefühl, etwas ebenso Cooles zu sagen. »Damit würde ich auch gerne mal fahren.«
»Ihr guckt euch Autos an?«, maulte Marvin von seinem Platz. Die Spannung zwischen Yannick‘ Schenkeln nahm zu. Er winkelte die Beine an, so dass man durch den dünnen Stoff seiner Shorts, die er zum Schlafen trug, seine Erregung nicht erkennen konnte.
»Als Fahrer oder Beifahrer?«, fragte Daniel.
»Wie meinst du das?«
»Naja, dem einen gefällt es besser, selbst das Lenkrad zu halten, und der andere legt die Hände in den Schoß und genießt.«
Vor Nervosität konnte Yannick kaum atmen. Auf einmal spürte er Daniels Schulter, seine Nähe, seine Wärme. Über den kleinen Bildschirm huschten die lautlosen Bewegungen. Die Sekunden verstrichen, Sekunden, in denen die Spannung ins Unerträgliche wuchs. Gerade als er dachte, die drei im Video würden den Höhepunkt erreichen, wechselte der Mann hinter der Frau unvermittelt die Öffnung und wählte den Hintereingang.
Jetzt wurde das Kribbeln im Schritt unerträglich.
Es war ja nicht so, als hätte Yannick sich in der Vergangenheit nicht regelmäßig einen runtergeholt, heimlich, im Bett oder nach der Schule, bevor seine Eltern nach Hause kamen, auf dem Schulklo oder unter der Dusche.
Aber noch nie hatte er es so nötig gehabt wie in diesem Moment.
Der Anblick der Artisten auf dem Video, während er Schulter an Schulter neben seinem Kumpel saß, ließ sein Ding pochen, nach Berührung schreien.
Zu spät bemerkten sie, dass sich Marvin von der Seite über sie gebeugt hatte.
»Oh, Pornos, ihr seid so eklig«, schrie er auf, lief rot an, und sprang zurück in sein Bett.
Auch von Ben kam nur ein empörter Ruf.
»Die kleinen Pussys«, lachte Daniel. »Die gucken noch Bob, der Baumeister.«
Die Stimme an der Tür ließ Yannick zusammenfahren.
»Wer guckt noch Bob?« Bengt steckte den Kopf zur Tür herein.
»Du, Bengt, oder stehst du mehr auf Thomas, die kleine Lokomotive?«
»Worauf ich stehe, willst du gar nicht wissen.«
Daniel schaltete sein Handy in aller Seelenruhe aus. »Ich würde gerne, aber ich vermute, ich darf noch nicht, weil ich noch nicht alt genug bin.«
Bengt legte die Hand auf den Lichtschalter. »Du hast es erfasst.«
Mit einem Klick wurde es dunkel.
»Und jetzt gute Nacht.«
Die Tür klackte. Yannick wurde bewusst, dass er sich noch immer im Bett eines anderen Jungen befand. Im Dämmerlicht war Daniels Gesicht ein blasser Fleck. Daniel hob sein Handy wieder.
»Na? Lust auf den Rest?«
Yannick schüttelte den Kopf und stand auf. Zu spät bemerkte er die Beule in seinen Shorts. So rasch
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2015
ISBN: 978-3-7396-2078-7
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