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Tims sexuelle Orientierung erhielt mit dem Kauf eines Videorecorders eine neue Ausrichtung. Seine Mutter wollte einen Fernsehfilm im ZDF nicht verpassen, während sie mit einer Freundin unterwegs war. Einer seiner Schulfreunde musste ihn aufnehmen. Zwei Tage später erstand sein Bruder bei Karstadt für erstaunliche 600 Mark einen Videorecorder.

Es waren die 80er, die große Zeit von VHS, die Ära von Aufnahmen in schlechter Qualität, aufgeteilt in 180- oder 240-Minuten-Abschnitte. Die erste Möglichkeit, sich das Fernsehprogramm selbst zusammenzustellen.

Doch Tim ging es nicht um die Tagesschau oder die Schwarzwaldklinik. Ihm ging es um die Filme, die niemals im Fernsehen liefen, nicht einmal auf den Privatsendern. Ihm ging es um anschaulichen Aufklärungsunterricht. In einen Sexshop traute er sich nicht – doch das war nicht nötig. Schließlich nannte sein Bruder ziemlich bald eine Ausleihkarte für die Videothek in der Altstadt sein Eigen. Von da an lebte Tim seine Leidenschaft für primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale in bewegten Bildern aus.
Tim konnte sich nicht beklagen. Bücher, Hefte, Kerzen, Finger, Videos -- sein Sexualleben war alles andere als langweilig, auch wenn sich der körperliche Kontakt zu den Mädchen aus seiner Klasse nicht einstellen wollte. Sie waren zu dick oder zu dünn, zu brünett oder zu blond, zu frech oder zu still. Tim fand immer einen Grund, warum ihm seine rechte Hand und die Videos genügten.

Bei den Videos, die er sich von seinem Bruder mitbringen ließ, faszinierten ihn besonders die Szenen, in denen gut gebaute Männer die Artisteneingänge der Darstellerinnen penetrierten. Artisteneingang – das war ein Wort, das er in einem dieser Filme gehört hatte. Ein schöner Begriff, wie er fand. Nicht so obszön. Elegant. Diskret.

Zu zweit oder zu dritt, das war ihm einerlei. Hauptsache, er konnte Zeuge sein, wie am Ende jeder der Männer seiner Lust ganz offen Tribut zollte.

Manchmal stellte er sich vor, wie er Teil dieser Ménage-à-trois sein würde und wenn er seine Lust mit Kerzen verstärkte, wusste er nicht genau, an wessen Stelle er lieber gewesen wäre.

Hätte man ihn gefragt: Mit welchem Darsteller würdest du lieber tauschen - Tim wäre unschlüssig gewesen. Mit beiden, hätte er vielleicht gesagt, aber am liebsten hätte er geschwiegen.

Es waren die 80er. In diesen Zeiten verknüpfte man mit Schwulsein eher AIDS als sexuelle Selbstbestimmung.

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Sein Freundeskreis blieb auch ohne Mädchen stabil. Tim brauchte keine andere Freundin als seine Fantasie, Tim hatte schließlich Freunde. Enge Freunde.

Da war sein bester Freund Bastian, der wie Tim selbst wenig Glück mit den Mädchen hatte. Bastian war in der Pubertät zu schnell zu groß geworden und kämpfte ständig mit seinen langen Beinen. Bastian hatte als Einziger in der Runde ein Mofa, weil er im Nachbarort wohnte und der Schulbus dort nicht hielt. Zu zweit gingen sie jede Woche mindestens einmal ins Kino oder sie guckten die Filme, die sich Tims Bruder aus der Videothek ausgeliehen und nicht zurückgebracht hatte.

Tim zahlte dann für einen zusätzlichen Tag und brachte die Filme zurück.

Danach blieb er dann verbotenerweise immer in der Videothek und schlich in die Ecke, in der die harten Streifen aufbewahrt wurden.

Und dann waren da noch Martin und Steffen. Sie kannten sich seit der Kindheit. Sie stritten sich ständig und vertrugen sich umso genauso häufig. Als Fußballer in der Jugendmannschaft des Kleinstadtvereins teilten sie nach der Schule und auch am Wochenende ein Hobby. Tim fand, dass die beiden, so unterschiedlich sie aussahen, auch Brüder hätten sein können. Sie wirkten manchmal wie ein Herz und eine Seele, und manchmal wie die ärgsten Feinde.

Frank war ein Freund aus der Schule, der häufig dabei war, weil er nicht wusste, was er sonst machen sollte. Es hatte sich einfach so

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 04.02.2014
ISBN: 978-3-7396-4363-2

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