Ich weiß nicht ganz genau, was passierte, aber ich erinnere mich an den Duft von kaltem Wasser mit einem Hauch von Schilf.
***
Wie jeden Abend ging ich am Strand entlang. Ein anstrengender Arbeitstag lag hinter mir, der mir eine angenehme Müdigkeit und ein stolzes Gefühl des Erfolgs verschaffte. Mein Heimweg, der mich an diesem idyllischen See entlangführte, gab dem Tag im Büro einen krönenden Abschluss und dem Feierabend einen stilvollen Start.
Zu Hause erwartete mich an diesem besonderen Tag eine romantische Überraschung. Mein geliebter Matthias öffnete mir mit einem strahlenden Lächeln die Tür. Auf dem Tisch stand eine schmale Vase mit einer dunkelroten Rose, deren Duft noch von den sich jeden Moment öffnen wollenden Blütenblättern umfangen schien. Im Kerzenlicht erkannte ich eine Flasche Champagner und einen kleinen extravaganten Imbiss. Der Raum war erfüllt von einer sanften leisen Musik.
Matthias küsste mir mit einem gehauchten „Guten Abend, Elvira, meine Liebste.“ den Hals. Er nahm mir die Tasche ab, und als ich mich auf die kleine Telefonbank im Flur setzte, kniete er sich vor mich, um mir die Schuhe von den müden Füssen zu nehmen.
„Komm, Elvi, ein Schlückchen Champagner, ein kleines Häppchen und dann entspannst du in der Wanne ein Stündchen.“
Darauf konnte ich nichts weiter erwidern, als ein müdes aber erwartungsvolles Stöhnen, denn ich war von dem Tag wirklich sehr ausgelaugt. Der Champagner perlte in unseren Gläsern und wir sahen uns tief in die Augen. Der Kerzenschein brachte jede einzelne Perlenschnur so zum Leuchten, als wären es wertvollste Südseeperlenketten. Matthias setzte sich neben mich und reichte mir die liebevoll bereiteten Köstlichkeiten. Ich genoss seine Aufmerksamkeit sehr, je mehr ich mich entspannen konnte, wenngleich meine Neugierde darauf stärker wurde, was er wohl mit diesem Arrangement bezweckte.
Als ich dann in der Wanne lag, die mein Matthias mit wohlduftendem cremigen Schaum und im ganzen Badezimmer verteilten Kerzen zu einem sanften Wellnessbad umgewandelt hatte, ließ mich meine Neugierde nicht los. Ich grübelte mir die unterschiedlichsten Szenarien zusammen:
„Vielleicht hat er für uns Plätze in der exklusiven Hotelbar reserviert, in die ich so gerne mal gehen wollte, weil es dort einen Barpianisten gibt, der es versteht, eine romantische und zugleich prickelnde Atmosphäre zu schaffen. Oder er hat meine geliebte Schwester als Überraschungsgast aufgespürt, denn sie ist ein paar Monate zuvor zu einer unbestimmten Reise aufgebrochen und ich wünschte sie so gerne wieder zurück. Bestimmt hat er einen Heiratsantrag vorbereitet. Wir sind schon fast zwanzig Jahre liiert und haben das Thema Heiraten immer vor uns hergeschoben. Es könnte mir auch gefallen, wenn er mich auf diese besondere Weise verführen will, denn unser Liebesleben könnte eine so romantische Auffrischung gut gebrauchen.“
Während in meinem Kopf diese Sätze herumspukten, schlich sich Matthias ganz leise zu mir ins Badezimmer.
„Schatz, du bist doch nicht eingeschlafen?“
„Nein, ich bin viel zu gespannt, was wohl noch auf mich zukommt.“
„Komm, meine Liebe.“
Er hielt mir den Bademantel auf. Ich schlüpfte hinein. Es fühlte sich so wunderbar weich und kuschelig an. Matthias hielt mich mit seinen Armen umfangen. An ihn gelehnt hätte ich noch eine Ewigkeit mit dem tiefen Gefühl der Geborgenheit in dem Badezimmer stehen können.
Im Schlafzimmer hatte Matthias für mich Kleidung bereitgelegt. Ich zog die bequemen Jeans und meinen geringelten Wollpullover an, den ich mir im Jahr zuvor gestrickt hatte, als Matthias bei einem vierwöchigen Lehrgang war. Jetzt musste ich nur noch schnell die Haare föhnen und herausfinden, ob ich dicke Socken für einen Kuschelabend zu Hause oder Turnschuhe für irgendetwas draußen anziehen sollte.
Als ich in den Flur kam, stand Matthias mir einem Rucksack und der Taschenlampe vor mir. Also zog ich die Turnschuhe und noch die Windjacke an. Dann ging es los. Ich platzte fast vor Neugierde, aber ich riss mich zusammen und löcherte ihn nicht mit Fragen nach dem Warum und Wohin. Bestimmt klärte sich die Situation bald auf.
Es war ein milder Frühlingsabend mit einem sternenklaren Himmel. Unser Weg führte uns zu dem See, der sich friedlich in unser kleines Tal einpasste. Der Strand, an dem ich täglich zweimal auf meinem Arbeitsweg vorbeiging, lag menschenleer. Die Bänke standen verwaist an der Strandpromenade. Matthias stellte seinen Rucksack auf einer der Bänke ab und packte zuerst eine Decke aus, die er auf der Bank ausbreitete. Dann zauberte er Champagner, Baguette, Käse und Erdbeeren hervor.
„Lass es dir schmecken, mein Schatz.“, sagte er leise zu mir. Er reichte mir ein Glas Champagner und schnitt mit seinem Taschenmesser das Brot und den Käse.
„Danke, das ist so romantisch. Du glaubst gar nicht, welche große Freude du mir machst.“
Ich küsste Matthias auf die Wange.
Dann tranken und aßen wir während die Sterne über uns eine funkelnde Kuppel bildeten - märchenhaft.
Aus der Ferne hörten wir Frösche ein Konzert geben – Gänsehaut.
Matthias legte seinen Arm um meine Schultern – Schmetterlingsalarm.
Ich genoss die Situation. Aber ganz allmählich stiegen die Gedanken nach dem Warum in mir auf: „Diese romantische Kulisse bietet den idealen Rahmen für einen Heiratsantrag. Auf jeden Fall werde ich Ja sagen. Ich werde nicht atemlos und ohne Überlegenspause antworten, sondern lasse ihn eine Weile zappeln. Ich könnte ihn nach ein paar Sekunden bitten, seine Frage zu widerholen.“
Dann fing Mattias endlich an zu reden:
“Elvira, meine Liebste! Du fragst dich bestimmt, warum ich heute für uns so einen besonders schönen Abend vorbereitet habe.“
„Ach, erstmal habe ich es nur genossen. Es ist so herrlich romantisch, dass ich mich so richtig fallenlassen kann.“
„Dann höre mir jetzt bitte zu, was ich dir zu sagen habe:
Ich liebe dich heute noch so, wie am ersten Tag. Du hast immer zu mir gestanden. Fast zwanzig Jahre lang bist du mit mir durch alle Höhen und Tiefen gegangen. Auch als ich dich voriges zu dem Lehrgang so lange allein gelassen habe, hast du geduldig auf mich gewartet und mir damit deine Liebe bewiesen. Ohne dich kann ich nicht leben.
Heute will ich dir ein Geständnis machen. Lange habe ich überlegt, ob ich es tue, aber du bist so eine wundervolle verständnisvolle Frau, dass ich gar nicht anders kann, als mit dir meine Gefühle zu teilen.“
Jetzt nahm Matthias meine Hände in seine, legten seinen Mund in meine Handflächen und küsste sie. Ich bat ihn leise: „Sprich weiter mein Liebster.“
„Ich hätte nie geglaubt, dass mir so etwas passieren würde, aber ich habe mich in meine Kollegin Ramona verliebt. Sie hat meine heißen Gefühle erwidert, als wir zusammen im vorigen Jahr zu dem Lehrgang waren. Seitdem suchen und finden wir uns immer wieder um unsere Liebe zu erleben.“
Ich war starr und stumm vor Schreck. Wenn ich nicht gesessen hätte, wäre ich wohl umgefallen. Und dann hörte ich mich wieder sagen: „Sprich weiter mein Liebster.“ Ich weiß gar nicht, warum ich es sagte, vermutlich wiederholte ich nur ganz mechanisch die Wörter, die ich zuletzt gesagt hatte.
„Elvira, du wundervolle Frau, du wirst Ramona sehr mögen, sie ist auch eine sehr verständnisvolle, kluge, zärtliche, geduldige Person. Sie versteht mich genau, sie weiß, dass ich dich nie verlassen würde. Darum haben wir uns sehr lange darüber unterhalten, wie es mit uns Dreien wohl weitergehen soll.“
Die Sterne verschwammen vor meinen Augen. Die Dunkelheit verbarg meine Tränen. Mein Hals schmerzte, so dass ich nicht schlucken konnte. Ich fragte mich: „Wer ist „Wir drei“? Wohin führt dieses Geständnis? Alles dreht sich in meinem Kopf, an welcher Stelle hält dieses Unglücksrad jetzt an, dass Matthias gerade angestoßen hat?“
Matthias geriet richtig ins Schwärmen: „Wir haben uns überlegt, dass ihr beiden Frauen, für die meine Liebe brennt, euch kennenlernen müsst. Ich bin mir sogar sicher, dass ihr euch ganz toll verstehen werdet. Und dann suchen wir uns eine neue Wohnung, in der wir zu dritt leben werden. Wir stellen uns vor, dass Ramona nur noch halbtags arbeiten geht, wenn erst unser Kind auf der Welt ist. Du und ich verdienen genug Geld um dann unsere moderne Familie zu ernähren. Vielleicht schaffen wir uns dann sogar eine Putzhilfe an, damit ihr beiden schönen Frauen das Leben so richtig genießen könnt! Solange das Kind klein ist, gehe ich mal mit dir abends aus und mal mit Ramona, dann ist immer jemand von euch bei dem Baby.
Ach, Elvira, das wird toll.“
„Toll!“, „Toll!“, „Toll!“, „Toll!“, „Toll!“, „Toll!“, so klang es in meinem Kopf nach, als hätte ein Echo in einer Schlucht dieses Wort ewig hin und her geworfen und ein Regisseur diesen Effekt in Zeitlupe in den Film meines Lebens eingebaut. Ein Film, der gut ohne diese groteske Szene unter dem sternenklaren Himmel an dem spiegelblanken See auskommen würde.
„Elvira, was sagst du dazu?“
„Jetzt soll ich auch noch etwas dazu sagen!“, hämmerte es in meinem Kopf. Ich atmete tief durch und dann sprang ich von der Bank auf und rannte wie von der Tarantel gestochen auf den See zu. Matthias erschrak und sprintete mir hinterher. Als ich bis zu den Knien im Wasser stand, spritzte ich mir ein paar Hände voll Wasser ins Gesicht. In diesem Augenblick hatte Matthias mich erreicht. Er stolperte förmlich in den See hinein. Er stürzte flach in das Wasser. Ich verlor das Gleichgewicht und fiel auf ihn. Einen Moment später raffte ich mich wieder auf. Er blieb wie eine Puppe bäuchlings liegen.
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Ich weiß nicht ganz genau, was passierte, aber ich erinnere mich an den Duft von kaltem Wasser mit einem Hauch von Schilf.
Wie jeden Abend gehe ich am Strand entlang. Ein anstrengender Arbeitstag liegt hinter mir, der mir eine angenehme Müdigkeit und ein stolzes Gefühl des Erfolgs verschafft. Mein Heimweg, der mich an diesem idyllischen See entlangführt, gibt dem Tag im Büro einen krönenden Abschluss und dem Feierabend einen stilvollen Start. Wenn ich an der Bank vorbeikomme, auf der ich die letzten Minuten vor dem tragischen Unfall mit Matthias verbracht hatte, sitzt oft eine junge Frau mit einem kleinen Kind dort, die gedankenversunken auf den See hinausblickt.
Tag der Veröffentlichung: 08.11.2016
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