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Wo ist er?

„Sie können alles erreichen, was ihr Herz begehrt. ‚Vorstellungskraft’ ist das Schlüsselwort.“
Gitte saß in der vordersten Reihe, warum habe ich mich nicht in die Nähe des Ausganges gesetzt, überlegte sie. Jetzt könnte ich schnell hinaus schlüpfen aus diesem Auditorium. Motivation ist sicher wichtig, doch dieser ‚Möchte gerne’ da vor mir hat keine Ahnung. Anscheinend denke nur ich so, denn kaum macht er eine Verschnaufpause, bebt der Saal mit Beifall und Anerkennung. Alles Wörter und Gescheitheiten, die ich schon sehr oft gelesen habe, das stimmt doch überhaupt nicht. Was er wohl bezahlt bekommt für diese Hirnwäsche?
Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Sessel hin und her.
„Stellen Sie sich genau vor, was Sie wollen, jedes kleinste Detail, schließen Sie Ihre Augen. Überlassen Sie den Rest der göttlichen Kraft.“
Hast du eine Ahnung, wie ich diese Vorstellungskraft beherrschte, ich betrieb sie täglich, dachte sie. Der Schreibblock auf ihrem Schoss war noch unbeschrieben. Sie begann zu kritzeln, runde Formen, kleine und große Bälle.
Die Bälle wurden Schneebälle. Sie fühlte das leise Knirschen des Neuschnees, als sie einen Schneeball formte. Die Schneeflocken tanzten im Licht der Straßenlaternen. Eine Straßenbahn fuhr geräuschlos vorbei. Nur das schürfende Geräusch einer Schneeschaufel war zu hören. Das muss unsere Hausmeisterin sein, dachte sie. Die Warnungen der Mutter im Ohr getraute sie sich jedoch nicht, sich weiter aus dem Fenster zu lehnen. Die Dächer der grauen Mietshäuser gegenüber hatten dicke weiße Decken. Einige Menschen gingen auf der anderen Straßenseite vorbei bis zur Ampel. Nur dort konnten sie die Strasse überqueren, denn der zusammen geschobene Schnee war aufgehäuft wie eine Schutzmauer.
Gitte konnte ihn nicht erblicken.
Der fünfte Mann, der vorbeigeht ist er, bitte, dachte sie.
Sie fröstelte, trotzdem war der Schnee auf dem Fensterbrett zu verlockend. Sie formte weitere Schneebälle, und warf einen nach den andren im weiten Bogen aus dem Fenster.
Drei… vier, lass ihn kommen, bitte.
Doch der Fünfte war ein alter Mann, der sich vorsichtig an der Hausmauer festhielt, um nicht auszurutschen.
„Bist du noch zu retten“, die Stimme ihrer Mutter versetzte Gitte einen Stich. „Was fällt dir ein? Mach sofort das Fenster zu.“
„Ich wollte nur sehen, ob er schon kommt. Darf ich ihn holen? Ich finde ihn“, schlug sie vorsichtig vor. Doch sie wusste die Antwort, es war ja jeden Freitag dasselbe.
Ihre Mutter zog sie vom Sessel und verschloss das Fenster.
„Auf keinen Fall. Er weiß wo er wohnt. Auf ins Bett, Maria schläft schon.“
Sie kletterte in ihr aufgeklapptes Bett, die warme Daunendecke tat gut. Ihre Mutter beugte sich über sie und ermahnte sie, gleich einzuschlafen und nicht zu grübeln und schluchzen, er würde sicher bald kommen. Ein kurzer Guter Nacht Kuss und Mutter ließ sie alleine im finsteren Zimmer.
Gitte faltete ihre Hände unter der Bettdecke.
Bitte, lieber Gott, lass ihn nicht ausrutschen, bitte nimm ihn bei der Hand und bring ihn heim. Ich sage dir, wo er ist, er sitzt in der Gaststube ‚Zur Frischen Traube’. Lass ihn jetzt aufstehen und zahlen, bitte. Sie schloss die Augen und sah die verrauchte Wirtshausstube. Sie stellte sich den lieben Gott vor, groß mit einem langen weißen Kittel und einem mächtigen Bart. Er nahm ihren Vater bei der Hand und schob ihn zur Tür hinaus.
Jetzt musst du ihn fest halten, dass er nicht hinfällt, vielleicht kannst du ihn tragen. Sie sah, wie Gott ihn wie ein kleines Kind hochhob und sicher über den Schnee trug.
„Jetzt könntet ihr schon bei Tor sein“ flüsterte sie, „ Sperre bitte für ihn auf und knipse das Licht im Korridor an. Die zwei Stockwerke schafft er sicher alleine. Danke.“
Sie wartete, ob sie die üblichen Versuche hörte, bis er das Schlüsselloch fand. Nichts rührte sich.
Wo ist er, lieber Gott, hörst du mich nicht? Bitte hilf ihm. Sie presste die Finger so stark zusammen, dass ihre Hände nass wurden. Ich zähle jetzt bis zwanzig, dann seid ihr hier, ja? Sie lauschte. Es war ganz still, nur ein leises Schnarchen ihrer Mutter aus dem Nebenzimmer war zu hören.
Hast du ihn nicht gefunden? Machen wir es noch einmal, lieber Gott, ich verspreche dir, wenn du jetzt mit ihm gehst, werde ich nächste Woche nicht mehr frech sein, oder mit Maria streiten.
Ein Schrei ihrer Mutter ließ Gitte aufspringen sie wusste einen Augenblick nicht, wo sie sich befand. War sie eingeschlafen?
Sie lief in den Nebenraum und stieß mit ihrer Schwester zusammen. Maria hatte ihr langes grünes Flanellnachthemd an und kaute wie immer an ihren Fingerknöcheln. Sie zog Gitte zurück. Gitte ließ sich nicht aufhalten von ihrer älteren Schwester und schob sie mit beiden Händen aus dem Weg. Maria ließ kurz ihre aufgebissenen Knöchel in Ruhe und rief mit greller Stimme:
„Hätten Sie ihn doch liegen lassen, dann wäre er ein Eiszapfen, und wir hätten endlich unsere Ruhe. So was Hirnverbranntes. Ich gehe ins Bett.“
Gitte konnte sich nicht bewegen. Ihre Füße wurden schwer, und sie fühlte ihren Köper nicht. Ihre Augen brannten und die Tränen begannen zu rollen. Ihr Vater saß am Esstisch, sie sah sein Gesicht. Die Nase war keine mehr, nur noch eine fleischige Masse mit vielen kleinen Eisklumpen. Von den Augenbrauen bis zum Mund verliefen klaffende dicke Kratzer. Seine Lippen waren blutig. Alles andere war blau, fast violett. Seine Augen hatte er geschlossen.
Eine große dicke Frau stand neben ihm. Sie sprach mit Gittes Mutter:
„Wie gesagt, ich habe ihn aufgeklaubt. Er war schwer, aber ich wusste, wo er hingehört. Einer musste sich ja erbarmen. Bis morgen früh hätte er wahrscheinlich Frostbeulen oder wäre tot, und die Funkstreife hätte ihn gefunden.“
Mutters Gesicht glühte rot, sie lief auf und ab in dem kleinen Zimmer.
„Danke, was für eine Schande! Ich danke Ihnen, setzen Sie sich doch. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll. Ich hole Verband und stelle Wasser auf, er muss aus den nassen Kleidern heraus.“ Sie fuhr sich mit ihren Händen durch die Haare und riss daran.
Erst jetzt bemerkte sie Gitte, die im Türrahmen stand, und befahl ihr, sofort ins Bett zu gehen.
Gittes Körper zitterte. Sie sah ihren Vater an, sie wollte zu ihm gehen und ihn halten, ihn umarmen. Sie wollte ihn auch anschreien und schütteln. Warum war er nicht gleich nach der Arbeit heimgekommen? Sie wollte ihrer Mutter sagen, dass sie nicht so schreien soll, dass ihr Vater keine Schande sei und sie ihm doch sagen soll, dass alles gut würde. Er war ja nun daheim.
Mit einem dumpfen Laut fiel ihr Vater vom Sessel.
Mit geschlossenen Augen und verkrümmt lag er vor Gittes Füßen. Ihr wurde plötzlich schlecht, ihr Magen drehte sich. Vor ihren Augen war ein schwarzer Streifen Sie hielt ihre Hand vor den Mund und lief auf die Toilette. Nachdem sie ihren Magen leergewürgt hatte, setzte sie sich auf den Klodeckel und schluchzte. Was hast du mit ihm gemacht, lieber Gott? Ist er tot? Warum hilfst du ihm nicht?
Der Schreibblock rutschte von Gittas Schoss auf den Boden. Schnell hob sie ihn auf und schaute dabei kurz auf ihre Uhr. Eine halbe Stunde noch.

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Tag der Veröffentlichung: 08.01.2011

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