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Prolog

Wenn ein geliebter Mensch diese Welt verlässt, werden etliche Tränen vergossen. Herzen brechen und unsere Gefühle geraten dabei völlig außer Kontrolle. Die einen schreien, andere wiederum weinen. Ein paar rebellieren, oder ziehen sich einfach zurück. Jeder Mensch geht mit solch einer Situation anders um. Und doch haben wir allesamt eine Sache gemeinsam:

Egal wie wir uns mit dem Tod auseinander setzen, der Heilungsprozess wird ein langer Weg sein.

Nach und nach wird es uns leichter fallen in unseren Alltag zurück zu kehren. Langsam gewöhnt man sich wieder an das Leben.

Je länger wir durchhalten, desto schneller werden sich die Schmerzen in etwas Erträglicheres wandeln.

In überwiegend schöne Erinnerungen zum Beispiel. Ein Lachen das aus tiefstem Herzen kommt.

Oder gar in die längst vergessene Lebensfreude, die man auf einmal wiederfindet. Unsre Wunden heilen.  Wenn dieser geliebte Mensch jedoch dein Seelenverwandter, die Hälfte von dir ist, die dich komplett macht, dann stirbt mit ihm auch ein großer Teil von dir selbst und nichts mehr wird so sein, wie es einmal war.

Als meine Schwester Eve sich für immer von mir verabschiedet hatte war ich trauriger denn je.

Sie war diejenige gewesen, die mich zu etwas Besserem gemacht hatte als ich es im Grunde war. Ich sah sie als meine beste Freundin und gleichzeitig meine strengste Kritikerin an.

Ab dem Zeitpunkt,  an dem ihr Krebs wieder aufgetaucht war, wusste ich dass mein Leben ein anderes werden würde. Der Faden zu mir selbst war immer dünner geworden.

Schnell war mir klar geworden: wenn ich sie verliere, verliere ich mich auch selbst.

Einen Tag vor ihrem Tod hatte sie mir ein Versprechen abgenommen.

Ich hatte ihr versprochen, für sie weiter zu leben und nur mehr das zu tun, wozu mein eigenes Herz mir raten würde. Die Erinnerung an diesen Schwur, hat mir Monate später etwas geschenkt, das ich wenige Tage nach unserem Gespräch, zusammen mit ihr, begraben hatte.

1. Die ersten Schritte hin zum Glück

 

Kapitel 1 – Die ersten Schritte hin zum Glück

 

 

29, August, 2015

 

Liebe Eve,

 

ich hoffe dir geht es gut, dort wo du bist.

Jetzt lachst du bestimmt, weil du ganz genau weißt, dass das Jenseits nichts anderes als eine irrwitzige Illusion für mich ist. Aber ob du es nun glaubst oder nicht, glaube ich mittlerweile sogar ein klein wenig an so etwas wie den Himmel.

Der Gedanke daran,  dass du an einem Ort bist, der so vollkommen ist wie du es bist, ist das Einzige was mir dabei hilft, dass mir mein eigenes Leben nicht völlig aus den Fingern gleitet.

Kannst du dich noch an unser Gespräch im letzten Sommer erinnern? Das,  indem du mir gesagt hast, dass ich endlich das tun sollte, was ich selbst machen will?

Ich habe deinen Rat befolgt. Nächste Woche beginne ich ein neues Studium in Portsmouth. Und ich bin so verdammt aufgeregt deswegen. Von unserer Geburt an musste ich mich nie einsam fühlen.

Denn du warst immer an meiner Seite. Jetzt muss ich mich alleine durchs Leben kämpfen, und das erweist sich oft schwieriger als gedacht.

Mum und Dad driften langsam aber sicher immer weiter in zwei entgegengesetzte Richtungen ab.

Während Mum in ihrer zweiten Jugend erblüht und ihre Pflichten als Ehefrau und Mutter scheinbar vergessen hat, ist Dad zum Hausmann mutiert. Stell dir vor: der Mann bügelt sogar seine Hemden selbst.

Ich bin mittlerweile zu so etwas wie dem Hausgespenst geworden. Immer anwesend und doch unsichtbar.

Ach Eve, wärst du doch einfach noch bei mir. Dann wäre alles wieder wie früher.

 

Ich vermisse dich

 

Kuss, Rose

 

»Amy – y – y – y Frühstück ist fertig! Beeil dich doch bitte«, tönte da die schrille Stimme meiner Mutter durch die Türe.

»Ich komme ja schon«, rief ich in der selben Lautstärke zurück, klappte das Tagebuch vor mir zu, steckte es an seinen Platz zurück und schlüpfte aus dem Bett. Angezogen war ich bereits seit Stunden. Wie so oft in letzter Zeit hatte ich auch diese Nacht kaum ein Auge zugetan. Nach zwei endlos langen Stunden, die ich damit verbracht hatte die Risse an meiner Zimmerdecke zu zählen, hatte ich den Kampf schließlich aufgegeben, war in die Küche getrottet und hatte mir meine erste Tasse Kaffee geholt.

Mein Magen knurrte mittlerweile schon höllisch.

Also beeilte ich mich und lief die weißlackierte Treppe hinunter ins Erdgeschoß.

Vor der Küchentür zierte ein Lichtkegel den Dielenboden.

Bestimmt war es mein Vater, der sich da lautstark durch die Schränke wühlte.

Gähnend folgte ich dem Geräusch, bis zum Türstock, wo ich abrupt stehen blieb.

Erstaunt stellte ich fest, dass zum ersten Mal seit langem alle Familienmitglieder  zusammen in unserer Küche anwesend waren. Der Duft von frischgebackenen Pancakes lag in der Luft. Aus dem Retro Radio auf dem Kühlschrank klang ein Song der Beatles, den Mum gutgelaunt mitsummte.

Das diesmal anstatt von Dad meine Mom vorm Herd stand, wollte mir so gar nicht in mein gewohntes Familienbild passen. Und doch träumte ich nicht nur davon. In ihrem kurzen, mit roten Röschen bedruckten Bademantel, stand meine Mum mit den Hüften schwingend vor mir und schupfte eines der kleinen Teigteilchen nach dem anderen in die Luft, um sie kunstvoll in der Pfanne zu wenden.

Mein Vater genoss es richtig einmal nicht in seine aufgezwungene Hausmannsrolle schlüpfen zu müssen. Ihn, ohne seine Kochschürze um die Taille gebunden, Kaffee schlürfend und die Nase hinter einer Zeitung versteckt,  dort am runden Tisch sitzen zu sehen, war die zweite Seltenheit die dieser Morgen mit sich brachte.

Hab ich was verpasst?

Rein gar nichts deutete auf das Chaos hin das sonst unser Leben beherrschte. Ja, die Situation glich mehr einer meiner schönen Träume, in die ich mich nicht allzu oft verirrte.

Nach einem besinnlichen Moment an der Türe, nahm ich meinen Platz am Tisch ein.

»Morgen ihr beiden«, säuselte ich so liebreizend und zupfte dass gelbe Sitzkissen unter meinem Hintern zurecht.

»Guten Morgen«, tönte es im Einklang zu mir zurück.

»Haben wir etwas zu feiern?«, fragte ich, während Mum sich augenblicklich darum kümmerte, dass ich gut mit Kaffee versorgt wurde.

Nach einem kleinen Schluck von der braunschwarzen Brühe, verzog sich mein Gesicht automatisch zu einer Grimasse.

Bäh – kein Zucker!

»Nein, nicht dass ich wüsste. Warum fragst du?«

»Ach nur so«, schulterzuckend griff ich nach der bunt gepunkteten Tasse und stand auf um an der Küchentheke nach der Zuckerdose zu suchen.

Zurück am Tisch, nahm ich die beiden genauer unter die Lupe. Ich traute dem ganzen scheinheiligen Getue der beiden nicht.

So schön das alles auch sein mochte, war ich mir trotzdem sicher, dass irgendetwas an dieser Seifenoper hier faul sein musste.

Es war eine halbe Ewigkeit her gewesen, dass wir als Familie zusammen gefrühstückt hatten.

Bisher hatte ich mich immer mit selbstgemachten Kaffee und Müsli zufrieden geben müssen.

Pancakes hatte es bis dato nur im Café um die Ecke gegeben.  Irgendetwas sagte mir, dass ich noch früh genug erfahren würde, was der Grund für dieses Schauspiel war.

Wenige Minuten später war das Frühstück komplett.  Pancakes, frisches Obst, Ahornsirup, frisch gepresster Orangensaft. Der Tisch war reichlich gedeckt.

»Wusstet ihr, dass Lenny Jules vermisst wird?«, kam es hinter der aufgeschlagenen Zeitung hervor.

Lenny war ein zwölfjähriger Junge aus unserer Nachbarschaft. Wir kannten ihn und seine Familie zwar nur vom Sehen, doch diese tragische Geschichte hatte schnell die Runde gemacht.

Ein kleiner quirliger Junge, der mitten in einem bisher idyllischen Londoner Vorort von der Straße vor seinem Haus in einen Wagen gezerrt und entführt wird.  Schrecklich!

»Der wird doch schon seit drei Wochen vermisst, oder? Gibt´ s denn neue Erkenntnisse in diesem Fall?«

Dankend nahm ich den Pancake entgegen, der mir auf den Teller gelegt wurde und verteilte ein paar frische Beeren und Sahne darauf.

»Was ehrlich? Davon habe ich gar nichts mitbekommen. Langsam komme ich mir vor, als würde ich hinterm Mond leben.«

»Alles gut Dad. Kein Mensch wird dich nach solchen Dingen fragen.«

Seufzend legte er das Tagesblatt beiseite und füllte seinen Frühstücksteller vor sich.

»Sag mal Amy, hast du dir das wegen Portsmouth auch wirklich gut überlegt?«, fragte meine Mutter plötzlich und versuchte diese Frage so nebensächlich wie nur möglich klingen zu lassen. Ha! Wusste ich‘s doch.

 

»Was soll ich mir denn da noch überlegen? Ich habe mich dort beworben und die haben mich angenommen. Nächste Woche beginnt das Studium. Es wäre doch reichlich spät um es mir jetzt noch einmal anders zu überlegen. Findest du nicht?«

Das Stück gebackener Teig, das ich mir hinterher in den Mund geschoben hatte schmeckte jetzt verdächtig nach Bestechung.

»Dein Onkel Wesley könnte dich bestimmt wieder an die Kingston bringen. Dort hätten wir wenigstens ein Auge auf dich.«

Indem Moment schielte Dad von mir zu Mom, schüttelte lautlos den Kopf. Die Lippen aufeinander gepresst griff er erneut zur Zeitung, um sich hinter seinem Schutzwall verstecken zu können.

Jetzt war mir der Appetit  vergangen. Wütend legte ich das Besteck beiseite und lehnte mich zurück.

Ich wagte es nicht, ihr auch nur einen kurzen Blick zu schenken. Sie jetzt anzusehen hätte das Fass womöglich endgültig zum Überlaufen gebracht.

»Ist es das was du willst?«, fragte ich, »ständig ein Auge auf mich haben zu können, weil ich in deinen Augen nichts als eine unberechenbare Göre bin?«

»Amy du weißt wohl selbst, dass ich gute Gründe für meine Einstellung dir gegenüber habe.«

»Camilla lass das doch!«, mischte mein Vater sich ein. Doch er wurde überhört.

»Das vergangene Jahr war kein Zuckerschlecken für mich! Erst verliere ich eine Tochter und danach schmeißt du all unsere Pläne für dich über Bord.

Du warst drauf und dran alles zu zerstören was noch von unsrer Familie übrig geblieben ist. Ich traue mir sogar wetten, dass du das neue Studium genauso schnell hinschmeißen wirst wie bei deinem letzten Versuch. Du bist noch nicht reif genug, um solche Entscheidungen allein zu treffen!«

Das war zu viel für mich! Ständig diese langwierigen Nörgeleien, dieses Herumreiten auf Angelegenheiten, unter die ich schon vor Monaten einen Schlussstrich gezogen hatte. Ich konnte es nicht mehr länger hören.

»Sag was du willst.  Jedoch wird mich nichts davon abhalten nach Portsmouth zu ziehen. Ganz ehrlich Mom, das Privileg mir Ratschläge zu geben hast du schon vor langer Zeit verspielt.« Das hat gesessen!

Demonstrativ verärgert stellte ich die noch halbvolle Kaffeetasse auf den Tisch, sprang vom Stuhl hoch und stapfte ohne ein weiteres Wort zu sagen davon.

 

 

***

 

Eine Woche später war es dann endlich soweit.

Meine Koffer waren schon lange gepackt gewesen und der alte Käfer, mit dem ich mich auf dem Weg nach Portsmouth machen wollte, war tags zuvor sicherheitshalber noch einmal ordentlich durchgecheckt worden.

Mein neues Leben konnte beginnen!

Ich schloss die Tür meines Kofferraums und atmete tief durch. Dann wendete ich mich meinen Eltern zu, um mich der Verabschiedung zu stellen.

Vor diesem Moment hatte ich zuvor am meisten Angst gehabt.  Die beiden hatten sich in der letzten Zeit so sehr verändert gehabt, dass selbst ich als ihre Tochter nicht mehr wusste, wie ich mit ihnen umgehen sollte. Dad’ s Wandel zum perfekten Hausmann war mir ganz und gar nicht geheuer und bei Mum befürchtete ich, dass sie jederzeit ihre sieben Sachen packen und nach Spanien durchbrennen könnte. Kein Wunder also, dass ich selbst auch nichts mehr auf die Reihe brachte. Meine Vorbilder waren ja augenscheinlich auch nicht unbedingt welche von der besten Sorte.

Ich beschloss, es so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Mum gab mir ein paar mahnende Worte mit  auf den Weg. Ausnahmsweise rang  sie sich hinterher sogar zu einer kurzweiligen Umarmung durch.  Dad hingegen zog mich sofort in seine starken Arme. Er zitterte leicht. Man konnte sehen, dass Abschiede nicht zu seinen Stärken zählten.

»Mach das, was du für richtig hältst meine Kleine«, hauchte er mir ins Ohr, bevor er mir einen Kuss auf die Stirn drückte und mich wieder frei gab.

»Das mach ich Dad. Wir sehen uns dann in zwei Wochen.«

Ehe ich mich versah saß ich im Wagen.

Ein letztes Mal noch warf ich einen Blick in den Rückspiegel, drehte das Radio lauter und brauste davon.

 

Ade altes verkorkstes Leben. Hallo Zukunft!

 

Nach knapp zwei Stunden Autofahrt, rollte ich endlich auf den Campus ein. Zwar brauchte ich ein paar Minuten um mich zwischen den vielen Gebäuden zurecht zu finden, letztendlich parkte ich mein rotes Baby aber dann doch in der richtigen Parklücke. Gott war ich froh meine Glieder strecken zu können.

Mein Hintern glühte förmlich von der langen Fahrt.

 Kein Wunder, diese zerschlissenen Autositze der alten Lady hier, waren nicht mehr in ihren besten Jahren.

Ich blinzelte, die Sonne strahlte mir mitten ins Gesicht.  Sobald sich meine Augen an das grelle Licht gewohnt hatten, machte ich mich daran, meine Sachen aus dem Kofferraum zu holen.

Ich nahm so viel mit, wie ich fürs Erste tragen konnte. Das notwendige Anmeldeformular steckte ich mir zwischen die Zähne.

In meinem zukünftigen Studentenheim tummelten sich, wo man nur hinsah, Menschen. 

Es war laut, und wenn ich daran dachte, mir so vollgepackt wie ich war, einen Weg durch diese Menschenmengen bahnen zu müssen, wurde ich schier nervös.

Zwischen all den scheinbar doch sehr verwirrten Neuankömmlingen fielen mir ein paar ältere Studenten ins Auge. Sie waren die einzigen Personen, die versuchten Ordnung in das Chaos zu bringen. Neben ihrem hektischen Gebrüll unterschieden sie sich vor allem durch die gleichfarbigen Poloshirts, die sie allesamt trugen. Jeder von ihnen schleppte eine Pack weißer Formulare mit sich herum. Genervt drängelte ich mich durch die hektischen Massen.

Mittlerweile war ich so sehr damit beschäftigt auf mein Gepäck und meine Füße zu achten, dass ich keinen Blick mehr für das Chaos vor mir hatte.

Ein Aufprall gegen eine steinharte Männerbrust.

 Ich verlor mein Gleichgewicht, begann zu taumeln.

Schon machte mein Hintern die Bekanntschaft mit dem laminierten Fußboden unter mir.

Ich blickte hoch zu dem Kerl der mir im Weg gestanden war und konnte meinen Frust nicht mehr länger zurückhalten. Ehe ich mich versah war ich so wütend wie nur selten zuvor.

»Verdammt nochmal! Pass doch auf!«, herrschte ich den braungebrannten Kerl mit den, von der Sonne gebleichten Haaren über mir, an.  Für einen kurzen Moment sah es so aus, als ob ihm mein forscher Tonfall einen Schrecken eingejagt hätte.

Doch dann grinste er mich an, reichte mir seine Hand und zog mich zu sich hoch.

»Tut mir leid, das wollte ich nicht. Aber bei dem Tumult der hier herrscht, sieht man oft die eigene Hand vor Augen nicht mehr.«

»Ach schon gut. Ich hätte dich nicht so anmotzen dürfen. Wäre wohl besser gewesen, wenn ich die Bücher noch im Wagen gelassen hätte.«

Wie auf ein Stichwort ging er in die Hocke und hob meine mitgebrachten Lektüren vom Fußboden auf. Den Anmeldezettel, der mir vor Schreck aus dem Mund gefallen war, behielt er gleich für sich.

Erst jetzt fiel mir sein graues Poloshirt auf.

»Den hier behalte ich gleich«, hielt er den Zettel in seiner Hand hoch und legte ihn auf den Stapel Papier in seiner Linken.

»Ich bin Jackson, einer der Studentenberater hier. Wenn du willst kann ich dich gleich in dein Zimmer führen. Als Entschuldigung für den Zusammenstoß eben, sozusagen.«

Ich nickte.

»Das wäre nett. Danke.«

Mit Jackson an meiner Seite hatte ich eindeutig bessere Chancen um bis auf weiteres unfallfrei auf mein Zimmer zu kommen.

Er lotste mich durch die Treppe hoch ins zweite Stockwerk. Dort öffnete er eine Tür, die in mein Zimmer führte.

Doch ich stutzte,  als ich die zwei Betten darin sah.

Ich hatte nicht damit gerechnet in ein Doppelzimmer einziehen zu müssen. Immerhin hatte ich schon im Voraus darum gebeten, ein Zimmer für mich allein zu bekommen.

»Bist du dir auch sicher, dass wir hier richtig sind? Ich meine, ist das wirklich der richtige Raum?«, fragte ich vorsichtshalber noch einmal nach und betete, dass das bloß ein Missverständnis war.

Jackson warf einen kritischen Blick in seine Unterlagen, sah zu mir hoch und bestätigte mir meine Angst.

»Ja,  ganz sicher. Zimmer 56. Amy Cambpell und Louisa Sanders. Siehst du, hier steht‘s.«

Er deutete auf eine Spalte in dem Dokument auf dem deutlich mein Name und der eines anderen Mädchens zu lesen war.

Nun verstand ich gar nichts mehr.

»Aber das kann nicht sein. Ich habe mich doch schon vor Monaten für ein Einzelzimmer beworben. Wie kommt‘ s dass ich nun ein Doppelzimmer beziehen muss.«

Ich war wütend. Mein Magen krampfte sich bereits zusammen, so sehr strengte ich mich an, um meiner Wut nicht freien Lauf zu lassen.

»Glaub mir,  du bist nicht die Einzige hier mit diesem Problem. Es gibt viele, die sich um ein Einzelzimmer bewerben. Jedoch gibt es in diesem Haus bloß drei Zimmer von dieser Art und die werden meist von denjenigen belegt, die das nötige Kleingeld dafür in den Taschen haben.«

»Was für ein Beschiss«, murmelte ich in mich hinein, während ich mich meinem Schicksal fügte. Jackson fühlte sich schon sichtlich unwohl in meiner Nähe.

Mit einem vielsagenden Nicken verabschiedete er sich von mir und verließ den Raum.

Das war er nun also der Ort, an dem ich mich nun ganze zwei Jahre lang wohl fühlen sollte.

Das Zimmer wirkte jedoch kahl und war so simpel wie nur möglich eingerichtet worden.

An den Wänden stand jeweils rechts und links, ein hölzernes Einzelbett. Etwa eineinhalb Meter davor standen zwei Kleiderschränke und die Fensterseite war für jede von uns ein rustikaler Schreibtisch bereitgestellt worden.

- Es würde Wochen dauern bis man diesen Raum als gemütlich bezeichnen könnte -, dachte ich mir und

legte die Bücher, die Jackson mir zurück gegeben hatte auf einen der beiden Tische. Mürrisch machte ich mich auf den Weg zurück nach draußen, um den  Rest meines Gepäcks zu holen.

Bei meiner Rückkehr stand die Zimmertüre sperrangelweit offen. Ich befürchtete, dass es ab sofort vorbei sein würde mit der kurzweiligen Stille hier drinnen. Krampfhaft versuchte ich mir ein Seufzen zu unterdrücken. Mit einem dumpfen Laut stellte ich die schwere Kiste, die ich gerade über die steile Treppe hoch geschleppt hatte, auf dem Fußboden ab. Ich streckte mich, ehe ich die Reisetasche auf meiner Schulter zu recht rückte und die Umzugskiste mit meiner Schuhspitze nach vor bis zu meinem Bett voran schob. Aus meinem Trotz heraus tat ich absichtlich so, als würde ich die Punk – Barbie auf dem anderen Bett nicht registrieren.  

 

Als ich mein  Hab und Gut ordentlich verstaut hatte, ließ mein Wohlbefinden immer noch zu wünschen übrig. Jeder Quadratmillimeter des Raumes löste Unbehagen in mir aus.

Die kahlen, weiß gestrichenen Wände, die bereits in die Jahre gekommenen Möbel. Ich war mir sicher, dass nicht einmal der beste Innenraumdesigner eine Wohlfühloase aus diesem trostlosen Ort machen könnte. Warum tue ich mir das bloß an?!

Wohl oder übel würde ich mich aber doch daran gewöhnen müssen.

Deswegen griff ich nach dem iPod und meinen Zeichenutensilien auf dem hölzernen Nachttisch neben mir, lehnte mich in meinen Kissen zurück und versuchte das Beste aus der Situation herauszuholen. Gerade als ich mir die schwarzen Stöpsel meines Headsets in die Ohren stecken wollte, hielt mich eine raue Stimme davon ab.

»Ich bin übrigens Lou.«

»Aha. Freut mich«, erwiderte ich schmallippig. Demonstrativ abweisend lehnte ich mich in die aufgebauschten Kissen hinter mir zurück und

drückte mir, einen der beiden Kopfhörer in die Ohrmuschel.

»Du bist wohl nicht sehr gesprächig, was?«

Genervt rollte ich mit den Augen.

»Heute nicht. Nein.«

»Ich verstehe. Ist schwierig wenn alles noch so neu ist. Ich kenne das.«

 

»Hör zu, Lou«, begann ich und drehte meinen Kopf dabei in ihre Richtung, »wir können uns gerne ein anderes Mal unterhalten. Aber jetzt hätte ich gerne meine Ruhe. Ist das möglich?«

»Ähm ja klar. Sorry. Ich sag ja schon nichts mehr«, schnell senkte sie den Blick auf das Smartphone in ihrer Hand.

»Gut!« Aufatmend steckte ich mir den zweiten schwarzen Knopf ins Ohr und begann zu zeichnen.

2. Halbwahrheiten und Täuschung

 

»Verdammt!« Fluchend rüttelte ich an meiner Spindtüre.  Dieses verflixte Ding wollte sich einfach nicht öffnen lassen. Wütend knallte ich meine geballte Faust dagegen.  Aua!

»Hey sachte. Die Dinger sind zwar alt, aber nicht unzerstörbar«, erklang da eine Stimme hinter mir.

Ich trat einen Schritt zur Seite.

»Würde vermutlich auch ziemlich weh tun, wenn man den kaputt schlagen würde«, stellte ich fest.

»Warte, ich helfe dir.«

Ein dumpfer Schlag auf die richtige Stelle und schon stand ich vor einem offenen Spind.

»Voilà.«

»Danke«, murmelte ich.

»Gerne. Du bist Amy oder? Meine Schwester teilt sich ein Zimmer mit dir.«

Gerade wäre mir der Kerl mit seinem aufgesetzten Rockstar Image sympathisch geworden, doch wenn ich an meine Zimmergenossin und ihr endloses Gerede dachte, wollte ich nur noch nichts wie weg. Solch ein schnelles Mundwerk liegt für gewöhnlich meist in der Familie und ich war mir sicher, dass ich mit einer Person von dieser Sorte bereits mehr als genug bedient war.

»Ach Lou. Ja das stimmt. Wir wohnen zusammen.«

Schnell schleuderte ich meine Bücher in den Schrank und schloss die Tür. Im Eiltempo schritt ich davon.  

 

»Ey warte doch mal«, holte er mich ein.

»Mir ist schon klar, dass du wegen meiner quirligen Schwester nichts mit mir zu tun haben möchtest, aber bevor ich den Korb von dir annehme, möchte ich wenigstens die Möglichkeit dazu bekommen, mich bei dir vorzustellen.«

Schnell wurde klar: diesen Kerl würde ich nicht los werden ehe ich ihn anhörte. Also blieb ich abrupt stehen und drehte mich zu ihm um.

»Dann erzähl doch mal. Aber mach schnell. Ich muss zum Unterricht.«

Triumphierend grinste er mich an. Es kam mir beinahe so vor als würde er von dem Selbstsicherheitsschub, den er augenscheinlich gerade bekommen hatte, sogar ein Stück gewachsen sein.  Mit erhobenen Schultern ging er einen Schritt auf mich zu.  Zufrieden streckte er mir seine mit Ringen überfüllte Hand entgegen.

»Schön. Ich bin Drake.«

»Freut mich. Meinen Namen kennst du ja schon. War’s das?«

»Nein noch nicht ganz.«

Sein unverschämtes Grinsen wurde breiter.

»Ich bin derjenige, der in nächster Zeit durch die Uni begleiten wird. Sehe mich einfach als deinen persönlichen Schulführer an.«

»Danke ich verzichte!«

»Da gibt’s nichts zu verzichten. Ich begleite dich, und damit basta.«

 

»Kommt diese glorreiche Idee von deiner Schwester? Ist das vielleicht so etwas wie eine Masche um ihr neue Freunde zu beschaffen?«, fragte ich während ich mich wieder umdrehte und meinen Marsch durch den Flur fortsetzte.

Er begann so laut zu lachen dass sich einige andere Studenten bereits neugierig nach ihm umsahen.

Verwirrt und gleichzeitig peinlich berührt blieb ich abermals stehen, wandte mich ihm erneut zu.

»Würdest du bitte aufhören so laut zu gackern!«, zischte ich.  Er gehorchte.

»Du magst Lou nicht besonders, oder?«

»Das hat keiner behauptet. Ich werde nur nicht gerne voll geplappert.«

»Verstehe«, jetzt war er es, der weiterging.

Ich lief neben ihm her.

»Wenn das so ist, kann ich dich beruhigen. Denn offiziell bin ich gar nicht mit Louisa verwandt. Sie ist bloß meine Stiefschwester.«

»Seine Verwandtschaft kann man sich bekanntlich nicht aussuchen.«

»In diesem Fall ist meine Mum für die Auswahl zuständig.«

Wieder dieses unverschämt verheißungsvolle freche Lächeln.

»Darf ich dir einen Rat geben?«, fragte er schließlich.

»Klar.«

 

»Ich denke, dass ihr beide besser dran seid, wenn ihr wenigstens halbwegs gut miteinander auskommt. Denn falls du es noch nicht mitbekommen hast: Die Zimmeraufteilung gilt bis zum Ende des Studiums. Also fahr die Krallen ein, Tigerlilli. Meine Schwester kann ganz schön fies werden. Ist besser, wenn du zum Kätzchen mutierst.«

»Willst du mir etwa drohen?«, wollte ich ihn fragen. Doch ehe ich den Satz vollkommen aussprechen konnte, verschwand er in einem Klassenraum.

»Aufgeblasener Idiot!«, wisperte ich zu mir selbst, während ich auf meinen Stundenplan blickte. Genervt stellte ich fest, dass ich Drake folgen musste.  Dass der einzig freie Platz in den Raum nur noch der neben ihm war, brachte meine Laune auf einen neuen Tiefpunkt. Kommentarlos setzte ich mich auf den Plastikstuhl und rückte damit bis an den äußersten Rand des Tisches hinaus.

»Schlechtes Karma, hm?«, flüsterte er selbstgefällig bevor er seine Augen nach vorne richtete, wo eine ältere Dame gerade ihren Bücherstapel auf das Lehrerpult knallte.

Mit einem Mal kehrte Ruhe ein, und das laute Getuschel fand ein Ende.

»Willkommen an der University of Portsmouth. Mein Name ist Dr. Montgomery. Sie alle sind heute hier, weil Sie sich für den Kurs englische Literatur eingeschrieben haben.«

 

Ein einheitliches Nicken machte die Runde.

»Gibt es vielleicht jemanden in dem Raum, der sich nicht für diesen Kurs eingeschrieben hat?«

Keine Reaktion.

»Gut. Dann wollen wir mal beginnen. Mr. Sanders wird Ihnen jetzt den Lehrplan für Ihr erstes Semester überreichen. Ich ersuche Sie darum, diesen genau durchzulesen. Bei offenen Fragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung. Ansonsten erwarte ich Ruhe.«

Wie auf Kommando erhob sich Drake neben mir von seinem Platz. Folgsam ging er nach vorne nahm den Stapel Papier entgegen der ihm überreicht wurde und teilte die Blätter an seine Kommilitonen aus.

»Du bist also der Laufbursche hier, hm?«, stellte ich fest, als er die letzten Papierbögen verteilt und sich wieder neben mich gesetzt hatte. Er reagierte nicht darauf, presste seine Lippen zu einer schmalen Linie aufeinander und ignorierte mich.  Im Gegensatz zu all den anderen in dem Raum, die sich eifrig über die ausgeteilten Blätter beugten, schob er seinen Zettel gelassen unter seinen Bücherstapel und lehnte sich zurück, solange die anderen Studenten ihrer Arbeit nachgingen.

»Willst du nicht wenigstens so tun, als ob du dich für den Scheiß hier interessierst?«, fragte ich.

Seine Antwort war nichts weiter als ein einfaches Schulterzucken. Arrogantes Arschloch!


Der Ablauf dieser Stunde wiederholte sich Kurs für Kurs. Professoren stellten sich vor, teilten ihre Lehrpläne aus. Diese studierten wir gründlich, ehe wir uns nach circa fünfzig Minuten wieder verabschiedeten und das Ganze von vorne begann. Drake wich mir dabei kein einziges Mal von der Seite. Von einem Kurs bis zum Nächsten hing der Kerl mir an der Backe.

 

***

 

Da Sport und Physik nicht auf meinem Stundenplan standen, hatte ich nun zwei Freistunden vor mir.

Den ganzen Tag über hatte ich mich schon nach einem ordentlichen Koffeinkick gesehnt.

 Zudem brauchte ich etwas Zeit für mich selbst.

Also machte ich mich auf den Weg in die Cafeteria.

Mit reichlich Kaffee versorgt, suchte ich mir ein sonniges Plätzchen auf dem Campusgelände.

Die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut taten mir irrsinnig wohl. Trotzdem, dass wir an diesem Tag nicht allzu viel zu leisten hatten, war ich jetzt schon ziemlich erschöpft. Wie üblich hatte ich meinen Skizzenblock und ein paar Kohlestifte in meiner Tasche.  Ich lehnte mich an den dicken Stamm der alten Eiche, ein Stück abseits von all dem Trubel, zurück und begann etwas zu skizzieren. Innerhalb kürzester Zeit war ich so sehr in meine Arbeit versunken, dass ich sichtlich erschrak, als Drake plötzlich vor mir stand und zu mir herab grinste.

 

»Fleißaufgaben?«, witzelte er.

Ich antwortete ihm nicht, sondern malte weiter.

Als wäre es selbstverständlich neben mir Platz zu nehmen, sank er ins Gras. Das eine Bein angezogen, das andere halb gestreckt lehnte er sich wie ich zurück. Zwei Minuten später wagte er einen weiteren, Versuch um ein Gespräch zu beginnen.

»Das ist gut. Deswegen hast du also auch Kunst als eines deiner Hauptfächer genommen«, wandte er meiner Arbeit zu.

Schlauer Schachzug! Aber nicht schlau genug für mich!

»Ich mal wohl kaum Strichmännchen, wenn ich Kunst studiere«, maulte ich ohne aufzublicken.

Er grummelte etwas Unverständliches vor sich her. Räusperte sich.

»Oh Mann. Du musst bestimmt denken, dass ich ein totaler Vollidiot bin.«

»Sowas in der Art. Ja.«

Konzentriert arbeitete ich weiter an den Konturen der dunklen Wolken, die sich auf meinem Blatt Papier am Himmelszelt erhoben.

»Ist es eigentlich Zufall, dass du den selben Nachnamen trägst, wie Dr. Sanders aus dem Vorstand?«, fragte ich und legte meine Utensilien beiseite,  um ihn erwartungsvoll anzusehen.

Er zögerte. Dass er auf seiner Unterlippe herum kaute verriet mir seine Nervosität.

»Nein. Das ist kein Zufall. Dr. Michael Sanders ist mein Stiefvater. Lou’s Dad und meine Mum haben vor zwei Jahren geheiratet und ich habe seinen Familiennamen angenommen.«

»Aha. Also ist er der Grund dafür, dass du wie eine Klette an mir klebst?«

Wieder hielt er seine Antwort erst zurück bevor er etwas sagte.

»Michael bat mich darum ein Auge auf dich zu haben. Er meinte du könntest zu labil sein um das Semester zu schaffen.«, gestand er.

»Aha, mehr hat er dir also nicht erzählt?«

„Nein, mehr nicht.“

»Dann ist es ja gut.«

Ich war geübt darin meine Ängste vor anderen verbergen zu können. Somit war es eine meiner leichtesten Übungen so zu tun, als würde mich das Ganze in keinster Sicht beunruhigen.  Die Wahrheit sah jedoch anders aus. Das jemand anderes von meinen Problemen Wind bekommen könnte,  ließ mich erschaudern. Ich wollte kein Mitleid für das, was ich durchmachen musste, wollte nicht verhätschelt oder mit anderen Augen gesehen werden. Mein einziger Wunsch war als Amy gesehen zu werden. Mehr nicht.

»Erzählst du mir mehr darüber?«, fragte er, zupfte an den Grashalmen unter uns.

»Nein«, malte ich weiter, »aber wie wärs wenn du mir erzählst warum du hier den Laufburschen spielst. Ist bestimmt kein freiwilliger Dienst von dir oder?«

Gespannt legte ich mein Zeug beiseite und schlang die Hände um die Knie.  Erwartungsvoll sah ich ihn an. Er atmete tief durch. Ganz offensichtlich war er nervös.

»Du denkst bestimmt,  dass mir das Studium völlig egal ist, nicht wahr?« Ich nickte.

Eine Gruppe Mädels lief kichernd an uns vorbei.

Er wartete,  bis sie nicht mehr in Hörweite waren, ehe er seine Geschichte fortsetzte.

»Na Ja, das entspricht nicht so ganz der Realität. Mir ist die Uni nicht gleichgültig. Jedoch kenne ich das alles schon. Den Lehrplan, die Lehrer, alles einfach. Der einzige Unterschied zum letzten Jahr hier ist, dass ich es diesmal nicht mehr so verbocken will, wie beim letzten Mal.«

»Du hast dein Studium geschmissen. Und das ist der Grund warum du den Professoren hier die Füße küsst?  Das ergibt doch keinen Sinn.«

Er schüttelte den Kopf.

»Das würde mich zum Vollidioten des Jahres küren. Der wahre Grund für meine Hilfsbereitschaft ist, dass ich es Michael verdanke, wieder hier sein zu dürfen. Ich hab damals so großen Mist gebaut, dass es mir normal nicht möglich wäre noch irgendwo anders zu studieren. Michael hat mir eine letzte Chance gegeben. Seither fühle ich mich ihm gegenüber schuldig. «

»Tut mir leid«, rutschte es da aus mir heraus, »das mit dem Laufburschen mein ich. «

Jetzt quälte mich ein schlechtes Gewissen.

Was er mir da erzählt hatte,  klang mehr als übel. Da konnte ich ihn nicht für das verurteilen, was er tat. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte ich womöglich auch so gekuscht wie er.

»Ach schon gut. Hab mich ja schon daran gewöhnt so bezeichnet zu werden«, grinste er.

»Vielleicht klärst du mich irgendwann einmal über deinen Mythos auf. Fürs erste muss ich jetzt aber wieder zurück. Sport steht an.«

»Ja, vielleicht.«

Er stand auf. Die Hände in die Hosentaschen gesteckt,  ging er mit langen Schritten davon.

Eine warme Windbrise rauschte mir durchs Haar. Gedankenverloren strich ich mir eine blonde Strähne aus dem Gesicht.

Ob ich wohl jemals fähig sein würde, über meine Geschichte zu sprechen? Indem Moment glaubte ich nicht daran. In den letzten paar Monaten hatte ich mir einen festen Kokon zugelegt. Nichts und niemand würde diesen durchbrechen können. Noch nicht.

Nach vier weiteren langen Stunden hatte ich meinen ersten Tag an der Uni endlich hinter mich gebracht.  Erst als meine Zimmertüre mit einem Knarren hinter mir ins Schloss zurück fiel, merkte ich, wie ausgelaugt ich war.

Lou lag mit überkreuzten Beinen rücklings auf ihrem Bett. Aus den monströsen pinken Kopfhören, die sie auf den Ohren hatte, drang Musik, die so laut war, dass selbst ich, als Außenstehende noch dazu tanzen hätte können. Schnell ergriff ich die Flucht ins Badezimmer.

Fünfzehn Minuten später war ich frisch geduscht. Sie lag immer noch unverändert auf ihrer Matratze.

Während ich sie mir so ansah, wunderte ich mich darüber,  dass mir nicht schon eher aufgefallen war, dass sie nicht Drakes leibliche Schwester sein konnte. Die beiden sahen sich kein bisschen ähnlich. Irgendwie erinnerte sie mich an mich selbst in meinen schlimmsten Teenie Jahren. In diesem Alter hatte ich auch einen wahren Tick für bunte Strähnchen im Haar und wirr zusammengewürfelte Klamotten.

Doch im Gegensatz zu meinem Stilfauxpas damals, stand ihr die Kombination der blonden, lockigen Haare mit den pinken Strähnen und ihrem zierlichen Puppengesicht, ziemlich gut.

Drake hingegen ähnelte mit seinem dunklen Teint, den braun - grünen Augen und den dunklen, unordentlichen Haaren einem verruchten südländischen Badboy. Er hatte etwas Düsteres, Magisches, an sich von dem sich bestimmt etliche Mädels beeindrucken ließen.

Lou bemerkte meine Blicke auf sich.

Sie sah mich an, nahm die Kopfhörer ab und fragte: »Ist was?«

»Äh nein. Tut mir leid, ich war in meinen Gedanken versunken.«

Keine Bemerkung mehr. Bloß ein Schulterzucken.

Das war wohl deren Familientradition.

Schließlich folgte ich ihrem Beispiel.

Mit den Kopfhörern in den Ohren lehnte ich mich in meine Kissen zurück. Wie beinahe jeden Tag kramte ich mein Tagebuch aus der Schublade, stellte die Füße hoch und begann zu schreiben.

 

 

  1. September, 2015

 

Liebe Eve,

 

heute schreibe ich dir zum ersten Mal aus Portsmouth. Tut mir leid, dass ich das nicht schon gestern getan habe, doch dazu wäre ich ohnehin zu aufgekratzt gewesen.

Nach dem was mir gestern alles widerfahren ist, habe ich das Gefühl, dass mein Studium unter keinem guten Stern steht. Ob ich nun einfach mit der Situation an sich überfordert war, oder sich das schlechte Karma von daheim an meine Fersen gehängt hat, eines ist klar: Dieses Jahr wird kein leichtes für mich werden.

Seit  du weg bist ertrage ich es nicht so viele Menschen um mich zu haben. Lieber vereinsame ich, als von solch einem Trubel wie bei meiner Ankunft gestern,  verschlungen zu werden. Kaum dass ich die Eingangshalle meines Studentenheims betreten hatte, stand ich unter Strom.  Wo ich auch hinsah wuselten Leute um mich herum. Ich hatte Mühe, mir einen Weg durch das Chaos zu bahnen und nicht mal das schaffte ich.  Gleich am ersten Tag hier, hatte ich für Aufsehen gesorgt, da ich schusselig, wie ich in solch einem Fall nun mal bin, prompt in einen unserer Studentenberater stolperte. Auch wenn so gut wie keiner etwas von dem Vorfall mitbekommen hatte, fühlte ich mich bloßgestellt. Als Entschuldigung für den Zusammenstoß bot Jackson sich an, mich in mein Zimmer zu führen. Dort wartete der nächste Schock auf mich.

Anstatt wie erwartet ein Einzelzimmer beziehen zu können, stand ich plötzlich inmitten eines Doppelzimmers. Das, und das Gefühl völlig verarscht worden zu sein, hatte mich so sehr in Rage gebracht, dass ich meinen Groll darüber nicht mehr verstecken konnte. Lou, meine Zimmergenossin, hatte den ganzen Ärger darüber dann schließlich abbekommen. Selbst nachdem sich ihr Stiefbruder, Drake, heute als mein Babysitter wegen meines angeblich labilen Zustandes, entpuppte,  tut mir mein Verhalten ihr gegenüber leid.  Ich weiß, dass ich die Letzte bin, die jemanden von sich stoßen sollte. Wenn doch, würde ich binnen kürzester Zeit als Außenseiterin dastehen. Wäre diese Sache mit der Freundschaft nur nicht so schwer für mich zu meistern.  Noch vor ein paar Monaten hat mir eine wichtige Person in meinem Leben völlig gereicht. Obwohl du meine Schwester bist, warst du auch immer meine beste Freundin, meine Seelenverwandte.  Mir fehlt diese Innigkeit, diese enge Verbundenheit zu dir. Jetzt schwebe ich irgendwo zwischen dem Nichts und Heute, suchend nach festem Boden unter meinen Füßen.

 

Ich vermisse dich.

 

 

***

 

Die Matratze unter mir bewegte sich. Erstaunt blickte ich von den beschriebenen Seiten auf meinem Schoß auf. Lou hatte sich an mein Bettende gesetzt. Widerwillig nahm ich die Kopfhörer aus meinen Ohren.

»Ich führe auch Tagebuch«, begann sie das Gespräch.

»Na ja, es ist vielmehr ein Gedankenbuch. Mit Gedichten und so.«

»Das klingt nach einem Tagebuch«, stellte ich fest.

»Wenn du das sagst.«

Ich ging davon aus, dass sie nun wieder zu ihrem Bett zurück gehen würde. Doch sie blieb sitzen. Nachdenklich inspizierte sie ihre Zehenspitzen.

»Sag mal feierst du gern?«, sprudelte es plötzlich aus ihr heraus.

»Klar. Wer tut das nicht?«

»Eine Freundin von mir schmeißt am Wochenende eine Art Einweihungsparty in ihrer WG. Wenn du Lust dazu hast, kannst du gerne mit uns kommen. Mein Freund Dexter würde uns hinfahren.«

Ich zögerte meine Antwort einen Moment hinaus. Hatte so meine Bedenken bei der Sache.

Auf der einen Seite wusste ich, dass ich mich früher oder später sowieso einmal unter die Leute mischen musste, um letztendlich nicht allein dazu stehen. Andrerseits wurde ich das dumpfe Gefühl nicht los, dass Lous Freunde nie zu meinen werden könnten. Heute Nachmittag erst hatte ich sie und den Rest ihrer Clique in der Cafeteria getroffen. Nicht einem einzigen von ihrer Sippe war ein Gruß über die Lippen gekommen. Einzig sie allein war es, die sich nach meinem Wohlbefinden erkundigt hatte.

»Ach komm schon. Zier dich nicht so. Es ist doch bloß eine Party, nichts weiter.«

Ich gab mir selbst einen Ruck. Mit einem malen Gefühl im Bauch sagte ich der Einladung zu.

»Gut. Ich gebe dir dann noch Bescheid wann genau wir losfahren werden, okay?«

»Ja, okay.«

Nachwort.

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Tag der Veröffentlichung: 21.02.2018

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