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I) Gabriel Chevallier im Porträt

 

„… im Rahmen einer Demokratie die Wohltaten der Zivilisation bis in die Weiler unserer schönen Heimat zu verbreiten…“ („Papas Erben“)

„Durch Schreiben lernt man ergreifen und begreifen.“ („Die Mädchen sind frei“)

„Immer haben Regierungen uns belogen und ausgesaugt, und mit unserem Geld und Blut müssen wir für ihre Fehler bezahlen. Bisher konnte uns keine vor Unheil bewahren.“ („Liebeskarussell“)

 

Gabriel Chevallier gilt als talentierter Biograph und perfekter Schriftsteller, der nicht nur sich, seine Mitmenschen vortrefflich zu zeichnen weiß, sondern etwa auch Landschaften und Jahreszeiten mit seinen Wortmänteln einhüllt: „Man ließ einen lähmenden Winter hinter sich, der ganz besonders bedrückend und trübe gewesen war. Und plötzlich wachte Clochemerle aus dem Grau trüber Tage in hellen Farbtönen auf. Aufspringende Knospen überzogen Häuser und Straßenränder mit fröhlichen Farben. Eine duftende belebende Brise, die nach Weißdorn und Jelängerjelieber, nach Minze und Petersilie roch, machte die Menschen begierig auf Glück. Die Mädchen hatten schwellende, wie in einem Glashaus gereifte Busen und wie all­jährlich blühten junge Brüste auf, die die Mieder sprengten. Das Leben erwachte mit aller Intensität, die Säfte trieben und die Leiber erschauerten.“ („Clochemerle Babylon“)

Der Autor antwortete einem beflissenen Briefschreiber: „Danke, lieber Freund, für Ihren gutgemeinten Brief. Aber bin ich durch das quali­fizierende Adjektiv „charmant“ treffend beschrieben? Ich kenne meine ungeschliffenen Kanten allzu gut. Im Grunde bin ich ein guter Kerl, auch loyal, treu, sofern dies verdient ist, sicherlich… Schnell kann man mich auf die Palme bringen, wie mich die Prahler erzürnen. Ich bin also nur bei denen zuvorkommend, die dies auch zu mir sind und die ich für aufrichtig wie mich selber halte… Es gibt übrigens nur ganz wenige, die mich wirklich kennen.“ In „L’envers de Clochemerle“ fügt Chevallier hinzu, daß er eine widersprüchliche Person sei, die sehr ungeduldig werden könne und es nicht ertrage, zu warten. Auch sei er impulsiv und könne sich schlecht beherrschen. Die Empörung liege seinem Charakter zu­grunde, immer bereit, gegen die, Gemeinheit Kleinlichkeit, Ungerech­tigkeit und die Dummheit zu Felde zu ziehen. Sich zu mäßigen, mußte er erst noch, wenn auch nicht immer erfolgreich, lernen.

Der französische Romanautor Gabriel Chevallier ist wegen seiner subtilen Ironie, mit der er typische Figuren bedenkt, seinem überzeugten Antimilitarismus und einer menschlichen Fühlungnahme, die sein Ge­schriebenes durchziehen, bekannt. Die Wahrheit spricht nicht der Kin­dermund, wie es das geflügelte Wort gerne hätte, sondern die Feder des Romanschriftstellers. „Die Literatur macht das menschliche Inventar aus, ist in ihrer Gesamtheit das Archiv des Menschlichen.“ („L’envers de Clochemerle“)

 

Gabriel Chevallier hat zwei Weltkriege miterlebt, schildert sein Land und seine Leute völlig unpolitisch, wirft auf diese ein ländliches Lachen, erblickt indes ein fortdauerndes Grauen, das er am liebsten gar nicht mitbekommen hätte. Der Romanautor wie andere seiner Meinung plädiert für eine freiheitliche Demokratie aus ebenbürtigen Menschen. Der Kampf seines Lebens galt der Unabhängigkeit des Geistes. „Mit meinem Denken entkomme ich den Gesetzmäßigkeiten, den Allgemeinplätzen, den Ver­pflichtungen, wie diese mir jede Zivilisation, jedes Kollektiv auferlegen. Aus meinen Neigungen, Vorlieben und Ideen schaffe ich mir mein Vaterland“, gibt er eine seiner Überzeugungen im Spätwerk kund. („L’envers de Clochemerle“)

„Durch Schreiben lernt man auswählen, mit sich zu Rate gehen, lernt man, einen wohlbegründeten Entschluß zu fassen, lernt eine Unend­lichkeit in den Nuancen und den Unwägbarkeiten des Fühlens kennen, lernt zu koordinieren, Ordnung zu wollen und zu schaffen, lernt die Neugierde kennen, das heißt Wünschen und Streben, das heißt den Willen.“ („Die Mädchen sind frei“)

Chevalliers Leben war bewegt und bewegend, nicht zuletzt wegen des Übergangs einer alten in eine moderne Zeit, der kriegerischen Aus­einandersetzungen auch in Kolonialstaaten und einem literarischen Erfolg mit Übersetzungen in 40 Sprachen. In „Clochemerle“ entwirft der Autor ein humorvoll-karikierendes Bild der Provinzgesellschaft des Beaujolais, das er später mit zwei ähnlich lautenden Romanen zur Trilogie ergänzte. „Man hatte sich geborgen gefühlt in diesem Gebirgskessel, der den Horizont nach Westen verdeckte und nach dem Osten über ein sanftes Gefälle hinweg den Blick auf das Tal der Saône freigab, wo in der blauen und malvenfarbenen Ferne Dörfer und Kirchtürme wie eine Fata Morgana erglänzten. Eine leichte Brise vertrieb die lastende Hitze und tauchte die Menschen in eine Art dumpfes Wohlbefinden.“ („Clochemerle wird Bad“) Der unterschwellige Protest wider die Banalitäten der modernen Existenz findet Darstellung im Bestreben, Musik in Sprache umzusetzen.

Der in Lyon geborene Gabriel Chevallier ist 74-jährig, am 4. April 1969 in Cannes infolge einer Herzattacke gestorben. Nach dem I. Weltkrieg, der ihn sehr geprägt hat, hatte er eine Reihe Aktivitäten „zum Broter­werb“ ausgeübt, vor allem bei Zeitungen und Zeitschriften. „Dieser Krieg mit seinem verdummenden, aufdringlichen Lärm hat mir den Kopf gespalten. Die sinnlose Vergeudung schockte das Denken.“ („Carrefour des hasards“) Auf den Frieden folgte eine kurze Zeit als Besat­zungs-Soldat im Rheinland, nach der Ausmusterung eine erste Paris- Erfahrung, als Beginn kürzerer und längerer Lebens- und Arbeitszeiten in der Hauptstadt.

1929 wird seine erste Erzählung veröffentlicht, die ihn als sprachlich talentiert ausweist: „Durand, voyageur de commerce“.

Große Beachtung findet seine frappierend ehrliche Kriegschronik „La peur“ („Heldenangst“) aus dem Jahre 1930. Die Hauptfigur, Jean Darte­mont, mit exakt den Charakterzügen Gabriel Chevalliers schildert das Entsetzen beim ersten Massakrierten, als die Hacke bei Schanzarbeiten auf den Leichnam eines Verschütteten trifft: „Sie hatte sich in einen feuchten, verwesenden Bauch gebohrt, dessen plötzlich freigesetzte Gase uns entgegenschlugen.“

Mit „Clarisse Vernon“ erscheint Ende 1933 ein klassischer „Sittenroman“, der Mitte Mai des Jahres 1934 eine Steigerung im sarkastischen „Clochemerle“ findet. Die Clan-Rivalitäten und Handgreiflichkeiten kommen zum Ausbruch, als der Bürgermeister der Gemeinde Cloche­merle-en-Beaujolais Barthélemy Piéchut, dem Lehrer Ernest Tafardel sein Vorhaben eröffnet: „Ich möchte eine Bedürfnisanstalt bauen.“ „Ein Urinoir?”, stieß der Lehrer überwältigt hervor, so bedeutsam schien ihm der Vorschlag. Der Versuch, den Fortschritt in die Stadt zu holen erhitzt die Gemüter und entfesselt einen Skandal der um ein Haar zu einer weltweiten Krise führen soll... Den jungen Mädchen beginnt der Ruhm der amerikanischen Filmstars den Kopf zu verdrehen, die jungen Männer träumen von einer großen Laufbahn als Boxer oder Rennfahrer, der Wortschatz der Alten vermehrt sich um bisher nie gebrauchte Ausdrücke wie, Umsatz, Handel und Fremdenverkehr, und als sich der erste Ar­beitslose auf dem Gemeindeamt registrieren läßt, stellen die Lokal­politiker fest, dass ihr abgelegener Ort endgültig Anschluß an die Neuzeit gefunden hat...“

Erfolgreiche Zeichnungen der menschlichen Leidenschaften aus dem Mikrokosmos eines Provinz-Dorfes, die es Chevallier erlauben, sich ganz der Literatur zu widmen. Unter den folgenden Büchern finden sich mit „Propre à rien“ oder „Sainte Colline“ überwiegend autobiographisch ein­gefärbte Berichte.

Die beiden Bände „Chemins de solitude“ („Einsame Pfade“; der Zeit bis 1914) und „Carrefour des hasards“ („Sich kreuzende Zufälle“; der Jahre bis 1939) gelten als Selbstzeugnisse im engeren Sinne. Im 1956 erschie­nenen 2. Band gibt Gabriel Chevallier auch Antworten auf die vielen Fragen zum Entstehen seines Erfolgsromans „Clochemerle“. Der Gründer dieses sagenhaften Nestes, der Schöpfer unvergeßlicher Gestalten wird hier in drei Bänden für die Jahre 1918-1939 zugleich auch dessen Chronist.

1966 folgte die Aufsatzsammlung „L’envers de Clochemerle“ („Die Kehrseite von Clochemerle“), die „Gedanken eines freien Mannes“. Nicht als lineare Betrachtungen seines Lebens gemeint, sind hier Überlegungen und Erinnerungen gesammelt, die Chevallier auf diese Weise ordnen wollte. Zur Sprache kommen der Krieg, das Schreiben, die Frauen, Begegnungen und natürlich seine Person.

 

„Natürlich lebt sie von ihrem Aussehen. Aber davon leben fast alle Frauen mehr oder weniger.“ („Liebeskarussell“) Besonders deutlich und über­zeugend sind Chevalliers Frauenbilder: „La Grande Marcelle“ lebte quasi in Collage mal mit dem ein, dann dem anderen und hatte ihren Körper den Beaux-Arts verschrieben. Geld bedeutete ihr wenig, sie liebte nur die Bohème, die Refrains, die Phantasie und die Liebe – immer Opfer ihres großen Herzens. Einem Jungen in Not bereitete sie ein brüderliches Nachtasyl, bevor dies ein anderer einnahm. Sie starb, bevor sie alt wurde und ersparte einer Generation, für die sie nur Passion und Abenteuer war, sie mit den Gesichtszügen der Alten zu sehen.

Der Busen wird zur Männerfalle, auch das Kriegschaos fördert weitere solche unliebsamen Entdeckungen zutage. Der gute Freund hat mit dieser und jener im Bett gelegen, was keiner für möglich gehalten hätte. Zwei Brüder teilen sich eine Geliebte, die übrigen jugendlichen „Künst­ler“ erwähnt Chevallier anstandshalber gar nicht mehr.

Ein weiblicher Lichtblick im männerbesetzten Ruderboot, der frei flatternde Pony auf dem Fußballrasen, das findet Chevalliers natürlichen Gefallen, nicht aber die enthemmte „offene Gesellschaft“, die sich ausschließlich dem Lustgewinn widmet. In „Papas Erben“ heißt es sit­tenstreng: Eine Engländerin schmuggelt man nicht in eine französische Familie.

 

Das Eingehen auf Zeiterscheinungen ist auch Teil der Romanwelten Chevalliers: Nimmt sich „Sainte-Colline“ (1940) der Freuden und Leiden eines jungen Internatsschülers an, so ist „Ma petite amie Pomme“ (1940) dem Älterwerden eines Mädchens gewidmet. Diese hatte bei ihm in der Nähe gewohnt und soll alle Skizzen Chevalliers in einen Abfalleimer geworfen haben, bevor sie die Stadt verließ. Ein Passant habe die dem Mädchen zugedachten Zeichnungen den Archiven übergeben können. „Es ist wirklich schwierig, ein Mädchen zu sein, mit alldem, was in uns gärt, und bei all den Fragen, die das Leben denen stellt, die nicht schlaff und blöde sind.“ („Die Mädchen sind frei“)

Auch kniffligste Themen gleiten dem Chronisten und Moralisten eige­ner Prägung entspannt von der Feder. Vielleicht braucht man gar nicht nach Japan oder China zu reisen, um die Grundtugenden aufzudecken. Gut und Böse sind bei Chevallier keine leeren Worthülsen im Mantel irgendeines schändlichen Wollens. Um Aufdeckung der Mißstände seiner Zeit bemüht, geht Gabriel Chevallier in seiner fairen Kritik an Land und Leuten keinem noch so hohen Sockel aus dem Wege. Um den „guten Geschmack“ oder eine akademische Konstruktion ist es Gabriel Che­vallier nicht zu tun: Die frische Wiedergabe voller Sinnenlust mit interessiertem Blick aufs Detail bilden seine Mischung aus Emotion, Komik, Tragik und Zärtlichkeit. Man belegt Chevallier daher auch mit dem italienischen Ausdruck „Dilettante“, was besagen soll, daß er seine Kunst gemäß seinem Geschmack ausübt, um anderen eine Freude zu bereiten und um sich selbst einen Gefallen zu tun; jedes Projekt, jede Idee wird so zum verliebten Unternehmen. Im Übrigen ist „Le Dilettante“ auch der Name eines der mehreren Chevallier-Verlage, in dem z. B. „Mas­carade“ erscheint. Bei Valery Larbaud findet er eine Passage zu Stephen Hudson, die seine Vielfalt und Freude am Schreiben, die Geisteshaltung des „riche amateur“ ausdrückt, „der, wie ich, sich nicht fixieren läßt, immer nur aus Vergnügen geschrieben hat“.

 

Da Gabriel Chevallier bei völlig unerfreulichem familiärem Hinter­grund vor allem an die Zukunft dachte, konnte er zuzeiten, da dies möglich gewesen wäre, wenig für seine genealogische Herkunft erübrigen. Zur Großmutter väterlicherseits hieß es, daß diese „eine energische, be­merkenswerte Frau” gewesen war, sonst weiß Chevallier wenig und hatte auch keine diesbezüglichen Erzählberichte. Da sich der Vater in bestän­digen Geldsorgen befand, wurde zwar einmal ein Cousin aus Angers ein­geladen, mit dem der 15-jährige Gabriel zum Pferderennen ging und prompt seine hundert Francs Einsatz verlor, was ihn für immer von Wetten jeder Art fernhielt.

 

Die Abstammungskenntnisse mütterlicherseits rühren von den jeweils zweimonatigen Ferien bei der Großmutter her. In Gueugnon, Saône-et- Loire, war dieser Familienzweig seit vier oder fünf Generationen mit einem Notarbüro vom Vater auf den Sohn übergegangen, wobei sich mangels männlicher Nachkommen finanzielle Schwierigkeiten ankün­digten. Als Witwe ohne Einkommen hatte sich Chevalliers Großmutter aufs Land zurückgezogen, wo ihr ihre Eltern noch unter die Arme greifen konnten. Sie war zu Hause nicht sehr beliebt gewesen und nicht in deren Obhut aufgezogen worden. Die Mutter hatte die ältere Schwester vor­gezogen, was in ihr einen Minderwertigkeitskomplex hinterließ. Für Gabriel Chevallier brachte sie besonderes Verständnis auf. Bei Gabriels Geburt hatte die Großmutter vier Töchter und zwei weibliche Geschwister. Eigentlich sollte der Großvater, der Notar von Gueugnon, Gabriels Pate sein, doch starb dieser vor dessen Geburt.

An einem erstickenden August-Nachmittag fleht Gabriel eine verwirrte Tante an, ihr für vier Sous das Gesäß zu wärmen. „Möchtest du mir nicht den Hintern massieren, vollhauen, um mich wieder aufzupäppeln?“ Das Geld war zu verlockend, doch ging Gabriel dazu über, die Masse Fleisch mit einem Teppichklopfer weiter zu bearbeiten: „Oh! das tut gut! Oh! Wie gut du mir tust!“

 

In der ländlichen Gegend bewegen sich die einfachen Gewerbetrei­benden noch überschaubar auf der „Große Straße“ und der „Straße des Marktes“ fort und dort findet Chevallier die Mischung der das Leben be­stimmenden Leidenschaften und überträgt dies etwa von seinem Ferienort Paray-le-Monial, wo der Fortschritt wie die Wolken vorüberzieht, in seine Erzähl-Weiler. Auch verbrachte er dort auf dem Lande, im nicht okku­pierten Frankreich die Zeit der deutschen Besatzung, nachdem er zuvor als eingezogener Reservist die Kriegsmonate in Sassenage, Montélimar, Rives und Eychirolles abgedient hatte.

In „L’envers de Clochemerle“ geht Chevallier auf die Zeit des achtmona­tigen Krieges und der anschließenden Okkupation ein: „Ende 1939 waren wir ohne jede Überzeugung mit der insgeheimen Hoffnung aufgebrochen, daß es sich nur um eine Art Demonstration handeln würde, und der eigentliche Krieg nicht stattfinden würde.“ Als dann doch aggressive und unerbittliche Kontroversen ausarten, hat keiner mehr die Kraft, sich dem entgegenzusetzen. Die Heeresführung gibt sich eine Blöße nach der anderen, man fühlte sich verraten und verkauft.

„Die Jahre der Besatzung waren trübsinnig und zähflüssig. Man war von Verrätern umgeben, und die Polizei hatte überall ihre Spitzel. Erfuhr man vom Verschwinden eines Menschen, so konnte man diesen in neun von zehn Fällen als verloren abschreiben. Solange wir uns in der freien Zone aufhielten, wurde das nicht so spürbar. Aber nachdem die Nazis die Demarkationslinie überschritten hatten, strömte die Gestapo mit herein und begann mit ihren zwielichtigen Arbeiten.“

Erblickte man einen gutgekleideten Landsmann, Borsalino auf dem Haupt, gut beschuht, mit zufriedener Miene, konnte man sicher sein, daß man einen Schwarzmarkthändler vor sich hatte, der den Deutschen die den Einheimischen noch verbliebenen Mittel andrehte.

Man teilte die Franzosen in zwei Kategorien, diejenigen, die zu essen hatten und die anderen. Als Schriftsteller hatte Gabriel Chevallier wenige Möglichkeiten, weil das Buch keinen Tauschwert mehr haben konnte. Als sich seine Ehefrau gegen Ende des Jahres 1942 wegen der Geburt des Sohnes in die Klinik begibt, wäre sie vor Hunger beinahe umgekommen. Von dem Stück Rauchschinken, den Chevallier glücklicherweise zurück­gelegt hatte, bringt er ihr jeden Tag einige Scheiben. Die Kontakte zum Land erweisen sich als hilfreich, in den bäuerlichen Gefilden blieb man seiner Herkunfts-Scholle auf Gedeih und Verderb verbunden, machte sich nicht hinter einer Hupe mit Motorhaube auf und davon. Dies säte Mißtrauen und nährte angebrachte Vorsicht gegenüber dem beargwöhnten Betrug der Neuem und Fremdem anhaftete.

 

Zu Gabriel Chevalliers weniger gelesenen Büchern zählt das 1958 er­schienene „Lyon 2000“. „Aber ich finde diese Stadt wunderbar. Die Orte des Glücks sind immer herrlich. Das Fenster unseres Zimmers geht auf einen Rhône-Kai hinaus. Von dort aus sieht man unheimlich viele Brü­cken über dem Fluß. Zu unseren Füßen jagen sich die Autos auf der Nord-Süd-Achse.“ („Die Mädchen sind frei“)

„Eine Stadt der Gegensätze. Im Sommer herrscht drückende, feuchte Hitze, im Winter scharfe, durchdringende Kälte. Der von den Flüssen aufsteigende Dampf drückt auf die Brust und schneidet den Atem ab. Bronchitis, Katarrh und Emphyseme sind übliche Lyoner Leiden. Die alten, schimmeligen Viertel mit den engen Gäßchen sind Tuberkulose- und Rheumanester.“ („Liebeskarussell“)

 

Bei Gabriel Chevallier steht die ausgiebige Lektüre am Beginn des Schreibens. Dem Lesen seiner Jugend verdanke er viel und fügt hinzu: „Für mich erscheint ein Leben unmöglich, in einer Welt ohne Lesen zu leben.“ („L’envers de Clochemerle“)

Zwischen 1957 und 1959 erschien Marcel Pagnols (1895-1974) autobio­graphische Romantrilogie „Souvenirs d’enfance“. „Eine Kindheit in der Provence“ gehört seitdem zur Standardlektüre und begründete Pagnols ungebrochene Popularität. Wie bei den Pagnol-Filmen fertigte der außer­gewöhnliche Illustrator Albert Dubout die Plakate zur ersten Cloche­merle-Filmversion. Zu Marcel Aymé erkennt Gabriel Chevallier eine noch größere Nähe. „Kopiert man, so wird dies meist nicht so gut, was [auf „Clochemerle“ bezogen] nicht der Fall ist.“ Marcel Aymé betreffend gestand Chevallier in “L’envers de Clochemerle“: „Marcel Aymé ist einer der Schriftsteller von heute, die ich bevorzuge. Ich habe mich aber wegen der Befürchtung, mich in ihm wiederzufinden, längere Zeit davor gehütet, ihn zu lesen.“ Dann erwähnt Chevallier seit 20 Jahren in Kartons enthaltene Aufzeichnungen, die er aber aus Furcht vor Ähnlichkeiten mit Aymé nicht herausgeben möchte. Man hätte sie schon zu oft verglichen, und meist zu seinem Nachteil. „Heute kennt jedermann Clochemerle, das als Vergleich herangezogen wird, wie auch meine Charaktere.“ Die tüchtigen Winzer, trotteligen und liebenswerten Honoratioren, bigotten Jungfern, ehrgeizigen Kaufleute, hübsche Mädchen, rotwangigen und feisten Priester, üppigen Frauen sind Geschöpfe Chevalliers wie die Ortschaft mit ihrer Unterteilung in Ober- und Unterstadt, wie die vielen eingeflochtenen Tatsächlichkeiten: „Wie hoch konnte ein Weinbauer aus Clochemerle, der sein Schiffchen so gut gesteuert hatte, noch steigen? Eines Tages vielleicht bis zur obersten Spitze - Ministerpräsident ... sogar Präsident der Republik. Er wollte nicht daran denken.

Und dennoch ... war der Präsident Fallières nicht auch ein Weinbauer gewesen?“ („Clochemerle“)

 

Im Milieu der bildenden Künstler, dem Gabriel Chevallier wesentlich entstammt, war von Literatur nicht allzu viel die Rede; hier war Lyon anders als das avantgardistische Paris. Doch teilte man einhellig die Überzeugung, daß auf der Skala der Werkformen ganz oben die roma­neske Erzählung wie im „Pantagruel“ oder „Krieg und Frieden“ als die Spitze allen Schreibens rangierte.

Die Aufgabe des Schriftstellers sieht Chevallier darin, das Menschliche zu erfassen. Der Mensch ist, was das Leben aus ihm machte, mit den Gaben, die ihm zugeteilt oder vorenthalten wurden - darüber muß man sich klar sein und sich damit bescheiden. „Verurteilen ist leicht. Verstehen ist schwer, menschlich und barmherzig. Verzeihen ist verdienstvoll, und verdienstlich auch zu untersuchen, wem verziehen werden soll…“ („Sainte-Colline“)

 

„Das Leben ist Einsamkeit inmitten des Lärms.“ („Carrefour des hasards“) „Es gibt Tage, an denen ich mich kenne, dann gibt es solche, da sage ich mir, dass das nicht so sicher ist. An diesen Tagen sage ich mir schließlich, dass das keine große Bedeutung hat. Ich habe gelernt, mich zu ertragen, wie mich zu nutzen, was die Hauptsache ist.“ („L’envers de Cloche­merle“)

Seine beiden bis zum Beginn des II. Weltkrieges reichenden Autobio­graphie-Bände hat Gabriel Chevallier unter dem Titel „Souvenirs apai­sés“ zusammengefaßt, was besagen soll, daß weder Leidenschaft noch Groll die Seiten diktieren. „Über sich zu sprechen ist eine heikle Ange­legenheit, aber wir sprechen über etwas, das wir am besten ken­nen.“ („L’envers de Clochemerle“) Erinnerungen interessieren Chevallier auch als Leser am meisten: „Ich erzähle Ihnen mein Leben. Es ist wirklich ein Roman“, das hört er auch von anderen am liebsten.

„Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben, wie eine Intelligenz ohne Ausdrucksmöglichkeit keine Intelligenz wäre. Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Ge­dächtnis sind wir nichts“, pflichtet ihm Luis Buňuel bei. Im „Chemins de solitude” Gabriel Chevalliers wird die Lyoner Kindheit der Jahrhundert­wende, das Aufwachsen des Kindes in einem besseren Viertel des 5. Ar­rondissements angesprochen. In diesem Fin de Siècle-Vieux-Lyon ist er der „Sohn einer verfallenden Bourgeoisie mit seit dreißig Jahren nichts als Rückschlägen“.

 

„Die Jugend ist die Zeit des Zauderns und der Unsicherheit. Der Mensch geht mit sich zu Rate, ehe er in den Vollbesitz seiner Kräfte kommt.“ („Liebeskarussell“)

Vortrefflich gelungen ist etwa die Jugendherbergsatmosphäre aus dem Schulmilieu, wo dann der ein oder andere schon mal während der Unter­richtszeiten über diese oder jene Treppe, durch diesen oder jenen kalten Essraum zu seinem Schuhschrank schleicht.

Auch die Heranwachsende „Pomme“ hat sich früh der heftigen Angriffe aggressiver Gleichaltriger zu erwehren, der Sohn aus „Propre à rien“ wird als „Taugenichts“ alle paar Monate von Heim zu Heim abgeschoben, weil ihm keiner die Brust reichen will.

 

Gabriel Chevallier möchte sich nicht einen Geizkragen nennen, aber im Geldausgeben habe er sich stets in Zurückhaltung geübt. Da er lange Zeiten mit wenig Mitteln auskommen mußte, blieb er hier besonders bedacht. „In meiner Jugend kannte ich sehr wohl das „ein Sou, das ist ein Sou“, und dieser Sou aus Bronze hatte seinen Wert. Das bedeutete einen Kilometer mit der Eisenbahn… Ich gab einen Sou für das köstliche Rog­genbrötchen mit Rosinen, das ganz nach meinem Geschmack war. Das Dutzend frische Eier kostete auf dem Lande 10 Sous wie auch das „Paket Tabak zu fünfzig“…“ („L’envers de Clochemerle“)

Alles, nicht nur die Lebensmittel, war bedeutend preiswerter und von ganz anderer Qualität. Sehr viele Möglichkeiten, sein Geld auszugeben, gab es noch gar nicht, seltenst ein Telefon, fließendes Wasser oder Bade­zimmer, keine Kühlschränke und Waschmaschinen, auch wurden die Städte noch nicht Ende der Woche fluchtartig in trostloser Öde hinter­lassen.

Vieles war anders, als sich Gabriel Chevallier zum Aufbruch bereit macht in seine Zeit der Neuerungen, der auch kriegsbedingten Hetze durch wirtschaftliche, wissenschaftliche und soziale Transformationen. „Der dumpfe Knall der Gasgranaten mischt sich in das Krachen der Ex­plosivgeschosse. Eine Glocke dröhnt zwischen die Explosionen, Gongs, Metallklappern künden überallhin – Gas – Gas – Gaas! Hinter mir plumpst es, einmal, zweimal. Ich wische die Augenscheiben meiner Maske vom Atemdunst sauber… Diese ersten Minuten mit der Maske entscheiden über Leben und Tod: ist sie dicht? Ich kenne die furchtbaren Bilder aus dem Lazarett: Gaskranke, die in tagelangem Würgen die ver­brannten Lungen stückweise auskotzen.“ (Erich Maria Remarque)

 

Den Sinn seines persönlichen Rekapitulierens sieht Chevallier darin, daß aus der Geschichte Schlußfolgerungen für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen sind. Er möchte einfach wissen, wo es hingeht und wie dahin zu gelangen ist. „Diese schwerwiegende Kette aus Menschen, die ich lange Zeit an meinen Füßen mit mir herumschleppen mußte, habe ich kürzlich unter die Lupe nehmen können. Es bleibt mir ein Familienalbum, in dem zu unterschiedlichen Zeiten die Bilder der Hauptmitglieder aufgelistet sind. Ich beuge mich also über diese und gewichte die Druck­stellen nach ihrer ernsten Schwere oder leichtfertigen Jugendlichkeit. Ich frage mich, warum diese Wesen so unverständig meine Feinde gewesen sind. Ich suche nach Verbindungen, nach Blutlinien, die in mir pulsieren. Ich möchte wissen, ob mein Seinsgrund darin begründet liegen kann, hier weiterzumachen oder diese gänzlich zu leugnen. Als weiteres Kettenglied bedeute ich ihrer Rasse einen Bruch in einer zuvor vernünftigen und bedächtigen Sippe. Ich frage mich, ob in mir nicht Zellen eines Jahr­hunderts kleinbürgerlichen Lebens, weit entfernt von Risiken und Ideen explodieren.“ Gabriel Chevallier präzisiert in „Chemins de solitude“, daß er die Demenz seiner Großmutter Berthe Maugiron, seines „On­kels“ Stanislas Duberteuil oder des Vaters Jérôme Dartemont meint. Sein Geheimnis sucht er im Mysterium dieser Familie, die nun weggestorben ist, was ihn befriedigt und ihm eine innere Ruhe verschafft.

 

Die Weltsicht Gabriel Chevalliers ist - aus seinem Jahrhundert - kaum aus­sichtsreich. Der Vielfalt des existierenden Lebens Tribut zollend spricht er in einem klaren Französisch das aus, was tatsächlich in den Köpfen seiner Mächte, Mädchen, Menschen vor sich ging, ein „unerbittliches Bemühen, die Wirklichkeit einzufangen“.

Die Zeitungen steckten voller unglaublicher und abscheulicher Dinge, wußte schon Chevallier zu berichten und erkennt einen „Rechtferti­gungsmythos“, dem der Lehrer, Politiker, Wirtschaftler, Arzt, Priester un­terliegen.

„Aus diesen Gründen ist die Kindheit eine schwierige Etappe, ein ge­fährliches Labyrinth, aus welchem viele junge Menschen, die sich darin verirren, allein herausfinden müssen. Denn die ihnen von Natur und in der gesellschaftlichen Ordnung gegebenen Leiter sind oft nicht geeignet, sie aus diesem Irrgarten, dessen Anlage mit jeder Generation wechselt, hinauszuführen.“ („Sainte-Colline“) Das Tohuwabohu des Pensionat- Schuljahres 1912/1913, die chaotische Erziehung in Sainte-Colline Auf­wachsender, ist nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Das Leben besteht aus dieser Abfolge von Irrtümern und Irrgängen, den großen Kriegen, dem Kleinkrieg mit dem verhaßten Lehrer, den herben Provinzler Sitten, den gut Erzogenen und den weniger an Tischsitten Gewöhnten.

 

„Und doch ist mir mein ganzes Leben hindurch etwas geblieben von meiner Zeit - etwas mehr als drei Jahre waren es - in der hinreißenden und wilden Gesellschaft der Surrealisten. Geblieben ist mir vor allem der freie Zugang zu den Tiefen des menschlichen Wesens, der uns wichtig war und den wir ersehnten, dieser Ruf nach dem Irrationalen, nach dem Dunklen, nach den Impulsen, die aus den Tiefen unseres Ichs kommen. Ein Ruf, der damals zum ersten Mal mit einer solchen Kraft und einem solchen Mut laut wurde und der zusammenging mit einer ungewöhnlichen Rück­sichtslosigkeit, einer Lust am Spiel, einer großen Hartnäckigkeit im Kampf gegen alles, was uns verderblich schien. Von alldem habe ich nichts zurückgenommen.“ (Luis Buňuel)

 

„Es ist nicht gut“, ist auch Chevallier der Überzeugung, „daß der Schrift­steller ein Liebling der Macht ist. Diese liebt nur die Folgsamen und belohnt nur den Diener.“ („L’envers de Clochemerle“) Deshalb hat dieser erklärte Individualist auch niemals versucht, sich mit welcher Partei auch immer zu mischen oder gar in einer solchen aktiv zu werden. Eine Ideo­logie, die Gerechtigkeit, Freiheit, Menschlichkeit beinhaltet, weist er nicht von sich, doch die „Geschichte im Glanz eines Ideals“ zu entdecken, erscheint dem Romancier unangebracht, eher gleicht der Mensch den „Überlebensmaschinen“, als welche Gabriel Chevallier die Frauen auch kennzeichnet.

„Dies alles habe ich zweifellos bedacht: Tugend, Noblesse, Mut, Groß­zügigkeit. Darüber muß man sich im Klaren sein, daß das Pittoreske, wie es schon mal den Weg kreuzt und nach dem wir lüstern, keine moralischen und geistigen Werte offenbart… Ich glaube nicht, daß diese Seiten eine Moral enthalten, und es war auch nicht meine Absicht, eine solche zu entwickeln… Ich bin dem Niedergang meiner Epoche gefolgt und den Zufällen meines Berufs.“ („Miss Taxi“)

Oder wie Gabriel Chevallier es zum englischen Schriftsteller Somerset Maugham bemerkt, der sich damit begnügt habe, ein Zeuge seiner Zeit zu sein. „Dies ist die erste Rolle des Schriftstellers und wohl auch die wichtigste.“ („L’envers de Clochemerle“) In eben diesem Band vermerkt Gabriel Chevallier, daß man mehrfach versucht habe, sich seiner Feder zu vergewissern. Im Zusammenhang mit einer Übersetzung ins Russische etwa habe er dann jeweils so abstruse Forderungen gestellt, wie gar einen Ministerposten, so daß man davon abließ; auch diese Übersetzung hat nicht stattgefunden.

Das Handeln oder Schreiben in einer bestimmten Richtung, dazumal boten sich der Dadaismus, der Surrealismus, der Sozialismus, der Fa­schismus an, liegen dem freien Autor, der sich sein ureigenes Denken zu erhalten sucht, fern. Chevallier bekräftigt, daß er nicht für Geld oder Gold zum Anhängsel werden könne. Er ließe sich kein Band vor die Augen legen. Wichtig ist ihm alleine seine Einstellung, die, wenn auch nicht unfehlbar, so doch seine eigene ist. Von außen diktierte Meinungen, die seine gleichauf über Gesinnungen lege, die er nicht teile, stehen für ihn nicht zur Diskussion.

 

„Wer Geschichte macht, muß sich die Hände beschmutzen und mit Blut besudeln, weshalb ich Erzählungen vorziehe, die keinem etwas verdanken und keinem schaden. Dies erlaubt mir, mein Leben in etwa intakt zu beenden, ohne mir großartig Vorwürfe machen zu müssen und, in aller Freiheit, zu sagen, was ich denke. Ich habe die Versprechen gehalten, die ich mir mit zwanzig Jahren machte“, resümiert Gabriel Chevallier in „L’envers de Clochemerle“.

 

 

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II) Unglückselige Jugend

 

Als Bürgerkind durchläuft Gabriel Chevallier in Lyon mehrere Ausbil­dungs-Stadien. Den Fünfjährigen unterrichtet in einer Mietwohnung der rue Jean-Carriès eine Witwe mit ihren beiden Töchtern im Lesen und Schreiben. Die „Direktorin“, Madame Chambefort, ist klein, nervös, autoritär und wußte, wie man den Kindern Furcht einflößt. Die jüngere ihrer Töchter, Marcelle, genauso adrett wie die Mutter, nennt Gabriel den „Advokaten der Knirpse“, und er bezeichnet sie als seine erste Liebe.

In „Carrefour des hasards“ geht Chevallier auf die Probleme des Heranwachsenden mit der Pubertät ein. „Der Eintritt in die Welt der Frau bereitete mir Probleme… Wo war die gefällige Freundin, welche die Augen vor den Ungeschicklichkeiten des jungen Hahnes verschließen würde, bereit, mich ins geheiligte Zentrum zu geleiten, dessen Venus-Wellen mich von den Füßen bis zum Kopf elektrisierten, zu finden?“ Die Ältere der Privat-Erzieher, Mlle Chambefort, scheint es zu verdrießen, daß sie für fremde Kinder da zu sein hat. Mit ihrem Verlobten, den sie auch heiratet, hält sie sich im privaten Teil der Wohnung auf. Bei dem Versuch, ein Seil zu spannen, stößt sie sich ein Messer, das sie stets bei sich trug, ins Auge, das sie verliert. Von da ab trägt sie eine dunkle Brille und lacht auch nicht mehr so aufreizend.

Im Anschluß wird Gabriel erst in eine christliche, dann in eine weltliche Einrichtung gegeben. Bald gewinnt der Schüler den Eindruck, daß die Toten, die Wissenden mit weiser Vorsicht verhüllt wurden; die Offen­barungen zur Kenntnis werden vor den Lernenden versteckt. Die Lehrer geben sich ungebildet und umständlich, die Schulen machen nicht klüger, dubiose Äbte und Schulleiter wollen sich um ihn kümmern, doch da seine Romanfiguren wie auch der Gabriel des tatsächlichen Lebens immer den eigenen Kopf benutzen, um dem Fächer-Denken zu entgehen, bleibt er in keiner dieser Einrichtungen willkommen.

 

Auf eine erste Bibliothek stößt Gabriel Chevallier in der das Viertel Vieux-Lyon dominierenden Kathedrale Saint-Jean, unweit des Saône- Ufers. Eine Zeitlang konnten diverse Romanfiguren die wirklichen Menschen ersetzen. Die Feinbäckerei um die Ecke stellt Tiere aus Zucker­zeug ins Fenster, als Vorspeise auf das Mahl zu Hause kann man Hefeteilchen naschen. Der Sonntag, der Ausruhetag auf Befehl, ist der Langeweile-Tag. Sich einen Gott zu halten, bedeutet folgerichtig, das Eingeständnis einer persönlichen Niederlage; die Kirche, der Glaube trocknet den Menschen aus, läßt diesen zusammenschrumpfen.

 

Die Dritte Republik währte von 1871 bis 1940, und in dieser Zeit dehnte sich das französische Kolonialreich auf eine Fläche von 7,7 Millionen Quadratkilometern aus. Die Industrialisierung Frankreichs führte zu einem Wirtschaftsaufschwung mit drei, 1878, 1889 und 1900, Weltaus­stellungen in Paris. Die Jugendjahre der "belle époque" des Vorkriegs nennt Chevallier “das Zeitalter des Erdöls”, mutet dies auch verrußt an, so hält sich doch eine gewisse Lebensart. Alles schien zu jener Zeit leichter von der Hand zu gehen, die Städte quollen nicht über, die Wohnungen blieben von Mietwucher verschont, geringfügigen Einkommen wurde ent­gegengekommen.

Diese sog. „Belle Époque“ war getragen vom mittleren und gehobenen Bürgertum, das von den technischen und wirtschaftlichen Fortschritten am meisten profitieren konnte. Alles geht bedächtig vor sich in der Stadt der Seide, fließt gemächlich wie das weiche Wasser der Saône, die Zeiten scheinen wie aufgehängt, um zu träumen. „Diesen Pilger der Schweig­samkeit, Resignation und Melancholie muß man immer wieder durch­schütteln, damit sich die Schultern krümmen und sich der Herzschlag beschleunigt.“ („Carrefour des hasards“) „Aber in Lyon sehen die Leute immer unfroh aus und gehen mit gesenktem Kopf einher. Mitunter bleiben sie grundlos stehen, zucken leicht zusammen, murmeln dumpf, grinsen eigenartig, verweilen vor trüben Schaufensterscheiben und scheinen dort zwischen staubigen Phantomen ihr Spiegelbild zu suchen. Die Atmo­sphäre dieser Stadt verleitet zur Melancholie, aber nicht zum trostlosen Trübsinn. Die Seele zieht sich in eine Zelle zurück, in der es ihr bald so gut gefällt, daß sie nichts anderes mehr ersehnt als träge und verträumt dahingleitende Tage, erfüllt mit Schweigen, Nebel, Hirngespinsten und unerklärlichen Zaubereien.“ („Liebeskarussell“)

 

Gabriel Chevallier läßt sich als Mensch unter Menschen kennzeichnen, deren Streben das Siegel des „Dennoch“ und „Trotzdem“ tragen. Uner­klärbares und Fehlhandlungen sind im gewissen Rahmen verständlich, „weil die Erwachsenen, und manche von ihnen sogar bis zu ihrem Tode, nicht aufhören, Kinder zu sein, an Gespenster, an den bösen Wolf im Wald, an nächtliche Vampire und allen möglichen Spuk zu glauben, der die Menschen veranlaßt, sich nicht allzu weit vom rechten Weg zu ent­fernen…“ („Sainte-Colline“)

„Etwas klappt immer nicht im Leben.“ („Papas Erben“) Die mensch­liche Vielheit setzt sich aus Vielerlei zusammen: Da gibt es eben „Fleißige oder Faule, Ausdauernde oder Steckenbleibende, Träumer oder Tatkräf­tige, Kühne oder Feiglinge… Ich war immer dafür, die Menschen so zu nehmen, wie sie sind und möglichst viel Vergnügen dabei zu genießen. Außerdem habe ich ein Faible für „Phänomene“, die über die formlose Masse der sogenannten anständigen, völlig unoriginellen Menschen hin­ausragen.“ („Liebeskarussell“)

 

Der 1954 entstandene erste Fortsetzungsroman „Clochemerle Babylone“, kam 1957 unter dem Titel „Chômeur de Clochemerle“ mit Fernandel in der Hauptrolle ins Kino.

„Gabriel Chevallier sagten Sie? Ah! oui bien sûr, das Pissoir von Clochemerle, was Vaux-en-Beaujolais so bekannt machte, das Dorf, wo sich das Treiben abgespielt haben soll. Der Autor weist das von sich, aber was kann er gegen die „vox populi" ausrichten!“ kommentiert ein Internet-User das Spektakel um Gabriel Chevalliers Erfolgsschrift.

Der Autor selber hält seiner herausragenden Bearbeitung das Risiko der am Wegesrand siedelnden Thematik zugute sowie seine stilistische Be­arbeitung. Dabei zieht Chevallier zum Vergleich François Sagans „Bon­jour Tristesse“ heran, „dieses Buch, das die Augen so vieler Mütter geöffnet hat, vor allem wegen des neunzehnjährigen Mädchens. Aber Bonjour tristesse hat seinen eigenen Stil wie auch Clochemerle. Je mehr Wagnis man eingeht, je mehr Kühnheit man sich herausnimmt, umso mehr braucht es dahinter den guten Ausdruck. Und die Kennt­nisse.“ („L’envers de Clochemerle“)

„Beaujolais liegt in der Nähe von Bresse, Burgund, dem Charollais, von Lyon: alles fruchtbare, fette, vollsaftige Gegenden, deren natürlicher Überfluß in die Sprache eingegangen ist, in diese Sprache, die, wie alles, dem Boden entstammt.“ („Clochemerle“) Das Gelächter von Millionen Lesern aus aller Welt entzündet sich an diesem fröhlichen Schelmen­roman aus dem französischen Weinbauland und macht „Clochemerle“ zu einem Volksbuch. Die Verkaufszahlen sicherten Chevallier in Frankreich und dem Ausland eine plötzliche und andauernde Berühmtheit. Öfter kommt Gabriel Chevallier 1957 in „Carrefour des hasards“ und 1966 in „L’envers de Clochemerle“ darauf zurück. „Ich bin weder systematischer Optimist noch Pessimist. Doch öfters skeptisch, das gebe ich zu. Ich habe in meinem Leben zu viele Scheinheilige, Windungen, Grimassen und vor allem zu viele Absurditäten erlebt, um nicht die Vernunft und die An­ständigkeit der Menschen in Frage zu stellen. Die meisten ihrer Aktionen sind mit Eitelkeit und Falschheit getüncht. Man darf nicht aufhören, dies aufzuzeigen, immer und immer wieder, möchte man dem Menschen ein ihm in etwa ähnelndes Porträt zeichnen.“

 

Gustave Flaubert schrieb 1852 in einem Brief: „In mir stecken buch­stäblich zwei Menschen: der eine liebt Großmäuligkeit, Lyrisches, die großen Adlerflüge wohlklingender Sätze; der andere wühlt und gräbt nach dem Wahren, so gut er kann, will das kleine Faktum ebenso gewaltig wie das große zeigen, möchte den Lesenden die wiedergegebenen Dinge beinahe materiell spüren lassen.“ „Es ist heute Mode, diese soziale Schicht zu kritisieren, die schon Gustave Flaubert, ein weiterer Bourgeois, verfolgte, während der englische General Spears von den ‚Tugenden des französischen Bürgertums‘ spricht, ‚das stets Frankreichs Rückgrat war‘. Das ist näherer Prüfung wert.“ („Liebeskarussell“)

Die zweite Veröffentlichung von Georges Lukacs, die „Theorie des Romans“ war 1920 erschienen, nachdem er sich 1910 mit „L’Âme et les Formes“ darin versucht hatte, die epische Literatur als Ausdruck der komplexen Verbindungen in „Formen“ zu gießen, um die Seele mit dem Sein zu verknüpfen. Ein Manifest zur „condition humaine“, das auch auf die Existentialisten eingewirkt haben soll.

Wie etwa der amerikanische Romanautor Sinclair Lewis ist Gabriel Chevallier seinem Land mit seiner Entwicklung verhaftet und gibt, mög­lichst wahrheitsgetreu, ausschließlich Bericht zu den dortigen Zuständen, wobei schablonenhafte Ähnlichkeiten mit den Gegebenheiten vergleich­barer Länder nicht ausbleiben. Sinclair Lewis, der US-Romancier und Nobelpreisträger hatte seine erste Ehefrau an einem Lastenaufzug kennen gelernt. Die Einkaufscenter der Cities in Europa und Amerika gleichen sich: „Zu Fuß gingen wir ins „Cintra“, wo ich meinen Wagen geparkt hatte, aus gutem Grund, denn es war die Zeit nach Ladenschluß, es wimmelte von Menschen, man stieß auf Schritt und Tritt an hübsche junge Verkäuferinnen, und das erinnerte mich an meine Studentenzeit, in der ich selbst oft an der Hintertür eines Kaufhauses auf ein junges, lachendes Gesicht gewartet hatte.“ („Liebeskarussell“)

 

Stiltypologisch werden mit Realismus Schöpfungen von Film, Malerei, Fotografie oder Literatur bezeichnet, die sich durch eine besondere „Wirklichkeitstreue“ auszeichnen. Henry de Montherlant wird von Che­vallier zitiert: „Mir mißfällt die Kunst, die erfindet, weil sie ein Ersatz­mittel zum Leben, eine Entschuldigung, nicht zu leben: die Kunst der Niederlage“ darstellt.“ („L’envers de Clochemerle“) Typische Stadt-Land- Begebenheiten bilden beim von Chevallier ebenfalls sehr geschätzten Marcel Aymé den Hintergrund für einen skurrilen, oft bissigen Humor. Dessen Hauptwerk „Die grüne Stute“ wurde, wie viele andere seiner Bücher, verfilmt. Der Sohn eines Schmiedes, Marcel Aymé (1902-1967), begann zunächst ein Medizinstudium und arbeitete danach als Versi­cherungsvertreter, Maurer, Maler, Journalist, Bankangestellter sowie Komparse beim Film. Nach einer langwierigen Krankheit verlegte er sich aufs Schreiben realistisch gehaltener Erzählungen. (vgl. freie Enzyklopä­die Wikipedia)

Der Feder des intellektuellen Sittenschilderers Gabriel Chevallier ent­stammen über zwanzig Zeitgemälde, mit überwiegend selbst erlebtem Einschlag. „Je länger er darüber nachdachte, desto weniger mißfiel ihm die Formel der Diktatur. In einigen europäischen Staaten hatte sie bereits gute Ergebnisse gezeitigt. Außerdem würde ein Diktator tüchtige Leute um sich brauchen, neue Leute, die es nicht nötig hatten, sich den Gemeinheiten eines Wahlkampfes auszusetzen…“ („Papas Erben“) „Pa­pas Erben“ war 1945 erschienen, die Jugenderinnerungen („Chemins de solitude“) im folgenden Jahr. In limitierter Stückzahl aufgelegt konnte „Le guerrier désoeuvré“ nur einen Achtungserfolg vorweisen, wird aber von der Thematik her, „drôle de guerre“, in „L’envers de Clochemerle“ erneut mit einem Kapitel und dieser Überschrift bedacht. 1948 folgte der Band „Mascarade“, die Schilderung fünf gänzlich unterschiedlicher Men­schenbilder, 1953 „Le petit général“ mit im II. Weltkrieg ablaufender Handlung. Für das Theater entstand 1955 die im ‚Théâtre des Bouffes- Parisiens‘ aufgeführte Komödie „Le ravageur“.

„Der Realist, wenn er ein guter Handwerker ist, versucht nicht, uns die banale Photographie des Lebens zu geben, sondern uns eine Vision zu liefern, die vollständiger, ergreifender, beweiskräftiger als die Wirk­lichkeit selbst ist“, definierte der Novellenschreiber Guy de Maupassant (1850–1893).

 

„Ich mag es nicht, wenn man mir schreibt. Briefe bringen nur Aufregung ins Leben, und ich erwarte nichts mehr von meinen Zeitgenossen. Ich selbst schreibe möglichst wenig. Früher habe ich zu viel geschrieben, und was ist davon geblieben?“

„Aber ist Schreiben nicht etwas Wunderbares?“ Darauf er, ironisch: „Wie versteht das Raoul Richier, der junge Denker von der Place Col­bert?“ „Mir scheint, daß jemand, der seinen Mitmenschen Zerstreuung, Illusionen und Träumereien bringt, eine große Aufgabe erfüllt. Wer hat für die Menschheit so viel getan wie ein Balzac, ein Dickens, ein Dostojewski oder ein Tolstoi, wenn man an die Stunden des Vergessens und der Freude denkt, die sie ihren Lesern geschenkt haben? Solche Menschen haben ihr Lebenswerk vollbracht, und wir sind ihnen heute noch verpflich­tet.“ „Vielleicht…“ („Liebeskarussell“)

 

Mittels Pamphlet oder einer Schmähschrift engagiert sich der jeweilige Verfasser überspitzt und polemisch zu einem wissenschaftlichen, reli­giösen oder politischen Thema. Die Herabsetzung einer anderen Person wird dabei billigend in Kauf genommen oder ist sogar das eigentliche Ziel des Pamphlets. Die sachliche Argumentation tritt dabei in den Hinter­grund; die leidenschaftliche Parteinahme gegen eine Sache hingegen überwiegt bei der Argumentation. Stellenweise könnte man Gabriel Chevallier bezogen auf Argumentation, Sprachstil und besonders die rhetorische Ausgestaltung diesem Genre zuordnen. Seinen ätzenden Geist und seine Ironie hat er indes dem Erzählwerk und dem Humor verpflichtet, der sich bei ihm nicht minder als wirksame Waffe erweist.

Lebenslust wird im Realismus verwendet, um sich der Unzulänglichkeit und Tristesse der banalen Existenz zu erwehren. Während in vorherge­henden Epochen die Schönheit meist als ein objektiver Wert betrachtet wurde, verleiht im Realismus erst die Sicht des Autors den Erscheinungen entsprechende Anmut.

In Gabriel Chevalliers „Liebeskarussell“ bestechen insbesondere die Frauenbilder, die allein schon wegen ihrer der Männerwelt gewidmeten Profession gut auszusehen haben. In eben dem Werk verdeutlicht Gabriel Chevallier: „‘Von allen Nationen sind wir die erste und ich glaube auch die einzige, die das Wort Freiheit an den Anfang ihres nationalen Wahlspruchs gestellt hat…‘ ‘Ich verstehe unter Freiheit jene Dosis von geistigem Sauerstoff, ohne die Dein Geist verkümmern würde. Diesen geistigen Sauerstoff atmet man nur in einer bestimmten Höhe, die man zu zweit meist nicht erreichen kann. Du solltest einmal über das Wort des Malers Marquet nachdenken, der zu seiner Frau sagte: ‚Mit dir kann ich alleine sein.‘… Ein schönes Kompliment!‘“

 

„Ich habe Clochemerle vor etwa dreißig Jahren gelesen und fand dieses Buch (wie auch die anderen) packend und aufmunternd. Ich bin fest ent­schlossen, die gesamte Serie noch einmal zu lesen, falls sie noch im Verkauf erhältlich ist. Sonst gehe ich einfach in die Bibliothek meiner Stadt. Ich bin ein kleiner Schreiberling ohne Ambitionen, der sich so klein vorkommt neben dem Genie Gabriel Chevalliers“, tut ein französischer Leser seine ungebrochene Begeisterung zu einem der unangefochtenen Bestseller der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts via Chatroom kund.

Doch wird zu Gabriel Chevallier konstatiert, wie dieser selber in „L’en­vers de Clochemerle“ ausführt, daß man sogar von einer gewissen Äch­tung seiner Person im eigenen Land sprechen könnte, daß es oft über ihn heißt: „Man räumt Ihnen nicht den Ihnen zustehenden Platz ein. Man spricht Ihnen nicht den Ruhm zu, den Sie sich verdienten.“ „Le Petit Ro­bert“ der Eigennamen hat nur sieben Zeilen für Gabriel Chevallier übrig, und weder verfügen die Stadtbücherei Lyons noch die Nationalbibliothek über Monographien zu diesem „satirischen Moralisten“, als der sich Chevallier bezeichnet. In seinen Büchern sind ja alle Fragen, die man an ihn richten könnte, beantwortet, die Biographie erster Hand liegt vor, kann der Franzose argumentieren.

„Die Eitelkeiten eines bloßen Scheins haben mich nie sehr verlockt. Den Ruhm, der einer Dirne gleicht, muß man zu sehr umwerben. Und ich bin nicht zum Höfling geboren.“ („L’envers de Clochemerle“) Dies ist ganz Chevallier und geht einher mit seinem Widerwillen, sich den literarischen Abendmahlen zuzugesellen, dem Dauerschmollen mit der Kritik. Als Karikatur zum Schweigen um seine Person, dem nicht immer voll zum Tragen gekommenen Ansehen kann man die Erwähnung Gabriel Chevalliers bezeichnen: „Im Jahre 1937 erschien ein kleines Buch mit dem Titel „Die Geheimnisse von Grenoble“. In den öffentlichen Bib­liotheken ist es sekretiert. Es stammt aus der Feder eines gewissen Edgard Lapérine, einer rätselhaften, jetzt von der Bildfläche verschwundenen Persönlichkeit, die verschiedene merkwürdige, heute kaum aufzufindende Bücher verfaßt hat.“ („Papas Erben“)

Auch in den literarischen Handbüchern findet sich nicht allzu viel, sich den freundlichen Schmeicheleien anzubiedern, sich wichtig zu tun, wi­derstrebte Gabriel Chevallier. Hier hat der Lyoner wohl auch zu oft zu weit von Paris gelebt, und zu wenige Glocken geläutet. 1934 etwa, nach seinen ersten Veröffentlichungen, hat sich Chevallier in Richtung Süden ins Auto gesetzt und die Verleger schalten und walten lassen, ganz und gar nicht Emporkömmling. Die gewisse Nachlässigkeit seiner Person gegen­über, der er sich ausgesetzt sieht, schreibt er sich selber zu. Er sei kein Karrieretyp, sieht sich als „Freischärler“, alleine in seiner Ecke, möchte sich selbst treu bleibend seine Unabhängigkeit bewahren. Damit hat er sich dem Aufgeblasenwerden und der Speichelleckerei entzogen, einem Klüngeltreiben wie bei Hofe.

Umso mehr Zuspruch kam aus dem englischsprachigen Ausland, neben Marcel Proust wird Chevallier den Oxford-Studenten nahe gelegt, und es ist unmöglich, nicht auch im fernsten Australien an eine Chevallier- Ausgabe zu geraten. Im Deutschland, nach Hitler, finden sich nicht weniger Übersetzungen als in Italien, und gar das katholische Spanien verfügt über solche.

Ohne ein dahingehendes kommerzielles Hinwirken seinerseits hat Che­vallier nach eigenem Bekunden den Überzeugungen aus seinen Werken sowie deren Form, die er für unantastbar hält, alles zu verdanken.

 

Durch Folgeromane, die im Titel „Clochemerle“ enthielten, „Cloche­merle-Babylone“ (1951) und „Clochemerle-les-Bains“ (1963), wurde diese Bekanntheit konserviert.

„Also hatte Clochemerle einen Arbeitslosen. Das wuchs sich zu einem Ereignis aus und rief viele Kommentare hervor. Man wußte, daß es Arbeitslose gab, man las es in den Zeitungen. Aber es gab sie doch nur in fernen Gegenden, die im Wesentlichen von der Industrie lebten. Ein Arbeitsloser hatte nicht mehr Realität als ein Irokese oder sonst eine Rothaut. Es war ein Sonderfall, einem solchen im Ort, ihm begegnen, mit ihm reden und ihn bei Namen nennen können.

„Ein Arbeitsloser, sagen Sie?“

„Jawohl, jawohl. Der dafür bezahlt wird, daß er nichts tut.“

„Aber Nichtstun ist doch kein Beruf?“

„Anscheinend wird es einer. Das machen die neuen Gesetze. Man braucht nur zu behaupten, daß man eine Art Arbeit nicht mag, geht nach Hause und legt sich schlafen. Was man zum Leben braucht, kriegt man doch.“

„Allerhand!“

„Diese Mode kommt aus England. Es scheint, die Engländer bezahlen ihre Arbeiter dafür, daß sie den lieben langen Tag angeln gehen oder Fußball spielen.“

„Das sieht den Engländern ähnlich. Diese Insulaner müssen immer alles anders machen als die übrige Welt.“

„Und wer bezahlt so einen Arbeitslosen?“ „Wir.“

„Was? Wir? Von unserm Geld?“

„Von dem Geld der Gemeinde. Aber die hat es ja von uns.“

„Soll ich Ihnen meine Meinung sagen? Lieber ließe ich mir mein Geld stehlen. Es in die Taschen eines Taugenichts abwandern zu sehen ...“

„Der es dann mit Frauenzimmern vertut...“

„Das denke ich auch. Ohne Müh' verdientes Geld im Handumdreh'n der Hur' verfällt.“ („Clochemerle-Babylon“)

 

Gabriel Chevallier wurde am 3. Mai 1895 als Sohn des Notariats­beamten Joseph Chevallier in Lyon, 23 quai Fulchiron, geboren; „dieser Stadt des Einzelgängertums, voller Geheimnisse und Schweigen“ („Lie­beskarussell“), der er Bücher und Zeitschriftenartikel widmete. Im auto­biographischen „Chemins de solitude“ („Pfade der Einsamkeit“) geht Gabriel Chevallier neben seinem persönlichen Werdegang auf die Nebeluferstadt Lyon mit ihrer Geschichte und dem Dasein in den unter­schiedlichen Vierteln ein. Lyon „in den verschleierten Regionen einer Einsamkeit ohne Echo“ („Die Mädchen sind frei“) mit der es umran­kenden echten Ländlichkeit besteht nicht nur aus winkligen Gassen, ver­träumten Hinterhöfen. Trotz beschaulicher Provinzialität entwickelte sich Lyon im 19. Jahrhundert zu einer bedeutenden Industriestadt, wobei Vieux Lyon als eines der größten Renaissanceviertel Europas entgegen Modernisierungs-Plänen erhalten blieb. Mit den Bahnhöfen Perrache und Part-Dieu gilt die Flußstadt als Eisenbahnknotenpunkt. Seit 1512 wird im arbeitsamen, seriösen, frommen, ein bißchen zugeknöpften Lyon - anfangs von italienischen Einwanderern - Fayence gefertigt. Der gezwungen merkantile, mürrische und kalte Charakter der Einwohner unterliegt Chevalliers Kritik; ein bekanntes Unternehmen der „Stadt der Geizkrägen und der Halsabschneider“ ist auch die Großbank Crédit Lyonnais, auf deren Umtriebe Chevallier zu sprechen kommt. Die Fröm­migkeit wird ihm synonym für Trägheit, Ödheit, Schlaffheit; Religion bedeute, daß man dem Leben nicht vertraue und sich in einem Jenseits etwas suche.

 

Die Heirat seiner Eltern hatte eine Schwester des Vaters eingefädelt, damals Vorsteherin im Kloster „Visitation“. Der Vater war 37 Jahre, die Mutter aus Gueugnon kommend, wohin sich die Großmutter zurück­gezogen hatte, 23 Jahre alt.

An seine Mutter konnten Gabriel Chevallier nur vage Erinnerungen aus dem Kindesalter bleiben. „Eines Abends kehrten wir ins Haus zurück. Unsere Mutter hielt uns bei der Hand, meine Schwester und mich.“ Im Verlauf geht es um einen Hut, einen zu großen, mit einem Riesenriemen für den Hals. Gabriel verabscheute besonders das Stück Plastik, das ihn „zum Mädchen machte“. Auf einer Brücke flog der Hut vom Kopf, der Wind wehte diesen in den Fluß - ein ganz neuer Hut! „Ich glaube mich zu erinnern, daß dieser 5 Francs gekostet hatte, denn dieser Preis wurde immer wieder aufgetischt. Ich weiß nicht mehr, welches die Folgen waren. Aber ich war wohl nicht besonders erzürnt wegen des Verlustes dieses blöden Hutes. An diesem Tag ging ich alleine mit meiner Mutter aus. Diese Spaziergänge in Begleitung eines kleinen Möchtegerns, der dauernd quasselte und tausend Fragen stellte, hat sie wohl gemocht…“

Es kommt zu einer Begegnung mit einem Maler, der seine Utensilien vor sich liegen hat und blitzschnell ein Bild auf die Leinwand wirft. Mit dem Stolz eines Michelangelo unterzeichnete er noch schnell: „Wie schön das ist, wie schnell er das hingekriegt hat!“, hieß es. Die Akrobatennummer dieses Straßenkünstlers beeindruckte, zumal auch noch jemand vorbei­kam, der 20 Francs dafür hatte. Zu Hause will sich der kleine Chevallier auf dem Eßtisch sogleich an Malversuche gemacht haben.

Von hier datieren die ersten Ambitionen zum Künstlerischen hin: „Du wirst später ein Künstler.“ Der junge Artist verließ sein Machwerk und eilte in die Arme seiner Mutter. Das war dann doch etwas merkwürdig, daß aus der Linie hochstehender Bürgerlicher eine Künstlerlaufbahn in verstaubten Laboratorien zwischen Farbentuben, Spirituskochern und jungen Hunden entstehen sollte.

Auch in den Romanen kommt diese Übergangsphase des Öfteren zur Sprache: „Ich habe Angst. Mit sechzehn Jahren weigerte sich Patrick, weiter in die Schule zu gehen, er möchte auf die Kunstakademie. Er will um jeden Preis Künstler werden und nicht in unserem fürchterlich rückständigen bürgerlichen Milieu versauern. So drückt er es aus. Er hat sich Farben gekauft, sein Zimmer stinkt nach Öl, überall tritt man auf Farbtuben. Er redet nur noch von Dadaismus, Surrealismus und ich weiß nicht was allem. An die Wände spießt er abscheuliche Bilder, anscheinend moderne Kunst...“ („Liebeskarussell“)

Im März 1919 hatten Guillaume Apollinaire, Philippe Soupault, Louis Aragon und André Breton die Zeitschrift ‘Littérature’ gegründet und Poesie u. a. von Lautréamont veröffentlicht. Zu dieser Zeit war Breton auch in Korrespondenz mit Tristan Tzara, der in Zürich die Dada-Be­wegung vorantrieb, getreten. Mit dem Surrealismus brach sich die Kunst einen Pfad ins Irreale, Absurde, das herkömmliche Menschenbild wurde wie beim Dadaismus und Symbolismus hinter sich gelassen. „Ich werde nicht selten gefragt, was aus dem Surrealismus geworden sei. Dann weiß ich nicht recht, was ich antworten soll. Manchmal sage ich, der Sur­realismus habe in Nebendingen gesiegt und sei im Wesentlichen ge­scheitert. Breton, Eluard und Aragon gehören zu den besten französischen Schriftstellern des zwanzigsten Jahrhunderts, sie haben ihren festen Platz in den Bibliotheken. Ernst, Magritte und Dalí gehören zu den teuersten und renommiertesten Malern und haben ihren Platz in den Museen. Künstlerischer Erfolg und kulturelle Anerkennung waren aber genau das, was die meisten von uns am wenigsten interessierte. Die surrealistische Bewegung war nicht darauf aus, ruhmreich in die Literatur- und Kunst­geschichte einzugehen. Ihr Hauptziel, ihr unabweislicher und zugleich unrealisierbarer Wunsch war, die Welt zu verwandeln und das Leben zu ändern. Was diesen Punkt betrifft, den entscheidenden, so braucht man sich nur kurz umzuschauen, um unser Scheitern zu erkennen.

Natürlich hätte es auch gar nicht anders kommen können. Wir sehen heute, wie winzig die Rolle war, die der Surrealismus spielte, im Vergleich zu den unberechenbaren und sich immer erneuernden Kräften der histo­rischen Realität. Die Träume, die uns verzehrten, umspannten die ganze Erde, aber was waren wir schon! Eine kleine Gruppe ungebärdiger Intellektueller, die in einem Café palaverten und eine Zeitschrift heraus­gaben. Eine Hand voll Idealisten, die sich schnell uneins waren, wenn es darum ging, direkt in Aktion zu treten und auch Gewalt anzuwen­den.“ (Luis Buňuel)

 

Im Schlußteil von „Propre à rien“ („Taugenichts“) nimmt sich Gabriel Chevallier doch noch einmal sein Tagebuch vor und fügt folgende Ein­träge bei: „Meinem Leben zugrunde liegen Wesen, die sich durch die Wege der mysteriösen Zellteilung gebildet haben. Mir selbst bin ich nur ein Erbe, und ich werde Jahre damit zubringen, in dieses Durcheinander aus Gefühlen und Instinkten, die weiß Gott woher rühren, etwas Ordnung zu bringen. Lange Zeit habe ich meiner Familie übel nachgeredet und in ihr das größte Hindernis überhaupt gesehen. Ich habe nicht verstanden, warum diese Wesen, die uns vorausgingen, sich uns so blind in den Weg stellen, so wenig von uns erraten können, uns bilden und anleiten. Deshalb mußte ich mich außerhalb dieser natürlichen Beschützer umsehen, meinen Weg suchen und ich meine bis heute von diesen nicht einen einzigen nützlichen Ratschlag erhalten zu haben, keine angemessene Hilfe wie auch keine Möglichkeit, abgesehen von ein bißchen Geld. Von meiner Familie her stammen nur Schwierigkeiten, Dummheiten und Erniedri­gungen.

Zuerst habe ich versucht, mich dieser Umklammerung zu entziehen, die ich für so unmöglich hielt, daß ich sie gar nicht wahrnehmen wollte. Mit sechzehn Jahren konnte man mich schon emanzipiert nennen, war es aber moralischerseits erst viel später, so daß ich zweifellos einige Makel „feh­lender Erziehung“ aufweise, wenn dies nicht gewisse, allzu ausgelebte Reaktionen gegen jede Form der Heuchelei waren und der Abscheu vor einer allzu verbreiteten Denkweise in trockenen Tüchern.“

Zu Agathe Duberteuil, seiner Urgroßmutter, liegt Chevallier ein Porträt aus dem Jahre 1840 vor. Von dieser hübschen jungen Frau weiß er nur, daß sich ihr Äußeres mit den Jahren ziemlich wandelte. Diese Frau lag nun seit drei Jahrzehnten unter der Erde, doch Chevallier hofft, hier den Ursprung seiner eigenen Geschichte zu finden.

Stanislas Duberteuil, den er für ein Original hält, ist sein Favorit in dieser Bildergalerie. In einem ansonsten provinziellen Milieu, weit entfernt von jedem zentralen Trubel, wo die Frauen ihre Direktiven von der Kurie empfangen, wo die Gesellschaft reduziert ist, muß ein etwas bemer­kenswerter Mann auffallen. Dieser Notar vom still verschwiegenen Lande, der sich eine Reserve aus Büchern im hinteren Teil des Wandschranks hielt, „hat einige seiner Naturveranlagungen an mich weitergegeben.“

Zu diesen Wesenszügen zählt Chevallier die Umsichtigkeit in der Be­urteilung der Menschen und Ereignisse sowie eine methodische Vor­gehensweise in Alltagsfragen. Er stellt sich diesen Onkel verborgen hinter seinen Dossiers vor, die er mit einer eleganten Handschrift versah. Im von seiner Ehefrau lautstark dominierten Hause erschien er nur zu den Mahlzeiten. War es draußen schön, machte er sich auf den Weg zu seinen Besitztümern oder erledigte einige Besuche in den wichtigsten Häusern von Marcy-l’Ange. Er gefiel sich unter den Leuten vom Schloß, die ihn ihrerseits wegen seines Hangs zum Philosophischen, seiner feinsinnigen Klugheit als Gesprächspartner schätzten. „Diesem alten Notar aus den alten Zeiten verdanke ich ein Brevet Väterlichkeit und ich gestehe eine echte Zuneigung.“

 

Immer wieder zog es Gabriel Chevallier wie auch den „Ausreißer“ aus einer Erzählung zur Großmutter mütterlicherseits. „Dann haben wir die arme Tante Berthe, mit 18 oder 20 Jahren: einigermaßen gleichmäßige Züge, aber irgendwie von Krankheit gezeichnet.“ Gabriel Chevallier hat diese in ihren letzten Lebensjahren immer besser kennen gelernt, ihre grauen und seltenen Haare, das magere Gesicht, die tiefen Falten auf der Stirn und den Wangen, die kalten Lippen, den Ausdruck nervöser Angst. Ihre Hände sind von unnützen Arbeiten entstellt, ihr Äußeres mangels Pflege und durch Krankheiten deformiert. Ihren Körper hält Chevallier für ihr Gefängnis, nichts konnte sie zufrieden stellen. Stundenlang hockte sie am Feuer, zitterte vor sich hin, wobei sie Kopf und Brust drückte, wo der Schmerz herkam. Sie verwünschte dann die Menschheit, die sie verlassen hätte, so daß ihr nur die Einsamkeit und der Friedhof blieben. Den Himmel, an den sie nicht mehr glaubte, bedrohte sie mit ihren Fäusten, wobei sie ein: „Warum, warum?“ ausstieß.

„Das Warum war in der Tat die Frage, die sich bei dieser Elendsperson stellte. Warum diese Leben ohne Ziel noch Hoffnung, warum diese Abfolge miserabler Jahre, die man langsam im Leiden konsumiert, ohne jede Aussicht auf eine Belohnung? Ihre armseligen Freuden waren die von Kindern geblieben. Mit zwei oder drei Jahren war die Hand zur Mutter noch immer als Bettlerin ausgestreckt: „Geben Sie mir etwas Geld, es wird Ihnen nicht schaden.“ Dann ging ihr Wunsch, so Gabriel Chevallier in seinen autobiographischen Erinnerungen, dahin, ein besonderes Stück Kuchen zu probieren. Bald schon war ihr auch dieses zuwider, da sie davon zu viel gegessen hatte wie ihr auch die Romanhelden aufstießen oder die Leute auf der Straße.

 

Die gegenseitige Zuneigung wurde immer wieder durch Widrigkeiten, die Notwendigkeiten gestört. „Meine Großmutter lehrte mich nur die Resignation, und ich war getrieben durch die Unruhen, die mich nicht in Frieden ließen und suchte meine Zukunft weit weg von diesen zitternden Ratschlägen.“ Gabriel Chevalliers Großmutter starb, während der Autor dem Tode gerade so entrinnen konnte. Es gab einfach wenig Gemein­samkeit, der Altersunterschied lag bei fünfzig Jahren. Was der Mann auch für Träume und Absichten hatte, es brauchte dieser älteren Frau gegenüber eigentlich nicht erwähnt zu werden. Sie konnte ihn nur mit gänzlich unbedeutenden Allgemeinplätzen und willkürlichen Lebensweisheiten versorgen: „Heirate doch, mein liebes Kind. Du wirst in einem guten Haushalt versorgt werden, es wird dir gut gehen!“

„Während meiner Aufenthalte in Marcy-l’Ange, nach dem Krieg, blieben wir abends oft unter der Lampe alleine. Wir teilten zwei, drei Stunden Freundschaft, die bisweilen auch angenehm waren. Sie befragte mich zu tausend Themen. Ich antwortete. Alles fand sie erstaunlich. Fünfund­zwanzig Jahre hatte sie mit Nachdenken zugebracht…“ Sie soll sich in die Abgründe des Pascalschen Denkens gestürzt und von der Realität nichts gewußt haben. „Mit bewundernswerter Naivität meinte sie zu mir: ‚Du weißt so viel von so vielen Dingen. Ich würde auch lieber viele Sachen sehen, anstatt hier wie ein Idiot zu bleiben!‘ Sie vertraute mir leise kindliche Geheimnisse an… Von ihrer Mutter hatte sie etwas Kleingeld stibitzt, für einen Nougat-Riegel mit Pistazien, es gab ja nichts Besseres. ‚Ist das sehr schlimm?‘ Dann schlug sie sich auf die Stirn: ‚Es ist alles in meinem Kopf, weißt du! Manchmal kommen mir Gedanken, Gedan­ken…‘ Meine Schilderungen zur Landeschronik unterbrach sie mit der Frage: ‚Die Leute sind verrückt, findest du nicht?‘ Ihr Hauptanliegen war indes: ‚Was haben wir auf der Erde zu suchen, kannst du mir das sagen? Das ist alles so dumm, ungerecht und ist völlig sinnlos. Und ich, mich werden sie wohl verdammen!‘“ Gabriel Chevallier beschwichtigte: „Sag keine Dummheiten! Warum solltest du verdammt werden? Du hast genug Leid mitgemacht, um direkt in den Himmel zu gelangen.“

 

Solche Gespräche fanden in der kargen Küche des alten Hauses statt, wobei das ein oder andere Holzscheit ins Feuer wanderte. Diese traurige Verlassenheit des armen Mädchens und ihr verlorenes Leben. Zum Glockenschlag, der die Nacht durchhallte, wurden diese Stunden zu einem bedauernswerten Kommentar der menschlichen Tragödie.

„Plötzlich blickte Tante Berthe auf den Wecker, der im Schatten auf dem hohen Kamin vor sich hin schlug: ‚Um Himmels willen, schon elf Uhr! Was wird Mama davon halten?… Sie schätzt es gar nicht, wenn man beim Schwätzen Petroleum abbrennt. Wenn wir alleine sind, gehen wir mit der Nacht ins Bett. Das Leben hat hier keinerlei Kraft.‘“ Dann stiegen sie die Holztreppe hinauf, wobei jeder Lärm vermieden wurde. Sie entzündete ihre Kerze und verhielt noch einen Moment unentschlossen: „‘Weißt du, die Langeweile in diesem dreckigen Land zernagt einen. Du bist ein Junge, du bist überall gewesen, das wird mich aufheitern.‘“ So jagte sie ihren Vorstellungen hinterher. ‚Am nächsten Tag haßte sie mich.‘“

Eine Photographie seiner Großmutter die von etwa 1875 datiert, versetzte die Bewunderer in Erstaunen: „Oh, tadellos! Wie distinguiert im Ausdruck!“ Diese wohnte damals bereits auf dem Land, die Mutter des Autors war schon geboren. Hier handelte es sich noch um eine Frau von 45 Jahren, gekleidet in eine dunkle Robe. Der letzte große Auftritt. Tante Berthe verstarb innerhalb von zwei Tagen an einer Lungenkrankheit, der Arzt kam zu spät. Ihr Fieber-Wahn ähnelte so sehr den Delirien ihres Kopfes, daß man ihre Krankheit zuerst gar nicht bemerkt hatte.

Die Geschäfte in der Stadt liefen nicht mehr, weshalb sich die Großmutter nach Marcy-l’Ange zurückgezogen hatte, wo nur noch die vorherige Stadtkleidung aufgetragen wurde. Als sich diese abnutzte, erneuerte sie diese nicht und besserte auch nicht aus. Die Eleganz schien ihr nun das Anliegen der Jugend, der Töchter, die sich zum

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 14.03.2015
ISBN: 978-3-7368-8344-4

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