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HEILIGE NICO

 

 

Nicos Bekanntheit (nicht „Popularität“, wie es ein japanischer Veranstalter formuliert haben wollte) gründete sich auf ihr Aussehen, ihre Lieder, ihr Leben, ihre Liebhaber und - die Drogen. Ein Kultstar, der seinem Publikum nicht nur wegen seines Talentes sondern vor allem auch mit seinen Problemen bekannt geworden ist.

Nico wurde ihrer Identität durch meist bekannte Männer gewahr. Viele Frauen ihres Alters sahen in der Heirat den im Leben anzustrebenden Status. Hierdurch erhielten sie eine neue Rolle, fixiert durch den Familiennamen des Ehemannes.

Nico, bei der Einzigartigkeit vor Anpassung rangierte, erlangte ihren Status mit anderen Mitteln. Sie versuchte, ihre Authentizitätskrise auf ihre Art zu lösen, lange bevor der „Feminismus“ andere Optionen bot. Zuerst einmal nahm sie einen männlichen Vornamen an und dann den Stil, der ihr am meisten zusagte, den des ruhigen, männlichen Homosexuellen, der öffentlich verschwiegen und mit verborgenem Privatleben ganz erlesen in der orthodoxen Gesellschaft über­lebt. Hier wurde ihr Andy Warhol zum Vorbild, ein beinahe Stummer inmitten kreischender Königinnen. „Ich ziehe es vor, ein Mysterium zu bleiben", meinte Warhol einem Ausspruch David Leans aus dem Jahre 1965 entsprechend: „Der Unterschied zwischen guten Schauspielern und großen Stars ist, daß gute Schauspieler alles offenbaren; große Stars dagegen bleiben geheimnisvoll."

 

Das „alpenfrische Covergirl“ der Fünfziger Jahre nahm Amphetamine, um Gewicht zu verlieren. Als "schwedische Prinzessin" rauchte Nico im Film „La dolce vita“ Marihuana, der "Andy Warhol-Superstar" schluckte in seiner Fabrik LSD, „um meinen Kopf zu finden". Die "Blutschwester von Jim Morrison" Nico aß in der Wüste Peyote-Knospen, um bezaubernde Visionen zu durchleben. Die "schönste Frau der Welt" spritzte sich Heroin, „weil ich zu viele Gedanken habe" und galt auch als der seine Nadeln durch den Zoll schmuggelnde Junkie.

Bald hatte sie in einem begrenzten Zirkel von Fixern und Suizid-Romantikern einen diesbezüglichen Namen. Es fanden sich unter ihren Begleitern und dem Anhängsel solche, die es toll fanden, mit Nico Drogen zu teilen oder sie mit einer neuen bekannt zu machen. Das gab eine gute Prominentenstory ab und Nico war irgendwie ganz anerkannt und gängig in ihren Kreisen - die „Königin der Junkies“.

Glaubhaft versicherte Nico, daß sie erst nach ihrer Zeit in der Factory Heroin genommen habe. Bis dahin sei alles nur undeutlich aus dem psychedelischen Wirrwarr zu ihr gedrungen, nie habe sie aber etwas Ungewöhnliches an irgend­jemandes Verhalten bemerkt.

„Man liest überall, daß Andy nie Drogen nahm. Aber das entsprach nicht der Wahrheit. Er schluckte Aufputschtabletten, eine Art Amphetamine, der Name ist mir entfallen. Er nahm Pillen. Er meinte zu mir, daß Pillen normal wären. Seine Mutter nahm sie, der Präsident der Vereinigten Staaten schluckte Pillen, weshalb es kein Problem darstellte. Er wollte eigentlich nur die Arzneien, ich aber wollte in mich gehen, in mich hineinschlüpfen. Brian Jones sagte, es wäre eine noch unentdeckte Welt, eine Innenwelt. Amerika und Rußland befehdeten sich im äußeren Raum, wir aber wollten in den inneren Raum. Wir waren keine Astro­nauten, sondern Intranauten. Andy sagte: ,Aber Nico, da ist nichts im Innern. Ich trage meine Seele auf dem Ärmel.' Dann nahm er irgendetwas, das ihn heftig antrieb, daß er das im Innern nicht mitbekam. Deshalb fühlte er sich vielleicht so ausgelaugt."

„Alles ist eine Droge, Kaffee ist eine Droge - och, welch ein Klischee. Musik ist eine Droge, Jim (Morrison) sagte, daß Gott eine Droge ist - was nicht so ein Klischee ist. Es ist eine Medizin, etwas, das dich von Krankheit heilt. Kaffee lindert deine Müdigkeit ... was habe ich noch genannt? Musik? Nun, Musik hilft dir über die Zeit, Gott beim Sterben, denke ich mal."

Die Drogen beeinflußten auch Nicos Stimmungen, einem Reporter teilte sie mit: „Sie werden geisttötend genannt, und ich mag das, daß ich meine Gedanken wegblasen kann."

„Alle sprechen bei ihr viel von Drogen, besonders Heroin", konstatierte ein sie in den letzten Jahren begleitender Musiker, „aber ich habe sie mehr als schreckliche Trinkerin in Erinnerung. Bier und weißer Wein in Unmengen, besonders Bier, flaschenweise, literweise. Damals hat sie damit angefangen, die Leute anzupöbeln. Alle fahren auf dieses "Moon Goddess"-Gerede ab, aber du hättest sehen sollen, wie sie hinter der Bühne gierig grabschte! Sie war eine richtige Alkoholikerin, diese Nico."

 

Wenn so viele ehemals mit Worten wie "Eleganz", "Scheu", "Würde", "Schön­heit", "göttliche Sinnlichkeit" oder "gertenschlanke Blume" über Nico sprachen, so ist es erstaunlich, später von ihr als Schläger, Streithahn und Ohrboxer zu lesen. Das hört sich eher an wie die kleine Christa in Lübbenau, die beim Spiel mit ihrem Vetter die Überlegene bleiben wollte: „Sie setzte sich ganz gewaltig in Szene. Nichts war wichtiger, bis sie völlig ihren eigenen Willen hatte." (Nicos Tante Helma) Nachvollziehbar ist, daß sich Nico nicht in der Gewalt hatte, wenn sie Bier trank. „Innerhalb zweier Stunden wandelte sich die „Mond-Göttin“ in einen Trunkenbold. Biertrinken gehörte auch zum gewöhn­lichen Bestandteil ihres späteren Daseins. Eine solche Zecherei führte zu ihrem Verlassen der Vereinigten Staaten von Amerika, aber es brauchte schon ein Süffigkeits-Mons­ter wie Morrison, um den ersten bekannt gewordenen Zwischenfall auszulösen." (John Densmore, Doors-Drummer)

 

Nicos Leben schien sich in Interviews abzuspielen, die allerdings nur wieder Varianten des beständigen Zwiegesprächs waren, das sie mit sich führte: Ein Mann und eine Frau sitzen still im Kontrollraum einer Radiostation. Er hat ein munteres Gesicht, ungefähr fünfundzwanzig. Sie ist in einem gewissen Alter, hat langes braunes Haar, das grau zu werden beginnt, trägt ein Herrenjackett und ein schwarzes Lederarmband mit silbernen Totenköpfen. Eine Platte liegt auf, ‚Femme Fatale‘. Gleich wird der Song zu Ende sein.

D.J.: Heyyyy ... Hier ist Piccadilly Radio. Es ist jetzt zwanzig Uhr fünf­undvierzig, und hier bei mir im Studio ist sie tatsächlich, die femme fatale höchstpersönlich, die legendäre Nico, Sängerin der Kultband der Sixties, Velvet Underground, geschaffen vom Popart-Meister schlechthin, Andy Warhol... Will­kommen in Manchester, Nico!

Nico: (Pause) Dieses Lied ... ist nicht über mich ... Ich habe es nur gesungen ... vor langer Zeit.

D.J.: Stimmt, stimmt, okay. Nico, bevor wir uns darüber unterhalten, was du gerade machst und warum du in Manchester bist, können wir deine Karriere noch ein wenig zurückverfolgen, für unsere Hörer?

Nico: Wenn es sein muß.

D. J.: Du kommst ursprünglich aus Berlin, hab' ich gehört.

Nico (stöhnt): Oh ... (seufzt) ... Ja ... nun ... beinah ... irgendwie… nicht so ganz ...

D.J.: Nun - hm - diese Stadt hat ja einen besonderen Mythos… die Nazis, Cabaret und all das ... Wie war das denn?

Nico: Es hat mir nicht gefallen. Ich fand es alles ziemlich geschmacklos.

D. J.: Geschmacklos? Es so zu nennen, ist etwas ungewöhnlich.

Nico: Verstehst du ... übertrieben ... Diese Liza Minnelli kann den Mund nicht halten.

D.J. (verwirrt): Liza Minnelli? Oh, ja, ja ... Nein, ich meinte, als du jung warst, der besondere Mythos von Berlin?

Nico: Jung? Mythos?

D.J.: Nun, du weißt doch, man sagt, Berlin war irgendwie gefährlich, der Ort, an dem es geschah, oder so.

Nico: Oh ja, sehr viel Gefahr ... Die Gebäude stürzten um dich herum ein ... die Strassen voll Staub, du ersticktest…

D.J.: Oh je, Nico, das klingt ja echt schrecklich. Also, jedenfalls hast du in den Fünfzigern angefangen, als Model zu arbeiten?

Nico: Wir mußten auf dem Land leben. Nachts sah man, wie die Stadt brannte, der Himmel blutrot. …

D.J. (hüstelt): Der Krieg. Schlimme Zeit für beide Seiten.

Nico: ... Der Brandgeruch im Wind.

D. J.: Okay ... Hier ist Piccadilly Radio, und ich habe mich gerade mit Nico von den berühmten Velvet Underground unterhalten.

 

Nico, die "Garbo des Punk", die neue Art Superstar, der Einzelgänger, blieb am liebsten ohne Familiennamen und folglich ohne Verwandtschaft. „Wir soll­ten keine Ausweise benötigen. Sie sind dummes Zeugs... Wen kümmert es schon, wo irgendjemand geboren wurde."

Gerard Malanga (aus Warhols Factory) erinnert sich an eine Konzertreise nach Kanada: „Als wir ihr sagten, daß sie für die Ein- und Ausreise nach Kanada ihren Paß benötige, war sie keineswegs beglückt, weil sie annahm, wir wollten ihr Geburtsdatum erschnüffeln. Nico war sehr eigen, was ihr Alter anbelangte. Sie ließ den Paß mit Absicht zu Hause und stellte mit ihrer Eitelkeit das ganze Unterfangen in Frage. Wir mußten von der Straße runter und zu einem obskuren Grenzübergang. Wir versteckten sie dann hinten im Laderaum zwischen den Gitarren und Schlagzeug und schmuggelten sie - in beide Richtungen."

Nico hatte gerade die Musik gemacht, von der sie geträumt hatte („The Marble Index“, 1969). Sie sprach daher gerne mit ‚Twen‘, einem deutschen Magazin für Frauen ihres Alters - sie war gerade 30 geworden - über sich:

„Sind Sie seit den Fünfzigern in Deutschland gewesen?“

„Ich war dort nur auf Besuch bei meiner Mutter. Sie lebte in Spanien, wurde dann aber sehr krank. Wir sind gute Freunde. Ich habe einen Sohn, der im August acht Jahre alt wird. Sein Name ist Christian Aaron. Ich nenne ihn Ari: das bedeutet „kleiner Löwe“.

„Wie lautet sein Familienname?“

„Er trägt meinen Namen, weil sein Vater zu stolz ist, ihn anzunehmen.“

„Wie lautet dann Ihr Familienname?“

„Warum sollte ich das sagen? Es ist unwichtig. Ich habe diesen oder jenen Namen. Ich weiß, daß es auf diese Art ungesetzlich ist, aber es kümmert mich nicht.“

„Es tut mir leid. Aber wer ist der Vater des Sohnes?“

„Alain Delon. Zu dieser Zeit stand er im Zenit seiner Karriere. Jetzt befindet er sich in solch herabsetzenden Umständen, daß ich fast beschämt bin, daß er der Vater meines Kindes ist. Ich glaube nicht, daß er noch weiß, was er weiter tun soll. Als ich schwanger war, lebte ich in New York. Ich war sehr glücklich über das Baby. Es ist eine wundervolle Erfahrung für eine Frau, ein Kind zu haben. Es war sehr schwierig, für Ari zu sorgen. Ich mußte ihn überall mit hinnehmen. Dies ist kein Leben für ein Kind. Als er vor zwei Jahren krank wurde, brachte ich ihn zu seiner Großmutter, der Mutter von Alain Delon. Sie ist eine wunder­volle Frau und stellt sich ganz gegen das Verhalten ihres Sohnes. Ari lebt jetzt bei ihr und geht in eine Schule bei Paris. Er braucht diese Art der Fürsorge, weil er ein wildes Kind ist. Er wäre ein Krimineller geworden, wüchse er nicht mit einem Sinn für Ordnung auf.“

„Ihre Lieder scheinen aus Ihrer Seele gerissen zu sein.“

„Ja, ich habe auch schon darüber nachgedacht. Meine Songs sind nicht gerade persönlich. Aber ich kann mich eigentlich mit überhaupt nichts identifizieren, nicht mal mit mir. Ich bin ein Nomade, wie in meinem Lied ‚Frozen Warnings‘. Das ist wohl mein Lieblingslied auf der Schallplatte.“

„Wie sind Sie zur Musik geraten?“

„Über Bob Dylan, den ich vor sechs Jahren in Paris traf. Ich fing damit an, alle seine Lieder zu singen - When the Ship Comes In, mein Favorit und The Times They Are a 'Changin, Mr. Tambourine Man natürlich und It Ain’t Me, Babe ...“

„Haben Sie ihn kürzlich gesehen?“

„Er hat sich zurückgezogen. Er macht in Familie. Ich kann ihm das nicht vor­werfen. Was sonst kann er jetzt machen. Wenn du dein gesamtes Leben als Tramp zugebracht hast, wird es nach einer Weile verdammt kalt, und du hast es über, draußen zu sein. Er kann ein Familienleben führen und immer noch genug Geld machen. So lebt er also auf diese Weise.“

„Ich glaube, Sie kennen auch Leonard Cohen?“

„Ja. Ich fürchte ihn ein wenig. Er verhält sich mir gegenüber immer merk­würdig. Jedes Mal wenn ich ihn sehe, muß ich ihn zurechtweisen. Er meint immer, ich wäre die ideale Freundin für ihn und daß ich seine Frau werden sollte oder so. Ich spreche nicht gerne darüber, aber er macht daraus kein Geheimnis. Ich mag ihn als Person, solange er mir keinen Antrag macht.“

„Sie haben viele Dinge gemacht und so viele Erfahrungen gesammelt. Was ist geplant und wieviel spontan?“

„Ich denke nie darüber nach. Die Dinge geschehen. Wirklich. Ich habe keine Motive. Wenn ich Ihnen sage, daß ich ein Texter wurde, meine ich nicht, daß ich dies so wollte. Eines Tages hatte ich ein Lied, und das war der Beginn. Alles geschieht irgendwie. Es gibt keine Zufälligkeiten, alles ist prädestiniert. Ich bin sehr fatalistisch.“

„Was erhoffen Sie sich für die Zukunft?“

„Halten Sie mich nicht für eingebildet, aber ich hoffe, daß es mir gelingen wird, alle meine Gedanken und mich entweder in der Musik oder im Film zum Ausdruck zu bringen. Daß sich dadurch die Dinge verändern.“

Es blieb der Nachwelt überlassen, nachdem sie der Tod mitten aus dem spanischen Sommer des Jahres 1988 gerissen hatte, die näheren Fakten ihres Lebens festzustellen. Nico (Christa Päffgen) kam während eines Urlaubs auf Ibiza bei einem Fahrradunfall ums Leben: "Spät eines Morgens, am 17. Juli, sagte mir meine Mutter, daß sie wegen Marihuana in die Stadt müßte. Vor dem Spiegel wickelte sie einen schwarzen Schal um ihren Kopf. Sie starrte richtig­gehend in diesen hinein und machte sich einige Mühe, daß der Schal auch richtig saß. Sie fuhr mit dem Fahrrad den Berg hinunter. 'Ich bleibe nicht lange.' Als sie aus dem Hause ging, war es früher Nachmittag, etwa 13 Uhr, und der heißeste Tag des Jahres, 35 Grad." (Ari)

Der Taxifahrer, der sie an der Seite der steilen Straße fand, das Rad, dessen Räder sich nicht mehr drehten, mußte vier Krankenhäuser anfahren, bevor man sie aufnahm. Im ersten verweigerte man dies, weil es sich um einen Ausländer handelte, beim dritten hielt man es nicht für einen Notfall - sie sah aus wie ein Beatnik, war wohl nur zu lange in der Sonne gelegen. Sie war bei Bewußtsein, konnte aber nicht sprechen. Man bettete sie auf eine Trage, und eine Kran­kenschwester diagnostizierte: Sonnenstich. Am nächsten Tag untersuchte sie ein Arzt. Sie hatte ein Blutgerinnsel im Gehirn, was durch Injektionen behandelt werden sollte. Doch konnte man keine Vene finden. Sie hatte nicht mehr viele solche Blutleiter zur Verfügung. Es wurde ihr selber immer schwerer, sie zu finden; sie verschwanden unter der Oberfläche der Haut, weshalb sie sich zu­letzt in ihre Hände spritzte - bei einer Junkie-Berühmtheit eine sehr auffällige Sache. Sie mußte ihre Narben mit Stoff-Fetzen bedecken, besonders wenn das Publikum bis vor die Bühne kommen konnte.

Nico starb offiziell am 18. Juli 1988 um 20 Uhr. Der Leichnam wurde schließ­lich zur Einäscherung nach Berlin geflogen.

- Ein nicht ganz unspektakuläres Ende eines spektakulären Lebens.

 

November 1981: Christa Päffgen, früher Fotomodell, Schauspielerin, Sängerin bei Velvet Underground und Muse in Andy Warhols Factory, lebt zurück­gezogen in der grauen englischen Industriemetropole Manchester. Ein Rock-Manager ergreift diese Gelegenheit: Alan Wise, alias Dr. Demetrius. Er heuert Backgroundmusiker an, mietet einen alten Lieferwagen und organisiert für die Sängerin eine Auftrittsfolge durch Italien, die allerdings in einem Desaster endet.

In den folgenden sechs Jahren tourt Nico mit wechselnden Bands durch die Welt - mit mäßigem Erfolg. Oft verschreckt Nico ihr Publikum, doch manchmal, in ihren besten Momenten, verzaubert sie es - vor allem, wenn sie ihre Musiker hinter die Bühne schickt und a capella singt oder sich selbst an ihrem Instrument begleitet. Nie war sie besser, als wenn sie allein an ihrem Harmonium saß und eins ihrer beunruhigenden Lieder sang, mit Anklängen an Volksweisen, Ländler oder Bach-Choräle - mit einer Stimme, die so unvorstellbar tief war, daß es an eine Wagner-Parodie grenzte. Es gab Momente, da wurde selbst die blasierteste Zuhörerschaft, mit den Verrücktheiten der modernen Pop-Ereignisse überfüttert, in dieser finsteren Umarmung festgehalten. Ihre Stimme schien schwer zu tragen, jedes Wort in die Länge gezogen, jede Silbe wog bedeutend und zählte. Ein Kritiker empfand, "daß sie die Zuhörer mit ihrem göttlich sinnlichen, aber sexlosen Aussehen hypnotisierte." Ein anderer schrieb, daß sie "wie ein fremdes Wesen aussah und sich auch so anhörte".

Eine Notiz, Nicos sexuelle Ausstrahlung betreffend und ihre Stimme, die so schwer zu tragen schien, steuerte Ultra Violet (ebenfalls aus dem Warhol-Clan) bei: "Nico hat eine unisexuelle, atonale Stimme. Sie sieht wie ein Mädchen aus, mit langem blondem Haar, einem wohlgeschwungenen Mund, hohen Wangen­knochen, langen Wimpern und blassem, leuchtenden Make-up. Aber wenn sie singt, ist es schwer, diese Stimme näher einzuordnen. Man ist sich nicht sicher, ob sie singt, so wenig Leben entströmt ihrem Mund. Unbeweglich wie eine Statue wiederholt sie in einem relativ tiefen Timbre mit starkem Deutsch-Akzent Worte, die man wegen der Lautstärke der Band nicht verstehen kann."

Als Sängerin verdiente Nico nie viel Geld, und das wenige gab sie sofort aus. Sie besaß kein Haus, kein Auto, keinen Fernseher, nicht einmal Exemplare ihrer eigenen Schallplatten. So hatte sie gelebt, seit sie ein Teenager war; ein Leben, das auf die üblichen vertrauten Erleichterungen verzichtete. Die in ihren Tagen als Vogue-Modell zu tragenden Chanel-Kleider hatten schon lange geschlechts­neutralen schwarzen Hosen und Jacken Platz gemacht. Ihre Folgejahre wurden bestimmt wie von der hektischen Sorge des Fixers um Nachschub, der unerbitt­lichen Suche nach einer guten Connection.

Im Winter 1987 war Nico neuerlich unterwegs. Sie versuchte in dieser Zeit vom Heroin, der Modedroge, loszukommen, schien wieder auf dem Weg nach oben zu sein. Dann aber, im Juli 1988, war alles vorbei.

 

Ihre hoch oben über Prestwich gelegene Dachgeschoßwohnung war tadellos sauber. Nico saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Bett, die Schreibmaschine auf ihren Knien, und arbeitete an ihrer Autobiographie. Das rücksichtslose Verlangen nach Selbstzerstörung hatte nachgelassen, und der alles umhüllende Deckmantel ihrer Abhängigkeit hatte sich gehoben. Sie war jetzt die unverheiratete Dame mittleren Alters von nebenan - die mit der interessanten Vergangenheit. Einmal in der Woche schaute sie beim Apotheker in der Nachbarschaft rein, wo sie ihr Methadonrezept einlöste; das legte sie dann wie eine Hausfrau mit anderen Einkäufen in ihren Fahrradkorb.

Aber immer noch beunruhigte sie die Nachbarn. Obwohl sie jetzt lächelte, wenn sie über das Vergnügen am Fahrradfahren und die Vorzüge einer gesun­den, praktischen Ernährung plauderte, verwiesen die silbernen Schädel auf ihrem schwarzen Lederarmband, der kleine Totenkopf aus Elfenbein an ihrem Hals und die nicht zu verbergenden Einstichnarben überall an ihren Händen und Armen auf ein von solcherlei mit Beschlag belegtes Leben.

 

Lutz Ulbrich, ein bemerkenswert attraktiver, blonder Gitarrist, der über­wiegend in Berlin gelebt hat und mit der angesehenen Gruppe „Ashra“ Musik gemacht hat: „Ich habe seit dem Alter von zwölf Jahren Gitarre in einer Band gespielt. In den frühen Siebzigern spielte ich in einer Gruppe namens „Agitation Free“, einer deutschen Avantgarde-Band, die in Freestyle "under­ground"-Musik machte, ein bißchen wie Pink Floyd. Wir spielten 1972 im Nahen Osten und trafen Hassad Debs, der Ferien machte. Er fand solchen Gefallen an uns, daß er versprach, für uns eine Tournee zu arrangieren, sobald er nach Paris zurückgekehrt war. 1973 erhielten wir eine Einladung zu einer kleinen Club-Tour in Frankreich. Es war ein Erfolg, so daß er uns bat, an einem Spezialkonzert in der Opéra Comique teilzunehmen, was wirklich ein schönes, altes Opernhaus im Zentrum von Paris ist. Es war ein Festival verschiedener Bands, so auch einer damals populären französischen namens „Crium Dele­rium“. Nico war der Hauptdarsteller. Es gab dann eine Party bei Hassad Debs. Nico war da, völlig magnetisch und ziemlich beeindruckend – eine bekannte Anwesende.

Wir wurden ihr vorgestellt, weil wir deutsch sprachen, was für sie irgendwie ungewöhnlich war. Ich saß mit den Jungens herum, als sie mich plötzlich an­starrte, herüberstolzierte und sagte: 'Komm mit mir, laß uns rausgehen und uns unterhalten.' Ich dachte, warum ich? Sie war dieser Star, und ich war, nun ... ein Gitarrist. Wir gelangten nach draußen, und sie meinte dramatisch: 'Ich fühle mich wie ein Roboter. Es sind da so viele Gedanken in meinem Kopf.' Das hat mich völlig überwältigt. Wie sollte ich darauf reagieren? Ich war 22 und sie 34. Es war bestimmt eine Art Verführung, wenigstens im Ansatz. Mir wurde das Gefühl vermittelt, daß sie gedankenverloren, aber nicht uninteressiert war. Ich fuhr mit der Gruppe nach Berlin zurück.

Einige Zeit später wurden „Agitation Free“ dann eingeladen, in Clermont Ferrand neben Nico und Kevin Cyone zu spielen. Ich wartete im Erste Hilfe-Zelt und einer aus diesen Hippie-Gruppen, die damals immer dabei waren, bot mir etwas Tee an. Sie hatten mir nicht gesagt, daß er mit LSD versetzt war. Ich wurde total high mit einer Tasse Tee. Ich versuchte, mich zu konzentrieren und klammerte mich verzweifelt an die Realität unseres Auftritts. Ich spielte meine Gitarre mit geschlossenen Augen. Als ich sie öffnete, saß Nico neben mir, als wäre sie immer schon da gewesen. Wir flirteten.

Sie lebte zu dieser Zeit mit Philippe Garrel. Ich hielt ihn für einen außer­gewöhnlichen Menschen. Er hätte ein Vermögen machen können, wenn er fürs Fernsehen gefilmt hätte, aber er war völlig losgelöst und bewußt einzigartig und machte kuriose Filme für die große Leinwand. Sie lebten in einer ... ich kann es nur als Dachkammer beschreiben. Es war verkommen. Es gab keine Heizung, die Fenster waren zerbrochen - sie schienen schrecklich arm zu sein. Sie lud mich dorthin ein. Es war erbärmlich. Philippe lag im Bett, das aus seinem Mantel und einer Decke bestand. Der Geruch einer abgebrannten Kerze und der Gestank von Menthol-Zigaretten, die er dauernd rauchte, hing im Raum. Es gab Spuren von Heroin. Ich fühlte mich sehr unwohl, weil ich eine Art Gast war, der mit seinem Mädchen flirtete. Aber sie hatte keine richtige Affäre mit ihm. Es war mehr die Affäre von Heroin-Liebhabern - zusammen waren sie in Smack verliebt. Ich blieb nicht da und fuhr nach Berlin zurück."

 

Lutz Ulbrich galt von 1974 bis 1978 als Nicos Lebensgefährte. Sie lebten zusammen im Chelsea Hotel, und er begleitete sie bei ihren Gigs auf der Gitarre. Damals begann Nicos Heroinsucht. Als Lutz mit einer Szene, in der sich alles nur um Drogen dreht, nichts mehr zu tun haben wollte, trennten sie sich. Ulbricht wurde freischaffender Musiker, war mit der Organisation von Konzer­ten in Berlin beschäftigt.

Lutz Ulbrich trat mit ihr von Berlin aus in Kontakt. Der Ashra-Gitarrist hatte im Berliner Planetarium ein Fata Morgana-Festival organisiert und übertrug Nico die Komposition einiger Songs, die sie dort vortragen sollte. Anstatt dies über ihren Manager zu tun, buchte Nico ihre Musiker, Henry Laycock, James Young, Graham Dids, ohne Vermittlung.

Als es im Juni 1988 zu diesem Ereignis kam, hatte sie so gut wie nichts ge­schrieben. Ein Lied enthielt zwei Zeilen:

I, I will be seven

When we meet in heaven.

Die Musiker stöpselten, so gut es möglich war, zusammen und schufen etwas für die Gelegenheit Passendes. Ein Band des Konzerts wurde mit frühen 1980er-Sessions gemischt und im Jahre 1990 von einer holländischen Gesellschaft als Hanging Gardens vertrieben. Enthalten ist der letzte Song, You Forget To Answer, den Nico auf einer Bühne sang:

When I remember what to say

You will know me again

You do not seem to be listening

You do not seem to be listening

The high tide is taking everything

And you forget to answer.

 

„Ich ging in das Konzert und traf Christa in der Pause hinter der Bühne", berichtete Nicos Tante Helma. „Sie drehte sich eine Zigarette und sagte: 'Ich brauche das für die zweite Hälfte.' Ich fragte sie, was in der Zigarette war. 'Oh, Tante Helma, sei nicht so naiv.' Ich schluchzte, sie konnte meine Tränen sehen. Dann gab sie mir einen wunderschönen Ring mit einem surrealistischen Schmetterlings-Design, den sie einst in Spanien für ihre Mutter gekauft hatte, steckte ihn an meine Hand und sagte: 'Von nun an ist es deiner.' Ich trage ihn bis zum heutigen Tag. Rückblickend kann ich sagen, daß es wie ein Abschieds­geschenk war. Es war, als hätte das Schicksal mir erlaubt, sie ein letztes Mal zu sehen."

 

Die Beerdigung Christa Päffgens sollte in Berlin stattfinden. Lutz Ulbrich sollte sich darum kümmern, daß Nicos Leichnam von Ibiza nach Berlin geflo­gen wurde, wo man sie einäschern wollte. Er hatte einen Eintrag in ihrem Tage­buch gefunden: „Ich will verbrannt werden", daneben William Blakes Gedicht "Tyger, Tyger".

Alan Wise wünschte seine eigene Totenfeier für Nico. Er war ihr Manager, hatte ihre Karriere in den letzten sieben Jahren gesteuert, und jetzt würde er auch ihr Begräbnis ausrichten. Er informierte den ‚Melody Maker‘, daß am 6. August in der protestantischen Kirche in Holmfirth, Yorkshire, ein Gedenk­gottesdienst abgehalten werde. Dort las Alan Wise dann - vor einer berückten Gemeinde aus den Bandmitgliedern, ein paar Vandalen und einem Landstreicher in Anorak und Wollmütze - Lyrik.

 

„Sie hatte nicht an ihren Tod gedacht. Nico hatte viel, wofür sie leben konnte - sie hatte eine lebende Hölle überlebt, sie begann damit, ihr Methadon ab­zusetzen, und sie hätte es wohl in fünf Jahren schaffen können. Sie hatte Lieder, die sie komponieren wollte und Ari, für den sie sorgte. Ihre Songs der letzten zwanzig Jahre, insgesamt 38, beschäftigen sich zwar auch mit dem Tod, doch war ihr Sterben ein tragisches Ungeschick ... Sie lebte das Leben eines Bohé­mien und starb entsprechend. ... Die einzige Moral, die sich daraus ziehen läßt, ist: Werde nie in Spanien krank."

„Diese schrecklichen Klamotten haben sie umgebracht", überlegte Paul Morrissey. „Die schönste Frau der Welt wollte häßlich aussehen und trug diese miesen schwarzen Kleider, um sich zu verhüllen. Und das in dieser Backofen­hitze, radfahrend in dieser schweren schwarzen Kleidung, mit einem schwarzen Kopfschal - ich würde sagen, sie hat das Schicksal versucht, wüßte ich es nicht besser." Viva fügte hinzu: „Diese ganzen Jahre zu überleben und dann vom Fahrrad in den Tod zu fallen, klingt schon ein bißchen eigenartig. Als ich die Geschichte hörte, sagte ich: 'Ich wette, sie war einfach stoned.' Sie überlebte die meisten der anderen - Edie, Jim Morrison, Tim Hardin, viele der Factory-Leute, selbst Andy. Für die Drogen-Abuser ist sie eine Art hoffnungsvolle Botschaft. Sie ist jetzt ihre Heilige Nico."

 

Die Bestattungs-Feierlichkeiten fanden erst am 16. August in Berlin statt, wohin sich die Mitglieder ihrer letzten Gruppe und der Bluessänger Victor Brox, der Nico auf Ibiza als erster zum Singen ermutigt hatte, in einem Mercedes-Tourbus mit Video und Liegesitzen aufmachten, die Taschen voller 5-Pence-Stücke für die deutschen Zigarettenautomaten. Wie oft waren sie nicht an eben diesen Wachposten vorbeigefahren, an derselben schmuddeligen Cafeteria, in der es dasselbe schmuddelige Essen gab, an demselben russischen Panzer oben auf seiner Gedenksäule. Er schien die Stadt davor zu bewahren, wie irgendeine andere Eurometropole für stahlharte Technik-Teutonen zu werden. All die Typen, die sich dem Militärdienst entzogen, fanden in Kreuzberg Zuflucht und gehörten zu Nicos Publikum.

 

Es war ein prächtiger Tag für eine Beerdigung, strahlend blauer Himmel, ungefähr 25 Grad. Der Friedhof Grunewald-Forst lag am Waldrand, draußen beim Wannsee. Ein beschaulicher Ort, der Geruch von Efeu und duftenden Sträuchern hing in der stillen Morgenluft. Der Gedenkstein, den Demetrius bestellt hatte, war nicht fertig geworden, es gab nur ein kleines Schild: "Päffgen 16.10.38 - 18.7.88." Die Urne wurde versenkt, ein paar Worte des altindischen Epos "Bhagawadgita" wurden gesprochen, aus einem Kassettenrecorder erklang Nicos Song

Mütterlein:

Liebes kleines Mütterlein

Nun darf ich endlich bei dir sein

Die Sehnsucht und die Einsamkeit

Erlösen sich in Seligkeit.

 

Nur wenige, die Nico früher gekannt hatten, standen an dem einen halben Quadratmeter großen und einen Meter tiefen Grab. Philippe Garrel, der Film­regisseur, ein schüchterner, zerknitterter kleiner Mann, war in geliehenem An­zug und Krawatte von Paris angereist. Doch aus Amerika, New York hatte keiner kommen können, nicht mal ein Blumenstrauß oder eine Nachricht. Nach der Zeremonie blieb man noch etwas im Café am Seeufer zusammen. Nicos Tante Helma bezahlte die Getränke und erzählte, wie hübsch "die kleine Christa" als Kind gewesen sei, wie sie immer bei ihrer Mutter war und wie gut es sei, daß sie an ihrer Seite begraben war.

Noch am Abend dieses Tages fand das Gedenkkonzert im Planetarium statt. Lutz hatte es organisiert, um die Friedhofs-Kosten bezahlen zu können. Jeder absolvierte einen kurzen Auftritt, Victor Brox stimmte mit einem Todes-Boogie ein. Dann wurde eine Aufnahme von Nicos letztem Konzert gespielt, das in demselben Gebäude stattgefunden hatte, wozu Lutz Sterne und kreisende Plane­ten schaltete.

„Größten Gewinn könnte ein Kerzengeschäft in der Nähe Nicos machen", meinte Andy Warhol. John Cale stimmte zu: „Kerzen, ja Kerzen. Überall Kerzen. Ich verstehe die Faszination nicht, aber daß es praktisch ist. Wo Nico auch wohnte, bei anderen Leuten - elektrisches Licht war vorhanden, aber Nico bestand darauf, stapelweise Kerzen zu kaufen, die sie in den Räumen verteilte und entzündete. „Es spart Geld“, erklärte sie. „Ich kaufte Kerzen, weil sie Sterne sind und ich bin ein Superstern. Kerzen machen Lichtsterne. Ein Raum ist ein Universum. Ich kann die Welt mikroskopisch aus der Distanz sehen. Die Kerzen sind meine Sterne. Waren Sie schon mal im Innern einer Kapelle? Notre Dame in Paris? Da sind tausende Kerzenlichter, Sterne im Universum der Kathedrale. Es ist so, daß wir das heilige Gefühl der Heiligen Mutter, Notre Dame, begreifen können.“

 

Nach jenem Planetarium-Konzert war Nico auf die Insel Ibiza geflogen. Wie viele ihrer Generation, die in den Kriegsjahren geboren wurden, empfand sie höchstens Unbehagen gegenüber ihrem Land und seiner schuldbeladenen Ver­gangenheit und blieb nie gerne lange dort. Sie sah sich selbst tatsächlich nicht mehr als Deutsche. Sie sprach Englisch, sie träumte Englisch, sie sang – meis­tens - Englisch.

 

„Ich möchte mit den Deutschen nicht in einen Topf geworfen werden. Ich habe mit ihnen in keinerlei Weise zu tun." Nico schämte sich ihrer Herkunft aus Nazi-Deutschland, weshalb sie diese zeitlebens verschleierte wie auch den Um­stand ihrer unehelichen Geburt.

Oft kam Nico auf den Tod ihres Vaters im Konzentrationslager Belsen zu sprechen, was einen deutschen Journalisten zur Frage veranlaßte, ob ihre Familie jüdisch wäre: „Nein, aber ich identifiziere mich mit dem jüdischen Volk. Es muß da einen jüdischen Familienzweig gegeben haben. Und die ersten Menschen waren Juden, nicht wahr?"

Nico selber gab vor, daß Bier in ihrem Blut lag. Einen verdutzten Fan ließ sie wissen: „Ich trinke gerne Bier, weil es mir meine Herkunft zurückbringt."

Und doch rührte sie eine bestimmte Biermarke nicht an, das "Kölsch", weil es aus ihrer Geburtsstadt Köln am Rhein kam. Schon der bloße Anblick von Kölschgläsern flößte ihr Entsetzen ein, die Gläser mit der eingebrannten Erken­nungsmarke der Familienbrauerei Päffgen aus der dortigen Friesenstraße brach­ten sie völlig aus der Fassung.

Nicos Ausweis-Name lautete Christa Päffgen, und diese Obergärige Haus­brauerei "Päffgen" blieb für immer mit ihrem Vater verbunden, der sie schmählich im Stich gelassen hatte. Tat sie Kölsch noch als "eau de Cologne" ab, so konnte sie sich indes nicht überwinden, den Namen "Päffgen" über die Lippen zu bringen.

Zwanzig Päffgens standen zurzeit von Christas (Nicos) Geburt im Kölner Telefonbuch. Einige davon Tanten und Onkel dieses verzweigten katholischen Familien-Gefüges; der Nachname "Päffgen" stammt ab von "Pfaffe". Einer der Vettern, den Christa erst spät in ihrem Leben traf, war der modernistische Maler C.O. Päffgen, ein anderer war Architekt. Aber Christa wurde unter diesen nicht als eine Päffgen anerkannt, und der Clan hatte so gesehen Recht, da sie ja unter Umgehung der Ehe-Gesetze zur Welt gekommen war.

Nico kannte ihren Vater nicht einmal. Dieser, ein sehr großer und gutaus­sehender Mann mit dem kaiserlichen Vornamen Wilhelm, war als Student auf der Suche nach der Naturseele in ferne Länder gezogen. Von ihm mag Christa ihre stattliche Größe (etwa 1.80 m), ihre weiten grauen Augen, ihr männlich ausgeprägtes Kinn und die Nackenlinie haben. „Er gab mir meine Größe und einen überaktiven Geist", sonst nichts außer Armut."

Der „Träumer“ Wilhelm Päffgen wurde Soldat, traf auf das Mädchen eines anderen Glaubens, ein Kind des Protestantismus, und prompt wurde Christa geboren. Das erste Krächzen der Tochter von Wilhelm und Margarete (Grete) Päffgen erfolgte am 16. Oktober 1938.

 

Der Vater mußte mit der Wehrmacht in den unseligen Krieg, man löste die Ehe, und Nico galt als Bastard. Grete war damals 28 Jahre alt. Modebewußt färbte sie ihr kastanienbraunes Haar blond und trug es mit der dazumal beliebten bogigen Hochfrisur; ein nach dem (von den Weltkriegs-GIs zum beliebtesten Pin-up-Girl gekürten, deren Beine Fox bei Lloyds für 1 Millionen Dollar ver­sicherte) US-Starlet als "Betty Grable" bekannt gewordener Look. Gretes Kenn­zeichen waren des Weiteren die hochgezogenen Wangenknochen mit der regel­mäßigen Struktur und dem ballonförmig feinen Fleisch, was die Familie als "Apfel-Backen" bezeichnete. Um deren Wirkung noch herauszustreichen, schminkte sich Grete ihre vollen Lippen; auch den offenen Ausdruck, ihren "weichen Blick" gab sie an Christa weiter, die damit zum Mannequin etwa wie geboren war.

Drei Wochen nach ihrer Geburt im Krankenhaus wurde das Baby (Nico) als Katholikin getauft, "der heuchlerischen Familienehre wegen". Man nannte das Kind Christa, „die Tochter Christus“. "Ein nettes kleines Nazi-Baby", bezeich­nete sich Nico selber einmal.

Da ihre Mutter Grete Päffgen geschieden wurde, mußte sie die 1.000 Mark-Prämie für das erste Kind zurückzahlen, ungleich den 20.000 anderen Kölner Müttern dieses Vorkriegsjahres.

 

Als der von ihr getrennt lebende Vater des Kindes in den Krieg zog, wurden zudem die Hilfen zum Lebensunterhalt knapper und endeten im Jahre 1942 gänzlich, als es auch noch aus Paris hieß: "Gefallen".

In Wirklichkeit hatte es sich so verhalten, daß Wilhelm Päffgen vom eigenen Kommandeur erschossen worden war. In einen Hinterhalt geraten, hatte ihm ein französischer Heckenschütze eine Kopfverletzung zugefügt. Man brachte den Soldaten Päffgen in ein Militärhospital. Die Kugel war durch die Schläfe ins Gehirn gedrungen, was zwar nicht den Tod zur Folge hatte, aber einen offen­sichtlichen Gehirnschaden. Wilhelm Päffgen hätte sogar operativ gerettet wer­den können, doch wünschten die Deutschen damals nicht die Last solcher Be­hinderter. Hierzu gab es eindeutige Anordnungen, und der diensthabende Offi­zier tat nur seine Pflicht, als er Wilhelm Päffgen erschoß. So stimmte es also in gewisser Weise, wenn Nico vorgab, daß die Nazis ihren Vater umgebracht hät­ten.

 

Nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen hatte sich Nico immer wieder eine Heirat ihrer Eltern vorgestellt. "Sie waren so ineinander ver­liebt. Es war - auch wegen der unterschiedlichen Körpergröße (Mutter 1.60 m) - eine Vater-Tochter-Beziehung." Ihr ganzes Leben suchte sich Nico Phantom-Familien nach dem Muster des gewünschten Elternpaares und nannte etwa Jim Morrison oder Bob Dylan „meine Brüder".

Mit dem Wegfall der Alimente-Zahlungen und dem britischen Bombenhagel auf Köln war Grete, geb. Schulz, gezwungen, bei ihrer Familie Unterschlupf zu suchen. In einem Dorf südöstlich Berlins, nach Polen hin lebten Gretes Mutter und Vater.

 

Bevor sie eine Päffgen geworden war, gehörte die 1910 geborene Grete zur vielköpfigen Familie der Schulz. Neben ihren sorgenden Eltern hatte Grete vier Brüder und drei Schwestern, die mit wechselvoller deutsch-polnischer Ge­schichte ebenfalls in Bromberg aufwuchsen.

Die Schulz-Familie ist bis zu den Szlachta aus dem polnischen Adel zurück­zuverfolgen. Gretes Vater erzählte, daß sein Großvater um 1820 herum seinen Lebensunterhalt als Tanzmeister für junge aristokratische Damen verdient hatte. So schickten die Adligen Pawlowski ihre Tochter zum Meister Schulz, und Lehrer und Schülerin verliebten sich ineinander. Als sie heirateten, wurde die Tochter vom betitelten Vater enterbt, so daß es hieß, daß sie ein mühsames, arbeitsreiches Dasein zu fristen hatten.

Einige von Nicos Melodien, so erzählte sie später einem amerikanischen Fanzine, hörten sich wie die Stücke an, die ihr Großvater spielte, als er den jungen Ladies das Tanzen beibrachte, „bevor sie sich ins Ghetto tanzten".

Die Vereinigte Preußische Kirche hatte Bromberg, einen strebsamen Markt­flecken am Vistula Fluß, der sich bis in die Baltische See ergießt, zu einem Bollwerk des evangelischen Glaubens zum Osten hin gemacht. Auch nachdem sie westwärts gezogen waren, blieben die Schulzes protestantisch; ebenso war Grete als solche geboren worden und Protestantin geblieben.

Ihr Unheil begann, so ihre Familie, mit der Einheirat bei den katholischen Päffgens, die Grete nicht als eine der ihren anerkannten, sie vielmehr für eine schmarotzende Klette hielten, die Grete enterbten und behandelten, wie es schon ihrer Urgroßmutter mit dem Tanzlehrer ergangen war.

In der kopfreichen Schulz Familie, bestehend aus acht Kindern, stellte die Mutter von Nico, Grete, den dritten Abkömmling. Ihre „beste Freundin“ war die Nummer fünf, das um vier Jahre jüngere Mädchen Helma. An diese, erwachsen gewordene, Helma wandte sich Grete zuerst, als sie Köln den Rücken kehrte. Diese war auch verheiratet gewesen und mit einem kleinen Kind und ohne Ehemann zurückgeblieben, wie Millionen von Frauen, die ihre Partner im Kriege verloren hatten.

 

Frau Helma Wolff war damals 28 Jahre alt und verfügte über all die anmu­tigen und ausgeglichenen Züge der Schulzes. Jeden Werktagmorgen verließ Helma ihre "eineinhalb Zimmer" inmitten von Schöneberg, um zu ihrer Arbeit als Sekretärin bei einer militärischen Einrichtung zu fahren. Für ihren Sohn Ulrich (Ulli) hatte sie einen Kindergarten gefunden. Nun wurde ihre Routine durch das plötzliche Erscheinen Gretes - Koffer in der einen Hand, Christa an der anderen - auf der Türschwelle unterbrochen. Ulli war gerade mal sechs Monate älter als seine Kusine, weshalb sie das halbe Zimmer zusammen nahmen. Die Mütter taten es ihnen gleich und teilten sich den verbliebenen Raum. „Nicht gerade Lebensraum", scherzte Helma, doch so hatten sie wenigs­tens vorübergehend etwas Schutz vor der stetig wachsenden Pest des Krieges.

Die Bombardements durch die Alliierten wurden immer heftiger, weshalb der Vater und die Mutter der Schwestern brieflich einen sofortigen Umzug in ihr gefälliges Heim vorgeschlagen hatten. Eine Woche darauf nahmen Christa und ihre Mutter den Dampfzug durch das Havelland südöstlich von Berlin und gelangten so ins etwa 90 Kilometer entfernte Lübbenau.

„Ich liebe die Natur, ich mag Wälder und Hügel und Wüsten und Bomben­krater. Städte sind am schönsten, wenn sie zerstört sind", äußerte Nico im Jahre 1978 einem Journalisten gegenüber. Hügel und weite Flächen sollten in den kommenden Jahren ihr Leben bestimmen. Vor den Fenstern der nach Lübbenau ratternden Bahn zogen Wälder und nichts als Wälder vorüber, Kiefern, Birken, Fichten. Der Krieg verlor an Gewicht, je länger die Gleise der Spree folgten. „Krieg kommt in die Stadt, nicht aufs Land", meinte sie zu ihrer Mutter.

Hundert Kilometer vor Berlin wurde der Zug vor der Signalbox 'Lbn' von keinem geringerem als Gretes Vater in seiner Eigenschaft als Bahnhofsvorsteher zum Aussteigen angehalten.

Heute geleitete Albert Schulz in seiner schmucken Uniform seine Tochter mit ihrem Kind über die Gleise in die Güterbahnhofstraße Nr. 4, wo sie in einem zweistöckigen Gebäude aus rotem Backstein, das die Reichsbahn nahe dem Frachthof errichtet hatte, bis zum Kriegsende leben sollten. „Es war ein enormes Haus, wenigstens vier Stockwerke mit einem riesigen Hof", wollte Nico noch wissen. „Nun, nicht so ganz, aber als Kind erhöhen sich die Häuser", präzisierte Ulrich, später ein distinguierter Architekt. „Ich kann es genau sagen: Es waren da vier Räume, plus der Nebenräume, ein großer Hof und ein schöner Garten, in dem die Kinder spielen konnten. Zudem war dort wenig Verkehr und Gefahr durch die Züge", beschrieb es Christas Tante Helma.

Christa (Nico) war in der Tat von Zügen angetan, wobei es auch blieb. Wann immer sie einen zu sehen bekam, wies sie etwa ihren Manager darauf hin, der sich dann bemüht zeigte, zum hundertsten Male dem „Oh schau nur, ein Zug! Das erinnert mich an meine Kindheit, weißt du!" interessiert zuzuhören.

Noch mehr Gefallen fand Nico am anderen Ende des Hauses, an einem Ort tausendmal aufregender als alle Züge - dem Friedhof. Das Land hinter dem Haus war mit zwei Kirchen verbunden. Efeubehängte melancholische Engel, Bäume und Sträucher vervollständigten die kirchliche Garten-Symmetrie und boten Vögeln und kleinen Mädchen schattigen Schutz.

Christa war jeden Tag an diesem paradiesischen Ort zu finden.

„Sie verbrachte dort so viel Zeit und ging dabei einfach nur umher", erinnerte sich Ulrich. „Ich weiß gar nicht, was sie daran fand, ich glaube, es war die Ruhe. Auf der anderen Seite des Hauses befand sich diese ganze Maschinerie und die Bewegung, aber hier war alles natürlich, und für Kinder barg das ein gewisses Mysterium."

Dieses Mysterium erfuhr mögliche Belebung durch eine gerade stattfindende Beerdigung, insgesamt von unwiderstehlicher Anziehungskraft.

Lebte man in der Güterbahnhofstraße erst zu viert: - Christa (Nico), Grete und deren Eltern, so stießen, nachdem auch in Berlin das Leben zur Hölle wurde, noch Tante Helma mit ihrem Sohn Ulli dazu.

Die beiden Schulz-Schwestern verbrachten weiterhin die Wochentage mit Arbeit, Helma bei der Militärdienststelle und Grete (Nicos Mutter) fand in einer anbei gelegenen Fabrik für Flugboote eine Beschäftigung.

 

Albert und Bertha Schulz, ein Modell-Ehepaar, waren schon ihren eigenen acht Kindern vorbildliche Eltern gewesen.

Bertha führte jetzt auch für ihre Enkelkinder einen ordentlichen Haushalt und brachte ihrem Ehemann den Hinkelmann mit einer warmen Mahlzeit über die Gleise ins Stellwerkhäuschen. Dieser war für die Kinder nur noch "Opi", nahe beieinander liegende Augen und ein dünner Mund verbargen einen freundlich-heiteren Charakter.

Bis kurz vor dem Ruhestand blieb Albert Schulz geschmeidig und aktiv; er starb im Alter von 93 Jahren in Lübbenau. Vor allem auch war er ein bemer­kenswerter Erzähler, der die Vorstellungskraft der Kinder mit Geschichten aller Art entflammte.

„Er war ganz wundervoll darin und ihm zu lauschen war der unterhaltsamste Teil des Tages", begeisterte sich Ulrich.

Dazu sollte man wissen, daß es damals nur wenige Bücher gab, keine Comics für Kinder, keine Zeitschriften, einen langweiligen Radioservice und natürlich kein Fernsehen. Kino war zwar sehr populär, aber nicht in Lübbenau - darauf mußten wir warten, bis wir zurück in Berlin waren. So war Opi unser Quell der phantastischen Vorstellungen."

Als Nico sich daran machte, Liedtexte zu Gladiatoren, Drachen, Falknern, Jägern und dem Land der Nibelungen aufzusetzen, blieb der Großvater ihr Ausgangspunkt.

 

 

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CHRISTA PÄFFGEN (NICO)



Nico (Christa Päffgen) führte Tagebuch und sprach hier oft davon „von ihrem Leben getrennt" zu sein. „Das war nicht ich, das war ein anderes Mädchen". „Ich habe mich von mir entfernt." „Ich bin ein Kind, das eine Frau spielte." „Ich werde mein Leben "Moving Target" nennen, weil mir mein Leben sich um mich legend nachfolgt."

Im Jahre 1959 hatte Federico Fellini, der italienische Regisseur, Nico nach ihrem Mitwirken in „La dolce vita“ auf eine weitere Filmrolle angesprochen. Sie sollte sich, das Model Nico, mimen. Doch meinte Nico, sie spiele schon diese Rolle Nico. Sie könnte das nicht ein zweites Mal tun "das eine dem anderen aufgesetzt".

Nico sagte einmal, daß sie diese Teilung besonders heftig beim Anhören von ‚Femme Fatale‘ empfand, was noch verstärkt wurde, als sie sich im Film „The Chelsea Girls“ sah, dessen Leitmotiv eine Szene mit einer weinenden, tat­sächlich weinenden, Nico ist. Der Schmerz kommt von innen, die Tränen sind echt.

„Jetzt verstehe ich diesen Unterschied zwischen einer Biographie und einer Autobiographie. Aber ich lese keine Biographien. Sie stecken voller Lügen, weil sie behaupten, das Leben habe einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende. Ich glaube nicht an den Mittelteil. So ein Buch gibt vor, wahr zu sein, aber es ist in Wirklichkeit künstlich. Und das Ende führt zu einem anderen Ende; darum geht es in Jims Lied „The End“.

Ich ziehe Erzählungen vor, weil sie in ihrer Wahrheit mehr Vorstellung bein­halten. Wissen Sie, was Oscar Wilde schrieb? Er schrieb, daß 'in der Roman­literatur die Guten glücklich enden und die Schlechten unglücklich - das bedeutet "Fiktion".'

Man kann nur eine Sache am Ende sagen - Nico hat diese Unwürdigkeiten überlebt. Biographien erzählen dir, daß jemand durchs Leben schreitet. Ich sage, daß mein Leben mir nachschreitet. Können Sie mir folgen?"

Der Gefragte bekannte, daß er nicht wirklich verstünde, einige Sätze machten Sinn, sicherlich. „Nun, ich hätte gerne eine Erzählung über mich, weil es aus meiner Imagination käme und deshalb mein Gemüt erklären würde, nicht mein Leben. Meine Gemütsverfassung und mein Leben sind zwei unterschiedliche Dinge. Mein Gemüt nennt sich Christa. Mein Leben ist Nico. Christa hatte Nico gemacht, und jetzt ist sie von Nico angeödet, weil Nico sich selber über hat. Nico stand ganz oben im Leben und ganz unten. Beide Plätze sind leer. Aber Nico möchte auch nicht in der Mitte stehen, wo die Leute katzbuckeln. Um diese Plätze des Unglücklichseins zu meiden, ist es besser, nirgendwo zu sein und sich treiben zu lassen. Das ist die Schlußfolgerung, zu der ich gekommen bin.“

Der Interviewer fragte, ob sie meinte, daß Nico oder Christa zu dieser Kon­klusion gekommen wären. „Oh, machen Sie sich jetzt über mich lustig?“ „Wollte Christa eine Frau sein?“ „Nun, sie wollte eine Nico sein.“ „Nico hatte Liebhaber.“ „Nein! Nico wollte keine Liebhaber, sie wollte Freunde! Ho, ho, ho…“ „Will Christa eine femme fatale sein wie Nico?“

„Das Spielchen wird mir zu ernst. Haben Sie vielleicht zufällig etwas Ha­schisch?“


„Was mir am meisten Angst macht! In der Hölle zu sein. Ich bin sehr abergläubisch. Ich glaube wirklich an Himmel und Hölle", erzählte Nico 1969 dem ‚Twen-Journal‘. „Ja, ich erinnere mich noch sehr gut an die Kriegsjahre. Aber das war nicht ich, das war ein anderes Mädchen. Ich komme mir selber vor wie eine Kriminelle, die ihr gesamtes Leben mit gefälschten Papieren verbringt. Ich kann mich mit der Vergangenheit nicht identifizieren. Das Leben besteht aus Erfahrungen, die man akzeptiert oder zurückweist. Meine Erinnerung sind bloße Fetzen und Blitze, nie das ganze Bild ...“

In Nicos (Christa Päffgens) Gedächtnis blieben die Züge, in welchen die Juden nach Auschwitz transportiert wurden. „Unsere Nachbarn warteten an den Gleiszäunen, um ihnen zu essen und trinken zu geben, doch peitschten die Wachen sie außer Reichweite. Ich weiß noch, wie viele hungrige Menschen ich sah, als die Züge anhielten, Güterzüge mit vergitterten Fenstern... Ich schluchzte zu Ulli, daß ich mich weigern würde, meine Hände mit Seife aus Menschen­knochen zu waschen; das Kleidungsmaterial war aus menschlichem Haar gemacht, Lampenschirme aus menschlicher Haut." In ihren eigenen Aufzeich­nungen schrieb Nico von auf den Pflastern in Berlin und Lübbenau gereihten toten Körpern. „Ja, so mußte es wohl sein, gewesen sein ... Man analysierte die Fragen und Antworten nicht."


Mit ihrem fünften Geburtstag, am 16. Oktober 1943, gedieh Christa zum arischen Traum - mit blaugrünen Augen und blond wie ein Bilderbuch-Engel. Neben der Tochter des Totengräbers blieb Ulli ihr einziger Freund und Spiel­kamerad. Wie Christa rein äußerlich das perfekte Nazimädchen darstellte, war ihr Vetter der vollkommene Blondschopf. „Als wir spielten, war sie vergnügt, dümmlich und töricht. Sie hatte es gerne, wenn man sie unterhielt. Opi stülpte mir schon mal zum Haareschneiden eine Schüssel über. Das machte ihr einen solchen Spaß, daß ich mir extra deshalb die Haare schneiden ließ. Sie war ein recht albernes Mädchen, wollte dann aber auch wieder die Dinge kontrollieren. Sie mußte ihren Willen immer irgendwie durchsetzen, sonst fing sie an zu jammern."


Christa war ja auch erst sechs Jahre alt, und im Herbst 1944 begann für sie und Ulli die Schulzeit. Photos mit der traditionellen Schultüte und den Papier­blumen für den Lehrer entstanden auf dem Schulzschen Hof, der gestrenge Herr Jönte hielt sich in seinem Klassenraum ein Regal voller Rohrstöcke.

Wohl hatte man den Kindern weisgemacht, daß die Kommunisten Kinder zum Frühstück verspeisten, doch enthielt man ihnen vor, daß die Alliierten nach Bel­gien und Frankreich übergesetzt waren; im März standen die Russen vor Lüb­­benau. Auf dem Schulweg begegneten ihnen die verkrüppelten Überreste des Nazistolzes, die 9. Armee und die 4. Panzerdivision, die im Ort und um den Spreewald in Verteidigungsstellung gingen.

Am 23. April ergab sich Lübbenau den Soldaten zweier Sowjetarmee Divi­sionen, einer ukrainischen und einer weißrussischen. „Mein Großvater rettete unsere Stadt. Er konnte Russisch und sich den mongolischen Bauern verständ­lich machen."

Oberst Myzkov und sein Offiziersbursche Vanya wurden im Haus der Güter­bahnhofstraße Nr. 4 einquartiert. Und auch Helma erinnerte sich: „Wir mußten den Offizier in unser Haus aufnehmen. Vanya schlief aus bestimmten Gründen in einer nahen Scheune, Grete und ich hatten das beste Zimmer, und unser Vater tat gut daran, es dem Oberst zu geben, denn er wollte uns auch aus dem Hause haben, um vor Vergewaltigungen sicher zu sein. Allabendlich stahlen wir uns also davon und blieben bei Freunden. Einmal ließ mein Großvater einige Sol­daten wissen: 'Wenn ihr meine Mädchen anfaßt, werde ich euch Schwierigkeiten machen', wozu er ja imstande war, hatte er doch einen Offizier im Hause."

Und Helma fuhr fort: „Eines Abends ereignete sich etwas Ungewöhnliches für Christa. Die beiden Kinder schliefen in einem der oberen Räume, als Christa aufgeschreckt schrie, 'Vanya kommt durchs Fenster! Er hängt im Fenster!' Sie meinte, ihn beim Versuch, es aufzustoßen, vorm Fenster hangeln zu sehen. Herein konnte er jedoch nicht, da das Fenster verriegelt war. Er erschien ihr mit seinem dunklen Gesicht und dem weißen Totenhemd wie ein Geist." Nico berichtete auch von zwei Mongolen im Hause: „Sie schauten mir auf der Toilette zu. Sie sahen mich gerne pinkeln."


Auf einem Waggondach und im Laster gelangte die kleine Schar zurück in die Hauptstadt, was verboten war, denn Grete und Christa waren ja nun nicht länger Bewohner Kölns, sondern Kommunisten, aus der sowjetischen Zone. Um sich mit Helma und Ulrich zu treffen, mußten sie also die Grenzen nicht wie Bürger, sondern gleich Illegalen überqueren.

Seit August 1945 war Berlin durch die amerikanische, britische, französische und sowjetische Zone gevierteilt und blieb dies bis in Nicos Todesjahr (1988).

„Es ist schon eine verrückte Stadt... Sie hätten es leer lassen sollen. Es wäre jetzt ein irres Museum. ‚Das Nationale Museum der Zerstörung.‘ Das wäre doch was, oder?"

Nico nannte die Stadt "eine Wüste aus Schutt" und wurde als gerade mal auf zwei Beinen Stehende noch der Leichen in den Straßenkerben gewahr, als sie sich übers Gestein den Weg ans Ende ihrer Straße suchte. „Dies ist das Bild, wie es in meinen Träumen aufsteigt, etwas das ich in meinen Texten verwende, das sich hinter meiner Lyrik wie eine Szenerie verbirgt." Viele ihrer Lieder handeln von solch beraubten Landschaften, stumpfsinnigen Grenzen und eingefrorenen Kreuzungen:

Friar hermit stumbles over

The cloudy borderline;

Frozen warnings close to mine,

Close to the frozen borderline.

(Frozen Warnings, 1969)


Auch Bob Dylan erzählte von der Kälte, vom Alleinsein auf Land- und City­straßen, begleitet lediglich von einer Gitarre und einem Wäschesack.

Januar 1961, New York Talking Blues: „Trampte fort aus dem wilden Westen, / verließ seine Städte, für mich die besten. / Dachte, mich bringt so leicht nichts down, / aber New York Town hat mich umgehau'n, / Leute, die unter der Erde leben, Häuser, die am Himmel kleben / Winterzeit in New York Town, der Wind bläst Schnee über den Zaun. / Laufe herum, hab' keine Bleibe, / die Kälte kriecht einem in die Beine / Manchmal fror ich bis in die Knochen. / In der Times stand, so kalt war's seit 17 Jahren nicht mehr, / da fror ich auch nicht mehr so sehr."


„Mein bevorzugtes deutsches Wort lautet "Schwarzmarkt", als kleines Mäd­chen dachte ich, daß dies in Berlin ein Platz wäre wie das Opernhaus. Meine Mutter brachte alles zum Schwarzmarkt, doch es ärgerte mich, daß sie mich niemals dorthin mitnahm." Helmas ‚eineinhalb Zimmer‘ in Schöneberg hatten überstanden, zudem mit dem Bonus, daß Schöneberg unter amerika­nischer Verwaltung stand und es den feudalsten Schwarzmarkt der Stadt mit Kaffee, Fruchtsaft und Süßigkeitenriegeln gab. „Das erste amerikanische Wort, das ich lernte, war "Hershey". Später ging ich ja nach New York, und es war doch ziemlich ernüchternd, dort jede Menge Hershey-Riegel gestapelt zu sehen, als wären sie nichts."

Die Rolling Stones waren erst ein oder zwei Tage wieder auf Tournee, als Phil Spector in seinem New Yorker Büro den Telefonhörer abhob und aus einem Hotelzimmer in Hershey, Pennsylvania, Mick Jaggers Stimme hörte. „Alles hier", stöhnte Jagger, „ist so verflucht braun!" An diesem Abend traten die Stones in einer Stadt auf, die zu Ehren ihres bedeutendsten Produkts nach diesem benannt und weitgehend in dessen Farbe gestaltet war, des Hershey-Schokoladenriegels. „Die Telefone sind braun", klagte Jagger, „die Zimmer sind braun, selbst die verdammten Straßen sind braun ..."


Die amerikanischen Soldaten stellten sich als abgefeimte Krämerseelen heraus, die teuer an der Hintertüre verkauften - eine Packung mit zwanzig Zigaretten kam 135 Reichsmark, den Monatslohn eines Arbeiters. Die Berliner nannten die Amis darob "Russen in gebügelten Windeln", auch wurden Vergewaltigungen bekannt.

Im Gegensatz zu ihren Plakaten, auf denen es hieß: „Wir sind Besatzer, aber keine Unterdrücker", hielten viele Soldaten Strafe doch für richtiger als Rehabi­litation. Es brauchte zwei Jahre, um die negative Strategie der "Nichtverbrüde­rung" in eine positivere der "Wiedererziehung" zu kehren.


Christa Päffgen (Nico) vollzog diesen Wechsel mit und tauschte das Nazi-Klassenzimmer, -Lehrer und -Schulbücher mit denen Uncle Sams. Die ersten solchen Grundschulen öffneten ihre Pforten am 1. Oktober 1945. Christa erhielt einen Platz an ihrem neuen Wohnsitz in einer Wilmersdorf-Schöneberg-Schule. Obwohl an Unterkünfte furchtbar schwer zu gelangen war, hatte Grete ein Zimmer in der Nürnbergerstraße bekommen, nicht weit von der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche, deren kriegszerstörter Turm zur oft photographierten Tou­risten-Attraktion wurde. Es war das Südende dieser Straße, das Nico die Vorstel­lung von "Wildheit" vermittelte, wie es in Liedertexten anklingt.

Mutter Grete mußte sich eine neue Arbeit suchen, doch zuvor den "Frage­bogen" der Militärregierung ausfüllen.

Bei diesem Entnazifizierungstest mit 133 Fragen waren Kategorien von 1 bis 5 erstellt, wobei Nummer 1 die Entlastung bedeutete, Ziffer 5 dagegen die Hin­richtung oder "Südamerika", wie die Berliner witzelten. Der Fragebogen wurde auch als "Persilschein" bezeichnet, weil sich die Deutschen hier mit falschen Angaben weißer als weiß zu waschen versuchten.


Grete wurde in die 4. Kategorie eingeordnet, was sie auf Handarbeit redu­zierte und eine Strafe für ihren untertänigen Kriegsdienst darstellen sollte. So war es für Grete Päffgen also nicht gerade leicht, für den Lebensunterhalt zu sorgen, wenn es ihr auch vielleicht leichter als anderen fiel, etwas herzustellen. Grete hatte immer schon ausgeprägte Ambitionen gehabt, sich ihre Kleider, die für Christa und andere aus der Familie, selbst zu nähen. Also beschloß sie, in ihrem Zimmer als Schneiderin tätig zu werden, waren doch die Stahlhelmriemen aus Leder und Seide nahm sich Grete von alten Fallschirmen.

Nachdem sie auf dem Schwarzmarkt eine Nähmaschine aufgestöbert hatte, war Frau Päffgen im Geschäft. Schneiderte sie anfangs für einen Couturier, so wurden bald die Nachbarn hellhörig und brachten zusätzliche Aufträge. Das Vertrauen in die Behendigkeit Gretes wuchs, und schon zählte sie Frau Eber­hard, die Ehefrau des Komponisten von "Aufwiedersehen" zu ihren Kunden und konnte sich auch Extraausgaben wie Oper und Schokolade für Tochter Christa erlauben.


Das Opernhaus unterstand den Sowjets, die dafür Sorge trugen, daß der Eintritt billig blieb, damit auch arme Wesen wie die Päffgens sich im kulturellen Propaganda-Altar kommunistisch unterweisen lassen konnten. „Meine musische Schulung bestand einzig aus der Oper. Das Berliner Opernhaus ‚Unter den Linden‘ war unser wöchentliches Refugium von der Schöneberg-Kammer, die sich immer mehr wie eine Zelle im Konzentrationslager ausnahm."

Christa spielte auch nicht mit Puppen oder Tieren, hatte solche nie besessen, sondern mit den Kleiderresten. Ihre Mutter wurde zunehmend geschickter darin, ihre eigenen modischen Kreationen zu designen, und Christa beobachtete, wie ihre Mutter die Kleiderschwaden vor einem großen Spiegel ausprobierte.

War Christa draußen in den Trümmern eher der Wildfang und Range, so drin­nen eine gepflegte Prinzessin, wie sie sich die Erwachsenen-Kleider um ihre zierliche Taille band und Hüte aufsetzte.

„Viele Kinder waren wie sie", entsann sich Tante Helma, „aber sie hat wohl nicht so rasch Freundschaften geschlossen wie Ulrich, wenn sie auch stets im Mittelpunkt stehen wollte, wer auch immer dabei war. Sie war ihrer Mutter ganz ergeben, es war eine ganz starke Bindung."


Grete schien unverwüstlich und hatte den Blick starr in eine bessere Zukunft gerichtet. In ihrem kargen Zimmer mußte sie lange beim matten Licht einer 15 Wattbirne werkeln, ernährt nur von den kaum über 1.000 Kalorien täglich ent­haltenden Rationen, die über einem Kerosin-Öfchen lauwarm angesetzt wurden.

Christas zehnten Geburtstag überschattete die Berlin-Blockade; ab Sommer 1948 bedeutete dies 10 Monate noch ärgere Not.

„Meinen Sie tatsächlich, daß ich mich daran erinnern kann! Ich war gerade drei Jahre, als dies passierte", bemerkte Nico nicht ganz wahrheitsgemäß einer holländischen Zeitung gegenüber. Sie wußte aber noch von ihrem Untergewicht und dem Dauerhunger. Zu dieser Zeit lernte sie von ihrer Mutter die Zube­reitung einfacher Mahlzeiten, eine Fähigkeit, die sie später noch gebrauchen sollte, wenn sie für schlechtgenährte Rockstars ihrer Phantomfamilie die "Hausfrau" mimte.

RIAS (Radio in the American Sector) blieb Nico ein Begriff und wie sich die Nachbarschaft abends um die aufgehängten Lautsprecher gruppierte, um von der amerikanischen Propagandamusik und den US-Nachrichten auf dem Lau­fenden gehalten zu werden.


Das konstante Rollen und Brummen der an- und abfliegenden Flugzeuge des nahegelegenen Tempelhof-Flugplatzes, die Berliner Luftbrücke, war die Reak­tion auf die Sowjetblockade. Auf dem Höhepunkt im April 1949 landete alle 22 Sekunden eine Maschine, Millionen Tonnen Nahrungsmittel und Waren wurden per Luftweg angeliefert, darunter Gretes Baumwolle. Die Kinder Berlins spielten nicht mit Spielzeugautos, sondern den Flugzeugen.


Eines Tages ergriff auch Nico einen im Gitter hängenden Gummiballon, an dem ein Schildchen befestigt war mit der Aufforderung dieses bei einem bestimmten Büro gegen eine besondere Belohnung abzugeben. Schon schwelgte Christa in einer Glitzerzukunft ohne kalte, dunkle Räume, lauwarmes Essen und ohne Schule. Mit ihrer Mutter erschien Christa bei der angegebenen Adresse, die Amerikaner gratulierten, und der Preis bestand - aus einer Tube Schweine­schmalz.


In den letzten acht Jahren ihres Lebens hatte Nico einen Engländer als Manager, einen Juden. Alan Wise war der Ansicht, daß Nico diese Scherben ihrer Kriegserinnerungen in die Unterhaltung einbrachte, um sowohl Aufmerk­samkeit als auch Sympathie zu erlangen. „Es war auch ihre Art ein Sorry zu sagen oder ihr Verhalten zu entschuldigen. Sie hatte in schrecklichen Zeiten viel mitgemacht... Ihre Stories des Jetzt und der Vergangenheit hatten für sie ein- und denselben Wert. Bald konnte sie nicht mehr zwischen dem, was gerade geschah, was sie künftig befürchtete und dem, was geschehen war, unterscheiden." „Ich hatte eine schlimme Zeit. Ich war ein elendes Mädchen", faßte Nico zusammen. Hatte Christa auch glückliche Momente erlebt, so gestattete Nico diese nicht.


Keiner hat sie deshalb für raffiniert und gewieft gehalten. „Sie war eine intelligente Frau mit einem kindlichen Gemüt", bestätigte der Warhol-Vertraute Paul Morrissey, „und ich bemühe mich darum zu sagen kindlich, nicht kin­disch."

Viele, die sie gut kannten, fühlten, daß sie dieser Zeit im Berlin der Ruinen verwurzelt geblieben war, sich als Vierzigjährige noch als Zehnjährige empfand. „Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft werden unbedeutend, wirft man sie in einem großen Topf zusammen", beschrieb Nico ihre Träume. „Sie beginnen alle in Berlin, wo immer ich auch bin ... eine wüste, steinige Land­schaft."


Als Christa elf wurde, verschwanden die Trümmer aus der Stadt. Am 12. Mai 1949 wurde die Blockade aufgehoben, und die Amerikaner pumpten Geld in ihren Teil der Stadt, die Häuser, die Geschäfte „voller Pelzmäntel und Sport­wagen". Berlin wurde zum "Fenster des Westens", und Berlin erhielt seinen Sonderstatus mit gesondertem Paß, wie ihn auch Nico zeitlebens besaß, was sie ganz gerne hatte, weil es „nicht so richtig deutsch" war.


Für Christa Päffgen mag Berlin nicht ein solches "Symbol der Freiheit" gewe­sen sein, weil sie nun abermals die Schule wechseln mußte, sich aber den Zwän­gen einer normalen deutschen Erziehung nicht fügen konnte. „Ich ging nicht gerne auf die höhere Schule. Sie haben eine grauenhafte Erziehungs­methode, man wird unterdrückt und nivelliert. Du darfst dort nicht wirklich anders sein, obwohl doch einige Kinder ungewöhnlich sind. Ich war ein sehr trauriges Kind - jetzt bin ich glücklicher - aber sie hielten mich für verstockt."


Aus dem tristen Kleinzimmer waren Mutter und Tochter in eine freundliche Zweizimmerwohnung in der Regensburgerstraße Nr. 5 gezogen, Ecke Ansba­cherstraße, bei der Grundschule. Das schmucke sechs Stockwerk-Gebäude mit den zwölf Wohnungen hatte den Krieg beinahe unbeschadet überdauert und stand in einer guten, fast vornehmen Gegend. Doch fühlte sich Christa ziemlich einsam und meinte das Erdenleben von ihrem Turm aus wie durch ein Mikros­kop zu betrachten, so unwesentlich und winzig erschienen ihr die Menschen. „Ich verspürte oft wenig Gemeinsames mit anderen Menschen. Ich war in meiner Jugend viel alleine, so daß sich mit den Jahren eine Art Ungezügeltheit entwickelte."

Die junge Christa war indes nicht gänzlich ambitionslos. Sie wußte um ihr gutes Aussehen und auch, daß solchen Mädchen nur eines zu tun blieb: Das Tanzbein zu schwingen, im Ballett aufzutreten. Das Physische mit dem Ästhetischen zu verbinden, war schon eine außergewöhnliche und nicht gerade häufige Laufbahn für damalige Mädchen und hob über das gewöhnliche Dasein hinaus. Christa bedrängte ihre Mutter, diese widersetzte sich nur anfangs.

Als Berliner Koryphäe auf diesem Gebiet galt Tatjana Gsovsky, früher selber zu den Klängen des jungen Herbert von Karajan Primaballerina an der Berliner Staatsoper. Die nunmehrige Tanzlehrerin inspizierte Christa und teilte der Mut­ter Grete ihr Votum mit: „Nun, ihre Tochter kann nicht mehr die Ballerina werden, die sie zu sein wünscht. Sie ist zu alt für einen Beginn. Mit fünf hätte sie anfangen müssen."

Christa wollte das nicht glauben und bat um Ballettunterricht, um sich dennoch zu beweisen.

Grete mußte sich wegen dieser wöchentlichen Stunden arg einschränken. Bald jedoch bedrückten Christa die disziplinierte Routine, die eintönigen Stangen-Übungen, die festgelegten Positionen. Der Mangel jeden Glanzes lähmte und Christa sah hierin nicht länger ihren Weg nach oben. Dies bemerkte Grete und befragte Madame Gsovsky ganz unvermittelt: „Macht Weitermachen für Christa Sinn?" „Nein", lautete die ebenso direkte Antwort, was das Ende für Christas Tanz-Schulung bedeutete.


Die nun entstandene freie Zeit zwischen der verhaßten Schule und dem nebulösen Vorankommen als nur irgendwie etwas Besonderes verbrachte Christa in Schlangen der zur Hauptfreizeitattraktion gewordenen Kinos oder zwischen den Illustrierten-Ständen der neu zugelassenen Verlagshäuser. Tante Helma hielt die damaligen Vorbilder eher für ausländische: Marilyn Monroe und Gina Lollobrigida oder die in Belgien geborene Schauspielerin Audrey Hep­burn.

Auch Andy Warhol entdeckte in jener Zeit die glitzernde Welt der Berühmten, Reichen und Schönen, deren Leben in den alten Filmzeitschriften noch ausführ­licher gebracht wurde als später. "Das Leben von Marlene Dietrich" etwa war eine Cartoon-Serie der Pittsburgher Zeitungen mit täglichen Fortsetzungen. Die späteren Factory-Queens und -Kings um Andy Warhol verehrten Stars, die sie nie zu Gesicht bekamen, perfekte Wesen und Körper, die sie nur aus Filmen oder Zeitschriften kannten.


Mit anderen gediehen Edie Sedgwick und Nico so zu deren leibhaftigen Ab­bildern, die Tag für Tag in der Factory umherschritten und den Männern das Frausein vorführten. In den Augen der Öffentlichkeit wurden sie zu Ikonen wie die Garbo, mehr ein gemeißeltes Abbild bloßer Betrachtung als aus Fleisch und Knochen; innerhalb der Factory waren sie bald kinetische Schaupuppen. „Sie verehrten Nico auch, sie war wie Garbo, sie hatte Anziehungskraft, Klasse, Würde. Sie beantwortete sogar Fragen wie die Garbo, umständlich, aber auf witzige Art", blickte Paul Morrissey zurück.


Mit dreizehn Jahren war Christa Päffgen (Nico) das Opfer einer Vergewal­tigung geworden. Ein schwarzer US-Feldwebel stand eines Abends in einer dunklen und ruhigen Straße in einem Türeingang. Erst rief er Christa nach, dann redete er auf sie ein und versuchte, sie zu berühren und zu küssen. Als Christa Widerstand leistete, stieß sie der Soldat nieder, riß ihr die Kleider vom Leib und mißbrauchte sie, indem er in sie eindrang.

Christa konnte sich kaum in ihr leeres Zuhause schleppen, die Mutter war gerade mal nicht da.


Vergewaltigt aber nicht geschwängert, endete Christas Alptraum damit nicht. Immer wieder hatte sie den Behörden gegenüber Auskunft zu geben, und als der Sergeant schließlich vor ein Militärgericht gestellt wurde, mußte Christa als Zeuge aussagen. Wie auch einige andere Mädchen, an denen sich der Schwarze vergangen hatte.

Der Sergeant soll gehängt worden sein.


So berichtete es Nico jedenfalls im Bekanntenkreis, insbesondere wenn man ihr „Rassismus“ vorwarf. Bei Gelegenheit äußerte sie schon mal: „Neger sind nicht wie wir."

Die ihr vorgeworfene „Engstirnigkeit“ schob Nico dann wieder auf den schlim­men Moment ihrer Jugend. „Ihr würdet mich entschuldigen, wüßtet ihr, was mir geschah."

In den Archiven der United States Army fand sich indes zu diesem Vorfall keine Akte, auch vermeldeten die Berliner Tageszeitungen das - doch 1952 erwäh­nenswerte - Verbrechen nicht. „Wenn die Geschichte stimmt, würde sie eine Menge erklären. Stimmt sie nicht, eine andere Menge", räsonierte die Freundin Viva.

Irgendwie erinnerte dieses Geschehen auch an den Versuch des Mongolen, durch das Fenster in Lübbenau einzudringen, wozu Helma vermerkte: „Ich weiß bis heute nicht, ob sie Vanya im Fenster sah oder in ihren Träumen."


Christa Päffgen hatte sich ihrerseits ganz anders entschieden als die damals nach ihrer beruflichen Zukunft befragten jungen Damen. Hegten diese den Wunsch, Verkäuferin, Schneiderin, Angestellte, Lehrer, Friseuse zu werden, so wollte Christa entdeckt werden. Wozu war ihr gleichgültig, solange sie nur den Kopf aus dem Wasser recken konnte. Um dies zu erreichen, kam ihr jedes Mittel zupaß. So lungerte sie in den Straßen mit den Boutiquen herum, den gemüt­lichen Kaffeehäusern und den schicksten Geschäften.

Christa war fast vierzehn und in einem Alter, da der Büstenhalter schon zu kneifen beginnt. Sie wollte der Schulbank für immer ade sagen, damit sie alle Anstrengungen auf ihre „Fabelkarriere“ richten konnte.

Die Mutter Grete Päffgen zeigte sich von den Plänen ihrer Tochter unbeein­druckt. Sie stellte ihre Tochter Christa vor die Wahl: Entweder machte sie mit der Schule weiter und faßte die Universität ins Auge oder aber sie könnte Ver­kaufsgehilfin, Schneiderin, Büroangestellte oder Straßenbahnerin werden wie die anderen.

Doch fiel es Christa schwer, sich so zu verhalten wie die anderen. Im Sommer des Jahres 1952 beendete sie ihre unselige schulische Laufbahn und begann ihre Karriere damit, daß sie viel zu Hause war. Offenbar war dies momentan dort möglich gewesen.

„So geht es ja nun nicht, etwas muß geschehen", machte sich Mutter Grete Sorgen: „Du mußt mir beim Lebensunterhalt helfen."

Es entstand eine nervöse Pause.

„Ich habe eine Arbeit für dich in Aussicht. Die Sache. Du wirst es gerne tun. Du wirst in einem Geschäft helfen." Wenn Grete mit ihrer Tochter Christa solche unangenehmen Dinge besprach, benutzte sie die Verniedlichung "Töchterchen", worauf Christa mit betontem "Mütterchen" und "Mütterlein" zu antworten pflegte.

„Aber Mütterlein, dazu bin ich zu ungeschickt. Ich kann nicht bedienen."

Doch Grete blieb standhaft: „Du mußt es versuchen. Ich habe dir eine Lehrstelle in einem Bekleidungsgeschäft besorgt." Hieran war sie nur über ihre Verbindungen geraten, denn solche Tätigkeiten waren bei der hohen Nichtbe­schäftigung rar.

Auf diese Weise begann eines Montagmorgens des Jahres 1952 Christas erster und letzter Job als Angestellte.

Die ihr übertragenen Aufgaben waren denkbar einfach und betrafen die him­melhohen Regalreihen, wo in riesigen Schachteln jene Jacke oder diese Bluse in der und der Größe sortiert waren. Ein älterer Verkäufer bat Christa darum, die Leiter zu besteigen, eine solche Schachtel herunterzubringen und sie dann wieder einzuräumen.

Christa kam bis zum Hochklettern der Leiter, denn als sie nach einer Schach­tel griff, geriet sie ins Wanken, der Karton glitt ihr durch die Hände und landete krachend auf dem Fußboden. Das Personal und die Kunden drehten die Köpfe und gafften auf den Haufen verstreuter Ware. Christa griff nach einer zweiten Schachtel - und wieder eben das Mißgeschick. Nach mehreren vergeblichen Versuchen erschien der „Manager“, um sich ein Bild des Unheils zu machen.

Künftig hatte die für einen Acht-Stunden-Tag nicht geschaffene Christa ihren eigenen Willen. Die Mutter konnte ihrem "Töchterchen" keine weitere Lehr­stelle besorgen. Christa war auf sich gestellt und lenkte ihre Schritte heraus aus dem Wohnblock hin zur Hauptstraße und das größte Warenhaus Europas.

Formell das "Kaufhaus des Westens" genannt, war es allgemein als "KaDeWe" bekannt. Täglich schlich sich Christa durch die Eingangstüren und hoffte auf ihren Entdecker; über kurz oder lang mußte man sie doch bemerken. Christa hatte blauäugig angenommen, daß Modedesigner und Photographen sich im KaDeWe ein Stelldichein geben würden, weshalb sie einfach ziellos herum­schlenderte. Von dem jahreszeitlichen Ritus, in welchem die Mode ihren Umsatz macht, konnte sie noch nicht allzu viel ahnen.

Eines Tages klappte es ganz nach Plan.


Der „König der deutschen Mode“ war Oestergaard, auch auf der Modeetage des KaDeWe unterhielt er einen Salon. Hier hörte man schon mal das "Geh doch mal, Liebes" oder "Dreh dich, Spätzchen" und konnte mitbekommen, wie Ka­DeWe-Kreationen an die betuchte Abnehmerin gebracht wurden.

Es war kein Vergnügen, sondern eine Ehre für den Berliner Couturier Oester­gaard zu arbeiten, wurde den Mädchen eingeschärft und nur die Bemühtesten überstanden die tägliche Strapaze, Kleider ansehnlich oder komfortabel zu machen. Daher waren immer wieder Agenten auf der Pirsch nach neuem Laufsteg-Talent. Während der Herbstausstellung des Jahres 1953 sichtete ein solcher Headhunter Christa, die bemerkte, wie sie gemustert wurde, aber so tat, als wüßte sie von nichts.


Als Fünfzehnjährige stand sie nun nicht länger in Kaufhäusern herum, son­dern posierte für einen namhaften Modedesigner. Entdeckt! Entdeckt! Am Ziel ihrer Wünsche. Hinter den Kulissen herrschte bei den Mannequins geschäftiges Treiben, mußte doch probiert werden, das Make-up war erneuerungsbedürftig, Accessoires wurden an- und abgelegt - das Gehabe der Professionellen -, und eine solche wollte Christa nun werden. „Es war wie in einer Alternativ-Schule. Ich sah ein, warum dies und jenes so und so sein mußte, was ich auf der Schule nie verstanden hatte. Ich konnte den Effekt eines Ganges nachvollziehen, einer Drehung, einer Stellung. Und ich stand im Mittelpunkt."


Nahm Christa die Arbeit auch nicht allzu ernst, so doch sich, was genügte, um sie bei der Stange zu halten.

„Das verdiente Geld", sagte sie 1985, „war genug, um meiner Mutter und mir das Leben angenehm zu machen, ohne daß diese schuften mußte. Da sie aber ansonsten nichts anzufangen wußte, machte sie mit ihrer Näherei weiter."


„Als ich jung war in Berlin, hatte ich wenig Interesse an Jungen. Na ja, interessiert war ich schon ein bißchen, aber sonst nichts. Ich war scheu. Ich bin immer schon schüchtern gewesen, was mein Problem war. Manche halten mich für kühl, ich mich eher für scheu. Als ich

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 28.02.2015
ISBN: 978-3-7368-8132-7

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