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Titelei

 

 

 

 

Axel von Cossart

 

 

SINCLAIR LEWIS

 

UND SEINE GESTALTEN

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

IMPRESSUM

 

 

Axel von Cossart

 

Sinclair Lewis

und seine Gestalten

 

 

Axel von Cossart

© 2014

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Wahrheit ist kein bunter Vogel

Den man zwischen Felsen jagt

Und am Schwanz packt,

Sondern eine skeptische Sicht des Lebens.

 

 

Truth is not a colored bird

To be chased among the rocks

And captured by its tail,

But a skeptical attitude toward life.

 

 

“Arrowsmith”

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der „Staubaufwirbler“

 

(Person, Werk und Leben des Literaten)

 

 

Die Selbstfindungsphase der USA traf zeitlich mit dem Übergang zu einer erstrangigen Industriegesellschaft und Weltmacht sowie dem Durchbruch der kulturellen Moderne zusammen. Dadurch entstand - wie auch für andere Länder - eine schwierige Status­passage. Die zwanziger Jahre waren - neben den Sechzigern - eine Dekade, in der Amerika und die Welt am meisten ökono­misch expandierte.

 

Schon nach dem im Lande geführten Bürgerkrieg mußte sich die Nation Amerika darüber im Klaren sein, daß eine Zukunft schwer­lich denkbar war.

Kennzeichen des Amerikanismus waren die vielfach genutzten Chancen, nicht nur die Immigranten, sondern auch vieles andere zu amerikanisieren. Dazu gehörten Räume und Zeiten, Demo­kratie, Moral und Religion, Ästhetik und Charaktere sowie Kunst und Architektur.

 

Der Autor verliert einen Sohn: Leutnant Wells Lewis fiel bei Piedmont Valley einem deutschen Heckenschützen zum Opfer (Frankreich, bei Elsaß-Lothringen). Nach der Vorlage eines ersten Romans hatte dieser an den Kampfhandlungen teilgenommen. Im Stil seines Vaters versuchte er sich an eigenen Novellen.

Mit seinen Werken wurde Sinclair Lewis der getreue Darsteller und Kritiker des amerikanischen Klein- und Großbürgertums, das er hier liebenswürdig humorig dort mit beißender Satire schilderte. Der Gesellschaftskritiker und „harte“ Realist der zwanziger und dreißiger Jahre wurde vor allem mit seinen – gerne als böswillig interpretierten – „Vorführungen“ des Normal- und Schmalspurbür­gertums bekannt.

In einem Selbstporträt gibt Lewis sein aufschlußreiches Glaubens­bekenntnis: "Ob meine Bücher irgendeinen Wert haben oder nicht, weiss ich nicht und bekümmert mich nicht sehr, nachdem ich die etwas erschöpfende Aufregung, sie zu schreiben, gehabt habe. Aber - gut oder nicht - in ihnen ist alles enthalten, was ich dem Leben entnehmen oder was ich zum Leben bringen konnte."

Farm oder Fabrik - sich ändernde Gesellschaftsstrukturen auf­grund neuer Wirklichkeiten brachten teils exzentrische, neuro­tische, ja perverse Menschenbilder hervor.

Und an späterer Stelle schreibt er dann von sich selbst in der dritten Person: Er habe einen wirklichen wilden, fast rücksichts­losen Widerwillen gegen Heuchelei - gegen zum blossen Schein im Selbstinteresse geschwätzte leere Worte ... Ebenso hasst er Politiker, die unter dem Mantel windiger und banaler Rhetorik lü­gen, terrorisieren und stehlen, Doktoren, die unnötiger- aber sehr einträglicherweise ihre Patienten davon überzeugen, dass sie krank sind; Kaufleute, die über ihre Ware falsche Angaben ma­chen, Fabrikanten, die als Philanthropen posieren, während sie ihre Arbeiter schlecht bezahlen, Professoren, die in Kriegszeiten den Beweis zu erbringen versuchen, dass die Feinde alle Teufel sind, und Romanciers, die sich fürchten, das zu sagen, was ihnen als Wahrheit erscheint."

Dieses Selbstporträt akzentuiert Sinclair Lewis als Schrittmacher einer neuen amerikanischen Erzählweise, die sich der nationalen Selbstkritik verschrieben hat, eine Literatur, die sich als zeitlos und zeitbestimmend erweisen sollte.

Sinclair Lewis ist weder Dichter noch Musiker, sondern ein Ro­manschriftsteller, der für den neuen Kontinent eine Tradition die­ser Kunst erfolgreich fortsetzt.

 

„Aber ich habe gelesen; und ich habe etwas entdeckt – Ihnen kommt es vielleicht albern vor, es so zu nennen, aber für mich waren es die größten Entdeckungen meines Lebens: daß die Menschen einfach Menschen sind, alle - daß der kleinste bescheidene Büroangestellte ein Held und der Held ein Niemand sein kann – na und so weiter. Finden Sie das auch?” („Falken­flug“) Es bleibt bei der amerikanischen Zuversicht in die Rolle des Menschen in dieser Welt und in die Machbarkeit aller Dinge.

Sinclair Lewis ist literarisch als bedeutender humanistischer Rea­list, der mit seinen satirischen Charakteristiken aus dem Mittel­westen der USA eine breite Leserschaft fand, einzuordnen.

Zwar benannte der amerikanische Literaturkritiker Henry Hazlitt 1932 in der Zeitschrift ‘The Forum‘ eine Liste mit Namen beein­druckender amerikanischer Romanschriftsteller, aber die Frage, wer in einhundert Jahren noch geschätzt werden wird, beantwor­tete er dann doch mit der Nennung europäischer Schriftsteller, wie Marcel Proust, Thomas Mann und James Joyce. Den größten Anspruch auf lang andauernde Wertschätzung amerikanischer Autoren hätten seiner Meinung nach aber Theodor Dreiser und Sinclair Lewis.

Letzterer hat eine Reihe mittlerweile „klassischer“ Romane hinter­lassen, die vor allem „heiße Eisen“, etwa Moralfragen, anpacken und aus der Entwicklung der modernen Prosaepik nicht wegzu­denken sind.

 

Als erster Amerikaner erhielt Sinclair Lewis 1930 aufgrund "seiner eindringlichen und anschaulichen Darstellungskunst und seiner Fähigkeit, mit Verstand und Humor neue Charaktertypen zu ge­stalten" den Nobelpreis für Literatur.

 

Der Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker Malcolm Cowley, der zeitweise als „expatriate“ in Paris lebte, bezeichnete Lewis‘ Gegenwart sogar als zweite Blütezeit der amerikanischen Litera­tur, die mit dem ersten Hoch der 1840er und 1850er Jahre, also mit Hawthorne, Emerson, Melville und Whitman, verglichen wer­den könne. Zwar gab es auch weiterhin Kritiker der modernen (amerikanischen) Kunst, doch zahlreiche Publizisten, welche die Diskussionen der zwanziger Jahre bestritten hatten, zeigten sich schließlich im Verlauf der dreißiger Jahre gegenüber der (ameri­kanischen) Moderne aufgeschlossen - nicht zuletzt dank des Ein­flusses der europäischen Avantgarde-Künstler und Architekten, die wegen der NS-Herrschaft in die USA emigriert waren.

 

Am liebsten war den Amerikanern indessen nach wie vor eine amerikanisierte Moderne, um sie mit dem Etikett heimischer Kultur versehen zu können.

Auch den Literaturhistorikern sollte es nicht um die Suche nach Meisterwerken gehen, sondern darum, herauszufinden, wer sich in seinem Werk der Entwicklung zur neuen amerikanischen Ge­sellschaft aufrichtig gestellt habe. Sinclair Lewis nimmt mit seiner Art zu schreiben, zu veröffentlichen, zu leben aktiv teil am Reichtum und dem lebenserleichternden Fortschritt. Man denke nur daran, als wie wohltuend für Haut, Haare, das Gesamtemp­finden er den Elektro-Rasierer preist, den etwa Neil Kingsblood sein eigen nennt. Die optimistische Haltung, daß die Gesamt­entwicklung aufwärts strebt und daß jeder Mensch darin seine Chance wahrnehmen kann, bleibt erhalten. Angeprangert werden auch nicht der wissenschaftliche, technische und industrielle Fort­schritt, sondern das damit beobachtbare Verkommen gewisser Grundhaltungen.

 

In seiner Essaysammlung „The Man From Sauk Centre“ klagt es Sinclair Lewis, daß Amerika nie einen bedeutenden Denker und Schreiber sein eigen nennen konnte. Zwar erwähnt er den Cam­bridge-Concord Zirkel, versieht ihn aber nicht mit dem ihm zukom­menden Einfluß. Die Gestalten des vorigen Jahrhunderts schei­nen Lewis Außenseiter, alleinstehende, nicht sonderlich geachtete Wesen. Doch wie bei diesen war nicht England- oder Europa­feindlichkeit das Motiv, vielmehr sollte Europas kulturelle Über­heblichkeit ein Ende finden. In England, dem politischen Mut­terland, vertraten noch immer viele Kunst- und Literaturkenner die Auffassung, in den USA gäbe es keine gute Musik, keine lesbare Literatur und keine überzeugende Kunst.

 

Die Meinungen teilten sich in zwei Denkrichtungen: Die Isolation des Landes und der Schutz vor fremden Einflüssen, das Sich-Öffnen einer - vorwiegend europäisch - gestalteten Richtung.

Seit der Jahrhundertwende begann der Ruf nach kultureller Eigenständigkeit beträchtlich an Boden zu gewinnen. So wurde etwa in Van Wyck Brooks' Büchern „America's Coming-of-Age“ (1915) und „The Pilgrimage of Henry James“ (1925) einer Enteu­ropäisierung der amerikanischen Kunst das Wort geredet. Brooks forderte deshalb auch die amerikanischen Schriftsteller auf, das amerikanische Leben intensiver wahrzunehmen und zu verar­beiten, woraus sich dann eine eigene Literatur entwickeln könne.

 

Mit dem amerikanischen Schriftsteller William Dean Howells setzt Sinclair Lewis seinen eigenen Standard an, wenn ihm dieser Vergleich auch kein allzu zutreffender ist: “Die Sommerfrische frü­herer Zeiten, die sich häufig um ein einziges Hotel gruppierte, hatte sich mit einem gesellschaftlichen Leben begnügt, das, so naiv es auch sein mochte, nach den Begriffen William Dean Ho­wells' und der Goldenen Neunziger Jahre interessant war.

 

Die normale Reise der Familien, die so vergnügt auf zwei Wochen oder einen Monat nach Bar Harbor, Saratoga Springs oder Bret­ton Woods kamen, war eine lange, staubige, ratternde Eisen­bahnfahrt; sie endete so schön angesichts grauer Brecher oder schimmernder Berge und angesichts des wohlbekannten ko­mischen kleinen Bahnhofes, dessen Bedeutung für sie darin be­stand, daß er ihnen sagte, nun liege wieder einmal eine schöne Erholungszeit vor ihnen, und dann komme die traurige Heimkehr nach New York oder Boston. Während des Ferienaufenthaltes kannte man keine anderen Fahrgelegenheiten als Segelboote für Vergnügungsfahrten, Leiterwagen für Ausflüge und elegante, rot geräderte Einspänner für dekorative Zwecke. Das Reisen spielte die geringste Rolle in den Ferien jener Zeiten.

Die Hoteliers mußten keine großen Anstrengungen machen, um ihre Gäste zu amüsieren. Sie bedurften, um blasierte Seelen auf­zurütteln, keiner Tonfilme, keiner Golfplätze und keiner Jazz­banddirigenten, die Jahresgehälter von zwanzigtausend Dollar bezogen. Solange die Gäste einen Croquetplatz hatten, einen großen Saal und ein Klavier zum Tanzen, genug Boote und dazu die Berge und das Meer, die in jenen sorglosen und unwissen­schaftlichen Tagen vom lieben Gott gestellt wurden und nicht von einem Hotelier, waren sie zufrieden ... oder wenigstens der Zufrie­denheit so nahe, wie Gruppen von Menschen jemals irgendwo sein können.

Selbst in den Kreisen der müßigen Reichen, der Elegants der neunziger Jahre, die wirklich in Europa gewesen waren und eine Schwester an den Vetter eines Barons verheiratet hatten, gab es sommerliche Theatervereine, gesellschaftliche Veranstaltungen auf einer Jacht und Männer, die nicht den Lärm eines Außenbord­motors brauchten, um zum… („Work of Art“)

 

In der gesellschaftlichen, ökonomischen und weltpolitischen Um­bruchzeit des frühen 20. Jahrhunderts intensivierte sich in den USA der Wunsch nach allseitiger Anerkennung kultureller Gleich­wertigkeit mit Europa.

Auf einer längeren Zeitachse gesehen musste der kulturelle Natio­nalismus scheitern. Denn erstens war die Vorstellung, es könne eine national reine Kunst und Kultur geben, generell abwegig, schon gar nicht in einer Gesellschaft wie der amerikanischen, in der wegen der diversen Einwanderer-Milieus und der African Americans gar keine genuin nationale Kunstausrichtung möglich war. Zweitens beinhaltete der kulturelle Nationalismus, soweit er sich auf die Moderne bezog, einen zusätzlichen Anachronismus.

 

Denn Sinn und Zweck jeder neuen Kunstrichtung kann ja nur Transnationalität sein, selbst wenn bestimmte nationale Eigen­heiten und nationale Ansprüche und Vereinnahmungen erhalten blieben. Seit dem Zweiten Weltkrieg traten die nationalistischen Bestrebungen in der Kunst tatsächlich in den Vordergrund, aus welchen sich eine Internationalität herausschälen konnte.

„Gewiss, am Anfang stand die amerikanische Revolution mit ihrem Doppelcharakter als Befreiung vom Mutterland Großbri­tannien und als Fundament für eine selbst entworfene Republik. Dieses Großereignis galt seither als sakrosankter Kern und als eine der Kraftquellen für die nationale Identitätsfindung. Doch zeigte nicht zuletzt der Bürgerkrieg die fortbestehende innere Zerklüftung des Landes in höchst blutiger Weise. Das extrem fö­deralistische politische System lief nationalen Vereinheitlichungs­tendenzen ebenfalls zuwider.“ (von Saldern)

 

Irritiert durch den Gegensatz zwischen romantischer Schrift­stellerei und den unübersehbaren Problemen des "realen" Ame­rikas hatte sich William Dean Howells (1837-1920) dem Realis­mus verschrieben. Doch war dies eine – in den Augen Sinclair Lewis‘ – schöngefärbte Wirklichkeit, wo der Farmer nicht im Dreck wühlte, die Seeleute keine schmutzigen Lieder sangen und die Hand des Fabrikarbeiters seinem Arbeitgeber stets zum Dank gereicht wird. Hier sieht Sinclair Lewis Handlungsbedarf, schleift auf seiner Suche nach der Wirklichkeit die Messer nach. Sein Credo sind dokumentarische Wahrhaftigkeit, ein neuer litera­rischer Wirklichkeitssinn, ein photographischer Realismus.

Der US-Romancier stand mit seiner Sicht nicht allein, sondern wirkte in einer Ära literarischer Giganten, die sich nicht nur gegen­seitig lobten, wie der Vorwurf lautete. Mit dem Versuch, die Seele einer Nation zu verallgemeinern, hatte die amerikanische Literatur seit den 20er Jahren eine neue, qualitativ höhere Etappe erklom­men. Die Ausstrahlung und Einflußnahme gedieh international zum gleichwertigen Austausch. Durch seine Abfolge pointierter Erzählkunstwerke konnte aber nur der Nobelpreisträger herausra­genden Erfolg erringen.

 

Sinclair Lewis hofft, daß mit der Entgegennahme des Literatur­preises „diese ganze Lehrzeit mit all ihren Irrtümern so gut wie beendet ist.“ Speed und außergewöhnliche Virtuosität kennzeich­neten das Schaffen dieser multiplen Persönlichkeit, von der es auch hieß, die persönliche Meinung würde so oft geändert, daß man befürchten müsse, es gäbe gar keine. „Nicht wie ein ge­steuertes Auto, sondern wie ein Jet außer Kontrolle.“ (De Kruif)

 

Allmählich stieg die Wertschätzung amerikanischer Kunst und Literatur, zumal einzelne Werke auch vom alten Kontinent anerkannt wurden. Frederick P. Keppel beobachtete 1933, dass Europa tatsächlich immer häufiger einen Blick auf amerikanische Architektur, Musik und Literatur werfe. Dies sei ein Zeichen dafür, dass die „Neukultur“ auf diesen Gebieten bereits jetzt "wichtige originale Arbeit" vorgelegt hätte.

 

Zwar sei die Moderne in Europa entstanden, hieß es nun, aber erst in den USA habe sie richtig aufblühen und gedeihen können. Der Begriff „Moderne“ zeichnet sich dadurch aus, daß man besonders originell, anders als Andere, eigentlich sein möchte. So entstehen mehrere Kunstrichtungen, die sich gegenseitig beein­flussen, ablösen bzw. aufeinander aufbauen.

 

Etwas Jugendliches umgab Sinclair Lewis‘ Person, ein „airy unconcern“, so daß man auch sagte, was Sinclair Lewis als Ergebnis eines reifen Verstandes präsentiere gleiche der zurück­gebliebenen Haltung eines Heranwachsenden. „Es ist etwas per­sönlich Liebenswertes an Sinclair Lewis als Schriftsteller, das eine völlig objektive Bewertung seiner jüngsten Arbeiten behindert – eine Güte und Sanftheit des Temperaments vielleicht, die durch alles hindurch scheint, was er schreibt, oder sein jungenhafter Idealismus, dessen er sich auf so jungenhafte Weise schämt.“ (Diana Trilling, in ‘The Nation‘)

Ein interessantes Leben, das einem Impuls folgt, besteht für Sinclair Lewis im Entledigen standardisierter Lebensmuster; scha­blonenhaftes Tun und Denken lehnt er rundweg ab. So bedeutet ihm auch der Schriftstellerberuf, den er lange mühsam anstrebt, die Flucht vor konventioneller Routine. Einmal bedauert er, daß die Zeit, in der er ein „patenter, aber nutzloser, irregulärer, unab­hängiger junger Mann war, der wanderte und gefeuert wurde, fast nichts verdiente, aber fast alles sah“, so kurz gewesen war. Mit wachsendem Ruhm wäre er sich selber zum Gesetz geworden, gibt seine erste Ehefrau, Grace Hegger, zu bedenken.

 

Seinem Leben und sich möchte Sinclair Lewis romantische Qua­litäten zugeschrieben wissen, einzigartig sein, als wäre er einer der in Indien Abenteuer suchenden Kiplings oder so eine kritische Führerpersönlichkeit wie Bernard Shaw.

Eine mitentscheidende Rolle spielte Shaw in der intellektuell- sozialistischen Gesellschaft der Fabianer, wo er seine politischen Ideen als Vortragsredner verbreiten konnte. Die dortige Shaw- Library erinnert daran, daß Shaw auch als Mitbegründer der „Lon­don School of Economics and Political Science“ gilt.

 

Brigadegeneral John N. Greely, der Lewis aus Yale kannte, traf ihn im Sommer 1920 zufällig auf der Straße: „Ich hatte ihn um seinen literarischen Erfolg beneidet. Er sagte: „Ich bin damit kein reicher Mann geworden, und jetzt kann ich nicht einmal eine Kurz­geschichte verkaufen. Ich bin ganz besessen von einem Roman. Meine Frau und meinen Sohn habe ich aus der Stadt fort­geschickt. Ich mache mir mein Frühstück selber und schließe mich dann in einem stickigen Zimmer im obersten Stock eines Pensionshauses bis neun Uhr abends ein, um das verdammte Ding fertig zu kriegen. Dann werde ich es womöglich nicht einmal loswerden, und wenn doch, bringt es mir wahrscheinlich keinen Cent ein…“

 

Sinclair Lewis wurde Kritiker, aber ein erfolgreicher, der Rekord-Honorare kassierte, höchstes Lob (H. G. Wells: "‚Babbitt‘ ist das, was wir eine ‚Schöpfung‘ nennen") wie ihn auch wütende Schmähbriefe erreichten: „Habe soeben Ihren Elmer Gantry gele­sen, ist ein hundsmiserabler Dreck. Nach meiner Meinung haben Sie noch vor Judd Gray Anspruch auf den elektrischen Stuhl“, versicherte ihm ein Leser, und der Erweckungsprediger Billy Sunday versprach Lewis, den "Kohorten des Satans", wolle er "so schwer verdreschen, daß für den Teufel nichts mehr übrigbleibt".

 

„Sein Häusermakler und Familienspießer Babbitt ist der Prototyp, das Urbild des amerikanischen Durchschnittsbürgers überhaupt.“ (Volksstimme, Saarbrücken)

Mit dem Erfolg schlichen sich mitunter bei Sinclair Lewis die Unsitten seiner Babbitts und Dodsworths ein, etwa wenn er in einem italienischen Lokal mit 1000-Lire-Scheinen um sich warf. Lewis übte sich in der Arroganz des Genies, er erhöhte seinen Alkoholkonsum um ein beträchtliches Maß, rannte den Mädchen nach, brillierte auf Partys als Schnellfeuerredner, verulkte imitie­rend Persönlichkeiten und randalierte zu nächtlicher Stunde in Hotelzimmern.

So hatte er sich einmal mit Harrison Smith zum Mittagessen verabredet, und sie wollten sich am Empfangstisch in der Halle des Great Northern treffen. Lewis kam mit einem Paket und wies den Portier an, es auf sein Zimmer bringen zu lassen. „Wie ist Ihr Name, Sir?“ fragte der Angestellte völlig arglos, woraufhin Sinclair Lewis einen Wutanfall bekam und ihn anherrschte: „Ihnen ist wohl nicht klar, daß Sie mit einem Fünfzigtausend-Dollar-pro-Jahr-Mann reden?“

 

„Mein richtiges Reisen hat darin bestanden, in Pullman-Raucher-Abteilen [diesen längere Eisenbahnwaggons] zu sitzen, in einem Dorf Minnesotas zu verweilen, auf einer Farm Vermonts, in einem Hotel in Kansas City oder Savannah, wobei ich dem normalen Tagesgedröhn lauschte, und zwar der Menschen, die mir die faszinierendsten und exotischsten der Welt sind – die Durch­schnittsbürger der Vereinigten Staaten, mit ihrer Liebenswür­digkeit Fremden gegenüber und ihren harschen Hänseleien, ihrer Leidenschaft für materiellen Fortschritt und ihrem scheuen Idea­lismus, ihrem Interesse an der Welt und ihrem prahlerischen Provinzialismus - diese verwickelten Komplexitäten, die ein ameri­kanischer Erzähler das Privileg hat zu porträtieren.“ (Sinclair Lewis, Nobelpreisrede)

Sinclair Lewis - der Ehemann, der Lebemann, der Schriftsteller - versah eine Funktion, die aus der Belletristik zu verschwinden drohte, was die Literatur dünner und ärmer machte. Neben seiner Duchleuchtung des subjektiven Seins besaß er das Gefühl für die Tragik des menschlichen Erlebens, war fähig, sinnliche Ekstasen oder lyrische Freude zu empfinden und dem erzählerischen Aus­druck zu verleihen.

Auch die Audio-Biographen via Internet gehen davon aus, daß die grundlegenden Züge seiner Kritik optimistisch bleiben. Das Land betrachtete sich als eine Ansammlung freier Individuen, doch war die Bibel das Bankkonto geworden. Neben „Kopfmassagen“ und „Fingernagelvarianten“ etablierten sich, z. B. auf diesem Sektor diverse Neuerscheinungen. So hatte sich schon Daniel Boone im 18. Jahrhundert von den unehrenhaften Siedlereien und Tumulten der Männlichkeit abgewendet.

Allen Lewisschen Romanfiguren - Doktoren, Geschäftsleuten, Fe­ministen, Evangelisten - lassen sich auch allzu menschliche Züge abgewinnen, die irgendwie auch vereinnahmen. Es sind dies die Menschen seiner Zeit, der Zwanziger Jahre, der hohen Zuge­winne, der astronomischen Börsenzahlen, des Kollaps, der Er­nüchterung, des täglichen Lebenskampfes in einer sich allzu rasch ändernden Umwelt.

 

Kein Wunder, dass die durch Modernisierung und Moderne in Be­wegung geratenen Ordnungen zu tiefgreifenden Verunsiche­rungen zahlreicher Gesellschaftsreformer führten und sich frag­ten: Was ist Amerika und was soll aus Amerika werden? Die Enttäuschungen einiger massierten sich zu „Auswanderungen“, „Flucht in den Trübsinn“, „Leben in der Abgeschiedenheit“, „zeit­weiligen Abwesenheiten“ usw.

Hatte das Schlagwort vom „American Dream“ in Gegenwart und Zukunft überhaupt noch einen realen Kern, so überlegten viele Liberale anlässlich des Zwangs zur Neuorientierung nach gewon­nenem I. Weltkrieg.

Und diese Frage stellte sich erneut in voller Schärfe, als 1929/30 die ökonomische Prosperitätsphase zu Ende ging und eine weit­reichende Wirtschaftsdepression einsetzte, die den Kapitalismus in den Abgrund hätte stürzen können. Doch unabhängig von sol­chen Um- und Einbrüchen blieb das Thema Nations- und Men­schenbildung in unterschiedlichen Kontexten stets auf der Agen­da, was ebenso gut in dem einen Wort - Sklaverei - seinen Aus­druck findet; Sklaverei als die Ausbeutung des Unwissenden durch den Gewalttätigen.

Lewis' Beobachtungsgabe, sein Gespür für die Abläufe im Alltag, das gesprochene Wort, die prägnante Zeichnung vieler Neben­figuren machen sein Werk zu Musterfällen einer romanesken Ge­sellschaftskritik.

 

Es entsteht ein - nicht ausschließlich - kritisches Abbild jener stan­dardisierten Bürger, die sich als die eigentlichen Repräsentanten der Nation auszugeben versuchen. Sein ständig wachsendes Werk geriet zur „Comédie Humaine“ italienischer Farbdichte und –brillanz und wurde schließlich von der Welt mit gleichsam reuigem Widerstreben auch als solche anerkannt und wahrgenommen.

Unter die Feder gelangen die intellektuelle und charakterliche Deformierung sowie der Abbau zwischenmenschlicher Bezie­hungen. Kritisiert und thematisiert werden der nicht vom Aus­sterben bedrohte Möchtegern-Kapitalist mit seiner üblen Busi­nessmethodik, der spießige Kleinbürger mit seinen linkischen Ver­haltensweisen, der omnipotente Staat mit seinem menschenver­achtenden Größenwahn…

 

Zu seinem Land, das mit einer aufblühenden Mittelschicht am Beginn eines wirtschaftlichen Emporkommens stand, entwickelte Lewis ein ambivalentes Verhältnis.

In 22 romanesken Schilderungen und einigen Theaterstücken entstehen Szenerien, in denen sich Leser vermissen mögen oder aber in irgendeiner Form finden werden.

In der Folge des I. Weltkrieges, also in den zwanziger und dreis-siger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, bildet sich eine inneramerikanische Opposition gegen die behauptete Banalität der amerikanischen Gesellschaft und der amerikanischen Lite­ratur. Viele Intellektuelle opponierten bis zum freiwilligen Exil gegen eine von falschem Getue getragene US-Gesellschaft, Selbsterfüllung schien in Europa leichter möglich zu sein als in den USA.

Gertrude Stein soll sich in Paris über einen Autoschlosser be­schwert haben, woraufhin dieser über die „expatriates“, die Aus­landsamerikaner meinte: „Ihr seid alle eine génération perdue“. Diese Bezeichnung „Verlorene Generation“ ordneten die Histo­riker William Strauss und Neil Howe zum Sammelbegriff für die 1883-1900 geborenen Amerikaner. Als ‚The Lost Generation' er­scheinen Schriftsteller wie Dos Passos, Wolfe, Hemingway, Fitz­gerald, der schrieb, seine Generation sei herangewachsen, nur um „alle Götter tot, alle Kriege gekämpft, jeden Glauben in die Menschheit zerstört“ vorzufinden.

Mit ihren Berichten aus den Refugien, vor allem Frankreich, wurden sie - insbesondere mit Blick auf die hohe Bedeutung, die dem Geld in den USA zukomme - zu Beispielen einer gelebten Amerikakritik.

 

Auch nach dem II. Weltkrieg gingen bedeutende Schriftsteller auf Distanz zu blauäugiger Oberflächlichkeit und einem übertriebenen amerikanischen Optimismus, z.B. Arthur Miller, Tennessee Wil­liams, Edward Albee, Truman Capote. "Es ist für mich eine Quelle unentwegten Erstaunens, daß die Nation, welche den weltweiten Ruf hat, die am meisten optimistische, die geselligste und die freieste der Erde zu sein - daß diese Nation sich durch die Augen ihrer empfindsamsten Mitglieder als eine Gesellschaft von hilf­losen Opfern, von dunklen Charakteren und von heimatlosen Menschen sieht." (W.H. Auden)

Die 'beatniks' der „Beat Generation“, die 'zornigen jungen Männer' Amerikas stiegen bewußt in die literarischen Fußstapfen der lost generation. Auch die sog. 'hippies', die durch ihre nonkonfor­mistische Lebensweise gegen das Philistertum der Spießer (der sog. 'squares') opponierten, versuchten, sich dem „American Way of Life“ durch einen Rückzug aus der Gesellschaft zu entziehen.

 

Im Spannungsfeld von Flucht und Identitätssuche kehrten diese Exilanten ihrem Mutterland den Rücken, weil sie ein Leben in den USA wegen der angeblichen Bigotterie, der politischen Leere und des kulturellen Banausentums nicht aushielten. Die Sinclair Lewis-Forschung versteht unter dem Begriff „Bigotterie“ „Fröm­melei“; zitiert aus „Der Gottsucher“. Nur in Europa könne man noch leben, meinte Stearns, der deshalb 1921 die USA verließ, Lewisohn folgte 1924.

Sinclair Lewis war trotz seiner häufigen Europareisen und län­geren Wohnsitznahmen dort kein solcher expatriate, sondern sein Anliegen galt - gedrängt zu nationaler Identität in Form einer klar als amerikanisch erkennbaren Literatur - der Verarbeitung der bestehenden Differenzen zwischen den europäischen Gesell­schaften und den amerikanischen Verhältnissen. Der Amerikaner lebt weit über seinen Durst und tobt sich in Europa aus.

 

Auf anderen Gebieten schritt die nationale Integration zügig voran, so daß für diese Zeit von einer „Progressiven Ära“ ge­sprochen wird. Die Neuerungen der Kommunikations- und Ver­kehrstechnologie und die seither weltweit operierenden Medien förderten die Nationalisierung des Marktes. Im „Hotelroman“ „Work of Art“ ist das Privateigentum so gut wie unbekannt, alles gehört zu einer Kette, einem Wirtschaftsgefüge aus Aktienmehr­heiten. Die Zentralisierungstendenzen der wirtschaftlichen und politischen Macht- und Herrschaftsinstitutionen nahmen beträcht­lich zu und erforderten Wachsamkeit durch etwa, bezogen auf die Multi-Konzerne, Anti-Trust-Gesetzgebungen.

 

Die amerikanischen Zeitungen galten allgemein als Ausdruck und Förderung einer konformen Lebens- und Denkweise. Dies wird indes nicht als Negativum interpretiert, sondern dient der Findung eines „spirit of America“, einer gemeinsamen Geisteshaltung sich und der Welt gegenüber.

Infolge des damals neuartigen, recht populären investigativen, auf die Offenlegung sozialer Missstände gerichteten Journalismus, gewannen einige Zeitschriften in der „Progressive Era“ an Ge­wicht. Erwähnt seien etwa auch Glanzhefte wie die auf Aktphoto­graphie spezialisierten „Qualitätsmagazine“.

Geschult an solchem Enthüllungs-Journalismus, setzte Sinclair Lewis die Tradition dieses „muckracking“ fort. Das „Bowiemesser“ wird als langes, amerikanisches Hieb- und Stichgerät verherrlicht. Hierbei hantierte Lewis mit subtileren Mitteln als etwa sein Zeitgenosse und Freund Upton Sinclair und sezierte statt der pro­letarischen die bürgerliche Welt, die zum Aushängeschild des Boom-Markts geronnene Epoche-Figur, mit dem Einkaufs-Para­dies als Junior-Partner.

 

Sinclair Lewis war Schreiben, insbesondere das Verfassen eines Romans, angespannte, intensive und konzentrierte Schwerst­arbeit. Seinen Texten gingen jeweils umfassende Recherchen in dem entsprechenden Umfeld voraus, um dann durch Insider­wissen, wie etwa im Hotelroman „Das Kunstwerk“ zu verblüffen. Lewis tat sich, abgestimmt auf sein schriftstellerisches Vorhaben, jeweils mit Experten zusammen, einem Arzt, einem Gewerk­schafter, einem Rechtsanwalt, unternahm Feldversuche von der Kanzel herab oder er veranstaltete Treffen mit Farbigen aus der Nachbarschaft.

Besonders seine exakte Wiedergabe der typischen Sprache unter Verwendung der fachlichen Begrifflichkeit wurde zum Stilmittel, um verschiedene Schichten und Berufsgruppen zu kennzeichnen.

 

Während einer Vortragsreise nahm der englische Schriftsteller Hugh Walpole den Vorschlag bei der Familie Lewis zu wohnen an. In seinem Notizbuch vermerkte er, Sinclair Lewis sei „ein ty­pischer moderner Amerikaner, häßlich, laut, sich vordrängend, aber gutmütig und voll überströmendem Enthusiasmus.“

Die Charakterbilder seiner unzähligen Figuren mögen auch seiner Sicht auf sein eigenes Selbst entstammen, Mark Schorer zufolge war Sinclair Lewis zugleich "ein Geck und ein Bauerntölpel, ein geistreicher Unterhalter und eine Nervensäge, zu übertriebener Fröhlichkeit ebenso neigend wie zu extremem Trübsinn, gleicher­weise begabt mit einem Talent zu intensiver Konzentration und verrücktester Verzettelung seiner Energien."

Sinclair Lewis macht das, was den guten Journalismus aus­zeichnet: Er beschreibt Lebenswirklichkeiten und enthüllt die Defizite seiner Zeit: Die amerikanische Begeisterung fürs Lyn­chen, die Bestechlichkeit in Wirtschaft und Politik, die Popularität solcher Massen-Verführer wie Billy Sunday und Aimee Semple McPherson, die Verhaftungen von Gewerkschaftlern – da schien es noch ein weiter Weg in die Zivilisation zu sein. Obwohl sich das Land als freies darstellte, schien es eher reif für die Diktatur.

Lewis meint hiermit z. B. auch die „Verfettung“ der Institutionen und Menschenbilder, was sich mitunter auch an seinem eigenen Aussehen und Arbeiten ablesen läßt. Die Kritik schildert ihn als einen Menschen, der in Interessenkonflikt mit seinem Werk lebt.

 

Durch die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts sollte sich der von anderen, so dem scharfsichtigen Redakteur und Herausgeber Henry Louis Mencken, mitgetragene Streit zwischen der amerika­nischen und englischen Romanliteratur hinziehen, und es bleibt das Verdienst Sinclair Lewis‘ am nachdrücklichsten und dauer­haftesten die tatsächliche positive Leistung erbracht zu haben.

 

Noch bevorzugten die New Yorker Verleger aber die englischen Verfasser, als wären sie per se den eindrucksvollsten einhei­mischen Autoren turmhoch überlegen.

Trotz Schriftstellern wie Frank Norris mühte sich der amerika­nische Roman bis zum Ersten Weltkrieg im Schatten Englands um Eigenständigkeit. Zur Vorhut der amerikanischen Amerika­kritiker gehörte H. L. Mencken mit seiner Zeitschrift ‚American Mercury‘.

 

Schon 1914 schrieb H. L. Mencken zusammen mit George Jean Nathan und Willard Huntington und und ein kleines Buch zu den Gegensätzen der europäischen Kulturen und der amerikanischen Kulturlandschaft. Der elitär eingestellte Autodidakt Mencken rich­tete seine Attacken vor allem auf das puritanische Erbe, die De­mokratieentwicklung und den Kolonialismus sowie gegen die akademische Welt. Er führte zudem die Revolte gegen eine allzu vornehme und distinguierte, angelsächsisch gefärbte Masche an, „Genteel-Tradtion“, und kämpfte für kulturelle Unabhängigkeit von Großbritannien, insbesondere im literarischen Bereich.

Der Aufschwung nach dem Bürgerkrieg hatte die uneinge­schränkte Fortschrittsgläubigkeit der Amerikaner gefördert. Des Romanschreibers Sinclair Lewis‘ Beobachtungen stehen in unlös­barem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung.

 

Der amerikanische Literaturhistoriker Marcus Cunliffe schnitt wie auf Sinclair Lewis gemünzt zusammen: „Kein Anti-Amerikanismus ist beredter als der des einheimischen Amerikaners.“ Ein gestie­genes Selbstvertrauen förderte diese positive Kritik und verband sich mit Zukunftsprognosen. Aus dem "negativen Amerikanismus" wurde durch diese Drehung ein positiv gewendeter Nationalismus, der freilich die Abnabelung von Europa mit einschloss. Waldo Frank betrachtete Europa als sterbenden Kontinent, die Zukunft liege allein in den USA: „Wir verfügen jetzt über diese Reife… sind die Herren des Tages…“, und van Wyck Brooks konstatierte das Ende der kulturellen Abhängigkeit von England.

 

Im realistischen Roman waren sich die Hauptpersonen ihrer Ent­scheidungen bewußt. Im Gegensatz hierzu zeigt der Naturalis­mus, wie menschliche Handlungen unausweichlichen Bahnen fol­gen und durch äußere Einflüsse außer Kraft gesetzt werden.

In Frank Norris‘ Romanen im naturalistischen Stil erscheinen die Protagonisten als von eigenen Instinkten getriebene, irrationale Tiere ohne irgendein Bewußtsein. So können wirtschaftliche Um­stände, Alkoholismus, Veranlagung und Zufall einen Mann zwin­gen, zum Mörder zu werden. Mit „Mc Teague“ galt Norris vielen als Autor eines perversen, schmutzigen Buches, so wie sie es zwei Jahrzehnte zuvor mit Emile Zolas Verletzungen der Anglo- Amerikanischen Tabus getan hatten.

Ausdrücke, die bisher ohne Literaturreife waren, z. B . „urinieren“, erscheinen in „Mc Teague“, wo es auch zu nicht gerne gesehenen Geschehnissen kommt: Die Heldin unterliegt einem Brechreiz und übergibt sich. Ihre Geschwister werden vom Vater missbraucht, was Beschreibungen der männlichen und weiblichen sexuellen Erregung beinhaltet. Vor der dritten Auflage 1899 sah sich Norris gezwungen, solche nicht druckreife Szenen umzuschreiben. Der englische Verleger Grant Richards informierte Doubleday & Mc Clure, das Buch nicht vor einer Literaturzensur zu vermarkten. Richards war unerbittlich, und es sollte bis 1941 dauern, dass ein Verleger den Text in der Originalversion von “McTeague“ wieder herstellte.

 

Die modernisierte Wirtschaft, inklusive fordistischer Produktions­methoden auch im Druckgewerbe, wandelte nicht nur die Ar­beitsplatz- und Arbeitsmarktstrukturen, sondern führte auch zu einer Konsum- und Kommerzgesellschaft, die die Lebensweise und das Verhalten der Menschen beträchtlich beeinflußte. Die durch fortschreitende Technisierung herbeigeführte andauernde Beschleunigung wirtschaftlicher Umorientierungsprozesse beein­flußte zunehmend die Mentalität. Getragen von neuen städtischen Mittelschichten entfaltete sich eine urbanisierte Gesellschaft, in der verstärkt andere Freizeit- und Sportmöglichkeiten den Alltag prägten. Tennis und Golf gehören bei Sinclair Lewis zum kulti­vierten Amerikaner wie die Morgenzeitung. Das Studium von Literatur und Philosophie wird zur Selbstverständlichkeit.

 

Das Radio hielt in jeden Haushalt Einzug, das Auto ermöglichte Mobilität ohne den Pferderücken und avancierte zum Symbol der Dekade, ausgeleuchtet wurde die „Maschinenästhetik“. Die zu­nehmende Standardisierung von Waren infolge rationalisierter und mechanisierter Produktionsmethoden gehörten mit zu den Fragen nationaler Eigenart wie auch Demokratie, Religion und Moral, der durch die Welt ballernde Cowboy.

 

Über den grundsätzlichen Erkenntnisstand und gesellschaftlichen Wahrhaftigkeitsgehalt der realistisch-humanistischen Romanpio­niere aus den 20er und 30er Jahren sind nachfolgende Autoren kaum hinausgelangt. Die für psychologische Vertiefung und diffe­renzierte Charakterisierung geschaffenen Muster und Schemen sind seit ihren Ursprüngen unverändert.

Amerika eignet sich in besonderer Weise als ein Beispiel irdischer Daseinsbewältigung, weil hier die Schaffung eines Lebensrau­mes, die Entwicklung einer menschlichen Gemeinschaft, die Begründung einer neuen Identität nacherlebbar und mitvollziehbar vorgestellt werden können. Zurück ans Tageslicht geholt werden auch mythische Figuren, Dichter und Vordenker oder der Trapper und Pionier Daniel Boone.

Hier war 'Der Amerikaner' der neue Mensch, den es zu idealisie­ren galt, zu entdecken.

 

Sinclair Lewis‘ Bücher sind gewollt amerikanisch, eine Eigen­schaft, die zu einer Zeit, da der größte Teil der US-Literatur noch die inzwischen bereits leicht provinziell angehauchte Prosaepik Großbritanniens nachahmte, nicht unwesentlich zu seiner Einzig­artigkeit beitrug. Der Rückruf zu den heroischen Tugenden der Pioniere, um die amerikanischen Errungenschaften vor Dekadenz und Barbarei zu verschonen, blieb nicht ungehört. Viele seiner Leser hatten sich noch nie mit einem Roman auseinandergesetzt, der sowohl in einer Lebensechtheit des einheimischen Schau­platzes wie auch im sprachlichen Ausdruck, der sich diese Schil­derungen bediente, so kompromißlos eigenartig war.

 

„The Frenchman knows who he is. So does the German, the Italian, and the Englishman. The American can never be sure.” (William H. Goetzmann) Durch die Zeiten resultiert eine intensive Suche des Neugründers nach seiner Identität in einem Umfeld voller Auswanderer und Sklaven.

Die vielfältigen Verknüpfungen, die den Romancier Sinclair Lewis, damals wie heute nicht unüblich, an Europa banden, gehen in sein Werk ein, das aber mit seiner ungeschönten Ironie aus­schließlich das heimatliche Kleinbürgertum aufs Korn nimmt.

Die amerikanische Eigenständigkeit der Lewis-Bücher sprach so nicht nur die englischen Schriftsteller stark an – vielleicht auch, weil sie sich von den Konterfeis nicht direkt betroffen fühlten.

 

Sinclair Lewis konnte in den 20er Jahren des vergangenen Jahr­hunderts eine Vorzeige-Karriere als Beispiel geben und leben. Mittelmäßigkeit, Materialismus, Vulgarität, Profitstreben, Korrup­tion und die Heuchelei des bürgerlichen Lebens wurden durch Lewis‘ fünf Hauptwerke - Main Street, Babbitt, Arrowsmith, Elmer Gantry, Dodsworth - zu Bestsellern.

 

Amerikanische Gleichschaltung begnügt sich nicht mit einer äußeren Konformität und Respektierung der geltenden Norm, sondern dringt stärker in die Privatsphäre des Menschen ein und bestimmt auch diese.

Aus „Main Street“ ("Die Hauptstraße"), Lewis‘ erstem überzeu­gendem Erfolg, kriecht die muffige Moral und geistige Verklem­mung der Provinz. Die junge Bibliothekarin Carol Kennicott heiratet ins fiktive Gopher Prairie und versucht vergeblich, Kultur und Modernität in das Kaff, für das Lewis' Geburtsort Abbild war, zu vermitteln.

"Bald schon", weiß Schorer, "erkannten sich Hunderte von Frauen in Carol und Hunderte von kleinen Städten in Gopher Prairie wieder." Mit der Beschreibung seiner resoluten Roman-Heldin Carol Kennicott als "Madame Bovary der Weizenspeicher" war der Vergleich zu den berühmten Romanciers Dickens, Balzac und Flaubert gezogen.

Charles Dickens hatte die erbärmliche Existenz der Menschen im England des 19. Jahrhunderts thematisiert. Beobachtungsgabe, Sozialkritik und psychologisches Feingefühl zeichnen das leben­dige Gesellschaftsgemälde seiner Zeit. Ch. Dickens kritisierte das Gentleman-Ideal der von Geldgier und Moralheuchelei geprägten viktorianischen Gesellschaft. Die außergewöhnlich verdichtete Atmosphäre und geradezu surrealistisch anmutende Erzähltech­nik kündigte eine Hinwendung zur Moderne an.

 

Honoré de Balzacs Erzählweise gilt in der Literaturgeschichte als prototypisch für den traditionellen Roman „à la Balzac“, d. h. einen Realismus mit ungewöhnlichen, nicht eben Durchschnittstypen sowie einer interessanten und in etwa zielstrebigen Handlung.

Gustave Flaubert, Arztsohn wie auch Sinclair Lewis, gilt als einer der besten Stilisten der französischen Erzähl-Literatur. Seine „Madame Bovary“ und die „Éducation“ waren für die Entwicklung des europäischen Romans epochemachend. Dies auch aufgrund seiner Idee, die Darsteller nicht mehr als Ausnahmepersonen zu konzipieren, sondern als gänzlich unheroische Durchschnittscha­raktere.

In Amerika spielte sich Vergleichbares ab, eine ganze Reihe hervorragender Schriftsteller zogen mehr oder weniger an einem Strang. Dreiser und Lewis hatten schon zu Beginn des neuen 20. Jahrhunderts realitätsbezogenes, schriftstellerisches Profil gezeigt und der jeden packenden Krake Engstirnigkeit und Kleingeistigkeit den Spiegel vorgehalten.

Auch Frank Norris hatte geglaubt, dass der Roman einen mora­lischen Zweck erfüllen und die Leser auf die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, Tragödien und Nöte aufmerksam machen solle. Die Sucht nach Werten wie Glaube, Liebe, Hoffnung ver­sandet oft in der Flasche Bourbon, die „ganz zufällig“ aufbewahrt werden konnte …

 

Die amerikanischen Autoren forcierten nun ihre schonungslosen Gesellschaftsanalysen und scheuten sich als „unbestechliche Wahrheitssuchende“ nicht, alle Tabus des amerikanischen "Er­folgstraumes" und des glorifizierten „American way of life“ zu durchbrechen.

An konkreten Einzelerscheinungen wird die moderne Welt charak­teristisch erfaßt, etwa im ‚Little Theater Movement‘ oder der ‚As­sociated Press‘, selbst die „Iunch-box“ der Arbeiter hat typisie­­renden Charakter. Die Verwendung fixer Attribute als Signale für eine bestimmte Welt oder auch bestimmte Redeweisen gerinnen zu Klischees. Es sind bewußt gesetzte Schablonen, die das Uni­forme der kritisierten Schicht bloßstellen, Babbitt wird zum Typus des modernen Massenmenschen, auch als fordistischer Autofah­rer umschreibbar.

 

Als früher Analytiker der amerikanischen Gesellschaft hat der Franzose Alexis de Tocqueville in seinem Bericht 'De la démo­cratie en Amérique' bereits 1835 die Unabhängigkeit der Meinung in Amerika vermißt und die geringe Zahl hervorragender poli­tischer Köpfe dem Despotismus der Mehrheit zugeschrieben. Die Meinungen und Ansichten aller Amerikaner schienen ihm nach einem Einheitsmodell geformt zu sein. Mehr als ein halbes Jahr­hundert später (1888) fand der Engländer James Bryce in seinem klassischen Werk „The American Commonwealth“ bei den Ameri­kanern ein mangelndes Vertrauen in sich selbst, eine Neigung sich ins Glied einzuordnen und Tritt zu fassen, d.h. der vorherr­schenden Meinung beizupflichten und ein extremes Mitläufertum zu pflegen.

 

Mit "Babbittry" reicherte Sinclair Lewis auch den gebräuchlichen Wortschatz an, sein Romantitel stand hinfort als abwertendes Sy­nonym für den Prototyp des gehirnlosen Geschäftsmannes, ange­paßten Spießers, engstirnigen Philisters.

„An der Columbia-Universität scheint jeder das Buch zu lesen, und einer meiner dortigen Kollegen hatte neulich beim Mittag­essen mit einer ganzen Gruppe von Leuten eine Diskussion dar­über, daß Ihr Buch der wahrheitsgetreueste Roman sei, der je geschrieben wurde.“ (Carl Van Doren) Um diese Zeit waren die beiden Männer bereits seit längerem gute Freunde. Van Doren übernahm unter anderem einen Essay Lewis‘ in seinen Überblick „Contemporary American Novelists: 1910-1929“.

Lewis' berühmteste literarische Gestalt, Follansbee George Bab­bitt, ist ein geldraffender Immobilienmakler, scheinheiliger Christ aus der ebenfalls im Mittelwesten angesiedelten imagi­nären Stadt Zenith. "Eine bis ins Kleinste ausgeklügelte Vision einer bis ins kleinste durchstandardisierten Geld-Gesellschaft". (Maxwell Geis­mar) Der angenommene Name Zenith soll herausstreichen, daß sich die Stadt völlig unbegründet als den “Höchststand der Zivi­lisation“ betrachtet. Die auf ihre zivilisatorischen Errungen­schaften so stolze Stadt zeigt sich bemüht, ihre Schandflecke zu verbergen. Der Nebel erbarmt sich der farblosen Bauten, die nicht den Glanz des Fortschrittes widerspiegeln, den die Wolkenkratzer repräsentieren.

Es ist eine besondere Kunst Sinclair Lewis', die für die ame­rikanische Szene kennzeichnenden Merkmale einzufangen. Das als Einzelobjekt hervorgehobene Postamt steht mit den mächtigen Mansardendächern gewissermaßen klischeehaft für die öffentlichen Repräsentativbauten im Viktorianischen Stil. Die Backsteintürmchen repräsentieren den Typus der in Mode kommenden Bauelemente dekorativer Art, die sich orienta­lische Muster zum Vorbild nehmen. Im Kontrast dazu stehen die häßlichen und schmutzigen (Fabrik-)gebäude und moderi­gen Holzhäuser, die in gleicher Weise das Bild amerikanischer Städte charakterisieren.

 

Die rasante technische Entwicklung der Serienproduktion und Massenkommunikation mit ihren Uniformierungstendenzen half, die Isolierung getrennter Gruppen einzureißen und die 'social habits' zu standardisieren. Die Verdoppelung der amerikanischen Bevölkerung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ging einher mit einem unvorhersehbaren Zuwachs auf dem Zeitungsmarkt. Zur Jahrhundertwende gab es sechsmal mehr Zeitungen als 1860, die „weeklys“ verdreifachten sich, was diesen Jahrzehnten auch den Beinamen „Age of The Reporter“ eintrug.

 

Der Einschmelzungsprozeß des Tiegels Amerika war zugleich ein Prozeß der Gleichrichtung und Konformierung. Man hatte sich gewünscht, daß Einwanderer, auch solche aus alten Kulturvölkern ihre meist sehr ausgeprägten rassisch nationalen Vorurteile und damit verbundenen Gewohnheiten aufgeben.

Eine Statistik benennt für das Jahr 1978 kaum mehr als zwei unabhängige Zeitungen für rund 60 USA-Städte. Die eindrucks­vollen Leistungen des Landes und schließlich der Traum von einem mächtigen Amerika taten ein Übriges, den Wunsch zur An­passung, einer Gleichrichtung des Denkens und des Lebensstils im Sinne des 'American Way of Life' zu verstärken. Ein chao­tisches und kopfloses Herumtaktieren dieses ätzenden Gacker­huhnes Europa galt es zu vermeiden.

 

George Babbitt hat ein ihm ergebenes Frauchen, liebe Kinderlein, besitzt das pompöse Haus und das protzige Auto, eine kleine Lüge hier, eine Dosis Anpassung da, Entgleisungen in entschuld­barem Umfang. "Das Buch riecht nach Wahrheit. Es kann nicht nur wahr sein: es muß wahr sein. Es muß deshalb wahr sein, weil wir die Wahrheit kontrollieren können." (Kurt Tucholsky)

Offengelegte Umstände sind niemandem fremd und haben auch nichts Befremdliches. „Ob er nun den mittleren Westen so geschil­dert hat wie er ist, das vermag nur der mittlere Westen zu sagen, doch hat er Tausende auf der ganzen Welt auf seine Existenz aufmerksam und auf Weiteres neugierig gemacht.“ (E.M. Forster)

 

Der Folgeroman „Arrowsmith“ beschreibt das Zerwürfnis eines Arztes, der sich als rarer Idealist schließlich aus den korrum­pierten und profitorientierten medizinischen Anstalten zurückzieht. „Der Verfasser dieses aufsehenerregenden Romans und Nobel­preisträger Sinclair Lewis, einer der bedeutendsten Gesellschafts­kritiker der USA, gestaltet mit dem Lebenslauf eines amerika­nischen Arztes das packende Bild eines Mannes, der Landarzt und dann Bazillenjäger und Seuchenbekämpfer in den Tropen wird. Lewis schuf ein Werk, das zu den Standardbüchern der Weltliteratur gehört und vor geballten Spannungen geradezu birst.“ (Schleswiger Nachrichten)

 

Dieser Kritik am Gesundheitswesen und einer mangelnden ethischen Einstellung der Mediziner folgte die der lauthalsigen Prediger und scheinheiligen Massenseelenrettungen. „Die Leute zuckten und bekamen die heilige Fallsucht, alte Leute sprachen in Pfingsterleuchtung in unbekannten - völlig unbekannten - Zungen, Frauen streckten sich besinnungslos aus, mit heraushängenden Zungen; und einmal ereignete sich, was Ken­ner für das höchste Beispiel religiöser Begeisterung halten. Vier Männer und zwei Frauen krochen auf allen vieren um eine Säule und bellten wie Hunde, sie „bellten den Teufel aus dem Baum heraus“. („Elmer Gantry“)

 

Das die Herstellung, den Transport und Verkauf aller alkoho­lischen Getränke verbietende Prohibitionsgesetz von 1919 wurde zum Punchingball der religiös moralischen Streitereien.

Der Gemeindepfarrer Elmer Gantry kann wohl doch nicht vom Tabak, dem Alkohol und den Weibern lassen und nutzt sein Amt und den Glauben der Menschen ohne jegliches Gewissen zum eigenen Vorteil aus. Die eindeutige Aussage eines Protagonisten, daß kein vernünftiger Mensch an Gott glauben kann, stempelte Lewis zum enfant terrible, dem Lynchmord angedroht wurde. „… und nie kommen sie auf den Gedanken, daß die christliche Reli­gion - oder irgendeine andere Religion, weit entfernt davon, ein Segen für die Menschheit zu sein, eine derartige Verwirrung in allem Denken, derartig antiquierte Betrachtungen der aktuellen Geschehnisse verursacht hat, daß wir jetzt erst anfangen zu fragen, was und warum wir sind und was wir mit dem Leben tun können!“ („Elmer Gantry“) Die „Predigerkarriere“ Elmer Gantry des Jahres 1927 bleibt aktuell, weil nicht nur der amerikanische Evan­gelismus immer wieder Figuren hervorbringt, deren Schein und konkrete Lebensführung auseinanderklaffen.

 

Frank Shallard, der einstige Kommilitone und nachherige Zweifler, der zugibt, daß er bei Begräbnissen lügt, führt heftige Diskus­sionen, mit seiner Frau Bess: Frank möchte eine Kirche, frei von Aberglauben, hilfreich gegen die Bedürftigen, die den Leuten jenes mystische Etwas gäbe, das stärker ist als die Vernunft, jenes Gefühl, in gemeinsamer Verehrung einer unbekannten Macht zum Guten emporgehoben zu werden.

„Ist es nicht ein Spaß, daß ein Geistlicher, von dem man so viel göttliche Autorität erwartet, daß er den Leuten mit der Hölle dro­hen kann, gleichzeitig so ein Laufbursche sein soll, daß man ihn hinauswerfen und auf die Straße setzen kann, wenn er es wagt, an Kapitalisten oder seinen geistlichen Kollegen Kritik zu üben!...“

„Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, daß der Christengott kein ängstlicher und kompromißlerischer Diener der Öffentlichkeit ist sondern der Schöpfer und Fürsprecher der ganzen unbarmher­zigen Wahrheit, und ich glaube, diese Erziehung hat mich verdor­ben - ich hab' meine Lehrer wirklich ernst genommen.“

„Wenn ich sage, daß die meisten von euren religiösen Anschau­ungen leere Phrasen sind, ja, dann will ich sagen, daß ihr leere Phrasen seid. Ich hab' es bis jetzt nie so leidenschaftlich ernst gemeint, daß man mich für die Sache des Herrn, unseres Gottes, geschlagen hätte! ... Noch nicht!“

Frank soll als der Widerpart zum egoistischen „Elmer Gantry“ noch ganz unangenehme Erfahrungen machen, was die körper­liche Gewalt angeht, denn sein Reden wie ein „Dorfatheist“ bringt Raufbolde auf den Plan, die ihn draußen vor der Stadt so richtig aufmischen.

In seinem Hotel fand er einen maschinengetippten anonymen Brief vor: „Wir wollen Sie und Ihren höllischen Atheismus hier nicht haben. Wir können ohne importierte <Liberale> für uns allein denken. Wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist, werden Sie gut daran tun, noch vor Abend diese anständige Christen-Stadt zu verlassen… Ob es Ihnen angenehm sein würde, eine Peitsche in Ihrem verlo­genen Gesicht zu spüren? Das Komitee.“

„Ich lass' mir nicht Angst machen!“

Franks Telephon schrillt, eine Stimme näselt: „Name spielt keine Rolle. Ich möchte Ihnen nur stecken, daß Sie heute Abend besser nicht sprechen. Ein paar von den Jungs sind recht roh.“

… und jetzt sah Frank ein Dutzend handfester junger Leute in den Saal marschieren. Sie standen aktionsbereit da, blickten erwar­tungsvoll…

„Das ist genug!“ schrie jemand im Hintergrund, und die jungen Raufbolde galoppierten durch den Gang auf Frank zu, mit Augen heiß vor Grausamkeit, Zähnen wie Kampfhunde, arbeitenden Händen, er fühlte sie schon in seinem Genick. Die freundlich Ge­sinnten im Vordergrund traten ihnen entgegen und hielten sie einen Augenblick auf. Frank sah, wie ein Mann den verkrüppelten Schneider niederschlug und beim Weiterstürmen auf seinen Kör­per trat.

Mehr in einer absonderlichen Schlaffheit als in Angst seufzte Frank: „Hol's der Geier, ich muß den Kampf aufnehmen und mich umbringen lassen!“ - Er begann von der Tribüne hinunterzu­gehen...

Jemand, der vorgab, ihm helfen zu wollen, reißt Frank an der Schulter und dirigiert ihn zu einer Hintertür. „Frank wurde durch eine Tür in eine halberleuchtete Seitengasse gestoßen. Ein Auto­mobil wartete, daneben zwei Männer, von denen einer rief: „Nur hier herein, Bruder!“

Es war ein großer Sedan; er schien Sicherheit, Leben zu bedeu­ten Als Frank aber hineinsteigen wollte, erblickte er den Mann am Steuerrad, dann sah er sich die anderen näher an. Der Mann am Lenker hatte keine Lippen, sondern nur eine bitter trockene Linie quer durch das Gesicht - der Mund eines Schlächters. Von den anderen beiden sah einer aus wie ein nichtbekehrter Mixer, mit gekräuseltem Schnurrbart und einer Friseurlocke, der andere war hager, hatte wahnsinnige Augen.

„Wer seid ihr denn?“ fragte er.

„Halten Sie Ihre gottverdammte Schnauze und schauen Sie, daß Sie da reinkommen!“ schrie der Mixer und stieß Frank hinten in den Wagen, so daß er mit dem Kopf auf die Kissen fiel. Der Wa­gen stob aus der Stadt heraus:

 

„Bei Gott, jetzt sollen Sie was kennenlernen, Sie gottverdammter Atheist - und wahrscheinlich verdammter Sozialist noch dazu!“ sagte der Mann, der wie ein Mixer aussah. „Können Sie die Pisto­le sehen?“ Er stieß Frank sehr schmerzhaft in die Seite. „Wir kön­nen uns entschließen, Sie leben zu lassen, wenn Sie Ihr Maul hal­ten und tun, was wir Ihnen sagen - wir können aber auch nicht. Sie werden 'ne hübsche Fahrt mit uns machen! Sie werden schon Ihren Spaß haben, wenn wir Sie auf 'm Land draußen haben – al­lein - wo's hübsch und dunkel und ruhig ist!“

Er hob ruhig seine Hände und bohrte seine starken Fingernägel in Franks Wange.

„Das werd' ich mir nicht gefallen lassen!“ schrie Frank.

Er stand kämpfend auf. Er spürte die Finger des hageren Fana­tikers, nur zwei Finger, teuflisch stark - dicht an seinem Nacken sich unter einem Schmerz einbohren, von dem ihm übel wurde. Er fühlte, wie die Faust des Mixers seinen Kiefer zerschmetterte. Als er schwach, halb ohnmächtig am Vordersitz niedersank, hörte er den Mixer kichern: „Das wird dem Schuft, Schuft, Schuft von einem Schuft 'nen kleinen Begriff von dem Spaß geben, den wir bald haben werden, wenn wir zusehen, wie er sich windet!“

Der Pseudomixer sprach in den selbstzufriedenen Tönen jedes Kreuzfahrers, dem Gelegenheit gegeben ist, für eine moralische Sache teuflisch zu sein, er erhob gelassen sein Bein und stieß seinen Absatz auf Franks Rist [Handgelenk].

 

Als die Schmerzwolke von seinem Kopf verschwunden war, saß Frank starr da ... Was würden Bess und die Kinder tun, wenn diese Männer ihn töteten? ... Würden sie ihn sehr schlagen, bevor er starb?

Der Wagen verließ die Chaussee, verfolgte eine Landstraße und fuhr einen Weg durch ein Feld entlang, das Frank ein Maisfeld zu sein schien. Bei einem großen Baum hielt der Wagen an. „Raus!“ schnauzte der hagere Mann.

Mechanisch, mit lahmen Beinen, taumelte Frank hinaus. Er blickte zum Mond auf. „Das ist das letztemal in meinem Leben, daß ich den Mond sehe, die Sterne sehe - Stimmen höre. Nie wieder an einem kühlen Morgen spazierengehen!“

„Was werden Sie tun?“ fragte er, sie zu sehr hassend, um Angst zu haben.

„Na, Süßer“, sagte der Fahrer in fürchterlicher Spaßhaftigkeit. Sie werden 'nen kleinen Spaziergang mit uns machen… in die Felder hinein.“

„Teufel“, sagte der Mixer, „hängen wir ihn auf! Da ist ein feiner Baum. Nehmen wir die Schleppleine.“

„Vorwärts, Sie!“

Frank marschierte vor ihnen einher, in entsetztem Schweigen.

„Jetzt machen Sie sich auf was gefaßt!“

Er setzte seine elektrische Taschenlampe auf einen Erdklumpen. In diesem Licht sah Frank ihn eine zusammengerollte schwarze Lederpeitsche aus der Tasche holen, eine Maultierpeitsche.

„Das nächste Mal“, sagte der Hagere langsam, „das nächste Mal, wenn Sie wieder herkommen, bringen wir Sie um. … Diesmal werden wir Sie nicht umbringen - nicht ganz.“

„Ach, Schluß mit dem Reden, gehen wir an die Arbeit“, sagte der Mixer. „Gut!“

 

Der Mixer packte Franks Arme von hinten, bog sie zurück, wobei er sie fast brach, und plötzlich schnitt die Peitsche mit einem tödlichen, unglaubhaften Schmerz quer über Franks Wange, zer­riß sie, kam im Augenblick wieder - wieder - in einer Dunkelheit schwindelnden Schmerzes.

Zögernd kehrte mit der Dämmerung das Bewußtsein zurück, sein Gesicht brannte, er konnte nicht, warum er kaum imstande war zu sehen. Als er tastend seine Hand erhob, entdeckte er, daß sein rechtes Auge eine weiche breiige Masse blinden Fleisches war, und an seinem Kiefer konnte er den bloßgelegten Knochen spüren.

Er hatte gerade genug Kraft, um bis zur Chaussee zu kommen, er fiel zu Boden, lag an der Straße wie ein betrunkener Bettler. Ein Auto kam; als der Fahrer aber Franks schwach emporgehobenen Arm sah, eilte er weiter. Sich verwundet zu stellen, war die üble Trickserei der Automobilräuber.

 

Er schwankte und kroch auf der Straße weiter bis zu einer Hütte. Dort war Licht - ein Farmer beim zeitigen Frühstück. „Endlich!“ Frank weinte. Als der Farmer auf das Pochen herauskam, eine Lampe hochhaltend, warf er einen Blick auf Frank, dann schrie er auf und schlug die Tür zu.

Eine halbe Stunde später fand ein Polizist auf dem Motorrad Frank im Graben, halb im Fieber.

„Wieder ein Betrunkener!“ sagte der Polizist höchst vergnügt und klappte den Stützer seines Rades herunter. Doch als er sich bückte und Franks zur Hälfte verborgenes Gesicht sah, flüsterte er: „Du guter, allmächtiger Heiland!“

Die Ärzte sagten ihm, das rechte Auge sei allerdings ganz weg, das Licht des anderen würde er aber vielleicht noch ein Jahr lang nicht ganz verlieren.

 

Bess schrie nicht, als sie ihn sah; sie stand nur da, ihre Hände zitterten an ihrer Brust. Sie schien zu zögern, bevor sie küßte, was sein Mund gewesen war. Bess macht aber Mut, will sich eine Stellung besorgen, und die Kinder wären ja jetzt alt genug, daß sie ihm vorlesen könnten…“ („Elmer Gantry“)

 

Gleichermaßen gelobt wie bemängelt wird der Umstand, daß das Eintauchen in die Lebens-Welten von Sinclair Lewis mehr etwa über den amerikanischen Arzt, den amerikanischen Geistlichen, das Leben der Farbigen, den amerikanischen Durchschnittsbürger aussage als das Studium vieler Jahrgänge soziologischer Fach­zeitschriften. "Vielleicht", so kommentiert Biograph Schorer, "ist es ein nichtiges, unergiebiges Unterfangen, Lewis' Romane als Kunstwerke zu betrachten... Ganz allgemein genommen waren künstlerische Erwägungen... von wesentlich geringerer Bedeu­tung als die Tatsache, daß Lewis wieder einmal zielsicher eine aktuelle, vorherrschende Gemütslage erfaßt und sie auf eine ge­meinverständliche Formel gebracht hatte."

Sinclair Lewis‘ Verhältnis zu seinen beiden Ehefrauen und einer späteren Freundin gestaltete sich nicht ungetrübt, was seinem Lebensstil mehr Fluß gibt als beispielsweise goldene oder dia­mantene Dauerhochzeitler. Ehebrecher stehen neben Ehean­bahnungsinstituten, eher der Wunsch einer offenen Liebe ohne Ketten. Lewis war zweiundvierzig Jahre alt, als er seine erste Frau, zweiundfünfzig, als er seine zweite Frau verließ, und zwei­undsechzig, als sich ein viel jüngeres Mädchen zu einer anderen Ehe entschloß und ihn verließ. Den zwei Eheverhältnissen ent­stammte je ein Sohn, Wells und Michael.

 

Die Beziehung zur ersten Ehefrau erschöpfte sich gegen Ende in Arrangements, wie sich gegenseitig völlige Freiheit zu lassen, zu verreisen etwa. Beim endgültigen Bruch im Jahre 1926 bezeugen Aufzeichnungen ein Unabhängigkeitsbedürfnis des Autors wie gleichwohl den Wunsch einer ehelichen Verbindung. Lewis sieht eine Zeitlang die Zukunft in getrennten Wohnungen „außer bei gelegentlichen Ferien, wenn wir mal wieder durchbrennen“. Man könnte sich dann ab und zu sehen, wie man auch sonstige Freunde trifft. Sie seien zwei „hawks“ (Falken), jedem seine Frei­heit zu leben, zu trinken, zu reisen und Affären zu haben.

 

Gerade Frauen waren es, die in der ‚Progressive Era‘ mehr denn zuvor in die Öffentlichkeit traten, ihre Tätigkeiten zu professiona­lisieren trachteten, gesellschaftliche Reformen vorantrieben.

Hinzu kommen einige eindrucksvolle Erfolgsgeschichten, zu der auch die der zweiten Lewis-Ehefrau Dorothy Thompson, die in zahlreichen Magazinen und Zeitungen schrieb und es als transat­lantisch orientierte Kolumnistin zu weitreichender Bekanntheit und Wertschätzung brachte.

„Ich habe, 1928, Dorothy Thompson geheiratet, eine Amerika­nerin, die der Korrespondent für Zentraleuropa und Bürochef der New York Evening Post gewesen war. Meine erste Heirat mit Grace Hegger aus dem Jahre 1914 in New York wurde geschie­den.” (Sinclair Lewis, Nobelpreisrede) Am 16. April 1928 erklärte ein Gericht in Nevada diese 14-jährige Ehe für beendet, eine Woche später verlobte sich Sinclair Lewis mit Dorothy Thompson und heiratete diese am 14. Mai 1928 in London.

Wie schon mit seiner ersten Ehefrau verbrachte man die Flitter­wochen mit einer Art Eigenheim auf Rädern, dem komfortablen Camping-Caravan.

Lewis‘ Bekanntschaft mit seiner zweiten Ehefrau Dorothy (Ehe: 1928-42) begann auf einer Pressekonferenz des Reichsaußen­ministers Stresemann im Berlin des Jahres 1927: „Ich sah ein schmales, verwüstetes Gesicht vor mir, rot und zernarbt, gezeich­net von Versengungen durch elektrische Nadeln und Radium“, erinnert sich die Journalistin Thompson, und sie empfand: „Gott, was für ein einsamer, unglücklicher, hilfloser Mensch! Irgendje­mand muß ihn lieben, sich seiner annehmen.“

Am 20. Juni des Jahres 1930 erblickte Sohn Michael das Licht der Welt.

 

‚Eugeniker und Rassisten, Nativisten und Nationalisten sowie Kul­turkonservative diverser Couleur problematisierten außerdem die berufliche Tätigkeit weißer Mittelschichtmütter. Ihnen erschien die Pflege des Heims und die Erziehung einer ausreichenden Anzahl weißer Mittelschichtkinder notwendig, um die Reproduktion und damit die Zukunftsfähigkeit eines vollwertigen weißen Amerikas zu gewährleisten. Die Professionalisierung und Mechanisierung sowie eine symbolische Aufwertung der Hausarbeit und häus­Iichen Kindererziehung sollten das Heim selbst für beruflich quali­fizierte, anspruchsvolle Frauen attraktiv machen.‘ (gemäß von Sandern)

Die Heldinnen aus „The Job“ und „Ann Vickers“ werden als selb­ständige Frauen mit modernen Ansichten zur Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufstätigkeit präsentiert. Im Verlauf der Hand­lung wird Ann Vickers gleich zweimal ungewollt und unverheiratet schwanger und macht nebenbei noch erfolgreich Karriere.

Der Film zur Romanvorlage durfte nach Mitte 1934 nicht mehr kommerziell aufgeführt werden, da die Handlung in Widerspruch zu den Vorgaben des Production Code standen. Diese auch ‚Hays Code‘ genannte Zusammenstellung sah Richtlinien zur Her­stellung der US-amerikanischen Spielfilme im Hinblick auf die all­gemein akzeptable Darstellung besonders von Kriminalität und sexuellen Inhalten vor. William Hays als Präsident der „Motion Picture Producers and Directors of America“ hatte diese Herstel­lungsrichtlinie 1930 eingeführt, wobei die Prohibitionen lustvolles Küssen, sexuelle Perversionen, die in Geschlechtskrankheit oder Mißbildung ausarten könnten, umfassten. Gewalt wurde akzeptiert außer für grausames Lynchen und Elektroschockmißhandlungen.

 

Zum geeigneten Moment hält Sinclair Lewis das richtige Werk aus dem breiten Fundus seiner Beobachtungen und Einsichten bereit: Zu den gesellschaftlichen Barrieren, zur Weltwirtschaftskrise, den neuen Psychotikern, zu einer drohenden faschistischen Diktatur im eigenen Land, zur Rassenproblematik, zu den Fragen der Reli­giosität.

Seine photographisch exakte Ablichtung der Vorgänge nimmt des Öfteren wirklichkeitsnahe, brutale Ausmaße an, die, wenn auch nur gelesen, schwer verdaulich bleiben. In "Das ist bei uns nicht möglich" entwirft Lewis, vor dem Hintergrund der faschistischen Gräuel in Europa ein Dokument südamerikanischer Zustände als auch ein Amerika drohendes Zukunftsbild. Seine warnenden Rea­lismen zu einer Gleichschaltung der Medien mittels gewaltsamen Zwangs konnten in Deutschland erst nach dem Hitler-Wahn zur Kenntnis genommen werden.

In der Hoch-Zeit des Faschismus gab Sinclair Lewis mit seinem politischen Zukunftswunsch „Das kann hier nicht passieren“ zu verstehen, „daß ihn puritanische Überheblichkeit nicht über die politisch-korruptive Anfälligkeit seiner Landsleute hinwegtäuschen konnte.“ (Rowohlt Verlag, Juni 1954) Sein Roman „Das ist bei uns nicht möglich“, in dem er „mit drastischer Ausführlichkeit“ aufwies, „wie ein amerikanischer Faschismus eben doch möglich werden könnte und auf welche Art er sich manifestieren würde“ (Klaus Mann), war im Jahre 1936 in deutscher Sprache nur in Amster­dam (Querido-Verlag) erhältlich.

 

Sinclair Lewis‘ Leben ging mit seinem Werk und durchlief einige interessante Stationen, zu denen er als „verschwenderisch und knauserig“, „duldsam und unvermittelt intolerant“, „ein Lästerer und ein Puritaner, ein Freigeist und ein Prüder, geplagt von Zwei­feln an sich selber und zerfressen von Hochmut“ (Mark Schorer) bezeichnet wurde.

Der Nobelpreisträger Sinclair Lewis gilt mit seinen Büchern als der Schrittmacher einer neuen gesellschaftskritischen Schreib- und Sichtweise als auch der Verkünder eines nationalen Gewissens.

In der Schrift "Gideon Planish oder die Verlogenen" (1943 in Deutsch) setzte er sich, mitten im Zweiten Weltkrieg mit dem Phi­lanthropismus und den Wohltätigkeitsorganisationen in den USA auseinander. Der Wahrheit verpflichtet lag ihm daran, als Vivi­sektor ohne Rechthaberei die Verfallserscheinungen zu analy­sieren: „Ich gestalte keine Ausstellungen. Wenn ich Dinge nieder­schreibe, wie ich sie sehe und das gefällt den Leuten nicht, ist das nicht meine Schuld.“

Sinclair gebärdete sich erklärtermaßen nicht wie ein wild gewor­dener Zyniker, nannte sich selber mit seinem Streben nach Ge­nauigkeit einen „Diagnostiker“, was ihn eher in die Nähe eines Statistikers oder Finanzbeamten denn eines Rebellen rückt.

„Literatur darf nicht verrückt sein und lügen, und wenn dem so ist, so muß man dies als solche brandmarken“, äußerte Lewis.

Bücher werden seiner Meinung nach immer geschrieben werden, sollen aber getreulich die Ideen und Empfindungen ihrer Autoren wiedergeben. Sollten sich diese Vorstellungen als großartig und wahrhaftig erweisen, so werden es auch die Bücher sein.

 

Nach dem Krieg umfassen seine Narrative „Cass Timberlane” (1945), „Kingsblood Royal“ (1947) und „God-Seeker“ (1949), wo­mit er im geeigneten Augenblick die Problematik präsentierte, die sich als nationales Problem herauskristallisiert hatte.

 

In "Der königliche Kingsblood" (1947 deutsch) widersetzt sich Sinclair Lewis einer Unterdrückung und Diskriminierung der Bür­ger afroamerikanischer Abstammung. Der Bankangestellte Neil Kingsblood, bisher ein „hundertprozentig normaler, protestan­tischer, gutbürgerlicher Weißer“ („Kingsblood Royal“) ist nicht etwa königlichen Blutes, sondern hat, so das Ergebnis seiner Ah­nenforschung „ein Tröpfchen Schokolade“, Negerblut, in den Adern. „Jenseits von Überraschung war sein Zustand der eines stummen Entsetzens, etwa wie der eines Mannes, der vor fünf Minuten erfuhr, er habe vergangene Nacht in Trance einen Men­schen ermordet und jetzt fahnde die Polizei nach ihm.“ („Kings­blood Royal“)

„God Seeker“ (März 1949) bemüht sich nicht um die Suche nach Gott, sondern um dessen Zurückweisung. Stellte man der Religio­sität, so Edward Wagenknecht, den Humanismus gegenüber, so behält Letzteres stets die Oberhand.

Der Respekt für die Würde der Mitmenschen bleibt unangetastet: Auch im eigentlichen Religionenroman werden alle Sekten und Glau­bensrichtungen gleich – schlecht – behandelt. 1927 hatte Lewis „EImer Gantry“ veröffentlicht, in dem er die geschäfts­freudige Frömmelei amerikanischen Kirchenchristentums geißelt. Der Roman empörte die Leserschaft, man drohte dem Autor mit Totschlag und Gefängnisgittern.

Zum Publikationszeitpunkt auch dieses Romans hielt sich Sinclair Lewis in Italien auf, begleitet von Frau Powers, der Mutter seiner letzten Liebschaft. Die Auslandsaufenthalte zum Moment der Her­ausgabe seiner Bücher hatte er sich zur Angewohnheit gemacht, um den quengelnden Fragereien der Presse zu in seinen Zusam­menfassungen enthaltenen Aussagen aus dem Wege zu gehen.

Eine weiteres Sujet sollte das Schicksal einer Amerikanerin in Italien „Over the Body Of Lucie Jade“ werden.

 

Im Sommer 1949 beendete Lewis die Story auf seiner Thorvale Farm, doch wollten weder „Cosmopolitan“, mit denen darüber sogar eine vertragliche Abmachung bestand, noch „Random House“ damit auf den Markt. Daraufhin begab sich Lewis ein letztes Mal ins Ausland, begleitet von seinem Bruder Claude, dem er das ruhmreiche Europa zu Füßen zu legen beabsichtigte.

Claude setzte seine Erkundungen alleine fort, und Lewis bezog in Florenz ein Haus. Dem Alkohol in Unmengen zusprechend, erlitt er einen Herzanfall.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 29.10.2014
ISBN: 978-3-7368-5169-6

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