Wasser, Wasser, Wasser.
Wenn er geradeaus sieht, sieht er nichts als tosendes Meer, die großen Wellen überschlagen sich, verlieren ihre Wildheit, je mehr sie sich dem Strand nähern und kommen zu seinen Füßen lediglich als weißer Schaum an, der zwischen seinen Zehen kitzelt.
Der kleine Junge starrt unbeweglich auf die wilde Oberfläche. Als sei er festgewachsen sieht er auf das dunkle Nass.
Heute morgen da waren hier, an dieser Stelle, noch unzählige kleine Fische, die sich immer wieder seinen Füßen näherten und eilig verschwanden, sobald er auch nur mit den Zehen wackelte.
Aber jetzt, am späten Nachmittag, da ist der Strand geradezu überfüllt, um ihn herum sind überall Menschen, die lachen und lärmen, in seinen Ohren summt es.
Sie feiern ein Ende, irgendein Streit, er weiß es nicht genau.
Er weiß nur, dass er vor vielleicht zwei Monaten einen Keller verlassen hat, den er seit so vielen Jahren bewohnt hat.
Und heute – heute steht er am Rande eines großen Meeres, er kennt den Namen des Gewässers nicht und er kann nicht mehr machen als atmen. Immer wieder nimmt er die salzig-raue Seeluft auf und spürt das Wasser, das nun bis zu seinen Köcheln steht, den schlammigen Sand unter seinen Fußsohlen.
Die Sonne kitzelt ihn im Nacken, als er sich auf die Knie fallen lässt.
Vor zwei Monaten, da hat ihn seine Mutter bei der Hand genommen, als sie ihrem finsterem Loch entstiegen sind und sich mit ihm, seiner Schwester und seinem Vater auf den Rasen vor dem Haus gelegt.
Die Sonne schien und es regnete warm, ein kurzer Sommerschauer. Und über ihnen hatte sich ein Regenbogen gebildet.
Und sie haben sich im Arm gehalten und seine Mutter hat vor Glückseligkeit geweint, wie sein Vater. Seine Schwester war um zu verstehen noch zu klein und er – er hatte nur daneben gelegen, auf den Klang des herabfallenden Regens gehört und mit seiner Hand über das Gras gestrichen, immer wieder, nur um zu wissen, dass es wirklich da ist. Das Gras unter seinen Fingerspitzen.
Nun streichen seine Finger träge durch das am Strand noch warme Wasser, immer noch spürt er sanfte, winzig-kleine Wogen, die zart über seine Hände streicheln.
Seine Eltern und seine Schwester sind mitten im Geschehen, tanzen, lachen, spielen. Er jedoch sitzt am Rande der Gesellschaft, sieht sie von weitem, wie durch einen Schleier, in diesen Momenten hat er nur Augen für die Schönheit der Natur, die Schönheit der Freiheit.
Er lässt sich vorsichtig auf einem großen, grauem Stein nieder, der aus dem Boden des Strandes über das Meer ragt. Eine Art Platte, die vom Wasser des Meeres umspielt wird.
In seiner Fantasie sitzt er auf einem großen, einsamen Felsen, mitten im Ozean und lauscht dem gelegentlichen Schrei einer Möwe und dem sonoren Rauschen des Meeres.
„Hey, du.“
Der kleine Junge zuckt zusammen und blickt sich um.
Mindestens drei Meter von ihm entfernt steht ein rot gelocktes Mädchen in einem rosarot-gestreiften Badeanzug. Sie hat Unmengen an Sommersprossen, fast wie ein Streuselkuchen sieht sie aus und steht nur da, schaut ihn aus großen, blauen Augen an.
Ein wenig unheimlich ist sie ihm, so, wie sie scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht ist.
„Warum so allein? Die anderen sind da drüben, du.“
Er nickt. Ja, das weiß er. Deswegen ist er auch hier. Nicht dort. Ein wenig verunsichert senkt er den Blick mit einem Augenschlag und betrachtet seine Hände. Und dann das Meer. Die Sonne geht unter und taucht ihn und das merkwürdige Mädchen in ein warmes Dämmerlicht.
„Magst du sie nicht? Ich mag's nicht so, wenn sie so laut sind. Aber sie freuen sich so. Wir sollten uns mit ihnen freuen, nicht wahr, du?“
Langsam wird es kälter, der kleine Junge zuckt mit den Schultern, zieht fröstelnd seine Beine an, umschlingt sie mit den Armen und bettet sein Kinn auf ihnen, so dass er noch das merkwürdige Mädchen aus den Augenwinkeln erkennen kann.
„Sag mal, bist du einsam?“
Der kleine Junge runzelt die Stirn. Einsam? Er ist nicht mehr einsam, seitdem sie hier aufgetaucht ist. Dazu müsste sie weggehen, dann ist er einsam. Und das sagt er ihr auch. Aber sie schüttelt schnell ihre rote Mähne. Tropfen lösen sich von ihren nassen Haarspitzen und treffen seine Wange. Er wischt sich schnell darüber. Er hat gar nicht mitbekommen, dass sie schon so viel näher gekommen ist.
Merkwürdig ist sie. Spricht merkwürdig, stellt merkwürdige Fragen.
„Nein … Nein, meine Maman hat mir das mit dem Einsam-Sein erklärt. Wenn ich gehe, bist du nur allein, weil ich nicht da bin, aber nicht einsam. Und wenn ich bleibe und du trotzdem allein bist, dann bist du einsam, weißt du.“
Er nickt. Das hat er verstanden. Vielleicht ist er ja wirklich mit ihr einsam.
„Ich glaub, wir sind beide einsam, du“, murmelt sie und setzt sich ganz nah neben ihn. Ihre roten Locken liegen auf seiner Schulter und kitzeln ihn im Gesicht.
Ja, das glaubt er auch.
„Ich mag nicht einsam sein“, flüstert sie, springt plötzlich auf und versucht, an irgendetwas in ihrem Nacken zu kommen.
„Hier.“ Mit stolz-rotem Gesicht überreicht sie ihm eine Kette, an dem ein gelblicher Klumpen hängt.
„Das ist Bernstein“, erklärt sie und tippt gegen den Anhänger, „und da, da ist ein Insekt drin.“
Eine wunderschöne Kette ist es.
Sie sehen lange nur auf den Anhänger, die arme Mücke, eingeschlossen in diesem merkwürdigen Stein des merkwürdigen Mädchens.
Doch eine laute, weibliche Stimme holt sie zurück aus dieser magischen Welt.
Er, das Mädchen, die Kette und das Meer.
Was sie ruft, versteht er nicht, aber sie versteht es offenbar.
Das merkwürdige Mädchen springt auf und nimmt seine Hände in ihre.
„Wenn wir uns wiedersehen, musst du die Kette tragen und mit ihr darfst du nicht einsam sein, versprich mir das!“
Die Stimme der Frau wird energischer und lauter, das merkwürdige Mädchen antwortet in einer ihm fremden Sprache und ohne ein weiteres Wort läuft sie über den Strand zu einer Person, die ihr zu winkt und der kleine Junge bleibt zurück.
Allein mit der Kette, aber ganz sicher nicht einsam.
Das Messer rutscht ab, schneidet Nathan in den Zeigefinger und Blut tropft in den nassen, feinen Sand.
„Autsch“, flucht er, hebt den Finger an und leckt über die Wunde. Sein Vater wirft ihm einen strafenden Blick zu.
„Zu schnell“, sagt er, wortkarg wie immer, als sich Nathans Mund mit dem salzigen Geschmack seines eigenen Blutes füllt. Er spuckt aus, wickelt sein Stofftaschentuch um den Finger um die Blutung zu stopfen. Es tut fast nicht weh. Zu oft hat er sich schon geschnitten - zu eilig, zu ungeduldig, wie sein Vater immer sagt.
„Antshuldikung“, erwidert Nathan und sein Vater schneidet nur nickend den nächsten Fisch auf, holt die Innereien heraus und spült ihn kurz ab, bevor er ihn in eine der Kisten wirft, die sie später zum Markt bringen werden. Nathan ist barfuß, spürt den feinen Sand zwischen seinen Zehen und die vorwitzigen Wellen, die seine Füße zu kitzeln versuchen. Es ist noch fast dunkel, nur ein leichter, grauer Schimmer ist im Osten über dem Meer zu erkennen, wo sich die Sonne gerade über den Horizont quält. „Tate.“ Nathans Fuß wippt auf und ab, als er seinen Vater anspricht.
Sein Vater gibt keinen Hinweis darauf, dass er ihn gehört hat, doch das tut er ohnehin nie. Goldenes Schweigen - das ist sein Lebensweg.
Nathan leckt sich über die Lippen, wirft seinen Fisch in die Kiste und greift nach dem nächsten. „Ich kann morgen nicht mit dir rausfahren“, gesteht er, nervös wie sein Vater darauf reagieren wird. Die großen Hände halten nicht inne, schneiden gleichmäßig weiter und die Wellen spülen ebenso gleichmäßig das Blut fort. „Ich soll in der Schule beim Aufbauen für das Fest morgen Abend helfen.“
Nathans Hände stocken kurz, dann nimmt er die vertrauten Bewegungen wieder auf, während er auf die Antwort des Vaters wartet. Die Schule ist über eine Stunde entfernt, sodass er sich viel früher auf den Weg machen muss, um rechtzeitig dort zu sein.
„Verantwortung“, sagt sein Vater schließlich und nickt. Erleichtert wirft Nathan den letzten Fisch in die Kiste und ein Lächeln zieht sich über sein Gesicht.
„Danke“, sagt er und sein Vater beginnt wortlos die Kisten aufeinander zu stapeln, die sie auf einem Fahrradkarren zum Markt bringen werden. Für ein Auto hat das Geld noch nicht gereicht, aber Nathan ist zuversichtlich, dass sie noch eines bekommen werden. Vielleicht nächstes Jahr.
Es ist alles möglich, hat sein Lehrer in der Schule zu ihm gesagt, als er ihm die fehlerlose Prüfung zurückgegeben hat. Vielleicht sogar die Universität.
Nathan bleibt noch kurz am Meer stehen, als sein Vater bereits den Karren den Damm hinauf zieht, nimmt das Wogen der Wellen in sich auf, das Grau und das schimmernde, funkelnde Rot im Osten. Die anderen Fischer sind schwarze und grüne Gestalten in ihren Ölgewändern auf dem hellen Strand, der sich flach bis über den Horizont zu winden scheint und Nathan erwidert das Winken eines der Fischer, bevor er sein Messer abspült und seinem Vater hinterher eilt.
Seine Schwester schläft noch, als er sich am nächsten Tag in der Früh aus dem Zimmer schleicht und eine Tasse des bitteren, belebenden Kaffees trinkt, den sein Vater noch gekocht hat, bevor er aufs Meer gefahren ist. Kurz verspürt Nathan einen Stich des Bedauerns, dass er heute nicht mitfahren kann, doch dann bestreicht er sich zwei Butterbrote, schnappt sich noch eine Thermoskanne mit Kaffee, bevor er sich die Tasche mit seinen Büchern um die Schultern schlingt und leise das Haus verlässt.
Heftig tritt er in die Pedale seines Fahrrads, lässt sich den Wind ums Gesicht blasen, der um diese Zeit noch viel kühler ist als in der Hitze des Nachmittags. Als er den Damm erreicht, bleibt er kurz stehen und blickt hinaus aufs Meer, sucht die schwarzen Punkte, die Schiffe sind, erhellt durch vereinzelte Lampen. Er bildet sich ein, das Schiff seines Vater zu erkennen - klein in den schäumenden, grauen Wellen und er lächelt, bevor er weiterfährt.
Das Fest in der Schule soll großartig werden und er freut sich bereits darauf, wenn er am Nachmittag bei der Grillerei dabei sein kann. Und vielleicht wäre sogar das Bernstein-Mädchen dabei.
Seine Laune hebt sich noch mehr bei dem Gedanken an das rothaarige Mädchen, das in die Mädchenschule in der Stadt geht und das er manchmal von Ferne gesehen hat. Doch um sie anzusprechen, wie sie es damals als Kind getan hat, dazu fehlt ihm der Mut.
Unbewusst greift seine Hand zu dem Bernsteinanhänger, der von seinem Hals baumelt und er lächelt. Wenn sie heute kommt, dann wird er sie ansprechen.
Nathan sitzt in der dritten Reihe an seinem Pult, die langen, ungeschickten Beine stoßen fast gegen die Tischplatte und er muss die Knie zur Seite baumeln lassen. Sein Mathematiklehrer steht an der schwarzen Tafel, gemeinsam mit Anton, der sichtlich verzweifelt drein sieht.
Nathan hat das richtige Ergebnis schon längst in sein Heft gekritzelt und debattiert mit sich selbst, ob er Anton beistehen oder lieber doch nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen soll, als sich die Tür öffnet und der Rektor hereintritt. Er ist ein großer Mann, mit glatt nach hinten gekämmten Haaren und einer Brille, die von seinem Zeigefinger baumelt.
Er nickt dem Mathematiklehrer zu und Herr Reugen runzelt die Stirn, unwillig über die Störung. „Bernstein?“ Nathan fährt hoch, als der Rektor seinen Namen gleichermaßen sicher und fragend in die Klasse ruft.
„Ja.“ Er erhebt sich automatisch, während er mit Georg, seinem besten Freund, einen verwirrten Blick wechselt. Vergehen schießen ihm durch den Kopf, doch eines nach dem anderen verwirft er. Georg zuckt auch mit den Schultern, die braunen Augen blinzeln schalkhaft, aber nicht wirklich besorgt.
„Folgen Sie mir bitte, Bernstein.“ Der Rektor nickt ihm zu und geht zur Tür.
Verblüfft gehorcht Nathan der Aufforderung, stolpert fast über seine Tasche, als er dem Rektor nach eilt, den missbilligenden Blick von Herrn Reugen auf dem Rücken.
Der Rektor schließt die Tür, sieht den leeren Gang hinauf und hinunter und seufzt. Er sieht müde und resigniert aus und Nathan merkt, dass er nervös wird. Der Rektor nimmt ein Taschentuch heraus, das viel feiner und sauberer als Nathans ist und beginnt seine Brillengläser zu reinigen, als er Nathan in sein Büro führt und ihm bedeutet sich auf einen der schweren, dunklen Ledersessel zu setzen.
„Bernstein“, beginnt er, als Nathan nervös seine Hände verschränkt und an der Kruste der Wunde an seinem Zeigefinger zu spielen beginnt. „Ihre Mutter hat gerade angerufen. Anscheinend gab es einen Unfall mit dem Fischerboot Ihres Vaters.“
Das Blut beginnt in Nathans Ohren zu tosen und zu rauschen, als er den Rektor anstarrt, auf einen Ausruf wartet - es ist nur ein Scherz gewesen. Der Rektor erwidert den Blick nur ernst. „Es tut mir sehr leid, Nathan. Doch Ihr Vater ist verstorben.“
Nathans Hände zittern, als er die Worte zu verstehen versucht. Sein Vater ist - fort? Seine Gedanken weigern sich das entsetzliche Wort zu denken, als sein Atem keuchend und schwer geht.
„Nein“, bringt er heraus und seine Zunge wirkt unendlich groß in seinem Mund, zu schwer für die Worte, die er eigentlich heraus bringen will. Lügner!, will er schreien und seine Hände zu Fäusten ballen, doch sein Körper scheint taub geworden zu sein, unfähig seinem Willen zu gehorchen.
Der Rektor sagt etwas, doch die Worte dringen nicht über das Rauschen in seinen Ohren hinweg, verlieren sich in dem Tosen seines Blutes, das dem des Meeres plötzlich so ähnlich scheint.
Seine Hände verbergen sein Gesicht, schließen die Welt aus, als sie zu viel wird. Die Sonne wird zu viel, die unverschämt fröhlich durch die Fenster scheint und den Raum erwärmt. Er fühlt sich schwindelig, taumelig, haltlos, als wäre er ein Haus, dem man das Fundament weggerissen hat. Er verliert sich.
Die Hand auf seiner Schulter reißt ihn zur Erde zurück und mit schmerzenden Augen, die weinen wollen, doch es nicht können, sieht er auf. Der Rektor steht vor ihm, die braunen Augen hinter den Brillengläsern voller Mitgefühl und Verständnis. „Komm“, sagt er und drückt sanft seine Schulter. „Ich habe ein Auto. Wenn du willst, kann ich dich zu deiner Familie bringen.“
Sein Kopf nickt automatisch, während der Schmerz in seinem Herzen zu einem reissenden Ungetüm wird.
Es ist Abend und er steht am Strand, die Zehen in den kalten, nassen Sand vergraben und starrt auf das Meer, dessen Wogen von seinem Schmerz unbeeindruckt auf den Strand zurollen, wo sie sanft dagegen schlagen.
In seiner Faust hält er den Bernsteinanhänger, taub und starr in seinem Leid. Seine Schwester und seine Mutter haben geweint und geschluchzt, als er zu ihnen gekommen ist und als seine Schwester die Arme um ihn geschlungen hat, hat er die Last der Verantwortung gespürt, die den Schmerz durchbrochen hat. Fast hätte er sich zum Rektor umgewandt und ihm gesagt, dass er aus der Schule abgehen werde, doch dann hat er es aufgeschoben.
Langsam löst er den festen Griff um den Bernstein, muss sich fast dazu zwingen.
Einsamkeit. Einsamkeit, so groß, das sie ihn fast auffrisst.
„Es tut mir leid“, sagt er zu dem Bernstein und die Worte schneiden in seiner Kehle wie Glasscherben.
Dann sinkt er in den Sand und weint, während das Meer Welle um Welle gegen den Strand klatschen lässt.
Zwei Wochen später sitzt er am Strand und sieht erneut aufs Meer hinaus. Das Schiff seines Vater ist repariert und er hat die Schule verlassen. Der Rektor war verständnisvoll, hat ihm sein Mitgefühl und die Enttäuschung darüber ausgedrückt, dass er von der Schule abgeht. Er ist bald achtzehn, fast ein Mann und er weiß, dass er dies seiner Familie schuldig ist.
Seine Mutter verdient nicht genug um sie alle zu ernähren und seine Schwester ist zu jung, um diese Bürde zu tragen.
Also trägt er sie und spürt, wie seine Schultern unter dieser Last schmerzen und zu brechen drohen.
Wieder hält er den Bernstein in der Hand, betrachtet die Mücke, die darin eingeschlossen ist und die in Licht zu schwimmen scheint, als er sie der Sonne entgegen hält. „Einsamkeit“, flüstert er ihr zu. Die Kette, das Meer und er. Das Mädchen fehlt.
Die Schritte auf dem nassen Sand schrecken ihn aus seiner Betrachtung heraus und er wendet sich automatisch um, um zu sehen, wer sich wieder auf den Strand verirrt hat. Jetzt, wo es wärmer wird, gibt es immer mehr Spaziergänger und Ausflügler, die das Meer aufsuchen, doch dieses Mal ist es eine junge Frau, deren hochgesteckten Haare rot in der Sonne aufleuchten.
Es dämmert - wie damals, vor all diesen Jahren, als er sie zum ersten Mal gesehen hat. Sie trägt die Schuhe in einer Hand, lässt sie nachlässig baumeln, während sie auf das Meer hinaus blickt, ein verträumtes Lächeln auf den Lippen.
Er will ihr zurufen, doch er zögert, als sie näher kommt und ihn anscheinend noch nicht bemerkt hat. Würde sie ihn überhaupt erkennen? Das Zögern hält ihn zurück, als eine Stimme erneut in dieser fließenden Sprache ruft und das Mädchen den Kopf zu dem Damm wendet, wo zwei Gestalten aufgetaucht sind.
„Je viens“, ruft sie zurück in derselben, fließenden Sprache, wendet sich von ihm fort und die Enttäuschung in seiner Brust ringt mit der Sehnsucht nach ihr zu rufen.
Er steht auf, hadert mit sich selbst, öffnet bereits den Mund, als ihm einfällt, wie vergeblich dies wäre. Er kennt nicht einmal ihren Namen. Er schließt den Mund, als sie sich noch einmal umdreht, noch einmal aufs Meer sieht und ihre Augen finden die seinen.
Ihr Gesicht bleibt glatt und sie erkennt ihn nicht, dreht sich schon wieder um, um ihn zurückzulassen und die Enttäuschung schmerzt in seinem Magen, obwohl er sich sagt, dass es dumm ist.
Das Bernstein-Mädchen hält inne, wendet sich um und sieht ihn erneut an, die Stirn gerunzelt, als sie zögert und zu überlegen scheint. Er wagt es nicht zu hoffen, als sie auf ihn zu kommt und ihn nachdenklich an sieht.
„Du!“, ruft sie und etwas zieht sich schmerzhaft in ihm zusammen, als er ihre Stimme über den Strand schallen hört. „Ich kenn dich!“
Nathan sieht sie an, als sie vor ihm zum Stehen kommt, sieht ihr feingesticktes Kleid, die sauberen, teuren Schuhe, zögert und will bereits den Kopf schütteln, als er in ihre meerblauen Augen blickt, die in der Dämmerung funkeln. Seine Hand streckt sich von alleine aus und Erkenntnis leuchtet in ihrem Gesicht auf, als sie den Bernstein sieht.
„Hallo“, sagt Nathan und er lächelt unsicher. „Ich bin Nathan.“
Das Lächeln auf ihrem Gesicht wird breiter, als sie den Bernstein berührt, dann nimmt sie seine Hand, die von Narben übersät ist, in ihre kleine, zarte und schüttelt sie. „Ich bin Mariane.“
Die Sonne gibt ihre Strahlen ein letztes Mal in den Himmel frei, das Meer tobt und rauscht, der Wind umweht die kalten Gesteine und singt dabei das Lied des Lebens.
Vor Nathan steht ein kleines Mädchen, zarte zwei Jahre alt mit einem Kleidchen und hellbraunen Löckchen. Sie lacht laut auf, versucht dem Wind Stand zu halten und fällt dennoch in das weißschäumende Wasser. Erstaunt schaut sie auf ihre kleinen Hände, ihre Augen sind groß und weit geöffnet. Ein erstickter Laut entkommt ihrem Munde, bevor große, starke Hände sie aus dem Wasser heben und sie gleich darauf im rechten Arm Nathans liegt.
"Na", flüstert er und sieht ihr in die Augen. "Gefällt es dir?" Sie versteht ihn nicht, schlägt ihm lachend mit ihrem Fäustchen ins Gesicht. Ein Lächeln findet den Weg in sein kantiges Gesicht, das inzwischen mehrere Narben mit sich trägt. Er nimmt das Leben - so wie es ist.
In diesem Augenblick erinnert er sich an das, was sein Vater immer zutun vermochte. Schweigen. Und das tut er jetzt auch, er schweigt das Mädchen an, schaut auf sein Leben hinaus und lächelt wieder. Lächelt mit seiner Nichte, der Sonne, dem Meer. Sara lacht mit und strampelt mit ihren Beinchen, die vom Wasser nass sind und auf denen ein wenig Sand klebt. Seine Schwester hat geheiratet, vor drei Jahren.
Nathan selbst ist ehelos, er hat weder eine Frau noch eine Freundin. Doch er sucht auch niemanden.
Seine Mutter ist vier Monate vor diesem Zeitpunkt gestorben. Es ist Frühling, die Grippe hat ihr schwer zugesetzt und da er nicht genug Geld hatte, konnte er ihr nicht weiter helfen. Nun ist er alleine, er lebt für sich selbst, arbeitet für sich selbst. Er braucht niemanden, nur das Meer.
Der Siebenundzwanzigjährige bückt sich und lässt Sara auf den Sand herunter. Tollkühn läuft sie zum Wasser und für einen Augenblick erinnert sie ihn an eine Ente, die umher watschelt. Er fängt zu lachen an, seine Stimme ist im Einklang mit dem Ton, der ihn umgibt - rau.
"Sara, meine Kleine, wo gehst du hin?" Er erwartet natürlich keine Antwort, läuft bückend und lachend zu seiner Nichte hin und hebt sie prompt auf, sobald er sie erreicht hat. Sie quietscht auf, so wie es nur Kleinkinder können und hält sich an den Locken ihres Onkels fest, als dieser sie auf die Schultern hebt und kniehoch ins Wasser taucht. Er atmet tief aus, sein Gesichtsausdruck ähnelt dem eines Engels, als er die Augen schließt und die salzige Luft einatmet.
Plötzlich ertönen Stimmen, zuerst leise, dann immer lauter. Er hält die Luft an, während Sara undefinierbare Laute von sich gibt. Langsam öffnet er die Augen und dreht seinen Kopf, doch dies ist nicht nötig, er sieht bereits aus dem Augenwinkel, wie zwei Gestalten ins Wasser stürzen und sich lachend umschwimmen.
Der letzte Sonnenstrahl trifft die roten Haare, sein Herz schlägt schneller, seine Augen begegnen den ihren, kurz stockt ihr Lachen. Ihr Mund bewegt sich, doch sie spricht leise, er zieht die Kette mit dem Anhänger aus seiner Tasche, ihre Augen schließen sich. Er hebt den Arm und mit einer schwungvollen Bewegung, die seine Nichte vor Schreck aufweinen lässt, wirft er die Kette ins Meer. Noch bevor es das Letzte verschlingt, das ihm die Einsamkeit vertrieben hat, dreht er sich um und geht. Mariane schwebt ihm im Kopf umher.
Gestern wurde eine Hochzeit gefeiert, heute weiß er, wessen Hochzeit es gewesen ist.
„15 Jahre!“, schreit sie ihn an.
Ihr Gesicht ist vor Wut verzerrt. Aber das ist es nicht, was Nathan so trifft wie ein Nadelstich mitten ins Herz, es ist die Verzweiflung, die in ihrer Stimme mitschwingt. Er schaut sie an. Versucht die Frau in ihr zu erkennen, die sie einst war. Schön war sie, so schön.
Doch Falten haben sich in ihr Gesicht gegraben und plötzlich kommt es ihm hart vor. So hart wie die Klippen des Meeres. Aber die größte Schande ist beinahe, dass sie ihre roten Korkenzieherlocken in eine strenge Frisur gezwängt hat. Er kann sich noch erinnern, wie sie ihr früher immer offen über die Schulter gefallen sind. Doch einige der Locken sind grau geworden und das war auch die Zeit, in der sie anfing sie zurückzubinden.
„Ich habe 15 Jahre meines Lebens an dich vergeudet!“ Ihre Stimme überschlägt sich.
„Pscht.“ Er versucht sie mit einer beruhigenden Geste dazu zu bringen ihre Lautstärke wieder zu mindern. „Die Kinder“, weist er sie daraufhin. Er hasst solche Diskussionen. Meist schweigt er und lässt sie an sich abprallen, wie das Toben des Meeres, das so unerbittlich sein kann, aber sich immer wieder beruhigt. Doch er hat das Gefühl, sein Schweigen regt sie nur umso mehr auf, dass es ihr lieber wäre, wenn er sie anschreien würde. Aber das wird er nicht tun. Er kann es auch gar nicht.
„Die Kinder wissen doch ohnehin schon, dass nicht alles in Ordnung ist“, keift sie ihn an. Sie dreht ihm den Rücken zu und stellt sich mit verschränkten Armen vors Fenster. Alles an ihrer Haltung ist abweisend, dabei hat er immer versucht ihr ein guter Ehemann zu sein.
„Ich will die Scheidung“, sagt sie, so leise, dass er noch einmal nachfragen muss. Aber die Aussage bleibt dieselbe. Nathan steht wie angewurzelt mitten im Raum. Unfähig dazu sich vor oder zurückzubewegen. Er versucht zu ergründen, was ihre Aussage in ihm auslöst. Sie schmerzt. Sie stimmt ihn traurig.
Er öffnet kurz den Mund, um sie zu überreden es sich noch einmal anders zu überlegen, aber er schließt ihn wieder. Er will nicht, dass sie getrennte Wege gehen, den Kindern wegen. Aber es ist das, was sie will und er weiß, tief in seinem Herzen, dass er es verkraften wird. Stumm stehen sie in einem Raum. 15 Jahre und sie haben sich nichts mehr zu sagen.
„Hast du mich überhaupt je geliebt?“
Es ist kaum mehr als ein Flüstern. Er fragt sich, ob sie weint, aber er vermag es nicht zu sagen, denn ihr Rücken ist ihm immer noch beständig zugewandt. Er weiß die Antwort, nimmt sich aber dennoch die Zeit, noch einmal gründlich darüber nachzudenken.
„Ja“, antwortet er ihr schließlich.
„Aber nie genug, oder?“, fragt sie ihn. Wieder herrscht einige Sekunden Schweigen.
„Vermutlich nie so sehr, wie du es verdienst.“ Es gab Zeiten, da konnten sie so eng beieinandersitzen und dennoch kilometerweit voneinander entfernt sein. Er hat mit ihr geredet, sein Schweigen hat mit ihr geredet und so viele Worte gesagt, doch sie konnte die Worte einfach nicht verstehen, sie kamen nie zu ihr durch und tun es auch heute noch nicht.
„Ich fühle mich oft einsam“, gesteht er ihr. Das hier ist das Ende. Das Ende von ihnen beiden. Es gibt keinen Grund noch irgendwas für sich zu behalten. Sie dreht sich um und schaut ihn wieder an. Sie ist immer noch verärgert, aber auch müde, das sieht er jetzt. Zu müde für all das hier. Wie hat er ihr das nur antun können?
„Wie kannst du denn bitte einsam sein, Nathan? Ich bin doch hier.“
Er überlegt, ob er es ihr erklären soll. Aber er weiß, Rebekka würde das nie verstehen. Sie würde nicht verstehen, dass einsam heißt, dass man auch zusammen allein sein kann.
Und in solchen Momenten wünscht er sich den Bernstein zurück, um leicht mit den Fingerkuppen über seine glatte Fläche zu streichen, so wie er es früher oft getan hat. Er redet sich ein, dass ihm das helfen würde. Er weiß, dass es irrational ist, nichts weiß er so sehr wie das. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass er jedes Mal daran denkt. Aber der Stein ist unwiderruflich fort.
„Ich muss …“, setzt er an.
Rebekkas Gesichtsausdruck wird ausdruckslos, resigniert.
„Ja. Ich weiß“, sagt sie tonlos. „Geh, geh zu deinem geliebten Meer.“
Zwei große Schritte, dann ist er auch schon bei der Tür. Er reißt sie auf und eilt den kurzen Weg bis zum Strand hinunter. Nie könnte er sich vorstellen einmal irgendwo hinzuziehen, wo es nicht ist. Es symbolisiert für ihn die Freiheit.
Der Wind weht ihm in Böen entgegen, beinahe muss er sich vorbeugen, um gut voran zu kommen. Es ist egal, ihm ist, als hätte man seinen Kopf unter Wasser gedrückt und nun kann er endlich auftauchen um Luft zu schnappen. Er zieht die frische Luft in seine Lungen und kann fast schon das Salz auf seiner Zunge schmecken, das sie vom Meer zu ihm heranträgt.
Und dann steht er schon vor der dunklen, riesigen Fläche, die im Mondlicht glitzert. Seine Schuhe sinken in den Sand ein und flink zieht er sie aus, damit die feinen Körnchen zwischen seine Zehen kriechen können.
Es ist jetzt im späten September eigentlich zu kalt dafür. Eigentlich. Ihn hat dieser Umstand noch nie gestört. Sein wilder Herzschlag beruhigt sich beim Anblick der schier endlosen Wasserfläche. Manchmal, manchmal kommt er sich in einer Wohnung vor wie damals im Keller. Dann hilft es ihm sich dran zu erinnern, dass er jederzeit raus kann.
Wann immer er will, wann immer es ihm beliebt. Nathans Augen gleiten über den Strand, den er um diese Uhrzeit und bei dem rauen Wetter ganz für sich allein hat. In weiter Ferne sieht er das Blinken eines Leuchtturms.
Und er weiß: diese Liebe wird nie ein Ende haben.
Er ist alt geworden, alt und langsam, stellt er fest, als er sich bückt und den Fisch mit dem Kopf gegen die Kante schlägt, damit er zu zappeln aufhört, bevor er das scharfe Messer am hellen Bauch entlang fahren lässt und ihn ausnimmt. Auf seinen Fingern sind helle Narben zurück geblieben von der Zeit in seiner Jugend, als er noch ungestüm und hastig war.
„Langsam“, hatte sein Vater gesagt, „nicht so schnell.“ Und er hatte sich bemüht, nicht so schnell zu machen, hatte seine Energie zu zügeln versucht. Heute muss er das nicht mehr, heute kennt er seine Kraft, seine Geschwindigkeit und jeden Handgriff, den er auf dem Meer und im Haus durchführen muss. Er wirft den Fisch in den Kübel, spült das Deck ab, bevor er sich mit seinem kleinen Fang auf den Weg zurück in den Hafen macht.
Die Sonne schickt brillierende Sonnenstrahlen über den Himmel, taucht das Meer in flüssiges Gold und wie immer lässt er den Blick darüber gleiten, trinkt den Anblick der Schaumkronen auf den rollenden Wellen. Das Meer ist gleich geblieben in all den Jahren. Vielleicht findet er mehr Plastikmüll in seinen Netzen als früher, vielleicht röhrt der Motor seines Bootes nicht mehr so laut und vielleicht hat er kopfschüttelnd Platz gemacht für die großen Fischerfirmen und verkauft seinen kleinen Fang nur mehr auf dem täglichen Markt, um seine Pension aufzubessern. Doch das Meer ist gleich geblieben, ist immer noch so wunderschön, tödlich und lebensspendend zugleich.
Er steht am Markt, hat seine Fische an zwei der Stände verkauft, die diese zu einem kleinen Aufschlag weiterverkaufen, damit er sich das Feilschen und das Reden nicht antun muss. Die Hände hat er in den Taschen seiner wasserdichten, grünen Jacke vergraben, einen beigen Hut auf seinem Kopf, die Augen gewohnheitsgemäß zusammengekniffen. Sein Gesicht ist mit tiefen Furchen versehen, Furchen und Falten, die durch Traurigkeit verursacht und durch Salz und Wind verstärkt wurden.
Nach der Scheidung von Rebekka war er nicht einsam. Er hatte das Meer, seine Schwester und ihre Familie, die nicht weit von ihm gewohnt haben. Doch er vermisste seine Kinder, die mit Rebekka gemeinsam in die Nachbarstadt gezogen waren und die er nur einmal im Monat sah. Seine Tochter ist ihrer Mutter ähnlich mit roten Haaren und mit ihrer Sehnsucht nach dem Stadtleben, der Hektik und der Schnelligkeit, die dort vorherrscht. Sein Sohn ist ihm ähnlicher, auch wenn er nie das Meer so zu lieben gelernt hat wie Nathan es liebt. Doch auch Jonathan arbeitet jetzt mit seinen Händen - er ist Juwelier geworden, formt aus Steinen und Metallen Schmuck und einmal hat er ihm einen Ring mit einem Bernstein gezeigt, in dessen Mitte ein Insekt eingeschlossen war.
Nathan hat den Ring lange angesehen, hat sich an Mariane erinnert, an Mariane, die lieber einen anderen geheiratet hatte als einen einfachen Fischer. Sie ist in die Stadt gezogen, nach Berlin und er ist zurückgeblieben, hat Rebekka geheiratet, war mit ihr zufrieden gewesen. Bis Rebekka nicht mehr zufrieden war, denn er hat sie nicht so lieben können, wie sie es verdient hat.
„Onkel Nathan!“ Der Ruf einer Frau dringt an sein Ohr und er wendet sich um, erblickt Sara, seine Nichte, die mit ihrem Sohn an ihrer Seite auf ihn zukommt, einen Korb in der Armbeuge. Er lächelt mit ehrlicher Freude, schließt seine Nichte in die Arme, begrüßt seinen Großneffen, der mit der typischen Verlegenheit eines Teenagers die Umarmung über sich ergehen lässt. „Kommst du am Sonntag zu uns zum Mittagessen?“, will Sara wissen und Nathan überlegt für einen Moment, ob sie Mitleid mit ihm hat, mit ihm, dem alten, einsamen Mann, dessen Kinder zu weit weg leben und zu denen die Beziehung zu lose ist, als dass sie ihn am Sonntag zum Essen einladen würden.
Doch dann schluckt er seinen Stolz hinunter und nickt. „Gerne“, stimmt er zu und Sara lächelt, scheint erfreut über seine Zusage und er schämt sich dafür, dass er ihr unterstellt hat, dass sie ihn nur aus Mitleid einlädt und nicht aus Zuneigung.
„Um zwölf“, sagt sie. „Es gibt Hirschragout.“ Sie zwinkert. „Mal was anderes als Fisch und Kartoffeln.“
Er lacht auf, wirft einen Blick auf sein in Zeitungspapier eingewickeltes Mittagessen, das ein Fisch ist, den er von seinem Fang zurückbehalten hat und den er jetzt in einer Hand trägt. „Etwas Abwechslung ist nicht schlecht“, stimmt er zu und sie verabschieden sich. Er schlendert weiter, bleibt ab und zu stehen, wechselt ein paar Worte mit alten Bekannten, Freunden und ehemaligen Kollegen, verabredet sich zu einer Partie Schach im Park und verspricht einer ehemaligen Schulkollegin einen Fisch für ihr morgiges Mittagessen.
Er ist mit seinem Fahrrad hier, legt den Fisch in den Korb am Gepäckträger und will sich auf den Heimweg machen, als er den Rücken einer schlanken Frau sieht, ihre weißen Haare zu einem eleganten Knoten im Nacken gewunden, der braune Rock umspielt alte, doch kräftige Waden in einer durchsichtigen Strumpfhose. Sie geht zögernd über den Markt, bleibt immer wieder stehen, sieht sich um, betrachtet die ausgelegten Waren, als würde sie sie zum ersten Mal sehen.
Er kann sie aus dem Profil sehen, als sie vor einem Fischstand stehen bleibt, etwas zum Verkäufer sagt, den er von Kindheitsbeinen an kennt. Matthias, erinnert er sich an seinen Namen. Matthias scheint zu überlegen, sieht sich suchend um, während er etwas zu erklären scheint, dann bleibt sein Blick an Nathan hängen und er winkt ihm zu. Die Frau dreht sich um und Nathan erstarrt, starrt sie an, während er zu verstehen versucht, warum sie hier ist, was sie hier tut, was sie will, nach all den Jahren, nach all der Zeit.
Sie kommt auf ihn zu und er betrachtet sie, sieht für einen Moment die junge Frau mit den roten Locken, die wie Feuer in der Sonne geleuchtet haben, dann wieder die alte Frau mit den Krähenfüßen um die klaren Augen, die Falten auf der Stirn und den Furchen zu den Seiten ihres Mundes. Er sieht die knotigen Hände, die sie scheinbar nervös ineinander verschlungen hat, die Krampfadern auf ihren Beinen, die vereinzelten Altersflecken auf ihren Hals.
Sie ist wunderschön, wunderschön in ihrem Alter mit der Last der Jahre auf ihren Schultern, den Spuren des Lebens auf ihrem Körper und ihrer Seele und als sie vor ihm stehen bleibt und zu ihm aufsieht, die Augen hinter einer Gleitsichtbrille, da lächelt er. „Guten Morgen, Nathan“, sagt sie, als hätten sie sich gestern erst gesehen.
„Mariane“, erwidert er ruhig und sie streckt ihre Hand aus. Sonnenlicht fängt sich in goldenen Tiefen und er erblickt einen Bernstein in ihrer Handfläche.
„Ich hab ihn gefunden“, sagt Mariane, „und er hat mich an dich erinnert. Ich war nicht mehr einsam, weißt du?“
Er nickt, er weiß, denn er war in den letzten Jahren oft einsam, hat sich den Bernstein zurückgewünscht, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte.
„Ich hatte Krebs“, sagt Mariane. „Ich dachte, ich würde sterben. Und“, ihre Stimme zittert, „ich wollte nicht sterben, ohne nicht zu wissen, was…“, sie bricht ab, „wie…“, ihre Worte verklingen und Nathan neigt den Kopf.
„Bist du wieder gesund?“, fragt er sie und sie nickt, senkt die Hand mit dem Bernstein, die Finger fest darum geschlossen.
„Ja“, sagt sie leise. „Meine Tochter hat mich hierher geschickt, nachdem ich ihr von dir erzählt habe.“
Er nickt, weiß nicht, was er sagen soll. Er weiß, was er fragen will, doch er wagt es nicht, wagt nicht, voreilige Schlüsse zu ziehen, das Wiedersehen in Missverständnissen zu zerstören.
„Mein Mann ist vor achtzehn Jahren an Leukämie verstorben“, beantwortet sie seine unausgesprochene Frage, schlägt die Augen nieder, scheint verlegen, dass sie die Information ungefragt preisgegeben hat. „Also… ich… du…“
„Ich war verheiratet“, erzählt er, durch ihre Antwort erleichtert und ihre offensichtliche Nervosität beruhigt ihn fast. „Doch sie wollte die Scheidung. Ist jetzt schon wieder zwanzig Jahre her.“
Etwas blitzt in ihren Augen auf, dass er als Freude zu erkennen meint, doch dann ist es wieder verschwunden und er spürt, wie er zu lächeln beginnt. „Ich bin immer noch Fischer“, sagt er, wartet auf ihre Antwort und sein Magen krampft sich zusammen, als sie lange schweigt, erinnert sich an ihre bitteren Worte von damals als wäre es gestern gewesen.
„Ich war dumm“, sagt sie plötzlich und in ihren Worten schwingt eine Schärfe mit, die er noch nie an ihr gehört hat. „Ich war dumm und jung und viel zu unbedacht. Ich hätte nicht versuchen sollen, dich zu ändern.“
Die Worte schmerzen, kommen sie doch so viele Jahre zu spät und zugleich weiß er, dass nicht nur sie Schuld daran hat, dass es damals nicht funktioniert hat. „Ich hätte nicht versuchen sollen, dich an diesen Ort zu binden“, erwidert er leise. „Du warst hier nicht glücklich und das habe ich gewusst.“
Sie hebt den Blick und sie sehen sich an, als er behutsam nach ihrer Hand greift, den Bernstein zwischen ihren Fingern.
„Würdest du jetzt hier glücklich werden?“
Ihre Augen flackern unruhig hin und her und er zwingt sich dazu, sie nicht fester zu halten, obwohl er Angst hat, Angst, dass sie gleich verschwinden würde, wieder aus seinem Leben entweichen würde.
Die Welt verstummt um sie herum, als sie sich ansehen und warten, warten auf die Antwort, auf das kleine Wort, das ihre Leben verbinden könnte, der große Fischer und die elegante Französin, den kleinen Bernstein und gebrochene Versprechen zwischen sich und in der Ferne das Rauschen der Wogen des Meeres.
Die Wächter der Apokalypse versammeln sich im "Tor zur Hölle", wo sie Pfefferminztee und Blutorangensaft schlürfen und auf die Tastaturen einhämmern, um bestsellerverdächtige Texte zu produzieren. Obwohl von Natur aus Einzelkämpfer schließen sie sich manchmal zusammen um Geschichtensammlungen wie diese zu fabrizieren.
An dieser Sammlung haben mehrere von ihnen mitgearbeitet: Audrey J. Asbury, Sophia Anna Csar, Joan Darque und Jeanne Kaven. Wer was geschrieben hat, darf sich der Leser selbst überlegen und seine Tipps abgeben.
Die Wächter bedanken sich für das Lesen und freuen sich auf rege Kritik und Kommentare.
Texte: Die Wächter der Apokalypse
Bildmaterialien: Darque
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2014
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