Johannes trommelt unruhig mit seinen Fingern auf den Tisch, seine Augen huschen immer wieder zur Glastür, hinter der er das Treiben der Geschäftsstraße sehen kann. Die Sonne scheint und bringt die Pfützen auf den Pflastersteinen zum Funkeln. Es ist ein schönes Café mit freiem Internet. Aber heute - er seufzt, wischt sein Smartphone an der Jeans ab, die durch langen Gebrauch schon abgetragen ist.
Verspäte mich, hat Veronika ihm vor zwanzig Minuten ins Ohr gemurmelt, die Geräuschkulisse von lachenden Menschen hinter ihrer hellen Stimme. Wieder verspätet. Wieder ist er versetzt. Wieder und wieder. Wann ist das geschehen? Wann ist er zu so einem winzigen Teil ihres Lebens degradiert worden?
Vor einem halben Jahr hat es angefangen - als er zum Arbeiten begonnen und die Uni hinter sich gelassen hat. Und plötzlich hat er nicht mehr so viel Zeit unter der Woche, hat sich am Feierabend auf eine ruhige Nacht gefreut und ist nicht mehr bereit gewesen, durch Clubs zu ziehen. Veronika liebt es zu tanzen. Sie liebt es Tequila zu trinken und sie liebt es zu leben.
Das kleine Glöckchen über der Tür bimmelt und Veronika tritt ein, die überdimensionale Sonnenbrille auf der Nase, die langen, glatten, braunen Haare fallen ihr wie ein Wasserfall über die nackten Schultern, die von dem roten Langarmshirt freigelassen werden. Kurz sieht sie sich um, dann lächelt sie, als sie ihn sieht, in ihrer linken Wange erscheint das Grübchen, das er so sehr liebt und das er schon so oft geküsst hat, wenn sie kichernd über das Bett gerollt sind.
In ihren schwarzen Ballerinas hüpft sie auf ihn zu, ihre grünbraunen Augen funkeln, als sie ihn zart auf den Mund küsst und die Sonnenbrille in die Haare schiebt. Er muss lächeln, wie immer, wenn er sie sieht, egal, wie sehr sie sich auseinander gelebt zu haben scheinen. Bald, denkt er sich wieder, bald wird sie auch das Studium zu Ende haben und dann würden sie wieder näher zusammen finden, wenn ihre Lebenssituation wieder die gleiche ist.
„Hey“, sagt sie und rutscht auf die Bank, die er für sie freigelassen hat. Sie mag es mehr auf Bänken zu sitzen als auf Stühlen, denn dort kann sie ihre überdimensionalen Handtaschen mit den unaussprechlichen Markennamen besser abstellen und im Auge behalten als auf Sesseln.
„Hey“, erwidert er, während sie ihr Handy aus der Tasche zieht, kurz einen Blick auf das Display wirft und das Smartphone zwischen ihnen ablegt, genau neben seines.
Sie lächelt verschmitzt. „Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Jess und Oliver haben mich nach der Uni abgefangen und mich mit ihrer Party nächste Woche zugequatscht.“
Er hat keine Ahnung wer Jess und Oliver sind, doch er nickt, als er ihren Plänen fürs nächste Wochenende lauscht, an denen er nicht teilhaben kann.
„Du kommst natürlich auch“, sagt sie und sieht ihn teils erwartungsvoll, teils sorgenvoll an. Zu oft hat er in letzter Zeit abgesagt und wieder muss er sie enttäuschen.
„Ich bin nächstes Wochenende auf einer Schulung“, erwidert Johannes mit dem unangenehmen Zwicken im Magen, als er ihre Enttäuschung sieht. Spontan greift er über den Tisch, nimmt ihre Hand in seine. „Es tut mir leid“, diese Phrase scheint so oft in ihren Gesprächen vorzukommen, dass sie schon allen Klang verloren zu haben scheint, doch Johannes meint sie wirklich so, „ich weiß, wir haben in letzter Zeit nicht viel Zeit miteinander verbracht. Was hältst du davon, wenn wir am verlängerten Maiwochenende ein Wochenende irgendwohin fahren? Nur wir zwei.“
Er sieht sie hoffnungsvoll an, hofft, dass er das Funkeln wieder in ihre Augen bringen kann, doch ihre Augen bleiben still und enttäuscht.
„Ja“, sagt sie schließlich unbestimmt und die Enttäuschung trifft ihn mit einem schwungvollen rechten Haken. „Ich komme gleich wieder.“ Sie nimmt ihre Tasche und verschwindet Richtung Toilette, der Schwung ist aus ihrem Schritt gewichen. Johannes seufzte, streicht sich durch die dunkelblonden Locken, als Veronikas Handy aufleuchtet und ein helles Ding ertönt, das von einer eingehenden Nachricht kündet.
Unbewusst wirft er einen Blick darauf, sieht wieder weg, sieht wieder zurück. Eis gefriert in seinem Magen, als er die Hand ausstreckt und die Vorschau der Nachricht auf dem Sperrbildschirm sieht. Max steht dort als Absender. Er hält das Handy in der Hand, liest die wenigen Worte, die er sehen kann wieder und wieder.
Es ist ein Scherz. Es muss ein Scherz sein.
Das schmerzhafte Ungetüm schreit in seinem Magen auf, als Veronika sich auf die Bank fällen lässt. „Was ist los?“, sie lächelt, dann erstarrt ihr Gesicht. „Ist das mein Handy?“
Eine Frau kreischt schimpfend auf, doch Johannes beachtet sie nicht, als er stumm das Handy auf den Tisch fallen lässt. „Max fragt, ob ihr die Nacht noch mal wiederholen wollt. Er träumt von deinen geilen Titten.“ Bitterkeit tropft von seinen Worten, als er sein eigenes Handy nimmt und in die Hosentasche schiebt.
„Johannes.“ Sie sieht ihn mit großen, flehenden Augen an, ihre Lippen zittern. „Bitte, lass mich erklären…“
„Nein“, unterbricht er sie, „nein.“ Kopfschüttelnd steht er auf, schlüpft in die Sweatjacke, die er über die Sessellehne gehängt hat. „Drei Jahre, Veronika.“ Der Schmerz in seinem Herz ist still und giftig. „Drei Jahre.“
Damit wendet er sich um und geht hinaus in die ach so freundliche Sonne. Er hat nicht bezahlt, fällt ihm ein, als das Glöckchen fröhlich bimmelt. Egal. Das ist sie ihm schuldig.
Er sitzt bereits an seinem Tisch, das kleine Notebook aufgeschlagen und der zuckerlose, schwarze Kaffee direkt nebenan. In diesem Moment knetet er seine Hände und starrt konzentriert auf die schwarzen Zahlen am Desktop.
Malachi ist Mathematiker aus Leidenschaft und dazu noch Dozent in einer hochangesehenen Universität, die sich durch ihre herausragenden Resultate abhebt. Ursprünglich kommt er aus Irland, sein Vater war Ire, seine Mutter ist Deutsche. Seine Liebe zur Logik hat er entdeckt, als er mit seinem Grossvater eine Woche lang in einer Hütte in den Alpen gehaust hat. Nichts außer seine lieblichen Karten hatte er dabei, sein Grossvater lehrte ihn die Kunst des Spielens.
Als die Cafétür aufschwingt, schaut er instinktiv hin, hofft, dass es nicht Marliese ist, doch er irrt, sie kommt in hüpfenden Bewegungen auf seinen Tisch zu - den linken Arm mit dem eines Mannes verhakt. Er seufzt und steht auf. So wie es ihm beigebracht wurde, gibt er seiner Noch-Ehefrau die Hand, während seine Lippen zu einem Strich verkommen.
"Marliese." Dünn wie ein Lufthauch, schneidend wie eine Klinge begrüßt er sie.
"Malachi, schön dich zu sehen." Sie lächelt, doch er glaubt kaum, dass es ein ehrliches Lächeln ist. "Joseph." Noch einmal fest Händeschütteln, dann setzt er sich zurück auf seinen Stuhl. Während die Kellnerin kommt und die Bestellung aufnimmt, klappt er das Notebook zu und packt es in seinen Rucksack, nimmt gleich darauf ein Stapel Blätter heraus. Es sind die Scheidungspapiere. "Du kriegst das Haus, das Wohnzimmer, Badezimmer, und so weiter, alle Sanitäranlagen halt. Ich will das Schlafzimmer, also die Möbel davon." Seine Stimme bleibt wie vorher, nett könnte man sie kaum bezeichnen. Ihr Lächeln gefriert
"Ich will das Schlafzimmer, den Rest kannst du haben." Provokativ streckt sie ihm ihr Kinn zu, während sie ihre Finger mit denen vom stillen Joseph verschränkt.
"Nein." Malachi schaut sie an ohne zu blinzeln. "Das Schlafzimmer gehört mir, basta." Keine Einwände sind zu dulden, doch sie zischt dennoch auf: "Und wo bitteschön sollen Joseph und ich dann schlafen, du Schlaumeier?!" Ihre Augen sprühen giftige Dornen.
Er seufzt, solch eine Dummheit hätte er nicht erwartet. "Hör einmal Marliese, wenn ich das Haus bekomme, wirst du weder darin hausen noch dort schlafen. Da nützt dir dein Schlafzimmer gar nichts." Er seufzt und schüttelt gleichzeitig den Kopf. Das Haus braucht er nicht, er kann sich eine Wohnung leisten, aber die Schlafzimmermöbel möchte er verkaufen, einfach, weil er weiß, dass es sie stören wird.
"Ich hab kein Geld", zischt sie wütend.
"Hätten du oder dein geliebter Joseph alias Schmarotzer einmal den Allerwertesten hochgekriegt, könntet ihr euch nun ein billiges Schlafzimmer leisten." Noch bevor er den Satz überhaupt beendet, holt Marliese aus und schon liegt Malachi in brenennden Flammen - jedenfalls fühlt er sich so.
"Du verdammtes Miststück!" Er springt wütend auf, plötzlich sind es seine Augen die Blitze verkünden, während der heiße Kaffee sich auf seiner Haut verteilt und ihn Schmerzen erleiden lässt. "Du verzogene Göre wirst jetzt nichts bekommen, verzieh dich!" Ein einziges Drohen entweicht ihm, doch sie findet noch den Mut trotzig das Kinn zu heben und stolz aus dem Café zu marschieren. Die Kellnerin kommt bereits angerannt, doch Malachi hat nur noch Augen für seine Ehefrau. Wenn das keine Rache gibt ...
Veronika sitzt wie betäubt im Café, sieht ihrem Freund nach, der vor der Tür noch kurz innehält. Komm zurück, fleht sie, doch Johannes geht schon weiter, verschwindet zügig aus ihrem Sichtfeld im regen Treiben der Menschen, die unbeeindruckt von Veronikas Leid weitergehen, ihren eigenen Geschäften nach.
„Was darf ich Ihnen bringen?“ Die Kellnerin steht neben dem Tisch, sieht sie abwartend an.
Meinen Freund, will Veronika sagen, doch sie sieht nur hilflos und stumm die Frau mit den schön blondierten Haaren an. Meinen Ex-Freund.
Ein Schrei ertönt und Veronikas Blick zuckt zu der anderen Seite des Cafés. Zwei Männer und eine Frau, reiche Anzugträger, so anders als ihr Johannes, stehen dort, der eine triefend von einer braunen Flüssigkeit, die Kaffee zu sein scheint. Die Frau wirbelt herum, schreitet aus dem Café, die Augen kampfeslustig verengt. Der andere, saubere Mann folgt ihr wie ein verloren gegangener Welpe, nachdem er dem Kaffegetränkten noch einen hilflosen Blick zugeworfen hat.
Die Kellnerin stürmt zu ihm und Veronika bleibt allein sitzen, die Szene hat sie kurz von ihrem eigenen Leid abgelenkt. Nun, davon war sie ja wohl verschont geblieben. Obwohl sie vielleicht ihren Computer auf Viren checken sollte.
Aber nein. So hinterhältig war ihr Freund nicht - Ex-Freund, verbessert sie sich. Johannes war zu gut dazu, viel zu gut für sie. Freundlich. Aufmerksam. Zärtlich. Liebevoll - die Tränen steigen ihr in die Augen, als die Erkenntnis einsinkt. Sie hat ihn verloren.
Drei Jahre - drei Jahre mit Höhen und Tiefen. Aber mit Vertrauen.
Gequält schlägt sie die Hand vor den Mund, drängt ein Schluchzen zurück. Sie hat es kaputt gemacht. Max hat es kaputt gemacht. Ihre Finger krampfen sich um das Handy und der Drang, es gegen die Wand zu schleudern, wird so stark, dass sie ihm nur mühsam widerstehen kann.
Es war ein schwacher Moment gewesen, nur einer. Weil sie sich so einsam gefühlt hat, weil sie betrunken gewesen ist. Sie mag Max nicht einmal besonders. Er ist einfach da gewesen, hat ihr Tequila nach Tequila spendiert und irgendwann ist sie mit ihm im Bett gelandet.
Der Sex ist wenigstens gut gewesen, denkt sie mit Abscheu. Und? Ist es das wert gewesen?
Blind greift sie in ihre Handtasche, zieht einen Zehn Euro Schein heraus und legt ihn auf den Tisch, bevor sie aus dem Café stolpert, dabei gegen einen Sessel stößt, dessen Besetzer ein empörtes „Hey“ von sich gibt, murmelt eine Entschuldigung und taumelt auf die Straße.
Die Sonne scheint so grell, so hell und doch benötigt sie einen Moment um zu realisieren, dass ihre Sonnenbrille noch in ihren Haaren steckt. Sie klappt sie hinunter und in der Anonymität, die ihr die Brille gewährt, beginnen die Tränen zu fließen.
Nein. Es ist das hier nicht wert gewesen.
Stirnrunzelnd sieht Mia nach rechts.
„Du wirst nicht gleich rausstürmen … oder?“, fragt sie ihre Freundin Suse. Das ist jetzt schon der zweite Tisch, von dem jemand unvorhergesehen die Flucht ergriffen hat.
„Nope“, antwortet die. Sie hat ihre Füße auf den ran gezogenen Stuhl neben sich gelegt, obwohl das sicherlich nicht die feine Art ist. „Selbst wenn ich wollte: sehe ich aus, als ob ich es noch könnte?!“
Suse reibt sich den Nacken, der ihr wehtut, als sei sie 80. Oder als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen. Mia schaut runter zu den Einkaufstüten, die unter dem Tisch stehen. Gut, vielleicht hatten sie tatsächlich genügend Kilometer für einen Marathon abgelaufen. Mia lacht leise.
„Wenn du mir sagst, dass du hinter meinem Rücken was mit Martin hast, dann jage ich dich, das glaub mir mal“, albert sie rum.
Sie sieht von ihrem Cappuccino zu Suse. Sie hat erwartet, dass diese lachen würde, aber das tut sie nicht und Mia will sich vergewissern, wieso. Suses Blick ist todernst. Sie traut sich anscheinend nicht ihr in die Augen zuschauen, sondern rührt in ihrem Tee herum, in dem sich schon vor circa 15 Minuten jeglicher Zucker aufgelöst hat, der sich nur auflösen kann. Mia wird unruhig.
„Suse?“, fragt sie beinahe schon ängstlich nach. Sie kann sich das Verhalten ihrer besten Freundin nicht erklären, sie steigt sonst auf jeden Scherz ein und sei er auch noch so blöd. Das ist bisher in allen fünf Jahren so gewesen, in denen sie sich kennen. Und Suse ist eigentlich immer fröhlich, ganz anders als jetzt. Es sei denn … . Mias Herz schlägt bis zum Hals. Sie wird doch nicht etwa … ?
Nein, verwirft sie den Gedanken. Martin und sie sind seit 4 Jahren ein Paar und im Gegensatz zu anderen Pärchen um sich herum, die kamen und wieder gingen, sind sie immer noch so verliebt wie am ersten Tag. Und sie kennt Martin, er ist nicht nur ihr Liebhaber, er ist auch ihr bester Freund. Nie würde er ihr so etwas antun. Mal ganz abgesehen davon, dass der Mann schlechter lügen kann als jeder andere Mensch, den sie bisher getroffen hat.
Und Suse? Sie ist immer für sie da. Egal, wie schlecht es Mia geht, Suse kommt mit einem Schokoeisbecher vorbei und schafft es irgendwie, dass die Welt wieder rosa wird. Sie würde sie nie derartig hintergehen.
Mia versucht sich gut zuzureden, trotzdem fängt sie an ihre Finger zu kneten, denn sie merkt, dass irgendwas nicht in Ordnung ist. Suse wäre doch sonst schon längst hochgeschreckt, hätte sie angelacht und sich dafür entschuldigt, dass sie vollkommen in Gedanken versunken gewesen ist. Irgendwas liegt Suse auf der Seele und es ist wohl nichts Gutes.
„Rede doch bitte mit mir“, flüstert sie ihrer besten Freundin zu. Sie schluckt den Kloß in ihrem Hals runter. „Du weißt doch, dass du mit mir über alles reden kannst“, versichert sie ihr.
Suse schaut auf und sieht sie an, als würde sie sie das erste Mal sehen. Langsam zieht sie ihre Füße von den Stuhl neben sich und setzt sich ordentlich hin. Zu ordentlich. Eher verkrampft. Sie beginnt an ihrer Lippe zu knabbern, was sie wirklich nur tut, wenn sie sehr nervös ist. Das letzte Mal hat Mia sie vor einem sehr wichtigen Bewerbungsgespräch so gesehen.
Nach endlos quälenden Sekunden hört Suse endlich auf ihren Mund zu malträtieren und öffnet ihn, um etwas zu sagen.
„Ich werde dir Martin nicht ausspannen.“
Verwundert blinzelt Mia. So viel Aufriss für eine Aussage, die sie im Prinzip schon wusste?! Aber da redet Suse auch schon weiter.
„Weil ich lesbisch bin.“
Mia verliert zugegebenermaßen etwas die Fassung. Ihre Hand stößt gegen ihre Cappuccino-Tasse, die zum Glück nicht mehr voll genug ist um überzuschwappen, aber sie tanzt geräuschvoll auf ihrem Unterteller. Ihr Kopf rattert, um das Geständnis ihrer Freundin zu verarbeiten.
Lesbisch. So wie in ‚ich liebe Frauen‘? Aber nein, das kann nicht sein, hat sie ihr anfangs nicht immer von Dates erzählt? Hat sie es dabei gemanagt das Geschlecht nicht zu erwähnen oder hat sie es einfach ausgetauscht? Sie gewissermaßen also angelogen?
Mia denkt nach und ihr fällt auf, dass Suse ihr schon lange nichts mehr aus ihrem Liebesleben berichtet hat. Oft hat sie sie deswegen ein bisschen getriezt, nur freundschaftlich, versteht sich. Und einmal hat sie sogar versucht Suse zu verkuppeln. Aber als diese das vehement abgeblockt hat, hat Mia nicht einen Gedanken daran verschwendet, dass es daran liegen könnte, dass Suse auf Frauen steht.
„Bitte sag doch was“, bettelt Suse sie nun an. Vertauschte Rollen.
Mia kann noch nicht, ihr Kopf ist noch nicht damit fertig, die Information einzuordnen. Ihr fallen auf einmal so viele Situationen ein, in denen sie sich vielleicht anders verhalten hätte, wenn sie gewusst hätte, dass Suse lesbisch ist. Erst heute zum Beispiel. Sie hat neue Dessous anprobiert. Sie hat Suse zu sich in die Kabine gezogen, um ihre Meinung zu erfahren. Oh Gott, was musste sie sich dabei gedacht haben? Waren ihr dabei gar sexuelle Gedanken in den Kopf gekommen? Mia fühlt sich plötzlich reichlich unwohl in ihrer Haut. Und was ist mit dem Schwimmbad? Nachdem sie ihre Bahnen zogen, duschten sie in den Umkleidekabinen. Nackt. Hatte Suse das glatt in ihre Fantasien eingebaut?
„Ich muss hier weg“, murmelt Mia in einem unverständlichen Kauderwelsch, schnappt sich im Eiltempo ihre Sachen und flieht aus dem Café.
Vor dessen Tür bleibt sie stehen. ‚Klarer Kopf‘, sagt sie innerlich zu sich selber und versucht ihn dadurch herbeizuführen. Als ihr die Ironie bewusst wird, dass sie nun diejenige ist, die aus dem Café gestürmt ist, muss sie beinahe kichern. Ihr erster Impuls ist es, Suse darauf hinzuweisen, damit sie gemeinsam darüber lachen können. Dann fällt ihr wieder ein, wieso sie überhaupt hier vor der Tür steht.
Mia atmet tief ein und aus. Hat sie überreagiert, fragt sie sich selber. Es ist ja nun nicht so, dass sie Homosexuellen gegenüber nicht aufgeschlossen ist, nein, das ist es nicht. Sie hat sogar einen schwulen Kumpel und damit keine Probleme. Und sie hasst es, wenn ihre konservativen Eltern sich darüber unterhalten, dass die Ehe etwas Heiliges zwischen Mann und Frau sei. Also warum ist sie rausgerannt?
Mia schlägt die Hand vor den Mund, als ihr klar wird, dass sie gerade ihre beste Freundin sitzen gelassen hat, als sei sie etwas Ekliges. Dann hat sie sie eben schon nackt gesehen, na und? Mia sieht schließlich auch nicht alle ihre männlichen Freunde an, als seien sie leckere sexuelle Appetitanreger. Suse ist Suse und Mia ist Mia. Und Suse hatte nie irgendwelche unpassenden Annäherungsversuche gestartet.
Trotzdem geht das ungute Gefühl nicht weg. Mia fühlt sich hintergangen. Sie hat Suse immer alles verraten, einfach alles. Und Suse … kennt sie sie überhaupt richtig? Wie viel hat sie noch von sich verschwiegen? Alles, was sie glaubt über ihre beste Freundin zu wissen, scheint irgendwie zu zerbröseln.
Ein Räuspern reißt sie aus den Gedanken. Ein Asiate mit Brille, nur ein paar Zentimeter größer als sie, steht direkt vor ihr.
„Ähm, vielleicht sollten Sie entscheiden, ob Sie rein oder rauswollen“, sagt er höflich zu ihr. „Sie stehen dort recht ungünstig.“
„Oh Entschuldigung.“ Er hat natürlich Recht. Peinlich berührt tritt sie zur Seite, damit er das Café betreten kann. Ja, also wofür entscheide ich mich, fragt sie sich selber. Rein oder raus?
Suse hat es ihr fünf Jahre lang nicht erzählt, weil sie wahrscheinlich Angst vor ihrer Reaktion hat. Und nun hat sie vermutlich genauso reagiert, um das zu bestätigen. Mia dreht sich um, und betritt das Café erneut. Sie will sie Lügen strafen.
Sie sieht zu dem Tisch, wo Suse in sich zusammengesunken ist wie ein kleines Häufchen Elend. Die zierliche Brünette ist noch mal um mehrere Zentimeter geschrumpft und Mia ist froh darüber, sich so entschieden zu haben.
Schwungvoll nimmt wieder ihren Platz gegenüber ein. Suses Kopf, ruhend in ihren Händen, zuckt auf. Wahrscheinlich erwartet sie einen Fremden, denn ihre Rehaugen weiten sich, als sie sieht, dass es Mia ist. Mia muss bei diesem Anblick grinsen. „Na dann, schieß mal los. Ich will alles wissen, was du glaubtest mir nicht erzählen zu können.“ Sie bestellt sich bei der vorbeilaufenden Kellnerin noch einen zweiten Cappuccino. Die spärlichen Reste ihres davorigen sind ihr inzwischen zu kalt.
„Aber du hast … hast keine Freundin, oder?“, hakt Mia unsicher nach. Eine ganze verheimlichte Beziehung, das wäre doch etwas zu viel Geheimniskrämerei. Doch zu Mias Erleichterung schüttelt Suse den Kopf.
„Nein, keine Freundin.“ Sie seufzt, als wäre das ein leidliches Thema. „Aber vor einer Woche hatte ich mal wieder ein katastrophales Date … magst du es wirklich hören?“
Sie rührt mal wieder mit dem Löffel den Tee um, Mia fragt sich, ob inzwischen überhaupt noch was in dieser Tasse drin ist.
„Na und ob“, antwortet Mia ihr und lehnt sich gespannt nach vorne, um auch ja kein Wort zu verpassen.
Zuvor hat es geregnet. Das hat besser zu seiner Stimmung gepasst, als der Sonnenschein, der das kleine, zum Platzen gefüllte Café in einen hellen Schein taucht und Achim lehnt sich noch tiefer in die hintere Ecke in der er sitzt. Topfpflanzen schirmen ihn wenigstens teilweise von den anderen Menschen ab, aber er hat keinen Blick für die Leute um ihn herum.
Sein Blick bleibt fest auf den Tee vor ihm gerichtet, dessen milchig braune Oberfläche von der Unmenge an Milch zeugt, die er geistesabwesend hineingegossen hat. Er hebt die Tasse an die Lippen und nimmt einen kleinen Schluck. Angewidert hält er die erkaltete Flüssigkeit im Mund, dann schluckt er sie widerwillig. Irgendwann muss er Zucker hineingerührt haben, obwohl er sich nicht mehr daran erinnern kann.
Der Geschmack der restlichen Gewürze im Tee sind längst in Milch und Zucker untergegangen und er schiebt die Tasse unwillig etwas von sich weg, sein müder Blick wandert durch das Café, bleibt an einem jungen Pärchen hängen, die die geschlagene Ernüchterung einer gescheiterten Beziehung ausstrahlen. Kurz fragt er sich müßig, was bei ihnen schief gelaufen ist, als hohes Kinderlachen an sein Ohr dringt.
Er erstarrt, schaudert, als er zu dem Kind blickt. Irgendwann - er schluckt, nimmt automatisch einen weiteren Schluck von dem grauenhaften Tee.
Irgendwann wird er auch einmal Kinder haben. Irgendwann einmal. Aber nicht jetzt.
Mit zitternden Händen stellt er die Tasse auf der Untertasse ab, schreckt zusammen als es laut klappert. Sein Kopf dröhnt. Es wäre besser gewesen, wenn er zuhause geblieben wäre. Mit diesem Kater, den er unzähligen Schnapsstamperl zu verdanken hat, sollte ein Mann nicht in die Öffentlichkeit gehen.
Aber in seiner Singlewohnung sind die Räume zu klein geworden, die Wände haben auf ihn gedrückt, als wollten sie ihn ersticken. Also hat er die Flucht ergriffen und ist in diesem Café gelandet.
Jetzt, wo er das ansieht, bereut er diese Entscheidung. Sein Kopf schreit „Flucht“, doch er bleibt sitzen, starrt das kleine Kind an, das zahnlos grinst. Er könnte auch - er schluckt, den Gedanken nicht zu Ende denken.
Er sieht die junge Frau wieder vor sich, ihre blonden Dreadlocks zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, wie sie im Empfangsbereich der Firma, in der er arbeitet, auf ihn wartet. Nervös, verlegen, viel jünger als er sie in Erinnerung hat. Vor drei Monaten - nun, er war betrunken. Sie hatte nicht so jung, so frisch gewirkt, trotz der dunklen Schatten, die sich unter ihre Augen eingegraben haben und die von den schlaflosen Nächten erzählen, die sie ihre Entscheidung kosten.
Achim hatte überlegen müssen, wie ihr Name war, als sie so plötzlich vor ihm gestanden war und sie hatte ihn erlöst, mit einer leichten, verlegenen Röte auf den Wangen und einer sanften, zitternden Stimme: „Philippa“, als wäre es selbstverständlich, dass sich eine Frau einem Mann vorstellen musste, mit dem sie Sex gehabt hatte.
Sie waren in sein Büro gegangen und sie hatte die Worte aus ihrem Mund purzeln lassen, als ob sie eine unerträgliche Last seien. „Ich bin schwanger.“
Und die Last hatte es sich auf seinen Schultern gemütlich gemacht.
Ein lauter Tumult, eine hohe, wütende Frauenstimme reisst ihn aus seinen Gedanken und er sieht, wie eine Frau einem Mann Kaffee über das Hemd schüttet. Kurz verspürt er Mitleid für den armen Mann, bis er die Fratze des puren Hasses auf seinem Gesicht sieht.
Irgendwann einmal - aber noch nicht jetzt. Er ist vierunddreißig. Er hat noch Zeit. Er muss noch - was muss er eigentlich?
Genau. Karriere. Job. Büro. Reisen. Freunde. Die auch schon damit beginnen, Kinder zu bekommen. Süß, eigentlich. Aber viel Arbeit. Viel Verantwortung.
Der kleine Bursche am Nebentisch lacht auf und er starrt ihn wieder an. Seine Tochter wird auch so lachen. Würde so lachen. Wenn sie auf die Welt kommen würde.
Oder sein Sohn.
Er schüttelt heftig den Kopf, reißt den Blick von dem Kind los.
Sie hat gesagt, dass sie abtreiben würde. Hat es einfach so gesagt, als er noch wie erstarrt vor dieser Frau gestanden ist, die er zwar nackt gesehen hat, doch deren Namen er vergessen hat.
Zuerst ist da Erleichterung gewesen - pure, schamerfüllte Erleichterung. Philippa hat seine Erleichterung gesehen, genickt und ist gegangen.
Und jetzt sitzt er hier, zuckert seinen Tee bis der Löffel darin stecken bleibt und verspürt nagende, anklagende Reue. Immer wieder zuckt sein Blick zu dem Handy, in dem er Philippas Nummer eingespeichert hat. Ruf an, flüstert die Reue und mit zitternden Fingern greift er zu dem altertümlichen Nokia, von dem er sich einfach nicht trennen kann.
Das Kind am Nachbartisch quietscht vergnügt auf und er sieht hinüber, sieht das liebevolle Lächeln der Mutter und der vermutlichen Großmutter, die mit seinen kleinen Händchen spielen. Er sieht die kleinen, plumpen Finger, die sich um den Zeigefinger der Mutter schließen um diesen mit einem wildentschlossenen Ausdruck zum Mund zu führen. Das verblüffte, begeisterte Auflachen der Mutter trifft ihn mitten ins Herz.
Er nimmt das Handy, klickt sich durch das Adressbuch und drückt auf den grünen Knopf.
Seufzend schaut Michelle kurz aus dem Fenster. Ihre Schwiegermutter, Anne, sitzt ihr gegenüber, Thomas, ihr Sohn, sitzt in Michelles Schoß und schaut sich neugierig um, während er an seinem Schnuller nuckelt. Sie sind eben erst in dieses Café eingetroffen, weswegen die Kellnerin auch bereits ankommt und die Bestellung aufnimmt.
"Einen Schwarzberger Tee, bitte", sagt Anne mit einem für Michelle lustigen Akzent und schaut ihre Schwiegertochter an.
"Eh, für mich einen Kaffee, bitte, mit Milch und Zucker", sagt Michelle, doch bevor die Kellnerin weggehen kann, spricht Anne empört: "Nein, nein, Kind, das kannst du nicht machen, du warst vor kurzem doch erst schwanger!"
Michelle seufzt wieder, ist kurz davor die Augen zu verdrehen. "Na gut, dann eine heiße Schokolade, bitte." Die Kellnerin nickt und geht hinter die Theke.
"Michelle." Ein tadelnder Ausdruck im Gesicht der alten Frau erscheint. "Du musst wirklich mehr Verantwortung beziehen. Erst die Zigarette vorm Haus, jetzt der Kaffee ... Was kommt als nächstes? Du hast jetzt ein kleines Kind, auf das musst du aufpassen!"
Die Vierundzwanzigjährige streicht sanft über den Kopf des kleinen Jungen, der mit den Beinen strampelt und gerade so mit den Ellbogen an den Tisch ankommt. Sie tut es vielleicht sogar eher um sich selbst zu beruhigen, ihre Schwiegermutter wirft ihr schon seit der Schwangerschaft ständig irgendwelche Straftaten vor.
"Mutter, bitte", presst sie überanstrengt hervor. "Sorge dich nicht, ich passe schon auf. Der Kaffee und die Zigarette schaden dem Kleinen nicht." Sie unterdrückt ein erneutes Seufzen, nimmt große Schlucke als die Getränke ankommen.
"Naja, ist ja auch egal, wie geht es Matthias?", fragte Anne und rührt in ihrem Tee herum.
"Gut!" Beim Gedanken an ihren Mann muss Michelle lächeln und automatisch fängt sie an mit den Händchen von Thomas zu spielen, sodass er zu lachen anfängt. "Er ist heute wieder arbeiten, aber morgen wird er frei haben, dann können wir es uns ein wenig gemütlich machen." Sie schaut Thomas verzückt an, genauso wie Anne. Stolz lächelnd.
"Das hat Jannick auch gesagt, außerdem wollte er euch morgen besuchen, mit Jasmine." Das Lächeln Michelles zerfällt als sie dies hört. Jannick ist der Bruder von Matthias, und eigentlich kommt sie auch ganz gut mit dem Pärchen klar, doch auf morgen hat sie sich wegen der Entspannung gefreut. Sie haben schon lange nichts mehr alleine unternommen - zu dritt. Absagen kann sie jetzt allerdings nicht mehr.
"Okay, sie sind herzlich willkommen", sie löst einen Finger von Thomas' kleinen Fängen, damit sie weiter trinken kann. "Es tut mir leid, Anne, aber wenn das so ist, muss ich noch ziemlich viel ordnen!", schnell trinkt Michelle aus, hebt Thomas in seinen Kinderwagen und steht auf. Sie will wirklich nur noch alleine sein, den ganzen Tag ist sie nur unter Menschen gewesen, im Augenblick stört es sie auch nicht, dass sie unhöflich ist. Schnell legt sie das nötige Geld auf den Tisch und verabschiedet sich mit einem Kuss auf die Wange von ihrer Schwiegermutter "Wir hören uns!"
„Wie war der Tag im Büro, Liebling?“ Lächelnd nimmt Tristan die zwei Cappuccinos entgegen, die ihm die Kellnerin reicht. Er merkt an Anitas Körperhaltung an, dass etwas nicht stimmt. Aber Lächeln hilft.
Er hat den großen „Meine Mutter kommt zu Besuch und du freust dich nicht!“ - Streit weg gelächelt, den „Du hast mit der Kassiererin geflirtet!“ - Streit und den „Du hast nie Zeit für mich!“ - Streit. Dann wird er diesen Streit, unter welchem Namen auch immer er in die lange Geschichte ihrer mittlerweile 15-jährigen Beziehung eingehen mag auch weg lächeln.
Nur ein wütendes Schnauben bekommt er als Antwort, aber er lächelt trotzdem und greift nach Anitas Hand, die nervös mit einem silbernen Löffelchen immer wieder gegen die Tasse schlägt.
„Ist alles in Ordnung, Anita?“, fragt Tristan vorsichtig.
Lächeln hat er über die Jahre perfektioniert. Charmant, entschlossen, verständnisvoll, siegessicher.
Sowohl in der Kanzlei, als auch in seiner Partnerschaft mit der zuweilen recht hitzköpfigen Anita war Lächeln das, was ihn über Wasser hielt.
Diesmal entscheidet er sich für treudoof. Lässt sich perfekt mit dem „Ich bin verliebt in dich, wie seit dem ersten Tag“ - Blick kombinieren und sorgt in 80% der Fälle für ein weiches Herz des Gegenübers.
Doch Anita hat leider noch nie zur breiten Masse gehört. Sie entzieht Tristan ihre Hand und holt eine Packung Zigaretten aus dem dunkelblauen Blazer.
Er liebt diese Farbe an ihr.
„Hier darf man nicht rauchen, Nini ...“, murmelt er und streicht durch ihr dunkelbraunes Haar, ehe er versucht, sie näher zu sich zu ziehen. Sie sitzen nebeneinander und es wäre Tristan ein Leichtes, sie einfach auf seinen Schoß zu heben und zu küssen, aber …
„Lass den Mist, Tristan! Wir werden auch nicht jünger!“
Verwirrt lässt er ihre Hand und ihr Gesicht los und streicht seine Hose glatt. Kurz hört er auf zu lächeln, aber jetzt kann er sich denken, was los ist. Verständnisvoll.
„Aber wir können uns immer noch wie Siebzehn fühlen, nicht wahr? Weißt du noch, als wir hinter Tonis Bar -“
„Nein, dass mein ich nicht, Tristan.“ Sie atmet tief durch und schließt die Augen.
„Sieh dir diese Hand an“, meint sie leise und legt die Linke mit gespreizten Fingern flach auf den Tisch.
„Was fällt dir auf?“
Tristan fährt langsam über die blasse Haut seiner Freundin.
„Nun ... Sie hat einen sehr hellen Hautton, filigrane Glieder, eine kleine Narbe davon, dass du Ratatouille machen wolltest und dir beinahe den Finger abgehackt hast, weißt du noch?“
„Weiter“, ist alles, was er zu hören bekommt.
An dem Tag haben sie ihre Schlüssel getauscht, damit Tristan immer für sie kochen kann. Damals hat er noch in einem Studentenwohnheim gelebt und musste sich seine Küche mit dem gesamten zweiten Stockwerk teilen.
„Am Mittelfinger ist eine schwache Hornhaut, weil du immer noch mit deinem alten Füller schreibst, den ich dir zu unserem ersten Jahrestag geschenkt habe.“ Ein Lächeln. Ohne Hintergedanken. Ehrlich. Und sie sieht es nicht, weil ihre Augen immer noch geschlossen sind.
„Mhm.“
„Du warst letzte Woche bei der Maniküre, was?“ Die sonst abgekauten Fingernägel seiner Freundin sind ordentlich gefeilt und glatt, ein seltener Anblick. Aber er kann sie verstehen, die Arbeit im Büro muss unglaublich stressig sein, jetzt, da zwei ihrer Kolleginnen krank sind.
„Schau dir den Ringfinger an, Tristan. Was siehst du?“
Angestrengt versucht Tristan etwas zu erkennen, aber bisher gibt es nichts Erinnerungswürdiges an ihrem Ringfinger, wo doch ihre restliche Hand tausend Geschichten erzählen könnte.
„Was soll denn damit sein, mein Schatz?“, flüstert er. „Wobei ich denke ...“ Er holt eine kleine, rote Schachtel aus der Tasche seines Sakkos, stellt sie auf den Tisch und öffnet sie, ehe er sie so dreht, dass sie direkt vor Anitas Nase steht.
„Irgendetwas fehlt noch.“
Die Sonne scheint gleißend am Himmel, als Liang das Café entdeckt und neugierig durch eines der großen Fenster nach innen schaut. Drinnen sind zwar schon einige Leute da, da hinten an einem Eckplatz sitzen zwei junge Frauen, wobei die eine sehr unglücklich ausschaut, aber das Café ist glücklicherweise nicht übermäßig überfüllt. Genau das Richtige für jemanden wie ihn.
Liang mag es eher ruhig und beschaulich, vor allem wenn es darum geht, einfach nur was Angenehmes zu trinken, vielleicht dazu etwas Leckeres zu essen und dann ohne Eile seinen Recherchen nachzugehen oder einfach nur ein gutes Buch zu lesen. Gerade als Liang das behagliche Cafe betreten will, rennt eine der beiden Frauen hektisch mit ihren Einkaufstüten bepackt auf den Ausgang und somit auf ihn zu. Plötzlich bleibt sie stehen und scheint nachzudenken.
„Ähm, vielleicht sollten Sie sich entscheiden, ob sie rein oder raus wollen. Sie stehen dort recht ungünstig“, spricht er die Dame höflich an. Peinlich berührt entschuldigt sie sich und tritt beiseite.
Lächelnd geht Liang hinein und sucht sich einen schönen ruhigen Tisch in einer hinteren Ecke des Cafés. Während er gemütlich Platz nimmt und sein Tablet aus dem Rucksack holt, kommt die Kellnerin an seinen Tisch. „Was möchten Sie bestellen?“, fragt die Kellnerin.
„Einmal einen Chai Latte, eine kleine Cola und das englische Frühstück bitte“, zählt Liang auf. Leise startet das Tablet und er surft ein bisschen im Netz als sein Handy vibriert. Mit einem lässigen Blick auf das Display stellt er fest, dass es Julian ist, sein Klassenkamerad.
„Hey Liang, du dicker Asiate, Bock am Wochenende aufs nächste Poetry Slam mitzukommen? Hermann ist auch dabei und fährt uns.“, ertönt die schrille Stimme des radikallinken Vegetariers.
Liang überlegt kurz und sagt: „Muss ich erst mal schauen, ob ich am das kommende Wochenende arbeiten muss oder nicht, ich melde mich nochmals zurück.“
„Geht klar, bis später“, antwortet Julian und legt auf. Da kommt die Kellnerin mit dem Essen an den Tisch und Liang fängt erst mal in Ruhe an das unglaublich lecker ausschauende Frühstück zu verzehren.
Dabei beobachtet er aus reiner Langeweile die verschiedenen Leute um sich herum. Eine verzückt aussehende junge Frau am Nebentisch springt anmutig wie eine Gazelle einem ebenso jungen Mann in die Arme und küsst ihn lange und liebevoll. Unter der zärtlich erdrückenden Umarmung hört Liang ihn lachend sagen, dass er es eigentlich deutlich romantischer geplant hatte. Interessant, dass er noch reden kann, obwohl die Frau ihn fast unter sich erdrückt. Andere Leute im Cafe applaudieren dem Pärchen frenetisch zu und die Kellnerin bringt den beiden sogar ein Fläschchen Sekt an den Tisch.
Lächelnd beobachtet Liang kurz diese anmutige Szene und widmet sich dann weiter seiner erschöpfenden Arbeit. So viel noch zu erledigen und so wenig Zeit noch. Auf dem Plan stehen Präsentationen zum Thema Pressenfreiheit und Zensur, dann sind mehrere Projekte noch am Laufen.
„Verdammt, ich sollte nicht immer so faul sein und alles aufschieben“, seufzt Liang, während er sein verdammt göttliches Essen vertilgt. Dabei drehen sich seine Gedanken um belanglose Sachen wie den nächsten Einkauf, den fast leeren Handyakku oder auch nur das Wetter. Es ist sehr schön draußen, strahlender Sonnenschein durchstößt die Wolken und bereitet den Menschen ein Lächeln in hektischen Zeiten wie diesen.
„Scheiß Sommer“, denkt sich Liang. Er mag den Sommer nur, weil er da Geburtstag hat. Sonst war es nur immer zu warm, man war am dauernd am Schwitzen, es ist immer zu warm, selbst drinnen in der Wohnung ist es zu heiß. Hat er schon erwähnt, dass es immer zu warm ist? „Kellnerin? Könnten Sie mir bitte den Erdbeereisbecher bringen?“, bestellt Liang und freut sich auf das verführerische kühle Eis.
Der Applaus verebbt, aber das Lächeln auf Hannis Gesicht bleibt. Die Situation beruhigt sich langsam und sie dreht sich wieder zu ihren zwei Freundinnen um. Oh, ihr Kreuz macht sich dabei bemerkbar, sie ist eben auch nicht mehr die Jüngste. Sie sieht, dass auch Ursls und Friedls Mundwinkel nach oben gezogen sind.
„Hach“, seufzt Ursl, „noch einmal jung sein.“
Und Friedl nickt zustimmend.
„Mein Gerhard ist ja damals mitten auf der Straße vor mir auf die Knie gegangen“, weiß Ursl zu erzählen, obwohl die beiden anderen das schon längst wissen. So wie sie alles übereinander wissen. Sie sind alle in einer Gegend aufgewachsen, haben zusammen die Schulbank gedrückt und kennen sich seit nunmehr 70 Jahren. Seit 20 davon treffen sie sich nun schon in genau diesem Café.
Friedl beäugt misstrauisch eine dunkelhaarige junge Frau in der Ecke. Sie ist allein hier, schaut sich manchmal um und tippt dann wieder frenetisch etwas auf ihrem Laptop ein. Hanni folgt ihrem Blick, bewundert aber eher die Technik. Wie schnell sich doch alles in den Jahren entwickelt hat. Erst gab es gar nichts, dann tauchten die Handys auf, erst riesengroß, dann wurden sie immer kleiner und nun sind sie wieder größer geworden. Nicht zu vergessen diese … Tabletten oder wie auch immer das heißt, was man nun auch mit sich rumtragen kann. Manchmal kommt es ihr so vor, als hätte so ein tragbarer Bildschirm die Größe ihres ersten Röhrenfernsehers, den sie besaß.
Friedl kneift die Augen zusammen.
„Die ist bestimmt von der Stasi“, sagt sie verächtlich.
Hanni schüttelt amüsiert den Kopf.
„Es ist 2014, Friedl“, erinnert sie ihre Freundin.
„Na und?“, echauffiert sich die 78-Jährige. „Nur weil sie sagen, sie existiert nicht mehr, muss das ja noch lange nicht der Fall sein.“
Hanni verzichtet auf eine erneute Diskussion, denn sie weiß, dass sie Friedl nicht vom Gegenteil überzeugen kann.
„Und wenn nicht die Stasi, dann irgendwas anderes. Der Staat überwacht uns doch auf Schritt und Tritt. Und vergiss nicht diese ganzen Terroristen.“
Ursl stellt ihre Kaffeetasse vor sich ab, dabei zittern ihre Hände. Vieles fällt ihr nicht mehr so leicht, aber Hanni findet, für ihr Alter haben sie sich alle gut gehalten.
„Vor zwei Wochen hat ein Mann zwei Häuser weiter seine Frau erschlagen“, meint Ursl und Friedl nickt, als wäre es die Bestätigung für das, was sie gerade gesagt hatte.
Hanni enthält sich ihrer Meinung. Sie nimmt den kleinen, abgepackten Keks am Rande ihrer Kaffeetasse und steckt ihn in ihre Handtasche. Ihre Urenkelin ist gerade mal 3 Jahre alt und freut sich über so kleine Dinge.
„Heute geht doch alles vor die Hunde“, murrt Friedl weiter in ihrer Schimpftirade.
„Hast du vergessen, wie es damals war, am Ende und nach dem Krieg?“, erinnert Hanni sie.
Das waren harte Zeiten. Als sie die Schule abschlossen, waren nur noch gut die Hälfe ihrer Klassenkameraden übrig geblieben. Wenn jemand morgens nicht in der Klasse saß, dann konnte er genauso gut krank als auch tot sein. ‚Schau doch mal, was mit dem Hans ist‘ hatte dann der Lehrer gesagt und dann war man losgelaufen. Und manchmal, manchmal hatte dann kein Haus mehr dort gestanden, wo einst eins gewesen war.
„Hab ich natürlich nicht vergessen“, sagt Friedl ein bisschen beleidigt. Hanni achtet schon gar nicht mehr auf ihre schlechte Laune. Sie weiß, sie meint es nicht so. Sie hat einfach nur viel zu viel Spaß am Motzen. Und man hat ja sonst nicht mehr so viel zu tun.
„Aber selbst wenn die Welt um uns herum unterging, auf die Menschen konnte man sich immerhin verlassen. Heutzutage reden sie ja nicht einmal mehr miteinander. Haben alle nur noch diese Ohrstecker in den Ohren.“
Hanni weiß, was Friedl meint. Wenn man zusammen in Trümmern übernachtet, dann schweißt das zusammen. Und wenn man zusammen anpackt, weil man es sonst nicht schafft. Viele Männer waren im Krieg zurückgeblieben und dennoch hatten sie sich irgendwie gemeinsam aus dem Schlamassel rausgezogen. Und wenn man sich heute so umguckt, dann kann man kaum glauben, dass irgendwo je eine Bombe runtergegangen ist.
Ja, sie sind durch dick und dünn gegangen. Ursl, Friedl, Trudi und sie. Trudi haben sie leider schon vor fünf Jahren verloren. An den Krebs. Schreckliche Krankheit. Hanni verzieht etwas das Gesicht. Urls Mann Gerhard hat er auch schon einige Jahre zuvor geholt. Ist eben alles nicht so einfach. Und man wird ja auch nicht jünger.
„In einem Monat ist das Tanztreffen“, wirft Hanni ein, um die anderen auf ein fröhlicheres Thema zu lenken. Seit damals trifft sich die Truppe alle Jahre mal wieder, meist in unregelmäßigen Abständen. Es wird von Jahr zu Jahr weniger getanzt, aber Tradition ist nun mal Tradition.
„Ja“, stimmt Ursl zu und ihre Augen leuchten dabei auf. Seit sie Witwe ist, fühlt sie sich oft einsam, weiß Hanni, auch wenn sie schon so viel wie möglich miteinander unternehmen. Ihr alter Mops, Karl, ist zu allem Überfluss auch noch letztes Jahr gestorben und Kinder hat sie keine.
„Aber wir sind wieder einige weniger. Habt ihr gehört? Eberhard hat‘s letzten Monat erwischt. Herzversagen“, sagt sie wehmütig.
„Was für eine Augenweide, die Damen.“ Dieters raue Stimme unterbricht sie in ihrem Gespräch. Hanni und Ursl drehen sich zu ihm und nicken ihm lächelnd zu. Er erwidert es und tippt sich grüßend an die Schirmmütze mit der Hand, die sich nicht auf den Gehstock stützt.
Friedl schaut auf die Uhr. „Es ist erst halb“, motzt sie. „Ich habe dir gesagt, du sollst um vier kommen.“
Dieter, ihr Mann, scheint den schroffen Ton seiner Frau gar nicht wahrzunehmen.
„Physiotherapie ging heute eben etwas schneller“, begründet er.
Missmutig winkt sich Friedl die Kellnerin heran und zückt ihr Portmonee. „Sie haben den Preis schon wieder angehoben“, meckert sie dabei, als die Rechnung vor ihr liegt. „Das musst du dir mal in D-Mark umrechnen.“ Wohl um es auszugleichen, knausert sie mit dem Trinkgeld. „Ich krieg schon so eine viel zu kleine Rente dafür, dass ich mein ganzes Leben lang gearbeitet habe. Schweine.“ Dieter hilft ihr in ihre Jacke. Energisch schultert Elfriede ihre Tasche. „Was für ein Glück, dass mein Enkel Arzt ist. Krank werden die Leute immer.“ Mit einer herzlichen Umarmung verabschiedet sie sich von ihren zwei besten Freundinnen. „Wir sehen uns spätestens nächsten Monat wieder genau hier.“
Hanni und Ursl sehen dem alten Ehepaar nach, wie sie das Café verlassen. „Wenn ich das nächste Mal um sechzehn Uhr sage, dann meine ich auch um sechzehn Uhr“, hören die beiden sie noch schimpfen. „Ich würde vorschlagen, dann machst du deinen eigenen Führerschein“, entgegnet ihr Dieter gelassen. „So ein Mumpitz, mach dich nicht lächerlich, alter Mann. Ich bin 78 Jahre, was ich heute nicht kann, kann ich nimmermehr.“ Die Tür schwingt hinter ihnen zu und verschluckt die laufende Diskussion.
„Wollen wir auch langsam gehen?“, fragt Hanni Ursula. Die nickt ihr zustimmend zu. In aller Ruhe begleichen auch sie ihre Rechnungen.
„Ach sieh mal einer an“, sagt Ursl entzückt, als Hanni ihr Portmonee aufklappt. „Ist das die kleine Maus? Die ist ja schon so groß geworden!“
Stolz dreht Hanni ihre Brieftasche so, dass Ursl einen ungehinderten Blick auf das neuste Bild ihrer Urenkelin bekommt.
„Ja, ich war am Wochenende wieder da. Es ist unglaublich, wie gut sie schon sprechen kann“, erzählt sie. Unter diesem Foto ist noch eins von jedem aus ihrer Familie. Der Stapel beult das Portmonee ganz schön aus, aber nie würde sie sie rausnehmen. Eher kauft sie sich eine neue Geldbörse.
Ursl nickt wissend. „Ja, geht schnell, so was.“
Gemeinsam stehen sie auf. Ursl braucht etwas länger, aber Hanni hetzt nichts. „Wann steht der Termin für die zweite Hüft-OP an?“, fragt sie sie.
„In 3 Monaten“, antwortet Ursl ihr.
Hanni hakt sich bei ihrer Freundin unter, um ihr ein wenig beim Gehen behilflich zu sein. Körperlich ist bei ihr noch alles in Ordnung, bis auf ihren Kreislauf ab und zu. Toi, toi, toi. Hanni klopft unauffällig auf den Holztisch, ehe sie gehen.
Sie verlassen dass Café und schlendern auf die Bushaltestelle zu. Genüsslich hält Hanni ihre Nase in der Sonne, die immer kräftiger zu werden scheint.
Ursls Bus kommt zuerst.
„Grüß mir den Günther“, verabschiedet sie sich und steigt ein.
Hanni winkt ihr nach.
Samiras dunkle Augen tasten das Café ab. Sie befinden sich auf der Suche, auf der Suche nach Inspiration. Sie bleiben bei einem Mann ruhen. Manche kommen her, um allein zu sein. Er nicht. Er wartet. Sie erkennt es an seiner Körperhaltung. Unruhig. Rastlos. Die Realität scheint vor Samiras Augen zu verschwimmen. Sie befindet sich nicht mehr im Café, sondern in ihrer eigenen Welt.
In ihrem Kopf sieht sie ein Pferd. Ein Reiter befindet sich auf ihm, aber es ist, als wären sie eine Einheit. Unzertrennbar. Sie sind beide rot. Rot wie die untergehende Sonne. Rot wie der Eingang zur Hölle.
So wie der Mann mit den Fingern auf dem Tisch trommelt, so tänzelt das Pferd auf der Stelle. Scharrt mit den Hufen. Es kann nicht einfach stehen bleiben, das liegt nicht in seiner Natur. Es muss die Landschaft durchstreifen. Die Wälder, die Wüsten, die Städte. Muss weiches Gras, harten Stein und modrigen Sumpf unter sich spüren. Und der Reiter, er lässt die Zügel locker. Denn auch er will reiten. So schnell, dass er den Wind in seinen Haaren spürt. Aber er schaut sich um, sowie der Mann im Café. Er muss erst noch herausfinden, in welche Richtung die Reise diesmal geht.
Eine Frau kommt in das Café. Das Bimmeln der Glocke reißt Samira aus den Gedanken. Manchmal ist dieses kleine Geräusch wie ein Donnerschlag, so dass sie regelrecht zusammenzuckt, manchmal schafft sie es wiederum es so auszublenden, als wäre es gar nicht da. Samira erfasst sofort, dass es die Frau ist, auf die der Mann gewartet hat. Sein Gesicht sagt alles. Aber es ist nicht die schiere Verliebtheit, die sie darin erkennt, wie wenn man gerade beginnt miteinander auszugehen. Der entrückte Blick und das Lächeln … nein, das Lächeln auf dem Gesicht des Mannes lässt darauf schließen, dass sie sich kennen. Die Art Intimität, die nichts mit körperlicher Nähe zu tun hat, sondern damit, dass man sich in schon vielen Lebenslagen begleitet hat. Alltag. Manchmal wiegt er so schwer wie eine Tragödie.
Der Reiter kennt sein Revier. Er weiß nicht mehr, wann genau es ihn in diese Lande verschlagen hat. War es gestern gewesen? Vor zwei Jahren? Vor einer ganzen Ewigkeit? Er hat es durchstreift auf der Suche nach den Bäumen und den Häusern.
Aber er reitet nicht nur, er wacht auch. Seine Augen sind weit, sein Gehör gut. Er beobachtet und registriert. Denn egal wie oft er diese Gegend erkundet, so ist sie doch nie komplett gleich. Sie befindet sich im stetigen Wandel. Manchmal sind es nur kleine Veränderungen, kaum erkennbar für des Wächters Auge, manchmal ist es unübersehbar. Und der Himmel färbt sich von Türkis zu Blau und graue Wolken ziehen auf.
Eine wütende Stimme lässt Samira auffahren. Ein Mann ist aufgesprungen. Nicht der von eben, sondern einer vom Nebentisch. Er hat sich vor einer Frau aufgebaut. Kaffee tropft ihm noch vom Kinn. Kaffee durchnässt sein Hemd unter dem Jackett. Alles an seiner Haltung ist vor Ärger angespannt und droht zu explodieren. Wut. Es ist unübersehbar, wie loderndes Feuer breitet es sich zwischen den beiden aus, so deutlich, dass Samira fast übersehen hätte, dass noch ein dritter Mann dabei ist. Aber er spielt keine Rolle, alles was sich dort abspielt, geschieht zwischen der Frau und dem kaffeenassen Mann.
Verträumt gleiten Samiras Fingerspitzen liebevoll über die Tastatur ihres Laptops, auf dem sie all ihre Gedanken festhält, damit sie nicht entschlüpfen können. Wut. Manchmal muss man sich kennen, um wütend werden zu können, manchmal reicht auch nur ein Funke, um einen Buschbrand zu entfachen.
Wie den Reiter, den niemand kennt.
Nicht Reiter, korrigiert Samira sich selbst. Wächter.
Niemand weiß, wer er ist und trotzdem hat er schon oft am Feuer geleckt. Sie mögen ihn nicht. Sein Pferd prescht über die sorgfältig angelegten Felder. Seine Hufe weichen dabei nicht immer der Ernte aus, manchmal geht etwas unter, wird zerstört. Er kann reiten wo und wie er will, sagen sie. Aber nur, wenn er drum herum reitet. Doch der Wächter will Freiheit. Sie haben sich die Freiheit genommen ihre Felder anzulegen, wo auch immer sie es wollten und er will die Freiheit darüber zu galoppieren. Doch mit Mistgabeln gehen sie auf ihn los. Nicht alle. Einige stellen sich auf seine Seite. Aber andere hassen ihn so sehr, dass sie ihn am liebsten aus ihrem Land vertreiben würden. Er stört die Ruhe, sagen sie. Aber der Reiter findet nicht, dass immer alles ruhig sein muss. So wie das tosende Meer, das mal still und mal laut ist. Also lässt er das Feuer hinter sich prasseln. Bäume stürzen ein, Eis knackt. Ob gut oder schlecht, Wandel ist Wandel.
Sie starrt auf die letzten Sätze. Nein, irgendwie passt das noch nicht ganz. Erst nach einer Weile merkt Samira, dass sie wieder angefangen hat auf ihrem Daumennagel rumzukauen. Eine Angewohnheit, die sie sich eigentlich hat abgewöhnen wollen. Aber anscheinend braucht sie das zum Denken. Und zum Denken zwingt sie sich ja gerade. „Ich muss noch besser denken“, spornt sie sich selbst an. Sie atmet tief durch und nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee. Sie hat ihren Kopf mit der Tasse an den Lippen schon in den Nacken gelegt, als sie bemerkt, dass die Tasse bis auf ein paar kalte Tropfen leer ist. Vermutlich schon seit einer Weile und sie hat nicht einmal mitbekommen, wann genau sie ihn ausgetrunken hat.
Sie atmet tief ein und aus. Sie ist schon wieder so angespannt, dabei hat sie das gar nicht nötig. Es ist nur ein Hobby. Sie wird nicht mal dafür bezahlt, sie stellt ihre Texte schließlich freiwillig kostenlos allen zur Verfügung, die sie lesen wollen. Und ihre Fangemeinde ist nicht mal besonders groß. Und dennoch hat sie das innere Bedürfnis sie nicht enttäuschen zu wollen.
Sie stellt den allerletzten Satz noch mal um. Wandel ist Wandel, ob gut oder schlecht. So geht’s. Wahrscheinlich macht es für die meisten nicht den geringsten Unterschied, aber für sie schon. Vielleicht sollte man den Satz davor auch löschen, schießt es ihr durch den Kopf. Sie weiß gar nicht mehr, wieso sie das geschrieben hat, aber sie bringt es auch nicht übers Herz die Worte unbarmherzig zu löschen, die ihr so selbstverständlich von den Fingern auf die Tastatur geflossen sind. Nein, es bleibt so. Vorerst ist sie damit zufrieden, vermutlich nur, bis sie ihn sich das nächste Mal durchliest, aber sie will sich auch nicht zu lange nur an diesem Satz aufhalten.
Sie schaut auf. Verwundert stellt sie fest, dass beide Tische, die sie beobachtet hat, inzwischen leer sind. Der Mann, der auf die Frau gewartet hat, ist weg. Die Streithähne auch. Wie lange hat sie geschrieben? Samira ist in dem Zwist, den sie sich vorgestellt hat, gefangen gewesen. Sie hat das Feuer gerochen, die Mistgabeln gespürt und den Staub gesehen, den die Hufe des Pferdes des Wächters aufgewirbelt hat. Kleine Wölkchen, erst dunkel, dann durchsichtig, dann weg. Samira lächelt von einem Ohr zum anderen. Wahrscheinlich sieht das für die anderen Gäste des Cafés etwas befremdlich aus, wo sie doch ganz allein ist, aber sie kann sich nicht helfen. Dieses Flow-Erlauben, vollkommen in einer Tätigkeit aufzugehen, ist einfach das beste Gefühl. Als sei sie eine Zauberin. Nein, gar eine Göttin über ihre eigene kleine Welt, die sie mit Leben füllt. Und sei es nur für einen kurzen Moment.
Sie winkt die Kellnerin heran und bestellt sich diesmal einen Kakao. Nach dem bitteren Geschmack des Kaffees kann sie etwas Süßes gebrauchen.
Ihr Blick wandert zum nächsten besetzten Tisch des Cafés. Dort sitzt nur noch ein brünettes Mädchen. Nein, eher eine junge Frau, auch wenn sie zierlich ist. Vermutlich in ihrem Alter, vielleicht sogar noch ein bisschen älter, aber das ist schwer einzuschätzen. Samira betrachtet die Einkaufstüten um sie herum. Sie fragt sich, ob sie die ganze Zeit dabei allein war. Sie sieht verloren aus.
Samira denkt an ihren berittenen Wächter. Ist er verloren? Nein, er weiß, was er tut. Selbst das Feuer kann ihm nichts anhaben, lebt er doch am Tor der Hölle, wie könnte es also auch?
Ein dunkelblondes Mädchen setzt sich zu der Brünetten. Ihre Haltung lockert sich auf. Im Halbprofil kann Samira erkennen, dass auch ihre Mimik sich wieder aufhellt.
Samira zwingt ihre Augen wieder auf den Laptop. Sie überfliegt, was sie bereits erschaffen hat und überlegt. Gefällt ihr gar nicht mal schlecht. Eine abstrakte Welt, nah genug an der Realität, um sie wiederzuerkennen und doch verzerrt und völlig eigen. Die Vögel singen Poesie, die Bäume im Wind knarzen Prosa. Nur der Wächter, der könnte noch mehr Charakter gebrauchen. Mystisch reicht nicht. Nichts ist perfekt, auch nicht der Wächter. Was sind seine Stärken, seine Schwächen? Wer ist er oder gar sie? Es fällt Samira schwer zu greifen, in Worte zu fassen. Der Wächter scheint so vieles zu sein.
Frustriert stößt ihr Bein rhythmisch gegen das Holz des Stuhles. Sie muss aufpassen, dabei mit dem Absatz ihres Schuhs keine Geräusche zu erzeugen. Sie will unauffällig bleiben, als stiller Beobachter.
Samira geht die Geschichte noch einmal gedanklich durch. Sie hat ein wenig Angst davor, auf welche Ausmaße sie sich aufblähen könnte. Vielleicht wird es mehr als eine Kurzgeschichte, vielleicht wird es gar ein ganzer Roman. Ideen schießen ihr in den Kopf. Gleichzeitig hat sie Angst noch nicht gut genug zu sein. Eine große Idee verdient großes Können, oder? Wäre sie das der Geschichte nicht schuldig? Doch was, wenn sie sich nie bereit fühlt? Dann wird sie nie geschrieben werden. Und einige Geschichten müssen einfach geschrieben werden. Diese scheint ihr eine davon zu sein.
Zurück zu den Menschen im Café. Heute scheinen sie ihr besonders Glück zu bringen. Sie lehnt sich nach hinten und beobachtet das rege Treiben des Cafés, das mitten im Herzen der Stadt liegt. Sie mag es hierherzukommen um zu schreiben. So viel Leben um einen herum inspiriert. Denn das ist es doch schließlich, was man einfangen will, nicht wahr? Leben. In all seinen Facetten. Kinder. Senioren. Mütter. Väter.
Samiras Mundwinkel zucken, als sie den Mann sieht, der nicht weit weg von ihr sitzt. Auch er hat sich eine Ecke gesucht. Seine Hand hält seinen Kopf und er zuckt bei jedem Geräusch zusammen, als hätte man neben seinem Ohr auf die Pauke geschlagen. Wenn das nicht die klassischen Anzeichen für einen Tag nach übermäßigem Alkoholgenuss waren, dann wusste sie es auch nicht. Samira wird von einer anderen Szene in dem Etablissement abgelenkt. Ist das etwa? Ja tatsächlich, ein Ring. Genau gerade jetzt macht jemand seiner Freundin einen Heiratsantrag, auch das sah man nicht alle Tage. Samira stimmt in den Jubel ein und klatscht in die Hände.
Letztendlich ist es doch ganz egal wo eine Geschichte sich abspielt, ob in einer mittelalterlichen Fantasy-Welt, in der historischen Realität oder in einer dystopischen Zukunft. Es geht immer um Leben, um Emotionen und einem Abbild ihrer Gesellschaft, wie verschachtelt es auch dargestellt ist. Nichts, was sich gerade hier nicht auch finden lassen würde. Nur ein bisschen ausgeschmückt und willentlich gelenkt.
Samira kehrt zurück zu dem Wächter. Sie denkt an seine Anfänge. Wo er herkommt und wo er nun ist.
Ganz am Anfang, zu Beginn des geschriebenen Wortes war da nur Wald. Wald, der seine Äste nach einem ausgestreckt hat, die man ergreifen, unbemerkt unter ihnen durchlaufen oder sich von ihnen ins Gesicht schlagen lassen konnte.
Jetzt waren da vermehrt Reihenhäuser. Von weitem glichen sie sich einem dem anderen, dennoch strömten die Menschen dorthin und nisteten sich ein. Der Wächter weiß wieso. Der Wald ist verworren, manchmal geht man hinein und findet nicht mehr wieder heraus, manchmal entdeckt man dunkle Flecken, die man nie entdecken wollte.
Macht das überhaupt Sinn? Samira zwingt sich ihre Hände auf dem Tisch zu lassen. Lieber noch einen Schluck Kakao, bevor auch der ganz kalt wird, als wieder ihren Daumennagel zu malträtieren. Sie befürchtet sich nun in ihren Gedanken vollkommen verrannt zu haben. Wie ein wunderschönes Spinnennetz, das sie weben wollte und nun hat sie sich selbst drin eingewickelt und jeder, der von außen einen Blick draufwirft, sieht nur Chaos. Dabei müsste sie besser sein, sie macht das schon so lang, so intensiv. Die gleiche Zeit sollte sie mal lieber in ihr Abitur investieren. Samia schüttelt leicht den Kopf und muss über sich selber lächeln. Ist es nicht verwunderlich, dass sie ganz genau die Texte anderer analysieren und zerlegen kann und es trotzdem nicht schafft selbst besser zu sein?
Gewaltsam schiebt sie diese Gedanken beiseite. Sie helfen nicht. Perfektionismus hilft nicht. Vielleicht sollte sie gar nicht besser denken, sondern weniger. Vielleicht sogar gar nicht.
Das Glöckchen kündigt abermals einen weitern Besucher an. Diesmal ist eine blonde Frau mit Dreadlocks. Sir macht einen fahrigen, nervösen Eindruck auf Samira. Ihre Bewegungen wirken alles andere als flüssig und selbstsicher. Der Mann mit dem Kater steht auf, sie geht auf ihn zu. Ihre Umarmung etwas zögernd und etwas ungeschickt, als müssten sie ihre Beziehung zueinander erst noch definieren.
Samira wendet ihr Blick ab und lässt ihnen diesen Freiraum. Dabei streift ihr Sichtfeld einen asiatischen Mann, der ihr im Rauminneren fast gegenüber sitzt. Er schreibt auf seinem Tablet, hält dabei aber immer wieder inne, und betrachtet wie sie Menschen. Und da trifft sie die Erkenntnis. Vielleicht ist der Wächter gar nicht allein. Vielleicht hat er Mitreiter gefunden. Sie preschen durch das Land jeder für sich in anderen Gefilden und doch alle Wächter. Deswegen kann sie ihn nicht in Worte fassen. Er ist nicht er, er ist sie, eine Gruppe, eine Gemeinschaft.
Der Wächter wartet. Er wartet auf das Ende. Die Apokalypse. Denn alles hat immer ein Ende. Ob er es verhindern oder einleiten wird, das weiß noch niemand. Ob danach das schwarze Nichts wartet oder eine strahlender Neuanfang auch nicht.
Aber der Wächter ist nicht allein. Links und rechts gesellen sich andere Reiter neben ihn. Ihre Pferde sind schwarz wie die Nacht, bunt wie eine Sommerwiese, weiß wie Schnee. Und gemeinsam warten sie. Durchstreifen das Land. Die wundersame Welt Bûkricks.
Samira lehnt sich zurück. Betrachtet zufrieden, was heute irgendwo zwischen Zucken und Kaffee entstanden ist. Eine Welt voller Worte. Worte: Schall und Rauch und doch die Welt.
Sie wirft einen Blick auf die Uhr in ihrem Computer. Drei Stunden sitzt sie nun schon hier. Es wird Zeit zu gehen. Sie klappt ihren Laptop zu und verstaut ihn sorgfältig in seiner Tasche. In vielerlei Hinsicht ist er ihr größter Besitz.
Das Bezahlen geht schnell, es ist grad wieder etwas leerer geworden und in zügigen Schritten – ihrem normalen Tempo – lässt sie das Café hinter sich. Aber die Wächter der Apokalypse galoppieren immer noch in ihrem Kopf.
Die Wächter der Apokalypse versammeln sich im "Tor zur Hölle", wo sie Pfefferminztee und Blutorangensaft schlürfen und auf die Tastaturen einhämmern, um bestsellerverdächtige Texte zu produzieren. Obwohl von Natur aus Einzelkämpfer schließen sie sich manchmal zusammen um Geschichtensammlungen wie diese zu fabrizieren.
An dieser Sammlung haben mehrere von ihnen mitgearbeitet: Asura, Csarly, Darque, Killjoy und Lave. Wer was geschrieben hat, darf sich der Leser selbst überlegen und seine Tipps abgeben.
Die Wächter bedanken sich für das Lesen und freuen sich auf rege Kommentare und Kritik.
Was für ein verrückter Tag.
Erschöpft und müde schrubbt die Kellnerin Kathi über den gefühlt hundertsten Tisch.
Wäre ihre Kollegin nicht ausgefallen, könnte sie jetzt schon längst zuhause für ihre Prüfung nächste Woche lernen. Aber nein …
Kathi lässt sich ausgelaugt auf ein Sofa nahe den Fenstern fallen und starrt in die noch junge Nacht ihrer Stadt.
Die ersten Nachtschwärmer überqueren die Straßen auf der Suche nach guten Clubs, passieren Menschen, die von der Arbeit kommen, Menschen, die arbeiten gehen …
Beinahe wäre sie auf dem Sofa eingenickt, hätte ein Auto nicht gehupt. Am besten, sie geht jetzt nach Hause.
Lieber bekommt sie morgen Nachmittag Stress mit ihrem Chef als wieder zu spät zu ihren Vorlesungen zu kommen.
Gerade als sie nach ihrer Jacke greift, die bereits vorsorglich auf dem Stuhl neben ihr hängt, klingelt die Türglocke des Cafes leise.
„Wir haben geschlossen ..!“, murrt sie geschafft und will den ungebetenen Gast zur Tür hinaus dirigieren, aber mitten in ihrer Bewegung hält sie inne.
Mindestens zwei Meter groß, in schwarz gehüllt, steht ein Hüne vor ihr, eine Kapuze bedeckt sein Gesicht fast vollkommen und hinter ihm flattert ein Umhang.
Könnte eine Art Cosplayer sein oder jemand von einer Themenparty.
Aber der Riese sagt nichts, er ignoriert Kathi gänzlich, die mit wachsendem Unmut auf die Pfütze um seine Stiefel blickt.
„Suchen Sie jemanden?“, fragt sie vorsichtig, als der Mann über einen Tisch streicht. Vor wenigen Stunden hatte dort ein Mädchen mit Laptop gesessen.
„Suchen?“ Als hätte ihn etwas aufgeweckt, fährt er herum. „Wir suchen nicht. Wir finden.“
Schweigend verlässt er das Cafe und lässt Kathi verwundert zurück.
Wirklich ein verrückter Tag.
Texte: Die Wächter der Apokalypse
Bildmaterialien: Darque
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2014
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